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Internationalität 6 Der karibische Dichter und Dramatiker Derek Walcott (Mitte), der 1992 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war vom 4. bis 9. Mai in Saarbrücken. Er ist einer Einladung seines deutschen Übersetzers und Kritikers Prof. Klaus Martens (links) gefolgt, der hier in der Fachrichtung Anglistik das Fachgebiet Nordamerikanische Literatur und Kultur vertritt. Universitätsvizepräsident Johannes Engelkamp (rechts) hob im Rahmen seiner Begrüßung hervor, daß Walcotts Dichtung noch ganz andere Dimensionen von Multikulturalität anklingen lasse, als wir hier normalerweise unter diesem Begriff verstehen. Walcott (geb. 1930 in St. Lucia) lehrt an der Boston University und leitet das Boston Playwright’s Theatre. Er ist Autor zahlreicher Gedichtbände und Theaterstücke. In diesem Jahr hat er zusammen mit Paul Simon das Musical „The Capeman“ produziert. Foto: urabt Mit der Unterstützung des Wissenschaftsministeriums, der Freunde der UdS und Sponsoren der privaten Wirtschaft wurden Saarbrücken und die Universität Schauplatz eines internationalen Kulturereignisses der besonderen Art: Lesungen und Workshops mit Derek Walcott standen in und außerhalb der Universität auf dem Programm. Ganz besondere Beachtung fand die deutsche Uraufführung von „Ti-Jean und seine Brüder“ in Anwesenheit des Autors am 6. Mai in der Alten Feuerwache. Die Aufführung von THUNIS (Theater der Universität des Saarlandes) lobte er dabei als eine der besten, die er je gesehen habe. Und für alle, die die Aufführung verpaßt haben oder das Drama nochmal nachlesen wollen, der heiße Tip: Im Augenblick bereitet Prof. Martens eine zweisprachige Ausgabe des Stückes vor! Derek Walcotts „Ti-Jean und seine Brüder“ Eine karibische Kreuzfahrt zu Motiven der Weltliteratur rei Brüder, von denen die beiden älteren beim Aufbruch in die Welt scheitern, der scheinbar alleraussichtsloseste jüngste aber sich durchsetzt: ein Märchenmotiv. Die Wette mit dem Teufel: ein Sagenmotiv. Tiere, die sprechen: ein Fabelmotiv. Schließlich die Begleiter und Boten des Teufels: Bolom, der Ungeborene, zusammen campus 3/98 D Szenen aus Ti-Jean und seine Brüder Fotos: Roger Paulet mit den schrägen Typen Azaz und Cacarat sowie der vampirähnlichen Filambo. Hier handelt es sich um Figuren speziell der karibischen Erzähltradition. Dazu wir, die wir uns als aufgeklärtes Theaterpublikum im Westeuropa des ausgehenden 20. Jahrhunderts verstehen. Wie wirken auf uns diese Motive von Derek Walcotts Stück „Ti-Jean und seine Brüder“, das in der Saarbrücker Feuerwache mit der Inszenierung von THUNIS unter der Regie von Mick Lee Kuzia seine deutsche Uraufführung erlebte? Brechtgebildet, wie wir sind, könnten wir das Befremdliche als Mittel im Dien- ste des Verfremdungseffekts deuten, der den gewünschten kritischen Zuschauer vor einer rückhaltlosen Hingabe an die ästhetische Illusion bewahren soll. Dagegen spricht, daß diese Motive ganz und gar nicht im Sinne Brechts einen Maßstab vermitteln, den man nicht ändern, im schlechtesten Falle aber verfehlen kann: beispielsweise die Figuren von Frosch, Grille, Vogel und Glühwurm, die die Bewährungsproben der nacheinander ausziehenden Brüder warnend beziehungsweise ermunternd begleiten und deren unterschiedliches Schicksal kommentieren. Dieses Kleingetier des Waldes nicht ernst zu nehmen, wie das die beiden älteren Brüder tun, hat offensichtlich fatale Folgen. Gros Jean und Mi-Jean werden vom Teufel geholt – im Gegensatz zu Ti-Jean, der bei seinem Aufbruch in die Welt weiß, daß auch der Frosch seine „eigene Schönheit“ hat, noch dem Glühwurm ein nettes Kompliment macht und sich nicht zu schade ist, dem, was da kreucht und fleucht, sein Ohr zu leihen. Verweist die unscheinbare Kreatur am Wegesrand auf eine umfassende Naturordnung, für die ein Internationalität 8 bramarbasierendes Trampel wie Gros Jean, aber auch ein selbstgefälliger Intellektueller vom Schlage eines MiJean in ihrer Selbstbezogenheit fatalerweise keine Augen und kein Gefühl haben? Dafür spricht nicht zuletzt, daß sich Frosch, Grille, Vogel und Glühwurm auch als Repräsentanten der vier Elemente interpretieren lassen, aus denen sich nach alter – bis auf die frühgriechische Naturphilosophie zurückgehender Auffassung – die Welt zusammensetzt: Wasser, Erde, Luft und Feuer. Auch wenn das Stück mit den Szenen Hütte, Wald und Plantage im hintersten Winkel eines kolonialisierten Landes spielt, so vermittelt es sich uns aufgrund der beziehungsreichen symbolischen Verweisstruktur doch weniger, wie man auf den ersten Blick meinen möchte, als ein Lehrstück im Sinne Brechts denn als Weltendrama! Goethe-gebildet wie wir sind, denken wir an Faust, zumal ja auch dort die Motive Wette und Teufel eine zentrale Rolle spielen. Das faustische Motiv eines ewig strebenden Bemühens, das sich bis zuletzt trotz aller katastrophalen Rückschläge behauptet und auch „von oben“ bestätigt wird, ist hier allerdings nur in der Verkürzung eines stupiden Bemühtseins wiederzufinden. Ihm haben sich Ti-Jeans Brüder verschrieben und hoffen dabei – jeder auf seine Art – auf eine spätere Karriere. Das Muster, nach dem sie dabei scheitern, ist identisch: Sie geben sich alle Mühe, noch die unsinnigsten Vorgaben zu erfüllen, rackern sich ab und drehen schließlich durch – dies ist dann der Moment, wo sie der Teufel mit viel Theaterdonner packt und verspeist. – Ironischerweise ist es hier also gerade das bedingungslose Festhalten an einem „strebenden Bemühen“, das in den Untergang führt. campus 3/98 Anklänge an die Tragödie der Hybris Die motivischen Anklänge an Goethe nehmen im letzten genau so eine ironische Wende wie die an Brecht. Dafür erschließen sich zunehmend Anklänge an Motive der frühesten Tragödiendichtung: der Tragödie der Hybris. „Ich bin jetzt ein Mann, und als Mann suche ich den Erfolg. Wo geht’s lang?“ Mit diesen Worten zieht Gros Jean in die Welt. Nichts kann ihn dabei beirren. Denn, so der Prahlhans, „ich hab einen Arm aus Stahl. Es gibt nichts, wovor ich Angst habe, Mensch, Tier oder Menschentier.“ Und am Ende in der Fron des teuflischen Plantagenbesitzers gelandet, kommt Gros Jean zu keinem besseren Schluß, als es diesem unbedingt einmal gleichtun zu müssen: „Ich bin kein kleiner Mann, Boß, die Leute werden noch von Gros Jean hören. Nur weil ich aus dem Bergwald komm’, heißt das noch nicht, daß ich nicht so werden kann wie du. Eines Tages könnt all das mir gehör’n“. Alsbald kommt es zum Sturz des hochgemuten Gros Jean. Mi-Jean war nur halb so dumm wie sein älterer Bruder, kommentiert der Frosch. Wir können ergänzen: aber immer noch dumm genug, um sich von dem Spiegel bezirzen zu lassen, den der dämonische Versucher seiner speziellen Selbstgefälligkeit hinhält: „Wer unten in den Dörfern, inmitten von Rauch und Rum, hätte nicht gehört von Mi-Jean, dem Juristen, von seiner Begabung zur Rede, von seinen geschliffenen Argumenten, Mi-Jean, le philosophe, l’avocat, der Prozeßführer, der Kläger vor Gericht?“ Auch bei Mi-Jean kommt Hochmut vor dem Fall. Dieses Motiv ist jedoch nicht die einzige Reminiszenz an die Tragödie der Hybris. Dem Walcottschen Teufel kommt in diesem Zusammenhang der Part des Daimon zu, der in der frühen griechischen Tragödie den Helden zunächst zur Hybris verführt, diese dann bestraft und damit die unverbrüchliche Gültigkeit einer übermenschlichen Ordnung bestätigt. Die Tiere schließlich erscheinen auf dieser Ebene in der Bedeutung des Chores, der den tragischen Helden vergeblich vor seinem selbstmächtigen Handeln warnt. Zu Beginn des Stückes niest der Frosch erst einmal ein „Ai-schylos!“ – ironischer Hinweis, daß der literarische „Freibeuter“ aus St. Lucia vor allem beim ältesten der Tragödiendichter „geplündert“ hat? „Ti-Jean und seine Brüder“ endet aber nicht tragisch. Im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern ist Ti-Jean nicht von dem Ehrgeiz getrieben, dies oder jenes erreichen zu müssen und Herrschaft auszuüben. Dafür verfügt er über gesunden Menschenverstand, einen guten Instinkt, auf den er nach dem Rat seiner Mutter vertrauen soll, und eine Schlagfertigkeit, die nun den Teufel dazu bringt, die Beherrschung zu verlieren. Damit gewinnt Ti-Jean die Wette, und es regnet Gold. Im Moment dieses Triumphes muß er aber auch ohnmächtig zusehen, wie seine Mutter stirbt. Hier erweisen sich ihm die kleinen Waldtiere einmal mehr als hilfreiche Geister: Sie bringen ihn dazu, seinen Schmerz durch Gesang zu überwinden. Gleichzeitig bekommt der Ungeborene, der keine andere Sehnsucht kennt, als das Licht der Welt zu erblicken, gleichwohl das im letzten unvermeidlich Leid und Tod bedeutet, seinen Wunsch erfüllt. Schillernde Vieldeutigkeit des Walcottschen Teufels Wo sind wir auf unserer „Kreuzfahrt“ angelangt, die uns zunächst von Brecht über Goethe zu Aischylos zurückführte? Vielleicht beim Ursprung der Tragödie im Dionysos-Kult, wie ihn etwa Nietzsche in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ thematisierte. Seine zentrale Botschaft lautet, daß „das Leben im Grunde der Dinge trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“. Vielleicht ist es vor allem aber auch der kulturelle Kontext von Walcotts karibischer Heimat, dessen Zeugnisse in Religion, Literatur und Kunst eine ähnliche Wahrheit vermitteln und das eigentliche Ziel unserer Reise markieren. Hiervon würde man gerne mehr kennenlernen... THUNIS gelang auf der Saarbrücker Alternativ-Bühne der Alten Feuerwache eine eindrucksvolle deutsche Uraufführung von „Ti-Jean ...“. Mick Lee Kuzia, Regisseur und Hauptdarsteller, brillierte in der schillernden Vieldeutigkeit der Walcottschen Teufelsgestalt. Ti-Jean, MiJean, Gros Jean und ihrer Mutter verliehen Frank Busch, Hauke Scheer, Enrico Tinebra und Katja Sellnau ihre individuellen Charakterzüge. Die Tiergestalten sowie auch die Teufelsbegleiter entführten in eine gleichermaßen faszinierend exotische wie beziehungsreich hintergründige Theaterwelt. Klangvoll unterstrichen wurde die Dramatik des Geschehens von einer zweiköpfigen Percussion-Gruppe. Sehr gelungen waren auch Masken und Bühnenbild, die in der bewährten Zusammenarbeit mit Chris Vester von der Fachrichtung Kunsterziehung entstanden sind. Anfang einer neuen supranationalen Literatur campus: Herr Professor Martens, mit dem einwöchigen Besuch von Nobelpreisträger Walcott haben Sie der Universität und der Stadt ein kulturelles Ereignis der Extra-Klasse beschert. Ihr persönliches Fazit des Walcott-Besuchs? Prof. Martens: Wie Sie wissen, haben ein hervorragendes Team – Dr. Jutta Ernst, Andreas Hau, Susanne Korte, Mick Lee Kuzia, Dr. Paul Morris, Dr. Margit Peterfy, Wolfgang Preiß, Dirk Sinnewe, Arlette Warken und einige unserer sehr engagierten StudentInnen – und ich schon bei der Planung darauf Wert gelegt, neben der Universität und der interessierten Öffentlichkeit auch die Schulen für unsere vielen Veranstaltungen mit Walcott einzubeziehen. Dies ist mit einer Lesung in der Universität, einem bestens besuchten Hauptseminar mit dem Dichter, den öffentlichen Theater-Workshops, der Uraufführung in der Alten Feuerwache und unserer zweisprachigen Lesung in der Neuen Galerie des Saarlandmuseums gelungen. Ich bin also zufrieden. Dennoch muß man sagen, daß der einwöchige Aufenthalt Walcotts trotz der mehrmonatigen Werbung durch uns und die sehr hilfreichen Medien mehr offizielle Aufmerksamkeit außerhalb als innerhalb des Saarlandes gefunden hat. Dies äußert sich in mehreren sehr ehrenvollen Einladungen aus anderen Bundesländern an den Dichter, die im Herbst unter meiner Mitwirkung stattfinden werden. campus: Die Saarbrücker WalcottWoche war von zwei Dichterlesungen eingerahmt. Nicht jeder hat einen Zugang zur Lyrik, zumal nicht zur zeitgenössischen und schon gar nicht zur fremdsprachigen. Wie ist es dennoch gelungen, bundesweit einen Funken überspringen zu lassen? Prof. Martens: Bricht man aus dem Teufelskreis blind weitergeredeter Abneigung aus, so hat Lyrik etwas Magisches an sich, das aber auch auf seiner heuristischen Qualität beruht und Kenntnisse voraussetzt. Eine Lyrik wie Walcotts ist nicht nur virtuos, sondern auch thematisch frisch und eröffnet neue Ausblicke auf Sprache und Welt, als ob eine alte Fensterscheibe gereinigt, ja selber fortgewischt worden wäre. Vielleicht teilt sich das nun mit. In der Tat scheint der Besuch, der ja nach anderweitigen vergeblichen Versuchen, den Dichter in den deutschsprachigen Raum einzuladen, endlich zustande kam, eine Öffnung bewirkt zu haben. campus: Als Übersetzer und Kritiker haben Sie Walcott für eine deutsche Leserschaft entdeckt, schon bevor ihm im Jahre 1992 der Nobelpreis verliehen wurde. Wie kamen Sie dazu? Prof. Martens: Derek Walcott gilt schon seit den 1960er Jahren als einer der größten Dichter englischer Sprache. Als ich schließlich 1986 gebeten wurde, einen Aufsatz seines Freundes Joseph Brodsky über ihn zu übersetzen, fing ich Feuer. Ich begann, eine erste Auswahl für den Carl Hanser Verlag zusammenzustellen und eine Reihe von Aufsätzen zu veröffentlichen. Mit den Nobelpreisen für Brodsky und Walcott kam dann mehr Arbeit auf mich zu. campus: Bei der Bezeichnung Ihres Fachgebiets „Nordamerikanische Literatur“, so wie Sie im Vorlesungsverzeichnis steht, fällt einem nicht unbedingt gleich die Karibik ein. Welche Rolle spielt in Ihrer Forschung und Lehre Literatur außerhalb der Vereinigten Staaten? Prof. Martens: Ich bin als Amerikanist für die nordamerikanischen Internationalität Gespräch mit Prof. Klaus Martens über Derek Walcott Literaturen und Kulturen „zuständig“, also für die USA und Canada und damit selbstverständlich für die Mehrkulturalität der Region. Was interkulturelle und komparatistische Arbeitsweisen in den Philologien angeht, sehen sich Amerikanisten wohl zu Recht als Vorreiter. Da der koloniale amerikanische und englische Einfluß traditionell die englischsprachige Karibik nicht ausgelassen hat, die Menschen aus der Karibik später ihrerseits mit Vorliebe in Kanada und den USA große Kolonien gebildet haben, ist die Beschäftigung damit nicht weit hergeholt. Karibisches ist seit Jahren ein fester Bestandteil meines Lehr- und Forschungsprogramms, der von Mitarbeitern und Studenten angenommen worden ist. Wie bei unserem kanadistischen Programm, so wäre auch hier Hilfe beim Ausbau sehr erwünscht. 9 campus: Welches Buch würden Sie jemandem, der Walcott noch nicht kennt, empfehlen? Prof. Martens: Ich rate zu den Bänden Das Königreich des Sternapfels (1989), jetzt bei DTV, und Erzählungen von den Inseln (München, 1993) und empfehle Walcotts neuestes und bestes Buch The Bounty (1997), an dem ich gerade arbeite. Es wird Ende des Jahres in meiner Übersetzung bei Hanser erscheinen und auch ein längeres, recht aufschlußreiches Interview enthalten, das ich mit dem Autor geführt habe. campus: Mit Walcott verbindet Sie auch eine persönliche Bekanntschaft. Wie würden Sie den Menschen Walcott charakterisieren? Prof. Martens: Ich mag ihn nicht charakterisieren, das ist mir zu persönlich, aber ich sehe ihn als einen literarischen Universalisten von großer Empfindlichkeit für feinste sprachliche und atmosphärische Schwingungen, einen Großmeister des Wortes; als einen Mann mit einem oft skurrilen Humor und großer Herzlichkeit, der sich immer wieder auf Distanz zu bringen weiß, um seine Arbeitsfähigkeit zu bewahren. Es geht nicht darum, ihn zu „mögen“, was leicht fällt, sondern ihn als einen sehr großen Dichter zu begreifen, der am Anfang einer neuen, supranationalen Literatur steht, die in den lokalen Spezifika einer Heimatwelt begründet ist. Darin ist er vielleicht ein Anreger für uns. Interview: Manfred Leber campus 3/98 Mit dem karibischen Dichter verbindet den Saarbrücker Amerikanisten und ersten europäischen Übersetzer Walcotts Prof. Dr. Klaus Martens eine Art Wahlverwandtschaft. Der gefragte Übersetzer, Dichter, Literatur-Professor und Übersetzungs-Theoretiker sprach mit campus über Derek Walcott und seinen Besuch an der Universität des Saarlandes.