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Gedenken an die NS-„Kindereuthanasie“ – zwei Fallbeispiele (Eichberg, Kalmenhof) und
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Lutz Kaelber
Gedenken an die NS-„Kindereuthanasie“ –
zwei Fallbeispiele (Eichberg, Kalmenhof) und
allgemeine Folgerungen zur Gedenkkultur1
Bei der nationalsozialistischen „Kinder- und Jugendlicheneuthanasie“ handelt
es sich um ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Programm, durch
systematischen Mord an behinderten Kindern und Jugendlichen eine sozialdarwinistische Vision einer Gesellschaft zu verwirklichen. In eigens dafür
eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ ging es den Tätern und Täterinnen
darum, „lebensunwertes“ Leben schon kurz nach der Geburt oder beim Aufwachsen zu vernichten. Im Rahmen eines vom Autor durchgeführten Forschungsprojektes zur Erinnerung an die NS-„Euthanasie“-Verbrechen und
ihre Opfer wird im Folgenden auf die Erinnerungsgeschichte am Ort zweier
dieser „Kinderfachabteilungen“ (Eichberg und Kalmenhof in Hessen) eingegangen. Aus dieser Analyse heraus werden schließlich generelle Folgerungen
für den geschichtlich-kulturellen und Gedenkstätten-pädagogischen Umgang
mit dieser Art von NS-Verbrechen abgeleitet.2
1
Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine revidierte und erweiterte Fassung meines Aufsatzes „Gedenken an die NS-‚Kindereuthanasie‘ – das Fallbeispiel der Landesheilanstalt
Eichberg“, in: Gedenkstätten-Rundbrief, Band 161, 2011, S. 14-24. Für Kommentare und
Anregungen danke ich Dr. Thomas Lutz und Dr. Raimond Reiter sowie Ulrike Mai von
Vitos Rheingau und Prof. Dr. Christina Vanja vom Landeswohlfahrtsverband Hessen
für die Überlassung von Materialien. Dr. Reiter verstarb völlig unerwartet am 1. September 2011 kurz nach dem Erstellen eines mit mir gemeinsam erstellten Forschungsbandes
zum Thema. Ihm sei diese Arbeit gewidmet.
2 Der Autor hat in den Jahren 2007-2011 die Orte der etwa 30 „Kinderfachabteilungen“
teilweise mehrmals besucht und die Gedenkgeschichte auf einer englischsprachigen
Internetseite dargestellt und dokumentiert (http://www.uvm.edu/~lkaelber/children/).
Eine ausführlichere Darstellung des Themas findet sich in Lutz Kaelber, Gedenken an
die NS-„Kindereuthanasie“-Verbrechen in Deutschland, Österreich, der Tschechischen
Republik und Polen, in: Lutz Kaelber und Raimond Reiter (Hg.), Kindermord und „Kinderfachabteilungen“ im Nationalsozialismus – Gedenken und Forschung, Frankfurt am
Main 2011, S. 33-66.
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Lutz Kaelber
Eichberg
Die „Kinderfachabteilung“ in der Landesheilanstalt Eichberg
Die „Kinderfachabteilung“ in der Landesheilanstalt Eichberg, in der Nähe der
Stadt Eltville (bei Wiesbaden) gelegen, wurde im März oder Anfang April 1941
eingerichtet und bestand bis März 1945. Der Direktor der Landesheilanstalt
war Dr. Friedrich Mennecke, der auch für die so genannte „T4“-Aktion (dem
Gasmord an hospitalisierten, größtenteils erwachsenen Psychiatriepatienten)
als Meldebogengutachter tätig war. Sein Stellvertreter, Dr. Walter Schmidt,
war für die „Kinderfachabteilung“ als deren Leiter verantwortlich. Mit seiner
Einberufung zur Wehrmacht im Januar 1943 blieb Dr. Mennecke zwar noch
nominell der Leiter der Anstalt, de facto wurde diese ab dann von Dr. Schmidt
geführt.3
Mehr als 500 Kinder und Jugendliche starben während des Bestehens der
„Kinderfachabteilung“ auf dem Eichberg. Nach konservativer Einschätzung
wurde die überwiegende Mehrheit von ihnen wahrscheinlich ermordet,4
wobei die Zahl der Opfer realistisch aber auf mindestens 430 geschätzt wird.5
Es gab auch Kinder, die zuvor an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik unter Carl Schneider untersucht worden waren, um danach
zur Tötung auf den Eichberg gesandt zu werden. Ihre Gehirne wurden anschließend nach Heidelberg zu Forschungszwecken in Verbindung mit der
„Euthanasie“ zurückgeschickt.6 Am Eichberg fanden zudem Schulungen von
3
Vgl. Peter Sandner, Der Eichberg im Nationalsozialismus. Die Rolle einer Landesheilanstalt zwischen Psychiatrie, Gesundheitsverwaltung und Rassenpolitik, in: Christina Vanja
u. a. (Hg.), Wissen und Irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach
und Eichberg, Kassel 1999, S. 164-220; Gerrit Hohendorf u. a., Die „Kinderfachabteilung“
der Landesheilanstalt Eichberg 1941 bis 1945 und ihre Beziehung zur Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg unter Carl Schneider, in: Vanja,
Wissen und Irren, S. 221-243; Peter Sandner, Verwaltung des Krankenmordes. Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus, Gießen 2003, S. 532-566.
4 Vgl. Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 539.
5 Vgl. Horst Dickel, Alltag in einer Landesheilanstalt im Nationalsozialismus. Das Beispiel Eichberg, in: Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Euthanasie in Hadamar,
Kassel 1991, S. 105-113, hier S. 105.
6 Vgl. Hohendorf, Die „Kinderfachabteilung“ der Landesheilanstalt Eichberg; Sandner,
Verwaltung des Krankenmordes, S. 546-51.
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
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„Euthanasie“-Ärzten, wie etwa von Dr. Magdalene Schütte, der Leiterin der
Stuttgarter „Kinderfachabteilung“, statt.7
Zur Unterbringung der „Kinderfachabteilung“ wurde ein bestehendes Gebäude als Kinderbaracke in Betrieb genommen. Sie beherbergte die jüngeren
Kinder, während die Kinder im Alter von mehr als neun Jahren mit erwachsenen Patienten auf anderen Stationen untergebracht waren.8 Die Kinderbaracke,
die eine gewisse Randlage auf der Anlage hatte, existiert heute nicht mehr.
Aufarbeitung nach dem Ende der NS-Herrschaft
Bereits im Dezember 1946 kam es bezüglich des Patientenmordes auf dem
Eichberg in Frankfurt am Main zum Prozess.
Zuvor schon hatte in Berlin ein deutsches Gericht in einem Verfahren zu
den „Euthanasie“-Morden in der Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde
die Angeklagten, Oberärztin Dr. Hilde Wernicke und die Krankenpflegerin Helene Wieczorek, wegen hundertfachen Mordes zum Tode verurteilt. Das Urteil
wurde im Januar 1947 vollstreckt.9 In Hessen hatte das amerikanische Militärgericht bereits im Oktober 1945 den Verwaltungsleiter der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar und zwei Pfleger zum Tode und anderes Personal zu Haftstrafen wegen der Ermordung von ausländischen Zwangsarbeitern verurteilt. Dies
führte zu weiteren Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt wegen der
Morde in nassauischen Anstalten, zu denen es schon kurz nach Kriegsende
Anzeigen aus der Bevölkerung gegeben hatte.10
Im Eichberg-Prozess wurde Dr. Mennecke wegen seiner Tätigkeiten im
Rahmen des „T4“-Programms, der Verlegung von Patienten in die Tötungsanstalt Hadamar und der Ermordung von erwachsenen Patienten vor Ort (etwa
2.300 Menschen starben auf dem Eichberg in der Zeit des Zweiten Weltkrieges)
7
Vgl. Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 536. Für die Klarstellung des Vornamens von Dr. Schütte, der oft als Magdalena angegeben wird, danke ich Dr. Karl-Horst
Marquart.
8 Vgl. Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 534.
9 Vgl. Adelheid Rüter-Ehlermann und C. F. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung
deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966. 22
Bände, Amsterdam 1968-1981, hier Band 1, Lfd. Nr. 003. Vgl. im Folgenden auch Kerstin
Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002, S. 113ff.
10 Vgl. Matthias Meusch, Die Frankfurter Euthanasie-Prozesse, in: Hessisches Jahrbuch
für Landesgeschichte, Band 47, 1997, S. 253-296.
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Lutz Kaelber
und expressis verbis auch angesichts seiner Rolle in der „Kindereuthanasie“
zum Tode verurteilt. Er starb 1947 an Tuberkulose, bevor das Urteil vollstreckt
werden konnte.11 Im gleichen Prozess gab Dr. Schmidt zu, zwischen 30 und
40 Kinder persönlich getötet zu haben. Die ihm direkt unterstehende Oberschwester Helene Schürg gestand ihrerseits die Tötung von 30 bis 40 Kindern
auf seine Anordnung hin. Sie erklärte, dass über 500 Kinder in die „Kinderfachabteilung“ eingewiesen worden waren, von denen 200 aktiv getötet wurden. Auch der Stationspfleger Andreas Senft räumte ein, bei der Tötung von
Kindern mitgewirkt zu haben. Dr. Schmidt wurde zunächst zu lebenslangem
Zuchthaus, im Berufungsverfahren 1947 zum Tode verurteilt. In sukzessiven
Begnadigungsaktionen wurde seine Strafe 1949 auf lebenslänglich, 1951 in zehn
Jahre Haft umgewandelt, bevor er 1953 schließlich, als ihm in einem Gnadenaufruf zugeschrieben wurde, eine Heilmethode für an Multipler Sklerose erkrankte Menschen entwickelt zu haben,12 auf öffentlichen Druck hin entlassen
wurde. Trotz entzogener Approbation übte er noch jahrelang in der Gegend
von Hattenheim (einem Nachbarort Eltvilles) seinen Beruf als Arzt aus. Da
auch Schürg und Senft, die zu acht bzw. vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurden, vorzeitig aus der Haft entlassen wurden, war von den Hauptbeteiligten am
Eichberger Kindermord ab Mitte der 1950er Jahre keiner mehr im Gefängnis.
Die besondere Darlegung des Kindermordes im Rahmen des „Reichsausschussverfahrens“ auf dem Eichberg während des Prozesses im Jahre 1946 hatte
zur Folge, dass in wissenschaftlichen Publikationen von nun an der Eichberg
als eindeutig identifizierte Stätte der „Kindereuthanasie“ ausgewiesen war. So
spielte etwa in dem von Alice Platen-Hallermund in Jahre 1948 veröffentlichten
Buch „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ der Kindermord auf dem
Eichberg eine prominente Rolle. Zuvor war diese Thematik kurz im Buch von
Mitscherlich und Mielke zum Nürnberger Ärzteprozess erwähnt worden.13 Die
öffentliche Befürwortung der Begnadigung von Dr. Schmidt kann als eine Reaktion auf Publikationen wie die von Platen-Hallermund verstanden werden,
11
In der Literatur wird auch ein möglicher Selbstmord vermutet.
Aufgrund eines Lesefehlers war in meinem früheren Aufsatz zum Eichberg (Gedenken
an die NS-„Kindereuthanasie“ – das Fallbeispiel der Landesheilanstalt Eichberg, S. 15)
irrtümlich von Kinderlähmung die Rede.
13 Alice Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, Frankfurt am
Main 1948, Wiederabdruck: Frankfurt am Main 2005, S. 47ff; Alexander Mitscherlich
und Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozess
und seine Quellen, Heidelberg 1947, S. 111, S. 132-134.
12
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
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denn die Heilanstalt hatte nachweislich infolge der Studie einen schlechten
Ruf,14 was für manche ganz und gar nicht zum Selbstverständnis des Bürgertums der Region gepasst haben mag. Wiewohl im Jahr 1949 noch anlässlich
der Hundertjahrfeier der Anstalt sowohl der Anstaltsdirektor als auch der sich
nachhaltig für ein Nichtvergessen der NS-Gräuel einsetzende Dezernent für
die Landesheilanstalten, Friedrich Stöffler, auf die „Euthanasie“-Morde auf dem
Eichberg hinwiesen,15 scheinen jene dann recht schnell aus dem öffentlichen
Gedächtnis verschwunden zu sein. Dies geschah trotz vorhandener Berichte
in den 1950er und 1960er Jahren zu dem Eichberger Kindermord in der Presse
wie auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, etwa im Hinblick auf die
Begnadigung des verurteilten T4-Vergasungsarztes Hans Bodo Gorgaß, dessen
Straferlass mit dem des Kindermörders Schmidt verglichen wurde.16 In im Jahr
1968 veröffentlichten ersten Band der Sammlung deutscher Strafurteile wegen
nationalsozialistischer Tötungsverbrechen waren die Strafurteile zu Eichberg
enthalten.17
Als sich dann in den frühen 1980er Jahren eine Gruppe von Schülern mit
ihrem Lehrer Horst Dickel im Rahmen einer Projektwoche und eines sich daraus ergebenden Beitrags zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten
„Jugendliche forschen vor Ort“ mit dem Thema „Euthanasie“ auf dem Eichberg
befasste, wurde den Schülern von der Anstaltsleitung mitgeteilt, dass dieser
die Veröffentlichung der Eichberg-Urteile nicht bekannt sei.18 Eine ähnliche
Amnesie fand die Gruppe bei älteren Bewohnern der Städte und Dörfer rund
um den Eichberg vor, die zwar nach eigenen Angaben generell wussten, dass
Eichberg eine Zwischenanstalt für Hadamar war, nicht aber, dass auch auf dem
14
15
16
17
18
Vgl. Heinz Faulstich, Der Eichberg in der Nachkriegszeit 1945 bis 1949, in: Vanja, Wissen und Irren, S. 244-258, hier S. 252-253.
Vgl. ebd., S. 256.
Hierzu wurde in der Rechtfertigungsschrift des damaligen Ministerpräsidenten und
Justizministers von Hessen, Georg August Zinn, zur Begnadigung von Gorgaß auf
Schmidts Tötung von „mindestens siebzig erbkranke[n] [sic!] Kinder[n]“ hingewiesen
(Georg August Zinn, Brief zum Fall Gorgaß, in: Die Gegenwart, Band 13, 1958, Nr. 306,
S. 102), wobei der Hinweis auf diese Tötungen sich auch im Presseecho auf die Begnadigung wiederfand (etwa in der Zeitschrift „Wort und Wahrheit“, 1958, S. 307).
Vgl. Rüter-Ehlermann und Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Band 1, Lfd. Nr. 011.
Vgl. Horst Dickel, Der Eichberg – Opfer und Täter. „Lebensunwertes“ Leben in der hessischen psychiatrischen Anstalt, 1935-1945, Geisenheim 1983, S. 4. Die Urteilssammlung
insgesamt wurde lange Zeit eher wenig beachtet. Vgl. Raimond Reiter, 30 Jahre „Justiz
und NS-Verbrechen“. Die Aktualität einer Urteilssammlung, Frankfurt am Main 1998.
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Lutz Kaelber
Eichberg selbst im Rahmen der dezentralen „Euthanasie“ Patienten ermordet
wurden. Vom Kindermord in einer „Kinderfachabteilung“ wollte keiner etwas
gewusst haben. Vielen der Angesprochenen war es sogar lästig, über die NSVergangenheit der Region überhaupt befragt zu werden.19
Es gibt Gründe, diesem angeblichen Nichtwissen mit Skepsis zu begegnen. Jedenfalls bemerkt der in der Gegend aufgewachsene Historiker Markus
Kreitmair in seiner Arbeit zur Geschichte der Kindermorde auf dem Eichberg,
dass die Ankunft von so vielen Kindern am kleinen Bahnhof in Hattenheim
nicht unbemerkt vor sich gegangen sein kann und sich sicherlich Informationen über solche Vorgänge und darauf aufbauende Gerüchte schnell in dieser
ländlichen Gegend verbreiteten. Jedenfalls wurden, wie er berichtet, Eltern
von Kindern in der Gegend von Dorfbewohnern mit dem ominösen Hinweis
gewarnt, dass auf dem Eichberg Kinder nach der Einweisung medizinischen
Forschungszwecken zugeführt würden.20
Die Untersuchungen der Schülergruppe und die sich daran anschließenden Publikationen von Horst Dickel21 läuteten eine eingehende wissenschaftliche Beschäftigung mit der „Euthanasie“ auf dem Eichberg ein, für die es von
ihrem Umfang her bei den meisten anderen „Kinderfachabteilungen“ kaum
Vergleichbares gibt. Ergebnisse dieser Untersuchungen finden sich in einer
Reihe von Büchern, Aufsätzen, Dissertationen, Diplom- und Seminararbeiten.22 Darüber hinaus wurde Anfang der 1990er Jahre eine erste Analyse der
noch vorhandenen Krankenakten erstellt,23 von denen zuvor von der Anstaltsleitung gegenüber der Gruppe um Horst Dickel noch behauptet worden war,
19
Vgl. Dickel, Der Eichberg, S. 60-62.
Vgl. Markus Kreitmair, In Fear of the Frail. The Treatment of the Disabled at the Eichberg Asylum for the Mentally Ill in Nazi Germany, M. A. Thesis, Department of History,
Simon Fraser University 2000, S. 123f.
21 Vgl. Dickel, Der Eichberg; ders., „Die sind doch alle unheilbar“. Zwangssterilisation und
Tötung der „Minderwertigen“ im Rheingau 1934-1945, Frankfurt am Main 1988.
22 Neben den bereits erwähnten Publikationen von Dickel, Vanja, Sandner und Kreitmair vgl. Linda Orth, Die Transportkinder aus Bonn. „Kindereuthanasie“, Köln 1989,
S. 58-69; Christiane Nuhn, Die psychiatrische Anstalt Eichberg und ihre Direktoren
1938-1945, in: Achim Thom und S. M. Rapoport (Hg.), Das Schicksal der Medizin im
Faschismus, Berlin 1989, S. 209-212; Andrea Schneider-Wendling, Anstaltspsychiatrie
im Nationalsozialismus am Beispiel der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg, Medizinische
Dissertation, Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1989.
23 Vgl. Sabine Teich und Anke Tucholski, Eine Studie über „Kindereuthanasie“ in der Kinderfachabteilung der LHA Eichberg anhand der Krankenakten im Hessischen Haupt20
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
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solche gebe es nicht mehr. Hinweise auf die Existenz solcher Akten waren
aufgetaucht, als die Gedenkstätte Hadamar in Vorbereitung auf die dortige
Dauerausstellung „Verlegt nach Hadamar“ nach Informationen über auf dem
Eichberg verstorbene Kinder suchte24 und solche dann in die Wanderausstellung „Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik
in hessischen Anstalten” integrierte. Zum Anlass des 150-jährigen Bestehens
der Klinik – 1999 –wurde im Rahmen der Historischen Schriftenreihe des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen eine Schrift veröffentlicht, die sich unter
dem Titel „Wissen und Irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten –
Eberbach und Eichberg“ eingehend mit der NS-Vergangenheit der Institution beschäftigte25 und aus der eine gleichnamige Wanderausstellung hervorging, in der auch dezidiert auf die „Reichsausschussaktion“ auf dem Eichberg
eingegangen wurde. Zum Kindermord auf dem Eichberg gibt es auch – fast
einzigartig unter den „Kinderfachabteilungen“ – eine englischsprachige wissenschaftliche Abhandlung, die im Internet abrufbar ist.26
Solche Versuche, den Kindermord auf dem Eichberg zu erforschen und
darüber zu berichten, haben aber anscheinend wenig daran geändert, dass in
der Region nach wie vor geringes Interesse an der Thematik besteht. Jedenfalls
lässt sich dies aus der Reaktion schließen, die der regional bekannte Journalist
Hans Dieter Schreeb erfuhr, als er im Jahr 2006 im „Wiesbadener Tageblatt“
eine Serie zu der Geschichte der Anstalt Eichberg veröffentlichte, in der er
auch auf die „Euthanasie“-Morde einging. Im Gegensatz zu anderen regionalbezogenen Berichten des Journalisten, auf die es gewöhnlich immer ein reges
Leserinteresse mit entsprechenden Zuschriften an die Zeitung gab, herrschte
in Bezug auf die Morde auf dem Eichberg Totenstille.27
Vor Ort wurde auf dem Eichberg im Jahr 1985 ein erstes Gedenkobjekt
in Form eines Gedenkkreuzes auf dem Anstaltsfriedhof mit Hinweis auf die
„Euthanasie“-Opfer errichtet. Auf der Inschrift am Kreuz findet sich allerdings
kein besonderer Hinweis auf die Kinderopfer. Ein solcher Hinweis erfolgte
dann im Jahr 1988 auf einer Gedenktafel an der Kapelle des alten Friedhofs auf
24
25
26
27
staatsarchiv in Wiesbaden, Diplomarbeit im Fachbereich Sozialarbeit, Fachhochschule
Frankfurt am Main 1992.
Vgl. ebd., S. 5.
Vgl. Vanja, Wissen und Irren.
Vgl. Kreitmair, In Fear of the Frail.
Der Autor dankt Hans Dieter Schreeb für diesbezügliche Angaben.
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Lutz Kaelber
dem Eichberg, wo auch die verstorbenen Kinder begraben wurden, mit folgender Inschrift: „Zum Gedenken an die hilflosen Kinder, die auf dem Eichberg in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer der ‚Euthanasie‘-Verbrechen
wurden und hier begraben liegen. Ihr Tod soll uns Mahnung sein“.
Ein Rosenbeet für die Kinder an der Stelle, wo vermutlich viele von ihnen
in einem Massengrab liegen, wurde im gleichen Jahr angelegt, wird aber heute
nicht mehr gepflegt.
Im Jahr 1993, nach Diskussionen darüber, ob dieser Friedhof aufgelassen
werden solle, wurde dann in unmittelbarer Nähe der Kapelle und des Rosenbeets ein vom Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, dem Träger der Anstalt, in
Auftrag gegebener und vom Steinmetz Uwe Kunze erstellter Gedenkstein in
der Form eines Sarkophags den Opfern gewidmet. Aus dem Sarkophag ragen
ein Teddybär und Holzpferdchen heraus, scheinen aber langsam in ihn hinein
zu sinken. Damit wird die Kindheit symbolisiert, die für viele auf dem Eichberg zerstört wurde. Daneben befindet sich folgende Inschrift:
„In Erinnerung an die vielen Menschen, die auf dem Eichberg Opfer der NSZwangssterilisation und ,Euthanasie‘-Verbrechen wurden, gedenken wir –
der 301 Frauen und Männer, die von 1935-1939 unter Zwang sterilisiert worden sind, – der 2019 Patientinnen und Patienten, die 1940/41 über die ,Sammelanstalt‘ Eichberg in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt wurden, darunter 660 Menschen vom Eichberg, – der 476 behinderten Kinder, die von
1941-1945 in einer sogenannten Kinderfachabteilung zu ,wissenschaftlichen
Zwecken‘ beobachtet und dann ermordet wurden, – der vielen Patientinnen
und Patienten, die von 1942-1945 durch Unterernährung und überdosierte Medikamente gewaltsam zu Tode kamen. Ihr Leben und Tod sind uns
Mahnung und Auftrag für Gegenwart und Zukunft“.
Seither hat es regelmäßig zum Totensonntag (religiöse) Gedenkveranstaltungen an der Kapelle und gelegentlich Jugendcamps und andere Veranstaltungen
für Jugendliche (auch) zum Gedenken an die Kinderopfer vor Ort gegeben.
Trotz dieser vorhandenen Gedenkzeichen war es für Besucher des Eichbergs nicht leicht, diese überhaupt zu finden. Auf der Internetseite des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen steht zwar eine extensive und übersichtliche
Dokumentation existierender Gedenkobjekte an den unter seiner Trägerschaft
stehenden Institutionen, aber keine Geschichte des Eichbergs. Die Internetseite der Klinik, heute zu „Vitos Rheingau“ gehörend, weist auf die Chronik
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
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der Anstalt unter Einbeziehung der Zeit des Nationalsozialismus hin und hat
nun auch eine der Gedenkstätte selbst gewidmete Seite,28 aber dies ist erst seit
2010 der Fall. Vorher war hiervon nichts zu lesen und auch der Besucher vor
Ort konnte lange nach einem nicht vorhandenen Hinweisschild suchen, welches auf die Lokalisierung von Gedenkobjekten auf dem weitläufigen und steil
bebauten Gebiet hätte hinweisen können. Um diesem Zustand abzuhelfen,
bieten seit etwa fünf Jahren zwei Mitarbeiter der evangelischen Krankenhausfürsorge vor Ort einen historischen Rundgang zu den Gedenkstätten an, der
sich sowohl an Patienten und Mitarbeiter als auch an Besucher wendet.
Zudem formierte sich eine Arbeitsgemeinschaft „Gedenkstätte Eichberg“
in der Klinik, um die NS-Vergangenheit der Stätte nicht nur weiter zu erforschen, sondern auch präsent zu machen. Deren Aktivitäten resultierten in
einer Dauerausstellung, für die die ehemalige Wanderausstellung des Jahres
1999 leicht überarbeitet wurde. Auf neun Tafeln wird die Thematik dargestellt.
Die erste Tafel befasst sich mit ideologisch-philosophischen Entwicklungen
bis Anfang des 20. Jahrhundert, von der Aufklärung bis hin zum Sozialdarwinismus und der „Rassenhygiene“ in Deutschland. Tafel zwei thematisiert
die Verbreitung „rassenhygienischen“ Denkens in der deutschen Kultur und
Politik bis 1933. Auf der dritten Tafel wird auf die Zwangssterilisierungen im
„Dritten Reich“, auch von Patienten auf dem Eichberg, eingegangen. Tafel vier
behandelt die Anstaltspolitik der 1930er Jahre im Nationalsozialismus, die u. a.
auf wesentliche Kosteneinsparung in der Anstaltsfürsorge abzielte. Die fünfte
Tafel zeigt anhand mehrerer Schriftstücke die Nazifizierung der Anstalt auf
dem Eichberg bis 1939 auf. Tafel sechs geht auf die Einbeziehung des Eichbergs in die „T4“-Aktion ein. Die „Kindereuthanasie“ wird auf Tafel sieben
dargestellt. Das Schicksal von Kindern wie auch das Handeln der Täter und
Täterinnen wird mittels mehrerer Dokumente veranschaulicht. Ebenso wird
die Zusammenarbeit mit der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg
unter Carl Schneider geschildert. Tafel acht behandelt die verschiedenen Opfergruppen und die Art und Weise, wie sie auf dem Eichberg zu Tode kamen.
Die neunte und letzte Tafel beschreibt sowohl die schwierigen Umstände auf
dem Eichberg in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges als
28
Vgl. http://www.vitos-rheingau.de/rheingau/rheingau/historie/chronik.html und http://
www.vitos-rheingau.de/rheingau/rheingau/gedenkstaette.html (beide aufgerufen am 2.
Februar 2011).
210
Lutz Kaelber
auch die Bemühungen von Bürgern, für den „Euthanasie“-Täter Dr. Schmidt
einen Gnadenerlass zu erwirken.29
Die Dauerausstellung wurde am 1. September 2009 in Anbetracht des 70.
Jahrestages des von Hitler unterschriebenen und auf den 1. September 1939 zurückdatieren „Euthanasieerlasses“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zum
1. September jeden Jahres findet nun eine Gedenkveranstaltung vor Ort statt.
Kalmenhof
Die „Kinderfachabteilung“ in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof
Wie auch die Landesheilanstalt Eichberg lag die in Idstein im Taunus gelegene
Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in der Provinz Hessen-Nassau. Die Gründung
der Anstalt als privat betriebene „Idiotenanstalt“ und spätere „Heilerziehungsanstalt für Schwachsinnige“ im Jahr 1888 ging auf das Mäzenatentum und die
Unterstützung durch liberale jüdische und christliche Frankfurter Bürger zurück. In der Literatur wird die Institution als bis zu Beginn des Nationalsozialismus „gut ausgestattete und effektiv arbeitende ,Musteranstalt‘“ und „in der
Anstaltspflege führend“ bezeichnet.30 Danach verlor sie faktisch ihre staatliche
Unabhängigkeit und wurde zu einer gleichgeschalteten, staatlich kontrollierten
Anstalt.
Zu der Errichtung der „Kinderfachabteilung“, die bis März 1945 bestand,
finden sich verschiedene Angaben: spätestens 1941 (Benzenhöfer),31 im August
1941 oder kurz danach (Berger und Oelschläger),32 spätestens im September
29
Eine bildliche Übersicht der Ausstellung findet sich bei http://www.uvm.edu/~lkaelber/
children/eichberg/eichberg.html.
30 Vgl. Christian Schrapper und Dieter Sengling (Hg.), Die Idee der Bildbarkeit. 100 Jahre
sozialpädagogische Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, Weinheim 1988,
Buchumschlag; Andrea Berger und Thomas Oelschläger, „Ich habe sie eines natürlichen
Todes sterben lassen“. Das Krankenhaus im Kalmenhof und die Praxis der nationalsozialistischen Bildungsprogramme, in: Schrapper und Sengling, Die Idee der Bildbarkeit,
S. 269-336, hier S. 272.
31 Vgl. Udo Benzenhöfer, Überblick über die „Kinderfachabteilungen“ im Rahmen des
„Reichsausschussverfahrens“, in: Kaelber und Reiter, Kindermord und „Kinderfachabteilungen“, S. 67-75, hier S. 70.
32 Vgl. Berger und Oelschläger, „Ich habe sie …“, S. 311.
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
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1941 (Topp)33 oder zur Jahreswende 1941-1942 (Sick, Sandner; beide basierend
auf Angaben im Kalmenhof-Prozess)34. Es gilt dabei zu bedenken, dass die Anstaltssterblichkeit schon im Oktober 1939 stark anstieg35 und zwischen Januar
und Juli 1941 von den 600 im Kalmenhof untergebrachten Stammzöglingen
im Rahmen der „T4“-Aktion 235 in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt und
dort ermordet worden waren, darunter 85 Zöglinge, die nach dem 1. Januar
1920 geboren waren.36 Bereits Anfang 1941, also noch vor der formellen Einrichtung der „Kinderfachabteilung“, wurde die später für die „Kinderfachabteilung“ zuständige Ärztin Dr. Mathilde Weber mittels einer ihr zugesandten Liste
von Kindern aufgefordert, über diese an den „Reichsausschuss“ zu berichten.37
Zwischen dem 1. Mai und dem 31. August 1941 enthält das von dem der Bekennenden Kirche angehörigen Idsteiner Pfarrer Boecker geführte evangelische
Sterberegister 35 Eintragungen zu Todesfällen von Kindern im Kalmenhof,
denen der Pfarrer den Buchstaben „E“ bzw. das Wort „Euthanasie“ beifügte.38
Diese Eintragungen weisen auf die auch an anderen Stätten von „Kinderfachabteilungen“ belegten Tötungen von Kindern vor der Einrichtung einer „Kinderfachabteilung“ bzw. außerhalb des „Reichsausschussverfahrens“ hin.
Die Anstalt stand, anders als Eichberg, nicht unter ärztlicher, sondern
unter verwaltungsdirektiver Leitung,39 wobei ab 1937 der zum Dezernenten
33
34
35
36
37
38
39
Vgl. Sascha Topp, Der „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und
anlagebedingter schwerer Leiden“. Zur Organisation der Ermordung minderjähriger
Kranker im Nationalsozialismus 1939-1945, in: Thomas Beddies und Kristina Hübener
(Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie. Berlin-Brandenburg 2004, S. 17-54, hier S. 34.
Vgl. Dorothea Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel des Kalmenhofs
in Idstein im Taunus, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1983, S. 36; Sandner, Verwaltung des
Krankenmordes, S. 540; Rüter-Ehlermann und Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Band
4, Lfd. Nr. 117, S. 49.
Vgl. Berger und Oelschläger, „Ich habe sie …“, S. 297.
In der Literatur wurde oft die Zahl 232 genannt, wobei auch berichtet wurde, dass es
sich um Kinder gehandelt habe. Für den Nachweis auf die Altersstruktur danke ich Dr.
Georg Lilienthal, dem Leiter der Gedenkstätte Hadamar, der auf drei ‚Nachzügler‘ aus
dem letzten bisher bekannten Transport vom 29.04.1941 verwies, die am 25.06. und
25.07.1941 nach Hadamar transportiert wurden.
Vgl. Berger und Oelschläger, „Ich habe sie …“, S. 297.
Vgl. dazu bei Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, S. 120 die Angaben in dem
dort abgedruckten Zeitungsbericht der Idsteiner Zeitung.
Vgl. dazu und im Folgenden, Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 540 und passim.
212
Lutz Kaelber
für das Anstaltswesen beim Bezirksverband ernannte und auch dem Trägerverein der Anstalt vorstehende Otto Friedrich („Fritz“) Bernotat eine wichtige
Rolle bei der Umsetzung nationalsozialistischer Anstaltspolitik spielte. Nachdem der 1933 von der NSDAP eingesetzte Anstaltsdirektor Ernst Müller im
Juni 1941 von der Wehrmacht eingezogen wurde, wurde Wilhelm Grossmann
ihr kommissarischer Direktor und bekleidete dieses Amt bis 1945. Von 1938 bis
1945 war der leitende Arzt formal Dr. Bodo Gorgaß, der aber bereits 1939 zur
Wehrmacht einberufen wurde und danach für die „T4“ u. a. als Vergasungsarzt in Hadamar aktiv war und dem entsprechend im Kalmenhof keine aktive
Rolle mehr spielte. Für ihn übernahm Dr. Mathilde Weber die ärztliche Leitung. Sie war bis zu ihrer gesundheitsbedingten Kündigung Ende Juni 1944 für
die „Kinderfachabteilung“ im Kalmenhof zuständig. Sie hatte sich 1943 bei den
Kindern mit Lungentuberkulose angesteckt ebenso wie die in der „Kinderfachabteilung“ arbeitende Krankenschwester Maria Müller. Als Dr. Weber im
Sommer 1942 an einem mehrwöchigen Lehrgang an der Universitäts-Nervenklinik Heidelberg bei Prof. Carl Schneider teilnahm, starben im Mai, Juni und
Juli des Jahres keine Kinder ebenso wie während der Zeit, als sie ein Jahr später
wegen Lungentuberkulose nicht mehr am Krankenhaus arbeiten konnte.40 Bis
Ende Oktober 1942 war die vom Pflegepersonal im Kalmenhof übernommene
Krankenschwester Frieda Windmüller in der „Kinderfachabteilung“ tätig, ab
Mitte 1942 Maria Müller41. Im Mai 1944 wurde Dr. Weber durch Hermann
Wesse ersetzt, der schon zuvor extensive Erfahrungen in den „Kinderfachabteilungen“ in Görden, Waldniel, Leipzig und Uchtspringe gesammelt hatte.42
Neben Maria Müller war ab Juni 1944 die bereits in anderen „Kinderfachabteilungen“ tätige Krankenschwester Anna Wrona in der „Kinderfachabteilung“
im Kalmenhof aktiv.43
Die „Kinderfachabteilung“ war im Krankenhaus der Anstalt untergebracht, das im Jahr 1927 errichtet worden war. Da die Wehrmacht 1941 alle
Gebäude des Kalmenhofes bis auf das extern gelegene Altenheim benutzte,
40
Vgl. Berger und Oelschläger, „Ich habe sie …“, S. 322-325. Siehe auch Rudolf Müller, Das
Heim des Todes, in: Stern, Nr. 45, 29.10.1987.
41 Vgl. Berger und Oelschläger, „Ich habe sie …“, S. 311-312.
42 Zu Wesse siehe Andreas Kinast, „Das Kind ist nicht abrichtfähig“. „Euthanasie“ in der
Kinderfachabteilung Waldniel 1941-1943, Köln 2010, S. 98-112.
43 Vgl. Berger und Oelschläger, „Ich habe sie …“, S. 327.
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
213
einschließlich des Erdgeschosses und 1. Stockes des Krankenhauses, und das
zweite Geschoss für die Behandlung von kranken Kalmenhofzöglingen benutzt wurde, stand für die „Kinderfachabteilung“ nur das ausgebaute dritte
Stockwerk unter dem Dach zur Verfügung. Wegen Platzmangels wurde ein
Teil der „Reichsausschuss“-Kinder im Altenheim untergebracht.44 Das Gebäude des Krankenhauses existiert noch heute, wird aber aufgrund seines sanierungsbedürftigen Zustandes nicht mehr genutzt.
Die Zahl der in der „Kinderfachabteilung“ zu Tode gekommenen Kinder und Jugendlichen war hoch. Im Standesamt der Stadt wurden zwischen
1941 und 1945 insgesamt über 600 Todesfälle im Kalmenhof registriert, unter
denen von Anfang 1942 bis 1945 mindestens 369 Kinder und Jugendliche
waren. Unter Einbeziehung der wahrscheinlich schon im „Reichsausschussverfahren“ ab etwa August 1941 getöteten Kinder lässt dies bei konservativer
Schätzung auf eine Zahl von mindestens etwa 300 bis 350 ermordeten Kindern
und Jugendlichen schließen.45
Aufarbeitung nach dem Ende der NS-Herrschaft
Schon Anfang April 1945, also unmittelbar nach dem Einmarsch amerikanischer Truppen am 28. März 1945, ließ die amerikanische Militärregierung
wegen der Ereignisse im Kalmenhof ermitteln und Wilhelm Grossmann und
Herrmann Wesse sowie die Krankenschwestern Anna Wrona und Maria Müller und einen Pfleger u. a. wegen Mordverdachts festnehmen. Die Festgenommenen wurden allerdings dann nach und nach wieder aus der Haft entlassen.
Nach Übergabe des Falles an die deutsche Gerichtsbarkeit im März 1946
wurden die nach Beschluss vom Dezember 1945 bei der Staatsanwaltschaft
Frankfurt zentral zu führenden Ermittlungen zunächst von der Staatsanwaltschaft Wiesbaden und dann von der Staatsanwaltschaft Frankfurt geführt und
44
45
Vgl. Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, S. 36.
Vgl. Sandner, Verwaltung des Krankenmordes, S. 542. Für einen Überblick über die
Quellen und die daraus gewonnenen Zahlen und Schätzungen vgl. Sick, „Euthanasie“
im Nationalsozialismus, S. 27-28. Zur Problematik des Nachweises des Opferstatus siehe
Raimond Reiter, Opferstatus ohne Nachweis? Über ein Dauerproblem in der Forschung
zu Opfern der NS-Psychiatrie, in: Kaelber und Reiter, Kindermord und „Kinderfachabteilungen“, S. 193-215.
214
Lutz Kaelber
im September 1946 abgeschlossen.46 Das Amtsgericht Idstein erließ gegen Wilhelm Grossmann, Dr. Mathilde Weber, Hermann Wesse, Maria Müller, Anna
Wrona und einen früheren Pfleger Haftbefehl. Maria Müller war untergetaucht
und nicht mehr auffindbar. Auch Fritz Bernotat wurde nie vor Gericht gestellt
und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1951 unter falschem Namen.47
In Kalmenhof-Prozess wurden im Januar 1947 in erster Instanz Grossmann, Dr. Weber, und Wesse wegen Mordes zum Tode und Wrona wegen Beihilfe zum Mord zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Oberlandesgericht
Frankfurt am Main wies im April 1948 die Anfechtung des Urteils durch Hermann Wesse ab, hob aber die Urteile gegen Grossmann, Weber und Wrona auf
und verwies diese Fälle an das Landgericht Frankfurt zurück. Dieses sprach
Wrona im Februar 1949 frei und verurteilte Grossmann zu viereinhalb und
Dr. Weber zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord. Grossmann wurde aus Gesundheitsgründen von weiterer Haft verschont und verstarb 1951. Auch Dr. Weber wurde zu diesem Zeitpunkt wegen Haftunfähigkeit
auf freien Fuß gesetzt. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verwarf im
Juni 1949 die Revision von Dr. Weber, hob aber das Urteil gegen Wrona auf
und verwies diesen Fall an das Landgericht Frankfurt zurück. Im Oktober 1952
verurteilte dieses Wrona schließlich wegen Mordes zu drei Jahren Zuchthaus,
wobei dieses Urteil im September 1953 vom Bundesgerichtshof verworfen und
sie erneut freigesprochen wurde. Im Oktober 1954 trat Dr. Weber ihre Reststrafe an, wurde jedoch nach nur einem Monat Haft nach Verbüßung von zwei
Dritteln der Strafe entlassen. Hermann Wesse, der vor seiner Beschäftigung
auf dem Kalmenhof auch in den „Kinderfachabteilungen“ Waldniel, LeipzigDösen und Uchtspringe tätig gewesen war und der wegen Mordes in Waldniel
von einem Düsseldorfer Gericht im Jahr 1948 zu lebenslänglichem Zuchthaus
verurteilt wurde, wurde 1966 wegen Haftunfähigkeit aus der Haft entlassen.48
46
Vgl. Meusch, Die Frankfurter Euthanasie-Prozesse, S. 260f.; Ekkehard Maass, Verschweigen – Vergessen – Erinnern. Vergangenheitsbewältigung in Idstein, in: Schrapper
und Sengling, Die Idee der Bildbarkeit, S. 337-356, hier S. 337f.
47 Vgl. Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, S. 96ff.
48 Wie durch die Forschungen von Andreas Kinast („Das Kind ist nicht abrichtfähig“,
S. 259-266) belegt, hat der Arzt Hermann Wesse nie einen Doktortitel erworben und
seine ärztliche Qualifikation war selbst im Rahmen seiner Aktivitäten im Nationalsozialismus suspekt. Nach einem Bericht des Redakteurs Rudolf Müller im Magazin „Stern“
(Das Heim des Todes) soll auch Mathilde Weber nicht promoviert haben, wobei das
Thema einer fehlenden Promotion von der neueren Forschung nicht aufgegriffen wor-
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
215
Der Kalmenhof-Prozess dokumentierte also schon sehr bald in der Nachkriegszeit die Geschehnisse in der „Kinderfachabteilung“, wie dies ebenfalls im
Eichberg-Prozess für die dort ausgeführten „Kindereuthanasie“-Verbrechen
der Fall war, und ermöglichte, nachdem Mitscherlich und Mielke im Jahr 1947
in ihrer Dokumentation zum Nürnberger Ärzteprozess den als „Kantenhof “
identifizierten Ort kurz erwähnten, ausführliche Hinweise auf diese Verbrechen in Alice Platen-Hallermunds im Jahr 1948 erschienenen Dokumentation.
Auch der 1949 von Mitscherlich und Mielke unter dem Titel „Wissenschaft
ohne Menschlichkeit“ für die westdeutschen Ärztekammern verfassten Abschlussbericht zum Ärzteprozess, welcher 1960 unter neuem Titel allgemein
zugänglich publiziert wurde, ging nochmals kurz auf diese Thematik ein.49 Die
sehr ausgedehnten Gerichtsverfahren und die versuchte Rehabilitierung der
Täter sorgten für eine anhaltende Berichterstattung in der Lokal- und Regionalpresse, die in der einschlägigen Literatur umfassend dargestellt ist. Danach
gab es in der Frankfurter Rundschau ausführliche Artikel und Kommentare
und auch im Wiesbadener Kurier und später in der Frankfurter Neuen Presse,
der Abendpost (Frankfurt) und der Idsteiner Zeitung fanden sich journalistische Hinweise bis in die 1960er Jahre hinein.50 Ende der 1960er Jahre wurde
dann in der von Rüter-Ehlermann und Rüter publizierten Sammlung westdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen auch
die Urteile im Kalmenhof-Prozess veröffentlicht und allgemein zugänglich.51
den ist. Ihre fachliche Kompetenz soll ebenfalls von zweifelhafter Natur gewesen sein.
Weitere Parallelen zum Kalmenhof ergeben sich aus der Tatsache, dass Dr. Weber (wie
auch Dr. Schmidt) nach Haftentlassung wieder vor Ort ärztlich praktiziert haben soll
(vgl. Ernst Klee, Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte
am Kranken- und Judenmord, Frankfurt am Main 2004, S. 206) und, ohne Schwierigkeiten zu bekommen, am Ort der Tat weiterleben konnte. Sie lebte in Idstein bis 1994
und verstarb 1996. Für Nachweise und Auskünfte danke ich Thomas-Ken Ziegler.
49 Vgl. Mitscherlich und Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung, S. 132; Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker, S. 50ff.; Alexander Mitscherlich und Fred Mielke,
Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg, Heidelberg 1949, neu erschienen unter dem Titel: Medizin
ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt am Main
1960, S. 210ff.
50 Vgl. Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, S. 100, S. 116-118, S. 125-126; Maass, Verschweigen – Vergessen – Erinnern, Fussnotenanhang, S. 373, Anm. 9.
51 Weitere Hinweise auf die Darstellung der im Kalmenhof begangenen Verbrechen in der
Literatur der Zeit finden sich ebd., S. 351.
216
Lutz Kaelber
Trotz aller Informationen zu den „Kindereuthanasie“-Verbrechen war schon
früh eine lokale Unterstützung von Tätern und die Nichtbeachtung der
„Euthanasie“-Verbrechen bei offiziellen geschichtlichen Anlässen auszumachen. Bald nach dem ursprünglich ausgesprochenen Todesurteil gegen Dr.
Weber existierte eine Unterschriftenliste in Idstein, deren zugehöriger Text
auf das „Pflichtgefühl“ der Ärztin und ihre „Liebe“ zu den Patienten hinwies.
Unterschrieben war die Liste von über 600 Idsteiner Bürgern, darunter der
Bürgermeister, der Schuldirektor, der Pfarrer, der Buchhändler und der Apotheker.52 Aus dem Bürgertum der Stadt Idstein heraus gab es auch danach
in den Fällen Grossmann und Weber immer wieder Anstöße zu Gnadengesuchen, die etwa im ersten Fall vom Bürgermeister und Magistrat der Stadt
durch einen Beschluss und ein Schreiben befürwortet wurden53 und im zweiten Fall bis in die 1950er Jahre dokumentiert sind.54 Man wollte offensichtlich
nicht glauben, dass insbesondere Dr. Weber, die während des Bestehens der
Kalmenhofer „Kinderfachabteilung“ mit einem angesehenen Idsteiner Arzt
verheiratet war, persönlich der ihr vorgeworfenen grausamen Taten fähig war.
Wie in der Gegend um den Eichberg war in der Idsteiner Region keine Bereitschaft ersichtlich, sich der horrenden Geschehnisse anzunehmen. Bei offiziellen Anlässen wurden die Morde im Kalmenhof gar nicht thematisiert.
1948 jährte sich das Bestehen des wieder für den Kalmenhof zuständigen Regierungsbezirkes Wiesbaden, in dessen Festschrift im Kapitel zum Kalmenhof die „Euthanasie“-Verbrechen übergangen wurden. Ein ähnliches Umgehen zeigt sich 1963 in einer Rede zum Anlass des 75-jährigen Bestehens des
Kalmenhofes und 1971 in einem Text- und Bildband zur Geschichte der Stadt
Idstein. Bei den Feierlichkeiten zum 90-jährigen Bestehen des Kalmenhofes
im Jahr 1978 wurde von leitender Stelle noch verneint, dass auf dem Kalmenhof im „Dritten Reich“ überhaupt jemand getötet worden sei. Diese Aussage
wurde in die Festschrift zur Feier des Jahrestages übernommen.55 Über die
knapp zehn Jahre zuvor erfolgte Veröffentlichung der Strafprozessurteile war –
52
Vgl. ebd., S. 344; Müller, Das Heim des Todes.
Vgl. Sick, „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, S. 97-98.
54 Vgl. Maass, Verschweigen – Vergessen – Erinnern, S. 348-349.
55 Vgl. ebd., S. 350; Müller, Das Heim des Todes.
53
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
217
ebenso wie in Eichberg – für den Kalmenhof anscheinend noch nichts bekannt.56
Nur in Form einer bis 1961 stattfindenden jährlichen Privatprozession einer
Anstaltspflegerin mit ein paar Kindern, die zum immer stärker überwucherten
ehemaligen Anstaltsfriedhof hinter dem Krankenhaus führte, wo die Mehrzahl
der getöteten Kinder begraben lag, fand ein Gedenken an die Opfer statt.57
Diese Situation änderte sich, als eine Gruppe Jugendlicher aus der Umgebung Idsteins im Rahmen einer Studienfahrt der „Aktion Sühnezeichen“ bei
einem Besuch von Auschwitz von einem Überlebenden auf die bei Mitscherlich und Mielke veröffentlichten Angaben zum Kalmenhof hingewiesen wurde.58 Nach Rückkehr kontaktierte der Leiter der Studienfahrt, ein Pfarrer aus
Idstein, den Idsteiner Bürgermeister, Vertreter der Kirchengemeinden und die
Leitung des Kalmenhofs. Eine daraufhin gebildete Kommission verschiedener Individuen und Bürgergruppen arbeiteten unter Mitwirkung des Landeswohlfahrtsverbandes nach einem Ende Januar 1982 in der Idsteiner Zeitung
erschienenen sehr detaillierten Bericht zu den NS-„Euthanasie“-Morden auf
die Erstellung eines Gedenkstätte hin. Da auch die „Kindereuthanasie“ dabei
ein Thema war, handelt es sich um eine der historisch frühesten Gedenkinitiativen am Ort einer „Kinderfachabteilung“ (siehe dazu auch Tabelle 1 und 2).
Ein Jahr später veröffentlichte Dorothea Sick eine erste Forschungsarbeit
zum Thema. Ein erster öffentlicher Gottesdienst fand am Volkstrauertag 1984
statt und ein Holzkreuz mit der Inschrift „Zur Erinnerung an die Opfer der
Verbrechen im Kalmenhof/Idstein während der Zeit des Nationalsozialismus“
wurde auf dem immer noch überwucherten Anstaltsfriedhof, der in der Zwischenzeit auch als Spielplatz genutzt worden war, aufgestellt.
Im Jahr 1987 wurde die Gedenkstätte am Ort des ehemaligen Anstaltsfriedhofes eingeweiht. Das hölzerne Kreuz wurde durch ein metallenes mit der glei56
Interessanterweise wurde der Fall Kalmenhof schon 1967 von neonazistischen Kreisen
aufgenommen. Der österreichische Nationalsozialist und Holocaust-Leugner Franz J.
Scheidt hatte in einem Buch mit dem Titel „Geschichte der Verfemung Deutschlands“ die
fehlerhafte Bezeichnung des Kalmenhofs bei Mitscherlich und Mielke als „Kantenhof “
übernommen und dazu behauptet, der Kindermord sei aus Barmherzigkeit geschehen
und sogar von den Amerikanern nach Kriegsende (an Ort und Stelle?) weitergeführt
worden. Diese Mischung von absurden und menschenverachtenden Ausführungen ist
von der Negationistengruppe VHO ins Internet gestellt worden.
57 Vgl. Maass, Verschweigen – Vergessen – Erinnern, S. 352.
58 Vgl. hierzu und im Folgenden ebd., S. 352ff.
218
Lutz Kaelber
chen Inschrift ersetzt und ein steinernes rundes Mahnmal erbaut. Es trägt die
Inschrift:
„Zur Erinnerung an die Opfer der Gewaltherrschaft. Mehr als 600 Kinder
und Erwachsene aus dem Kalmenhof wurden in den Jahren 1941-1945 ermordet. Ihr Leben galt den Nationalsozialisten als lebensunwert. Viele der
Opfer liegen hier begraben. Anzahl und Lage der einzelnen Gräber sind
unbekannt“.
Im städtischen Friedhof, auf dem aufgrund der erhöhten Sterblichkeit im Jahr
1941 der Platz ausgegangen war, wurde 1987 – im selben Jahr also – durch
eine Gedenktafel mit dem Text „Zur Erinnerung an die Opfer der Gewaltherrschaft. Viele der 600 Opfer aus dem Kalmenhof liegen auf diesem Friedhof
begraben. Ihr Leben galt im totalitären Staat als lebensunwert. 1941-1945“ an
die Geschehnisse erinnert.
Zum 100-jährigen Bestehen des Kalmenhofes – 1988 – wurde eine Wanderausstellung geschaffen, die unter dem Titel „Erziehbar – Bildbar – Brauchbar.
100 Jahre Erziehungsarbeit im Kalmenhof in Idstein. Bilder und Dokumente
deutscher Sozial- und Pädagogikgeschichte“ auf die gesamte Geschichte des
Kalmenhofes und auf die „Euthanasie“-Verbrechen an den Kindern und Jugendlichen einging. Ein korrespondierender Band thematisierte die Geschichte des Kalmenhofes einschließlich der Zeit des Nationalsozialismus und der
Geschichte des Vergessens der Verbrechen. Teile der Wanderausstellung, die
sich mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs befassten, wurden revidiert und unter
Leitung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen schließlich in eine permanente Ausstellung integriert, die seit 1997 auf zwei Etagen des Verwaltungsgebäudes
im Kalmenhof gezeigt wird. Zu jenem Zeitpunkt war dies die erste permanente Ausstellung direkt am Ort einer ehemaligen „Kinderfachabteilung“ überhaupt, wenn man von der seit 1988 bestehenden Ausstellung „Totgeschwiegen“
in Berlin-Wittenau absieht, die auf die dortige „Kindereuthanasie“ einging, allerdings nicht permanent vor Ort in den Wittenauer Heilstätten gezeigt wurde
(siehe Tabelle 1).
Die Ausstellung, die auf die Bemühungen der Arbeitsgruppe „Kalmenhof
zwischen Gestern und Heute“ und des Landeswohlfahrtsverbandes, Funktionsbereich Archiv, Gedenkstätten, Historische Sammlungen zurückging und
über die Jahre hinweg leicht verändert und erweitert worden ist, ist unter dem
Namen „Der Kalmenhof – Geschichte – Kontinuität – Aktualität“ bzw. „Der
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
219
Kalmenhof damals und heute“ im Hauptgebäude des Kalmenhofs im Eingangsbereich des Erdgeschosses und im 1. Stock ausgestellt. Im Eingangsbereich
wird auf mehreren Tafeln auf die Entstehung und den Zweck der Ausstellung
sowie auf die heutigen Arbeitsbereiche und Aufgaben des Vitos Kalmenhof
(zuvor: Sozialpädagogisches Zentrum Kalmenhof) hingewiesen. Darunter
sind zwei Tafeln, die sich auf die Ursprünge der Institution als heilpädagogische Reformeinrichtung beziehen und die eine historische Darstellung einiger
Gebäude bieten. Eine Tafel im Treppenaufgang befasst sich mit den Gründern
der Anstalt. Im oberen Stockwerk veranschaulicht eine Tafel die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Kalmenhof. Eine weitere Tafel klärt über die
sozialdarwinistischen Grundlagen der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ auf. Auf der Tafel „Die Opfer“ wird mittels mehrerer Grafiken auf die Zahl
der Zwangssterilisierten und ermordeten Patienten hingewiesen. Zwei Tafeln
widmen sich zwei einzelnen Opfern, einer Jugendlichen und einem Kind, die
zwangssterilisiert bzw. sehr wahrscheinlich ermordet wurden. Ihr Schicksal
wird unter Heranziehung von Aktenauszügen dargestellt. Die nächste Tafel
bezieht sich auf die Funktion der Täter und auf die gegen sie geführten Prozesse. Eine weitere Tafel erläutert die Rolle des Kalmenhofes für die „T4“-Anstalt
Hadamar. Eine abschließende Tafel befasst sich mit der Erfahrung des Alltags
in einer Anstalt mit einer „Kinderfachabteilung“. In der Mitte des Raumes befinden sich zwei vierseitige schwarze Stelen, auf denen in weißer Schrift die
anonymisierten Namen der zwischen 1939 und Kriegsende im Kalmenhof
verstorbenen Menschen mit Angabe ihres Geburts- und Todesdatums, ihres
Alters sowie ihrer Aufenthaltsdauer im Kalmenhof verzeichnet sind.
Zu der Ausstellung gibt es eine Broschüre, die sich neben dem Inhalt der
Ausstellung auch auf ihre Hintergründe bezieht und Hinweise auf pädagogische Intentionen der Verwendung verschiedener Ausstellungselemente enthält. Die jährliche Zahl der Besucher der Ausstellung ist aufgrund des öffentlichen Zugangs zum Gebäude nicht bekannt, jedoch werden von Mitarbeitern
des Kalmenhofs Führungen nach Voranmeldung angeboten, an denen insbesondere Schulklassen mit durchschnittlich insgesamt zweihundert Schülern
pro Jahr teilgenommen haben.59
Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer findet jährlich am Volkstrauertag
statt.
59
Für die Informationen dazu danke ich Lutz Kratz.
220
Lutz Kaelber
Tabelle 1: Gedenken an die Kinderopfer an Stätten der „Kinderfachabteilungen“
in den alten deutschen Bundesländern einschließlich Berlin
Bundesland
Ort
Gedenkobjekt(e) (Auswahl) / seit
BadenWürttemberg
Stuttgart
Wiesloch
Bayern
Ansbach
nein
Hölzernes Kreuz / 1980
Mahnmal / 1990
Gedenktafel / 1992
Eglfing-Haar
Berlin
Berlin-Wittenau 60
Gedenktafel / 1987
Mahnmal / 1990
Skulptur / 1981 (Irsee)
Gedenkstein / 1989
Mahnmal / 2008 (Kaufbeuren)
Gedenktafel / 1993
Hamburg
Langenhorn
Rothenburgsort
Gedenkstein / 2009
Gedenktafel / 1999
Hessen
Eichberg
Gedenkkreuz / 1985
Gedenktafel / 1988
Gedenkstein / 1993
Gedenkkreuz / 1984
Mahnmal / 1987
Kaufbeuren-Irsee
Kalmenhof
Niedersachsen
Lüneburg
Gedenkstein / 1983
NordrheinWestfalen
Dortmund-Aplerbeck
Gedenkstein / 1989
Denkmal / 1991
Gedenkstein / 1994
Skulptur und Gedenktafel / 1993
Kunstinstallation auf dem Friedhof / 2004
Gedenktafel / 1988
Gedenkstein / 1988
Skulptur und Gedenktafel / 1993
nein
Niedermarsberg
Waldniel
SchleswigHolstein
60
Schleswig-Hesterberg
Schleswig-Stadtfeld
Zu BRD/DDR-Zeiten im damaligen West-Berlin gelegen.
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
221
Gedenkobjekt oder andere Gedenkart auf Kinderopfer bezogen / seit
nein
nein
Aktives Internetgedenken61 / Ausstellung
(auch im Rahmen eines Museums) vor Ort
nein / nein
nein / nein
Ausstellungstafel in der Psychiatrie-Dauerausstellung / 2002
Erläuterungstafel zum Mahnmal / 2005
Ausstellungstafeln im Psychiatrie-Museum / 2005
Gedenkraum in der ehemaligen Prosektur /
ca. 2007 (Irsee)
Stolpersteine 62 / 2009 (Irsee)
Gedenktafel / 1993
Ausstellungstafeln in der Ausstellung
„Totgeschwiegen“ / 1988
Stolpersteine / 2004
Gedenkstein / 2009
Gedenktafel / 1999
Stolpersteine / 2009
Gedenktafel / 1988
Gedenkstein / 1993
Ausstellungstafeln im Haus 8 / 2009
Mahnmal / 1987
Ausstellungstafeln der Ausstellung „Der
Kalmenhof – Geschichte – Kontinuität –
Aktualität“ im Verwaltungsgebäude / 1997
Ausstellungstafeln in der Gedenkstätte / 2004
Stolpersteine / seit 2005
Denkmal / 1991
Gedenkstein / 1994
nein / ja
nein / ja
nein / nein
nein / ja
nein / nein
nein / nein
nein / ja
nein / ja
ja / ja
nein / nein
Denkmal / 2000
Kunstinstallation auf dem Friedhof / 2004
Gedenktafel / 1988
nein / nein
Skulptur und Gedenktafel / 1993
nein
nein / nein
nein / nein
61
ja / nein
Beim „aktiven Internetgedenken“ geht es nicht nur um die Bereitstellung einer Internetseite, sondern auch um die Darlegung grundlegender Informationen zum Kindermord
vor Ort und zu den aktuellen Gedenkarten.
62 Zu den Aufschriften auf den Stolpersteinen siehe Anhang.
222
Lutz Kaelber
Folgerungen für die Genese und Phänomenologie der Erinnerungs- und
Gedenkkultur zur NS-„Kindereuthanasie“
Die Fallbeispiele Eichberg und Kalmenhof illustrieren auf einprägsame
Weise mehrere Aspekte der nationalen und internationalen sich auf die NS„Kindereuthanasie“ beziehenden Gedenkkultur. Diese Aspekte lassen sich wie
folgt thematisieren:
1. Entkoppelung von wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichem
Gedenken
2. Einbettung in nationale Gedenk- und Erinnerungskulturen und lokale Besonderheiten
3. Jubiläen und formale Gedenktage als Gedenkanstöße
4. Die Rolle von Gedenkakteuren
5. Relevanz des Internets
6. Verborgene Schätze und verpasste Gelegenheiten: Zur Neu- und Nicht-Nutzung bestehender Ausstellungen
1. Entkoppelung von wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichem
Gedenken
Macht man sich klar, dass, wie oben ausgeführt, ein umfangreicher und detaillierter wissenschaftlicher Apparat zu den geschichtlichen Ereignissen während des Nationalsozialismus sowohl auf dem Eichberg als auch im Kalmenhof bereitsteht und dies in beiden Fällen auch schon ungewöhnlich früh der
Fall war, so fällt auf, dass sich daraus noch lange nicht die Existenz einer lokalen oder regionalen Erinnerungskultur ableiten lässt. Für den Eichberg war
die Erinnerung lange Zeit nicht existent und damit von den fortschreitenden
wissenschaftlichen Erkenntnissen über den dortigen Kindermord entkoppelt.
Die Veröffentlichung des Eichberg-Urteils in Buchform in den späten 1960er
Jahren hat an der lokalen Erinnerungsverweigerung über die darauffolgenden
30 Jahre hinweg nichts geändert und möglicherweise eine solche Form von
Verweigerung als Abwehrmechanismus mit hervorgehoben und bestärkt.63
63
Daraus sollte man aber nicht schließen, dass wissenschaftliche Arbeiten keine Veränderung in der Gedenkpraxis bewirken können. Beispielsweise begann das Gedenken an
die „Euthanasie“-Opfer in Dortmund-Aplerbeck mit einem Vortrag und einer Buchveröffentlichung von Dr. Karl Teppe vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschich-
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
223
Erst über die letzten zwanzig Jahre hinweg hat sich die Situation geändert und
zuletzt zum Angebot einer Besuchsbetreuung und permanenten Ausstellung
geführt. Parallel zu diesen Entwicklungen haben sich im Kalmenhof neuere
historische Untersuchungen erst im Gefolge von Gedenkinitiativen in den frühen 1980er Jahren ergeben, wobei auch dort die Erinnerungsverweigerung bis
dahin mit einer Ausblendung der Verbrechen im Nationalsozialismus einherging, die spätestens mit der Veröffentlichung der Urteilssammlung „Justiz und
NS-Verbrechen“ bekannt sein hätten müssen.
2. Einbettung in nationale Gedenk- und Erinnerungskulturen und lokale
Besonderheiten
Gedenken oder das, was man im Angloamerikanischen als „commemoration“
bezeichnet, ist in eine nationale und internationale Erinnerungs- und Gedenkkultur eingebettet, bei der es abgrenzbare historisch-nationale Profile gibt. Für
das ehemalige Westdeutschland hat der Soziologe M. Rainer Lepsius64 ein solches Profil als Internalisierung dahingehend identifiziert, dass die politische
Kultur der Bundesrepublik Deutschland sich der Verantwortung für die Folgen
des nationalsozialistischen Terrorregimes nicht grundsätzlich entziehen konnte
und daraufhin normativ orientiert war. Ein epochaler Wechsel im Umgang mit
dem Nationalsozialismus trat auf breiter Basis aber erst in den späten 1970er
und frühen 1980er Jahren ein, wobei in der wissenschaftlicher Literatur oft auf
die Wirkungen des US–amerikanischen Films Holocaust verwiesen wird.65
Solche Gedenkanschübe sind aber lokal und regional durchaus nicht immer
schnell zur Geltung gekommen. So hat es bis 1988 gedauert, um vor Ort auf
dem Eichberg in moderater Form durch eine Gedenktafel expressis verbis auf
te im Jahr 1989, in dem dieser auch explizit auf die „Kindereuthanasie“ dort einging.
Auf Initiative der Belegschaft und örtlichen Gewerkschaft wurde noch im selben Jahr
ein Gedenkstein vor dem Gebäude platziert, in dem die „Kinderfachabteilung“ untergebracht war. Weitere Gedenkinitiativen entstanden danach recht schnell. Vgl. http://
www.uvm.edu/~lkaelber/children/dortmundaplerbeck/dortmundaplerbeck.html.
64 M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der
Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“, in: M. Rainer Lepsius, Demokratie in
Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 229245.
65 Etwa bei Wulf Kansteiner, In Pursuit of German Memory. History, Television, and Politics After Auschwitz, Athens 2006.
224
Lutz Kaelber
den Kindermord hinzuweisen, und nochmals fünf Jahre mehr, um ein Denkund Mahnmal mit deutlichem Hinweis auf diesen vor Ort zu errichten. Diese
Gedenkobjekte stehen aber am Rande des Geländes, wo sie ein Besucher kaum
finden konnte. Erst in den letzten fünf Jahren gibt es interaktive und historisch
dokumentative Erinnerungsformen vor Ort. Der Kalmenhof war diesbezüglich
in der bundesdeutschen Gedenkstättenlandschaft eine Ausnahme, insofern als
schon 1987 im Kontext eines neu geschaffenen Mahnmals expressis verbis auf
Kinder als Opfer der Mordaktion hingewiesen wurde und 1997 eine erste permanente Ausstellung zu den „Euthanasie“-Verbrechen am Ort einer Stätte mit
einer „Kinderfachabteilung“ im Nationalsozialismus entstand. Die Zusammenarbeit zwischen dem Landeswohlfahrtsverband und lokalen Gedenkinitiativen,
speziell der Arbeitsgruppe „Kalmenhof zwischen Gestern und Heute“, spielte
beim Entstehen der Kalmenhof-Ausstellung eine maßgebliche Rolle. Erst in
den letzten zehn Jahren ist es auch an anderen Stätten ehemaliger „Kinderfachabteilungen“ zur Erstellung von Ausstellungen und Gründung von Museen, die
sich dem Thema widmen, gekommen.
3. Jubiläen und formale Gedenktage als Gedenkanstöße
Gedenkanstöße gingen oft formal von einem Jubiläum oder historisch signifikanten Jahrestag aus, wie dies auf dem Eichberg etwa 1999 und 2009 und im
Kalmenhof im Jahr 1988 der Fall war. Besonders bei einem institutionellen Jubiläum ist es in den letzten 15 Jahren zunehmend undenkbar geworden, die
Verwicklung einer Heilanstalt in Verbrechen, die während des Nationalsozialismus begangenen wurden, zu beschönigen oder gänzlich zu übergehen. Vom
religiösen und säkularen Kalender überformte Jahrestage, wie etwa der Volkstrauertag und in jüngerer Zeit der 27. Januar, aber auch der Fronleichnam in
katholischen Gegenden, bieten an manchen Orten nach wie vor Gelegenheit,
an mehr oder weniger offiziellen Gedenkveranstaltungen teilzunehmen. Ohne
Frage können solche Gedenkveranstaltungen – insbesondere auf Bundesebene – politisch funktionalisiert werden, und man kann dies als Normalisierung
der NS-Vergangenheit durch (stilisierte) Ritualisierung bezeichnen.66 Solche
66
Vgl. Jeffrey Olick, States of Memory. Continuities, Conflicts, and Transformations in
National Retrospection, Durham 2003.
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
225
Ritualisierungspraktiken, jüngst von Ulrike Jureit und Christian Schneider67
als inhaltsleere Trauerarbeit scharf kritisiert, können jedoch auf lokaler Ebene
die Gedenkaktivitäten fokussieren und ein Forum bereit stellen, aus dem sich
weitere Aktivitäten ergeben. So hat etwa Paul Connerton68 auf die sozial-performativen Funktionen des Gedenkrituals hingewiesen, die durchaus nicht
sinnentleert sein und sich im „ritualhaften Agieren“69 erschöpfen müssen, sondern gedenkanregende und vor allem gedenkstabilisierende Wirkungen haben
können. Eine einseitig negative Betrachtung solcher Rituale ist daher problematisch und führt empirisch leicht zu oberflächlichen Betrachtungen bezüglich der realen Gedenkpraktiken.70
4. Die Rolle von Gedenkakteuren
Bevor es zu einer mnemonischen Stabilisierung kommen kann, benötigt das
Gedenken eine Initialisierung, die von Gedenkakteuren ausgeht, für die sich in
der englischsprachigen Literatur der Ausdruck „memory agents“71 eingebürgert
hat. Die Rolle von memory agents liegt darin, vor Ort die Fundamente einer
Gedenkkultur zu legen und weitere Personen und Gruppen für Gedenkaktivitäten zu gewinnen bzw. diesen bei der Annäherung an die geschichtlichen
Ereignisse, hier der NS-Verbrechen und deren Kinderopfer, zu helfen und diese
dabei zu begleiten. Auf dem Eichberg wird diese Rolle von den Seelsorgern
und Betreuern, die den historischen Rundgang und kommemorative Aktivitä-
67
68
69
70
71
Vgl. Ulrike Jureit und Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen einer Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010.
Vgl. Paul Connerton, How Societies Remember, Cambridge 1989; Reinhard Wesel, Gedenken als Ritual. Zum politischen Sinn „sinnentleerter Rituale“, in: Wolfgang Bergem
(Hg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs, Opladen 2003, S. 17-39.
Frank König, Die Gestaltung der Vergangenheit. Zeithistorische Orte und Geschichtspolitik im vereinten Deutschland, Marburg 2007, S. 12.
Als Beispiel möge man das Buch von Jureit und Schneider, Gefühlte Opfer, betrachten,
in dem die empirische Analyse auf rudimentärem Niveau verbleibt.
Vgl. Vered Vinitzky-Seroussi, Commemorating a Difficult Past. Yitzhak Rabin‘s Memorials, in: American Sociological Review, Band 67, 2002, S. 30-51; Dee Britton, Arlington‘s
Cairn. Constructing the Commemorative Foundation for United States’ Terrorist Victims, in: Journal of Political and Military Sociology, Band 35, 2007, S. 17-37; Lutz Kaelber,
Virtual Traumascapes. The Commemoration of Nazi „Children‘s Euthanasia“ Online
and On Site, in: Digital Icons, Band 4, 2010, S. 13-44.
226
Lutz Kaelber
ten anbieten, der Arbeitsgemeinschaft, die die Errichtung der Dauerausstellung
vor Ort erreichte, und einer für die Öffentlichkeitsarbeit des Vitos Rheingau
zuständigen Mitarbeiterin wahrgenommen. Im Kalmenhof engagieren sich
Leitung und Mitarbeiter schon seit längerem bei der Betreuung von Besuchern
der dortigen Ausstellung.
5. Relevanz des Internets
Untersuchungen zur Benutzung des Internets im Zusammenhang mit traditionalen Gedenkstätten zeigen, dass dieses besonders bei jüngeren Generationen
nicht mehr wegzudenken ist, was sowohl die Bekanntmachung einer Gedenkstätte als auch zunehmend die Vorbereitung eines Besuches betrifft. Dabei agieren Gedenkstätten nach neuesten Befunden national und auch international
bezüglich ihres Multimedia-Angebotes tendenziell konservativ.72
Mancherorts wurde mir bei Besuchen von europäischen Gedenkorten zur
NS-„Euthanasie“ die Grundhaltung der Anbieter deutlich, nicht etwa zu viele
Elemente einer Ausstellung ins Internet zu stellen, weil man (abgesehen von finanziellen Engpässen, die es allerorts zu geben scheint) einerseits datenschutzrechtliche Bedenken hatte und andererseits auch die Befürchtung hegte, eine
Internetseite würde als Substitution eines Besuches dienen und sich so auf die
tatsächlichen Besucherzahlen negativ auswirken. Diese Besorgnisse sind auf
der Grundlage der Ergebnisse methodologisch anspruchsvoller wissenschaftlicher Untersuchungen als unbegründet zu betrachten.73 Nicht nur erwarten
72
Vgl. Anna Reading, Digital Interactivity in Public Memory Institutions. The Uses of
New Technologies in Holocaust Museums, in: Media, Culture and Society, Band 25,
2003, S. 67-85; Andrew Hoskins, Signs of the Holocaust. Exhibiting Memory in a Mediated Age, in: Media, Culture and Society, Band 25, 2003, S. 7-22; Dörte Hein, Erinnerungskulturen online. Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust, Konstanz 2009; Erik Meyer (Hg.), Erinnerungskultur
2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt am Main 2009.
73 Vgl. Victoria Kravchyna und Sam Hastings, Informational Value of Museum Websites, in: First Monday, Band 7, 2002, Nr. 2. http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/
ojs/index.php/fm/article/view/929/851 (aufgerufen am 10.12.2010); Wendy Thomas und
Sheila Carey, Actual/Virtual Visits. What Are The Links?, in: Museums and the Web
2005. Papers. http://www.archimuse.com/mw2005/papers/thomas/thomas.html (aufgerufen am 1. Januar 2011); Paul Marty, Museum Websites and Museum Visitors. Before
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
227
heute viele Besucher eines Museums oder einer Gedenkstätte eine institutionelle Internetpräsenz und sehen diese mitunter auch als Proxy für die erwartete
Qualität der dortigen Darstellung an, eine solche Präsenz erhöht darüber hinaus auch generell die Besucherzahl, selbst dann, wenn die virtuelle Ausstellung
viele Elemente der physischen Ausstellung dupliziert. Selbst wenn dies nicht so
wäre, ließe sich wahrscheinlich zusätzlich anhand empirischer Untersuchungen feststellen, dass die Besucher, die sich im Vorfeld durch das Internetangebot einer Gedenkstätte informiert haben, einen besseren und nachhaltigeren
Zugang zu den Materialien vor Ort haben.74
Dies ist nun für die Orte der ehemaligen „Kinderfachabteilungen“ insoweit
relevant, als viele bis heute keine Internetpräsenz haben. Eine Veränderung
macht sich allerdings in den letzten fünf Jahren bemerkbar. Für den Eichberg
lässt sich jedenfalls konstatieren, dass noch im Jahr 2007 weder über den historischen Rundgang noch über sonstige Möglichkeiten Informationen im Internet angeboten wurden, die historischen Ereignisse zum Kindermord auf dem
Eichberg näher zu verstehen. Ohne die Informationsbereitstellung im Internet
wäre es für nicht-lokale Interessenten äußerst schwierig, überhaupt von Möglichkeiten des Gedenkens zu erfahren und Kontakt aufzunehmen. An manchen
Stätten der „Kinderfachabteilungen“ findet kinderzentriertes Gedenken hauptund ausschließlich im Internet statt (siehe Tabelle 1). Hier spielt der Kalmenhof
eine Ausnahmerolle, da er zu der Ausstellung eine Art begleitende detaillierte
Erklärung der Ausstellungselemente mit Interpretationshinweisen im Internet
anbietet.75
Insgesamt steckt eine Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Gedenkens im und mittels des Internets aber noch in den Anfängen.76
and After the Museum Visit, in: Museum Management and Curatorship, Band 22, 2007,
S. 337-360.
74 Vgl. John Falk und Lynn Dierking, Learning from Museums, Walnut Creek 2000; Bert
Pampel, „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main 2007; ders., Was lernen Schülerinnen
und Schüler durch Gedenkstättenbesuche? (Teil-)Antworten auf Basis von Besucherforschung, in: Gedenkstätten-Rundbrief, Band 162, 2011, S. 16-29.
75 Vgl. http://www.lwv-hessen.de/webcom/show_article.php/_c-289/_nr-44/i.html (aufgerufen am 10.05.2010).
76 Vgl. Lutz Kaelber, Virtual Traumascapes.
228
Lutz Kaelber
6. Verborgene Schätze und verpasste Gelegenheiten: Zur Neu- und NichtNutzung bestehender Ausstellungen
Gedenkstättenpädagogische Bildung fällt schwer, wenn es vor Ort keine bildlich-textlichen Lernmöglichkeiten gibt. Für den Täterort Eichberg konnte die
dortige Arbeitsgruppe zur Vermittlung der historischen Ereignisse im Nationalsozialismus auf eine bereits bestehende und gut aufgemachte Ausstellung
zurückgreifen, die auch ein Jahrzehnt nach ihrem Entstehen nichts an Aktualität verloren hat, und diese in renovierten Ausstellungsräumen vor Ort nun
dauerhaft bereitstellen. Auch für die Entstehung der Dauerausstellung im
Kalmenhof spielte es eine maßgebliche Rolle, dass lokale Gedenkakteure auf
eine bestehende, etwa zehn Jahre alte Wanderausstellung zum Thema der Geschichte der Heilerziehungsanstalt zurückgreifen konnten, worin die Zeit des
Nationalismus schon in einigen Details thematisiert worden war. Solche NeuNutzungen von bestehenden Ausstellungen sind jedoch die Ausnahme, obwohl
es an einigen Stätten ehemaliger „Kinderfachabteilungen“ im Rahmen der Psychiatriereform freigewordene und damit leerstehende Häuser und Etagen gibt,
die allerdings zunehmend von einer sich ausbreitenden Forensik reklamiert
werden. Dort hat man bis jetzt leider allzu oft nicht erkannt, dass man bereits
bestehenden Ausstellungen auf recht einfache Weise ein neues und dauerhaftes
Zuhause geben könnte. Dies ist umso bedauernswerter, desto mehr man sich
vergegenwärtigt, welche Vielzahl von Ausstellungen bereits besteht. Es handelt
sich mitunter um Ausstellungen, für die mühevoll einzigartige Materialien zusammengetragen wurden – nur um sie dann nach wenigen Jahren an einem
unzugänglichen Ort einzumotten.77 Beispiele solch einzigartiger, speziell auf
Kinderopfer bezogener Ausstellungen gibt es etwa in Thüringen („Überweisung in den Tod. Nationalsozialistische ‚Kindereuthanasie‘ in Thüringen“),
Leipzig („505. Kinder-Euthanasieverbrechen in Leipzig“) und Wien („Kindereuthanasie in Wien 1940–1945. Krankengeschichten als Zeugen“). Bezüge zu
lokalen historischen Ereignissen ließen sich im Rahmen einer Neu-Nutzung
bei all diesen bestehenden Ausstellungen herstellen.
77
Ein allerdings nicht mehr ganz aktueller Überblick findet sich hier: http://www.uvm.
edu/~lkaelber/exhibits/.
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
229
Ausblick
Im Rahmen der hier dargelegten Ausführungen wurde nur die Erinnerungslandschaft zur „Kindereuthanasie“ in den westlichen deutschen Bundesländern
untersucht. In weiteren Untersuchungen müsste auch auf andere Gebiete und
Regionen eingegangen werden (siehe Tabelle 2).
Für die östlichen deutschen Bundesländer gilt es festzuhalten, dass die Vergangenheitspolitik zu DDR-Zeiten, die im Rahmen der „Universalisierung“
des Nationalsozialismus diesen als Ausprägung des westlichen Monopolkapitalismus darstellte und sich Opfern, die nicht dem Ideal des heroischen antifaschistischen Widerstandskämpfers entsprachen, kaum zuwandte, nun für die
„Kindereuthanasie“-Verbrechen eindeutig überwunden ist, obwohl es nach wie
vor in Einzelfällen zu standespolitisch motivierten Quasi-Apologien von Seiten des Ärztestandes kommt. Beispielsweise zeigt sich in Leipzig ein besonders
reges Interesse an einer Beschäftigung mit dem Thema und dem Gedenken an
ihre Opfer.
Für Wien lässt sich das ebenfalls im Kontext der Republik Österreich feststellen. Die verantwortlichen Akteure in der Politik und Kultur (auch vor Ort in
der Klinik) bedienen sich zunehmend weniger einer Externalisierungsstrategie
der nationalsozialistischen Verbrechen.78
In Polen und der Tschechischen Republik bleibt es – wenn es überhaupt zu
solchen kommt – bei lokalen Gedenkinitiativen.79
78
Siehe zu Externalisierung Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus; zu Österreich die
Bemerkungen von Andrei S. Markovits und Anson Rabinbach, The Dark Side of Austrian Social Democracy, in: Dissent, Band 47, Nr. 3, 2000, S. 15-18 und Matthew Berg,
Commemoration versus Vergangenheitsbewältigung. Contextualizing Austria‘s „Gedenkjahr“ 2005, in: German History, Band 26, Nr. 11, 2008, S. 47-71.
79 Weitere Ausführungen finden sich in Kaelber, Gedenken an die NS-„Kindereuthanasie“Verbrechen; ders., Virtual Traumascapes.
230
Lutz Kaelber
Tabelle 2:Gedenken an die Kinderopfer an Stätten der „Kinderfachabteilungen“ in
den neuen Bundesländern in Deutschland, in Österreich und in der Tschechischen
Republik und Polen
Land/
Bundesland
Ort
Gedenkobjekt(e) (Auswahl) /seit
Deutschland / Neue Bundesländer (ohne Berlin)
Brandenburg
Görden
Gedenkstein / 2002
MecklenburgVorpommern
Sachsenberg
Ueckermünde
Skulptur / 2008
Skulptur / 1991 u. 2009
Sachsen
Großschweidnitz
Leipzig-Dösen
Skulptur / 1990
Gedenktafel / 1990
Gedenkstein / 2008
Gedenk- und Totenbuch im Internet (2010)
„Gedenkort“ zur „Kindereuthanasie“ / 2011
(wie Leipzig)
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Uchtspringe
Stadtroda
Gedenkstein / 2004
Mahnmal / 1998
Österreich
Steiermark
Wien
Graz
Wien
Doppel-Stele / 2006
Gedenktafeln / 1988
„Gedenkraum“ / 1989
Dobrany (Wiesengrund)
nein
Dziekanka (Tiegenhof)
Kocborowo (Konradstein)
Lubliniec (Loben)
Wroclaw (Breslau)
Gedenktafel / 1948
Gedenktafel / 1948
Gedenkkreuz mit Tafel / 2002
nein
Leipzig
Tschechische Republik
Polen
NS-„Kindereuthanasie“ und Gedenkkultur (Eichberg/Kalmenhof)
231
Gedenkobjekt oder andere Gedenkart auf Kinderopfer bezogen / seit
Aktives Internetgedenken /
Ausstellung (auch im Rahmen
eines Museums) vor Ort
Ausstellungstafeln in der Ausstellung „Die Landesanstalt Görden
1933 bis 1945: Psychiatrie im Nationalsozialismus“ / 2004
Informationstafel Friedhof / 2008
nein
nein
nein / ja
nein
nein / nein
Gedenkstein / 2008
Gedenk- und Totenbuch im Internet (2010)
„Gedenkort“ zur „Kindereuthanasie“ / 2011
Grabstein für jüdisches Kindesopfer / 2001
(ansonsten wie Leipzig)
nein
nein
nein / nein
nein
Stelenfeld / 2003
Ausstellungstafeln in der Ausstellung „Der Krieg gegen die ‚Minderwertigen‘: Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien“ / 2002
Ausstellung „Kindereuthanasie in Wien 1940 bis 1945 – Krankengeschichten als Zeugen“ (nicht permanent) / 2005
Jährliche Gedenkfeier / ca. 2004
nein / nein
ja / ja
nein
nein / nein
nein
Gedenkstein mit Tafel / 1979
Gedenkkreuz mit Tafel / 2002
nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
nein / nein
232
Lutz Kaelber
Anhang
Stolpersteine für Kinder-Opfer (direkt) an den Stätten ehemaliger
„Kinderfachabteilungen“ (Stand: Sommer 2011)
Ort
Verlegungszeit
Berlin-Wittenau
2004
Anzahl Text
6
HIER LEBTE
(NAME)
JG. 19XX
ERMORDET XX.XX.XXXX
NERVENKLINIK
WIESENGRUND
Lüneburg
2005
2
HIER ERMORDET
(NAME)
JG. 19XX
TOT
MONAT JAHR
2009
1
(NAME)
JG. 19XX
EINGEWIESEN XX.XX.XXXX
HEILANSTALT LÜNEBURG
ERMORDET XX.XX.XXXX
‚KINDER-AKTION‘
Kaufbeuren
2009
2
HIER LEBTE
(NAME)
JG. XXXX
EINGEWIESEN XXXX
‚HEILANSTALT‘
KAUFBEUREN/IRSEE
ERMORDET XX.XX.XXXX
Rothenburgsort
2009
35
(NAME)
GEB. XX.XX.XXXX
ERMORDET XX.XX.XXXX
Fly UP