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Verletzungen und Unversehrtheit

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Verletzungen und Unversehrtheit
Anglo-German Colloquium 2015:
Verletzungen und Unversehrtheit
(Saarbrücken, 2.-6. September 2015)
Abstracts (in alphabetischer Reihenfolge)
Prof. Dr. Henrike Lähnemann/Dr. Elizabeth Andersen:
Heilige Wunden. Passionsfrömmigkeit im niederdeutschen Frühdruck.
Die für das ganze Spätmittelalter zentrale Passionsthematik findet eine eigenständige Ausprägung
im Lübecker Frühdruck. In unterschiedlichen Konfigurationen und Textgattungen nehmen die
Lübecker Drucker Arndes, die Mohnkopf-Druckerei und Bartholomäus Ghotan das Leiden
Christi als Andachtsthema auf. Unser Vortrag wird das reiche Text- und Bildprogramm dieser
Drucke unter zwei Aspekten untersuchen: die Andachtsangebote für die Lesenden in den Beigaben und Erweiterungen und die Rolle Mariens als Fokussierungspunkt des Mitleidens.
Zwei Beispiele:
1. ‚Sunte Birgitten Openbaringe‘: Die beiden unter diesem Namen firmierenden Bearbeitungen
der lateinischen ‚Revelationes‘ im Niederdeutschen bringen die an dem Leiden Christi ausgerichtete Frömmigkeit stärker zum Vorschein. Die Bearbeitung der Ghotan-Offizin fügt
dann Gebete und Meditationen u.a. zu den Wunden Christi bei, die Birgitta zugeschrieben werden. Dieser Komplex der ‚Pseudo-Birgittinen‘, der sich auch in vielen anderen
Gebetsbüchern findet, ist bislang weitgehend von der Forschung ausgespart worden.
2. St. Anselmi Fragen an Maria: Das beliebte Frage-Antwort-Spiel zwischen Anselm und
Maria fordert schon inhärent durch die drastische Schilderung, wie Maria das Blut Christi
mit ihren Kleidern auffängt, zum Mitleiden auf. In den beiden Drucken der Arndes-Offizin (1485 von Steffan Arndes, erweiterter Neudruck von Hans Arndes 1521) wird dies
noch verstärkt und durch Ablassversprechen unterstrichen. Dass dieses Andachtsangebot
angenommen wurde, wird u.a. durch Besitzeinträge und Kommentare auf den entsprechenden Seiten deutlich.
Die Druckuntersuchungen bieten einen regional und zeitlich spezifischen Blick auf den auch
sonst stattfindenden positiv umwertenden Blick auf Wunden als heilbringend. Die Betrachtung
der an den Wunden Christi entwickelten Passionsfrömmigkeit im niederdeutschen Druck trägt
dazu bei, das Thema „Verletzungen und Unversehrtheit“ im Licht der spätmittelalterlichen norddeutschen Andachtsliteratur zu beleuchten.
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 1 von 17
Dr. Bettina Bildhauer:
Blut und Edelstein.
Verletzung und Unversehrtheit, lebendig und unbelebt.
Verletzung und Unversehrtheit sind Konzepte, die einander bedingen: Gäbe es keine Verletzungen, wäre der Begriff der Unversehrtheit bedeutungslos; man braucht ungekehrt das Idealbild des
unversehrten Körpers, damit bestimmte Akte als Verletzungen verstanden werden können. Eine
ähnliche Dialektik besteht in der mittelalterlichen Literatur und Kultur zwischen Blut und Edelstein: Blut als Zeichen von Verletzung, Edelstein als Epitom der Unzerstörbarkeit. Blut und
Edelstein werden darum überraschend häufig zusammen gedacht.
Blut und Edelstein verändern einander durch ihren Kontakt. Das Blut macht den Stein
weich und zerbrechlich in einer Weise, die oft analog zur Verletzlichkeit eines Körpers beschrieben wird (so in der weit verbreiteten Vorstellung, der sonst unzerstörbare Diamant sei nur durch
Bocksblut aufweichbar; und der zum Beispiel in Hugos von Trimberg ‚Renner‘ erwähnten Annahme, Salomon habe Drachenblut benutzt, um Marmor für den Tempelbau zu schneiden).
Oder der Edelstein lässt das Blut erstarren und löst es aus dem Kontext von Verletzung (etwa
wenn Edelsteine zum Blutstillen verwendet werden, wie literarisch im ‚Mönch als Liebesboten‘
erwähnt; oder wenn Reliquiare getrocknetes Märtyrerblut in Edelsteinen und Edelmetallen einkapseln). Diese auffällige Kombination von Blut und Stein, Verletzung und Unversehrtkeit,
könnte moralisch erklärt werden als Gegenüberstellung des Edelsten (Edelstein) und Niedersten
(Blut, Ohly 1975); oder zeitlich als Ausdruck dessen, dass auch das scheinbar Beständigste (Edelstein) lebendig und vergänglich werden kann und dass auch das Vergängliche, Flüchtige (Blut) andauern kann (Bynum 2013); oder auch objektorientiert als Illustration dessen, dass das Unbelebte
(Diamant) organisch und vergänglich werden und das quintessentiell Lebendige (Blut) zu einem
leblosen Gegenstand werden kann. Letztere Interpretation wird in diesem Vortrag im Mittelpunkt stehen.
Besonders interessant sind die Fälle, in denen das Blutig- und Lebendigmachen des Steins
und das ‚Versteinern‘ und Vergegenständlichen des Blutes in einen narrativen Zusammenhang
und eine temporale Abfolge eingebunden werden. Im ‚Parzival‘ zum Beispiel führt das Aufweichen von Gahmurets Helm durch Bocksblut dazu, dass Gahmuret selbst durch einen tödlichen
Lanzenstich blutig verletzt wird, und sein Blut wiederum wie ein unbelebter (oder toter?) Gegenstand ausgestellt wird. Der Gral ist hingegen ein Edelstein, dem blutige Lanzen und das eucharistische Blut Christi zugeordnet sind, und der Merkmale von Lebendigkeit zeigt. Sogar im ‚Nibelungenlied‘ könnte man eine Dialektik von verhärtendem Blut (Haut, Grenzen und Positionen
verhärtend) und lebendig werdendem Edelsteinschatz (der Züge Siegfrieds annimmt) beobachten. Die Inszenierung von sich periodisch verflüssigendem Märtyrerblut wie dem des Hl. Januarius in Edelsteinbüsten dramatisiert ebenfalls die Spannung zwischen lebendig werdenden Steinen
und leblos werdendem Blut. In jedem Fall ist der Schlüssel zum Verständnis die Tatsache, dass
Blut die Spur eines Gewaltaktes, einer Verletzung, ist, und der Edelstein für Unversehrbarkeit
steht, bevor sich die Rollen verkehren.
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 2 von 17
Simon Falch:
Enthauptete Märtyrer und bußwillige Köpfe.
Strategien der Plausibilisierung in hagiographischen Texten des späten Mittelalters.
Das Scheitern des Scharfrichters stellt einen hagiographischer Topos dar: Die Bemühungen, dem
oder der Heiligen Schaden zuzufügen, bleiben mehr oder weniger erfolglos, der Tod kann zum
Erstaunen und Entsetzen der Zeugen nicht mittels Folter herbeigeführt werden. Nicht selten
endet das Martyrium, freilich weil Gott die Qualen hier enden lässt, mit der Enthauptung, die der
Widersacher des Heiligen befiehlt.
In doppelter Weise spiegelt die Gewalt gegen das Haupt den Verstoß gegen den Willen
Gottes wider: A diebus autem Iohannis Baptistae usque nunc regnum caelorum vim patitur et violenti rapiunt
illud (Mt 11,12). Der Kopf ist das oberste Organ des Menschen, Sitz der edlen Sinne und damit
auch Verbindung zur Himmelssphäre: Doch geht es hier um mehr als um Metaphorisches zu bedeuten, nämlich um Wunder.
Köpfe haben und machen Geschichte, die vermittelt durch Heiligenpredigten verbreitet
und erklärt wurde. Doch im Zuge des spätmittelalterlichen Anstiegs von Druckerzeugnissen, der
wie nie zuvor Heiligenviten für Kleriker und Laien verfügbar machte, wuchs das Bewusstsein für
die Problematik hagiographischer Varianten. An Fallbeispielen aus lateinischen Musterpredigtsammlungen und volkssprachigen Predigten wird der Umgang mit dieser Situation, sei es durch
Verschweigen oder offene Problematisierung, geprüft. Dabei spielen nicht nur die Häupter der
Heiligen eine Rolle, sondern auch bspw. Köpfe von Laien, die getrennt von ihrem Leib auf den
Empfang der Kommunion warten.
Prof. Dr. Frank Fürbeth:
Schussverletzungen.
Die Bewertung der Fernwaffe und ihrer Folgen in der deutschen Literatur des Mittelalters.
Am 26. August 1346 unterlag das französische Heer unter Philipp VI. dem englischen Heer unter
Edward III. in der Schlacht von Crécy, wobei die Franzosen hohe Verluste von 1.500 Rittern und
10.000 Fußsoldaten zu beklagen hatten, während auf der Seite der Engländer 100 Tote gezählt
wurden. Verursacht wurde diese vernichtende Niederlage, die eine Wende nicht nur im Hundertjährigen Krieg, sondern auch in der Kriegsführung des Mittelalters überhaupt herbeiführte, durch
den Einsatz der englischen Langbogenschützen, die mit besonderen Pfeilen auch Plattenharnische durchdringen konnten und so die anstürmenden französischen Ritter schon vor Erreichen
der englischen Linien zu Fall brachten. Damit standen sich aber nicht nur zwei unterschiedliche
Waffengattungen, Kavallerie und Fernwaffe, gegenüber, sondern auch zwei Konzepte der Kriegsführung und ihrer jeweiligen ethischen Bewertung.
Der ritterliche Krieg war bestimmt durch den persönlichen tjostartigen Kampf, der zwischen zwei ebenbürtigen Gegnern in direktem Kontakt geführt wurde; als Waffen kamen daher
nur die beiden Nahwaffen Schwert und Speer in Frage. Fernwaffen galten dagegen als unritterlich; deutlich wird dies in der Tötung Ithers durch Parzival dargestellt, der Ither mit einem Wurfspeer genau durch das Visier des Helms ins Auge und dann ins Genick trifft. Auf der anderen
Seite ist die Fernwaffe auch die Waffe des körperlich oder in sonstiger Weise Unterlegenen; paraAbstracts Anglo-German 2015, Seite 3 von 17
digmatisch kann hier die Erzählung des Alten Testaments gelten, wo David den mit Schwert und
Lanze gerüsteten Philister Goliath mit einer Steinschleuder tötet, wieder, indem der Stein durch
die Stirn in den Kopf dringt (1 Sam 17,49). Noch in Heinrich Wittenwilers ,Ring‘ wird dieses Motiv spielerisch verwendet, als in der Bauernschlacht der Riese Goliath durch einen Schleuderschuss durch daz hirn getötet wird.
Im Vortrag soll untersucht werden, wie die beiden divergierenden Bewertungen der Fernwaffe und der von ihr hervorgerufenen Verletzungen in der deutschen Literatur des Mittelalters
eingesetzt werden. Dabei geht es vor allem um die Fragen, welche Figuren in welcher Situation
welche Fernwaffen gebrauchen und wie dies in der Erzählung bewertet wird; zu fragen wäre weiterhin, ob die tödliche Verletzung des Stirn- oder Augendurchschusses dafür typisch ist und welche Bedeutung dem beigelegt wird. In einem vergleichenden Ausblick sollen Aussagen der mittelalterlichen Chirurgie und der Kriegstheorie herangezogen werden, wobei insbesondere auch
untersucht werden soll, ob die Wende von Crécy zu einer entsprechenden Umbewertung der
Fernwaffe in der Erzählliteratur geführt hat.
Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter:
Versehrtheit.
Zur Genese eines Motivs in der frühen Lyrik.
Der Beitrag fragt danach, wie sich das Motiv der Verwundbarkeit durch die Minne im Minnesang
(eventuell auch in der Sangspruchdichtung) etabliert: Wann, wo und wie kommt das Thema auf?
Welche Formen der Versehrtheit zeigen sich? Sind sie gegendert? An welche Minnekonzeptionen
sind sie gebunden? In welcher Relation stehen dabei Körper und Seele? Welches Vokabular wird
genutzt?
Prof. Dr. Wolfgang Haubrichs:
leid, harm und sêr.
Zur Geschichte eines semantischen Komplexes der Verletzung.
Prof. Dr. Christoph Huber:
Wohnen in der Wunde.
Zu einem passionsmystischen Metaphernkomplex.
Die Vorstellung des ‚Wohnens in der Wunde‘ findet sich besonders im Zusammenhang mit der
Seitenwunde Jesu und ist nicht nur in Passionstraktaten, sondern auch in der frühmittelhochdeutschen ‚Summa Theologiae‘ belegt. Die Tradierung kommt aus älteren Quellen und reicht in die
spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Herz-Jesu-Mystik. Sie führt wohl auch in den [protestantischen] Pietismus. Thematisiert werden sollen der Komplex der vielschichtigen Semantisierung
der verletzten Körperlichkeit und die Tendenz, über die Verwundung zur geistlichen Realität vorzudringen.
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 4 von 17
Prof. Dr. Tim Jackson:
Versehrtheit und Unversehrtheit des auferstandenen Körpers.
Neben der Zerstörung der physischen Welt wird das Hauptereignis der Endzeit das Jüngste Gericht sein. Und da die Verstorbenen irgendwo und in irgendwelcher Form vorhanden sein sollen,
damit über sie gerichtet werden kann, ist ihre Auferstehung aus dem Tod ein fester Bestandteil
christlichen Glaubens seit den frühesten Jahrhunderten der Kirche.
Einleitend behandle ich die Fragen, ‚Wann und wo soll das Jüngste Gericht stattfinden?‘ –
Fragen, deren Antworten uns nach den Worten des Matthäus-Evangeliums (24,36) allerdings verschlossen bleiben sollen: „Von dem Tage aber, und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel; sondern allein mein Vater“. Im Hauptteil konzentriere ich mich auf die
Auferstehung der Toten, und zwar auf das Verhältnis zwischen dem menschlichen Körper im Leben und nach der Auferstehung in Bezug auf Versehrtheit bzw. Unversehrtheit.
Wenn man fragt, ‚Wer wird denn auferstehen, um vor das Gericht zu treten?‘, so ist die
Antwort weniger einfach, als man erwarten könnte. Es besteht ein Prinzip der Inklusivität, wie es
etwa in der ‚Rede vom Glauben‘ des Armen Hartmann ausgedrückt wird: dar soln in ane scowen alle
menscliche ougen (92,6). Aber wer ist ein Mensch? Nach dem ‚Berliner Weltgerichtsspiel‘ werden
auch die Totgeborenen auferstehen; soll das aber auch für Fehlgeburten gelten?
Und was ist dieser Leib, der auferstehen wird? Und wie wird er aussehen? Ein erstes Prinzip ist die Identität/Kontinuität: Es ist derselbe Leib, der gestorben ist. Ein zweites Prinzip ist die
Integrität: Die toden müezen uf sten / […] / Gantz und ungeteilet, heißt es bei Heinrich von Neustadt
(‚Gottes Zukunft‘, 6190/92). Ein drittes Prinzip ist die Schönheit oder zumindest die Defektlosigkeit des auferstandenen Leibes: Nicht mehr mit körperlichen Entstellungen und Verformungen, sondern im Idealalter von 30 Jahren werden die Toten auferstehen – das gilt zumindest
für die Guten, nicht unbedingt für die Bösen.
Nicht zuletzt berührt dies alles das Problem der menschlichen Identität, das die Theologen des Mittelalters beschäftigt hat. Worin bestehen wir Menschen? Um die wohl äußersten Möglichkeiten der Versehrtheit zu nennen: Wenn ich von einem Löwen gefressen werde, wie soll
mein Körper auferstehen? Und wenn ich von einem Kannibalen gegessen werde, werde ich am
Jüngsten Tag als ich oder als Teil des Kannibalen auferstehen?
Diese Themen möchte ich im Rahmen einer Denkweise besprechen, die ich als ‚kreative
Logik‘ bezeichne. Es geht um die Verwendung der Phantasie in der Ausarbeitung der logischen
Implikationen von Tatsachen. In diesem Fall also: Vorausgesetzt, dass die Toten eines Tages auferstehen, wie werden deren Körper aussehen?
PD Dr. Sonja Kerth:
diu lücke ist ungeheilet / die mir jâmer durh’ez herze schôz.
Traumaerzählungen in der deutschen Dichtung des Mittelalters.
Mein Beitrag untersucht Darstellungen kriegsbedingter Verletzungen der Seele in der deutschen
Literatur des Mittelalters, die man heute mit dem Begriff ‚Trauma‘ bezeichnen würde. Lässt man
Trauma gemäß verbreiteten psychoanalytischen Vorstellungen mit den sog. Kriegsneurotikern
und Kriegszitterern des Ersten Weltkrieges beginnen, die durch stundenlanges Trommelfeuer
und Ausharren in engen Geschützgräben traumatisiert wurden, dann scheint die Spurensuche in
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 5 von 17
vormodernen Texten sinnlos: Nicht nur war die Art der Kriegsführung in der Vormoderne eine
andere, auch die Einsichten in die menschliche Psyche, eine adäquate Begrifflichkeit und
Diagnostik lagen nicht vor. Trotzdem lassen sich in vormoderner Literatur Darstellungen finden,
die auf kriegs- und gewaltbedingte seelische Verwundungen und ihre andauernden, wiederkehrenden Folgen hinweisen. Man wird diese Traumadarstellungen allerdings in einem Kontext suchen
müssen, der wegführt von einem medizinisch-psychologischen Denkmodell.
Sinnvoller ist ein kulturelles Konzept von Trauma: Traumaerzählungen in der vormodernen Literatur sind Teil historisch-gesellschaftlicher Diskurse, in denen erörtert wird, wie eine Gesellschaft umgeht mit Ängsten und Ohnmacht, Trauer, unkontrollierbarem Zorn und anderen
emotionalen Folgen extremer (Kriegs-)Gewalt. Zu fragen ist daher, ob sich in mittelalterlicher
Literatur ein narrativer Kern bestimmen lässt, der Trauma konfiguriert, welche Bewertungen und
Handlungsspielräume ein (mögliches) Traumaopfer erhält und unter welchen Bedingungen in
weltlichen Dichtungen Lizenzen für Darstellungen von Furcht, Schrecken, lähmender Trauer und
Ohnmacht ausgestellt werden, die ansonsten in der Regel tabuisiert werden. Dabei wird man an
Krieger, vor allem aber auch an alte Menschen, Frauen und Kinder denken.
Die Frage nach Trauma rückt neben historischer Semantik, historischer Emotionsforschung, Narratologie, Diskursanalyse und gender-Theorie auch Dis/ability History ins Blickfeld.
Diese fragt, ob und wie ‚Behinderung‘, chronische Krankheit und Schwäche als historische Phänomene der Abweichung begriffen werden können und eine Kategorie gesellschaftlicher Differenzierung und Ordnung bilden. Es ist nicht erst in der Moderne eine Trennung von ‚Beeinträchtigung‘ als Zustand der Schädigung und ‚Behinderung‘ als soziokulturellem Konstrukt dieser
Schädigung nachzuweisen, sondern Beeinträchtigungen wird schon in Mittelalter und Früher
Neuzeit häufig eine soziale Dimension zugemessen. Dies gilt es auch für seelische Beeinträchtigungen in fiktionalen Repräsentationen zu erkunden: Wie wird hier kriegsbedingte seelische Versehrtheit bewertet, und ist seelische Unversehrtheit im Kontext von Krieg und Gewalt überhaupt
vorstellbar? Sind Rückkoppelungen zu Erlebnissen und Erfahrungen des Primärpublikums denkbar durch Interpretationsprozesse, die zu „imaginative identification and emotional catharsis“
(Jeffrey Alexander) führen könnten?
Nach der Diskussion eines für vormoderne Literatur tauglichen Traumabegriffs werde ich
am Beispiel ausgewählter Figuren im ‚Parzival‘, im ‚Willehalm‘ und im ‚Karlmeinet‘ untersuchen,
ob bzw. unter welchen Bedingungen Trauma ein sinnvolles Interpretament für volksprachliche
Dichtung des Mittelalters sein kann.
Dr. Racha Kirakosian:
Wie man got verwunden sol mit einem ougen.
Subversion der Schadenfreude in Gertruds von Helfta ‚botte der göttlichen miltekeit‘.
Das neu erweckte Interesse an Gertrud von Helfta macht auf die spätmittelalterliche deutschsprachige Übertragung ihres Werks aufmerksam, das Einblicke in eine komplexe Leidenstheologie
gibt. Im ‚botte der göttlichen miltekeit‘ wird das Bild eines Gottes gezeichnet, der sich am Leiden seiner geliebten Seele labt und im Gegenzug dazu verletzt werden will. Der Begriff Schadenfreude,
im Umgangssprachlichen mit boshaften Empfindungen in Verbindung gebracht, bietet sich in
unserem Fall mit seinem ambigen Moralgehalt hervorragend an, um das komplexe Leiden in der
Beziehung zwischen Gott und Seele zu untersuchen. Die Subversion einer solchen Freude am
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Leid des anderen wird im ‚botte‘ von einem bilateralen Verhältnis bestimmt, das sich zwischen
Wohlergehen und Verwundung bewegt und schließlich auf ein heiltuom zustrebt, das die Heiligung
wie auch die Heilung mit sich bringt. Der verwundete menschliche Körper als visuell affirmierte
Versicherung zum Seelenheil taucht häufig in verschiedenen mystischen Berichten des Mittelalters auf und wird oft von einer brautmystischen Komponente begleitet, die mit dem Prinzip der
imitatio Christi ein würdiges Erklärungsmuster zu liefern scheint. Physisches Leid als gottauferlegter Segen im Lichte der Hiobsgeschichte wird als Merkmal von Heiligkeit und Gottesnähe verstanden – soweit ein Abriss zu Verletzungen und Schmerz in der somatischen Mystik des hohen
Mittelalters.
Dass die gewalttätige und oft körperlich bedrohliche Beziehung zwischen Gott und Seele
durchaus zu neuen Formen von Gegengewalt aufrufen kann, ist bisher nur wenig erörtert worden. Annette Volfing deckte jüngst in ihrem Projekt zum Tochter Syon-Material solche an den
mystischen Bräutigam gerichteten Angriffe auf. Während dies vordergründig sexualisierte mit der
menschlichen Gestalt Gottes verbundene Gewaltakte zu sein scheinen, bietet Gertruds von
Helfta ‚botte‘ ein theologisch komplexes Bild eines sich an Leiden erfreuenden Gottes. Das Leiden
kann dabei durchaus das göttlich initiierte wie auch das vom Menschen zugefügte betreffen und
zeigt Spuren von Masochismus auf, die mit theologischen Argumenten untermauert werden.
Der Beitrag bereichert und erweitert das Thema „Verletzungen und Unversehrtheit“ insofern, als es einen spannenden und bisher vernachlässigten Text in die kontroverse Diskussion um
die Begierde nach Leiden bei einer Sehnsucht nach Ganzheit und Einheit bringt.
Dr. Nadine Krolla:
Artûs sich nider seic / Und erkom von dem worte (v. 3429f.).
Zur Bedeutung und Differenzierung verbaler und körperlicher Verletzungen im Dreieckskonflikt der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlîn.
Bereits zu Beginn der ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlîn tritt die Erzählung in eine konfliktreiche
Handlung ein, in der besonders drastisch die Integrität Artus’ (und seines Hofes) verletzt wird.1
Nach einer Tugendprobe, die nur Artus besteht, wird die Figur des Königs von seinem Hof für
ein Turnier mit nur drei Rittern zurückgelassen, bei der Jagd den harten Gesetzen des kalten Winters ausgesetzt; seine Frau bezweifelt seine manheit und hält ihm einen Minne-Ritter entgegen, der
ihm und seinen Rittern körperlich wie kommunikativ überlegen scheint und der später ältere Ansprüche auf Ginover erheben wird. Im verabredeten Gerichtskampf kommt Artus aber nicht dazu, seine angegriffene êre zu verteidigen, da der Gegner den Zweikampf mit ihm verweigert, vielmehr bleibt Ginover die Entscheidung zwischen den beiden Kontrahenten überlassen. Obwohl
sie sich letztlich zu Artus bekennt, wird ihm die Königin trotzdem geraubt, nahezu vergewaltigt,
selbst Gawein vermag sie kaum zu retten, da der sich endlos hinziehende Zweikampf gegen Gasozein bei beiden zu so schweren Verwundungen führt, dass sie sich erst ein Jahr erholen müssen, bevor es zu einer gütlichen Einigung kommen kann.
Zum hier verwendeten Begriff der Integrität vgl. Pascal Delholm: Verletzte Integrität. In: Gewalt in der Sprache.
Rhetoriken verletzenden Sprechens, hg. von Sybille Krämer und Elke Koch. München 2010, S. 127-139, hier speziell
S. 131ff.
1
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 7 von 17
Die Forschung hat sich bisher vor allem auf die Struktur der Episode,2 die ihr eingeschriebene Komik3 oder den Status des (verhinderten) Gerichtskampfes konzentriert.4 Weniger Aufmerksamkeit hat man dabei darauf gelegt, dass der Text auf bemerkenswerte Weise Akte der
Konfliktführung und Gewalt vor allem auch auf verbaler Ebene inszeniert,5 reflektiert und damit
zu körperlicher Gewalt ins Verhältnis setzt. Der performative Charakter sprachlicher Handlungen
tritt hier deutlich zu Tage: So wird der zentrale Dreiecks-Konflikt verbal durch Ginovers Spott
ausgelöst, den – so wird es im Text deutlich gemacht – Artus als Verletzung empfindet. Reflektiert wird Ginovers verletzende Rede schließlich nicht nur vom Erzähler, sondern auch von Keie
und den anwesenden Rittern. Vor allem die Begegnung von Gasozein und Keie im Wald ist von
Keies unhöfischer, kränkender Rede geprägt, die Gasozein jedoch nicht trifft und ihn als kommunikativ überlegenen Gegner zeigt, bevor es zum kurzen, aber gewalttätigen Zweikampf
kommt, den Keie unrühmlich verliert. Der von Artus und Gasozein anberaumte Gerichtskampf
wird von Gasozein nicht nur verweigert, da man sich nicht wie ‚Bauern‘ schlagen solle, sondern
die anschließende Disputation zwischen Artus und dem Kontrahenten erhält in ihrer Überzeichnung formal, so Hartmut Bleumer, „die gleiche Funktion wie die überzogene Kampfdarstellung
zwischen Gawein und Gasozein“.6 In diesem Zusammenhang ließe sich neu diskutieren, dass das
Gerichtsurteil nicht im Zweikampf entschieden wird, sondern Ginovers Worten überlassen
bleibt, die durch ihr verbales übersprechen den Konflikt erst angestoßen hatte.
Im Vortrag soll diesen Spuren nachgegangen werden, um Funktionen und Differenzierungen verbaler und non-verbaler Verletzungen in der Darstellung der ‚Gasozein-Episode‘ sowie
ihre Reflexion exemplarisch herauszuarbeiten.
Dr. Esther Laufer:
Im Ruch des Helden.
Unverweslichkeit im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach.
Gewalt ist nicht nur das thematische sondern auch das poetologische Zentrum in Wolframs ‚Willehalm‘. Bereits die Vielzahl der angeführten Kriegsgründe (u.a. Religion, Kriegerehre, Minne,
Rache, Sippenbindung, Machtanspruch), die Stephan Fuchs zusammengestellt hat, illustriert die
Konkurrenz unterschiedlicher Werte und Deutungsmuster, die mit ihr in Verbindung gebracht
werden. Die paradigmatische Mehrfachmotivation verdeutlicht sowohl die Ausweglosigkeit der
Eskalation als auch den Verlust einer eindeutigen Sinnperspektive. Entsprechend vielgestaltig
zeigt sich auch die Darstellung von Gewalt, die durch Mitleidsbekundungen des Erzählers, heroisches Pathos, lakonische Distanz, exaltierte Metaphorik und burleske Komik gekennzeichnet sein
kann. Darüber hinaus setzt Wolfram sich an mehreren Stellen gattungsübergreifend mit der angeVgl. z.B. Hartmut Bleumer: Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten
Artusromans. Tübingen 1997, S. 23-70.
3 Vgl. z.B. Thomas Gutwald: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der
‚Crône‘ des Heinrich von dem Türlin. Frankfurt am Main 2000, S. 106-122.
4 Vgl. z.B. Rüdiger Schnell: Recht und Dichtung. Zum gerichtlichen Zweikampf in der ‚Crône‘ Heinrichs von dem
Türlin. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis
13.9. 1980, hg. von Helmut Birkhan. Wien 1981, S. 217-229.
5 Zur Bedeutung des sprachlichen Handelns in der ‚Crône‘ und zum Phänomen des übersprechens in der Gasozein-Episode vgl. aber Gutwald: Schwank und Artushof, S. 113ff. Zur Funktion von Redeszenen insgesamt vgl. z.B. Formen
und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher. Tübingen 2007.
6 Bleumer: Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin, S. 37.
2
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 8 von 17
messenen Darstellung von Gewalt auseinander und spielt dabei unterschiedliche ethische Systeme gegeneinander aus. So ruft er etwa mit Arofel, dem idealtypischen Minneritter, der systemgerecht Lösegeld für sein Leben bietet, das höfische Sinnparadigma auf, um es dann, als Willehalm
den wehrlosen Arofel brutal erschlägt, ausdrücklich abzuweisen – die Normen des ritterlichen
Kampfes, die er in früheren Werken beschrieben hat, haben in der Welt des ‚Willehalm‘ keine
Geltung mehr: swa man sluoc oder stach, / swaz ich e davon gesprach, / daz wart naher wol gelendet / denne
mit dem tode gendet: / diz engiltet nicht wan sterben / und an vreude verderben. / man nam da wenic sicherheit,
/ swer den andern überstreit, / den man doch tiure het erlost. (10,21-29) Auf der anderen Seite wendet
sich der Erzähler auch gegen hyperbolische, heldenepische Gewaltdarstellung und fordert: Man
sol dem strite tuon sin reht: / da von diu mære werdent sleht (385,1f.).
Im Vortrag möchte ich mich ausführlich mit der religiös überformten Heroisierung des
Helden Vivianz auseinandersetzen. Während sein Märtyrertod im Ruch der Heiligkeit bereits häufiger besprochen wurde, wurden die Verletzungen, die ihn herbeiführen, noch nicht ausführlich
diskutiert. So zeichnet sich Vivianz bereits vor seinem Tod durch eine märtyrertypische Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen aus, und es wäre zu prüfen, welche Semantik oder Vorbilder das Motiv der herausquellenden Eingeweide hat: der helt die banier do gevienc / und gurtez geweide
wider in, / als ob in ninder ader sin / von deheinem strite swære (25,23-26). In diesem Zusammenhang
soll auch untersucht werden, welche Arten von Verletzungen im ‚Willehalm‘ überhaupt begegnen, wie sie semantisiert sind, ob und inwiefern sie sich von Verletzungen im höfischen Roman
(‚Parzival‘) oder im Heldenepos (z.B. ‚Rolandslied‘) unterscheiden.
Wird die religiös-heroische Sinnperspektive, die sich beim Tod des Vivianz nach dem
Muster des ‚Rolandsliedes‘ auftut, bereits durch Willehalms Untröstlichkeit konterkariert, steht sie
auch in deutlichem Kontrast zu einer Passage am Ende des Textes, in der die Bestattung einiger
christlicher Helden beschrieben wird und die im Gegensatz zur Bestattung der heidnischen Könige bisher noch keine Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden hat. Dort stellt der Erzähler
dem wunderbaren Duft der Leiche Vivianz’ eine sehr pragmatisch-naturwissenschaftliche Erklärung für den Duft und die Unverweslichkeit der Heldenkörper entgegen. Unter medizinisch detaillierter Berücksichtigung der Zutaten der Tinktur beschreibt er ihre Einbalsamierung und deren
Wirkung in einer Allgemeingültigkeit, die dazu geeignet erscheint, jedes vermeintliche Unverweslichkeitswunder in Frage zu stellen. Ausgehend von dieser Stelle soll nicht nur diskutiert werden,
inwiefern diese unterschiedlichen Begründungen von Unverweslichkeit das Deutungsmuster und
die Legitimationsstrategie des Märtyrertodes im ‚Willehalm‘ unterminieren, sondern auch, ob
ähnlich spannungsreiche Konstellationen wunderbarer und realistischer Unverweslichkeit auch in
anderen Texten, möglicherweise im theologischen Diskurs über Zeichen, die eine Heiligsprechung bestimmter Personen rechtfertigt, begegnen.
Prof. Dr. Thomas Lentes:
Vulnera Christi portae coeli sunt.
Zur Medialität der Wunden Christi.
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 9 von 17
Dr. Sandra Linden:
Laz mich unverseret!
Körperstrafen und ihre Problematisierung in spätmittelalterlichen Verserzählungen.
In Mären begegnet das Motiv der Verletzung häufig in der Form der körperlichen Züchtigung,
die von den Figuren oder der Erzählinstanz als gerechte Bestrafung für ein begangenes Unrecht
bzw. ein von der gültigen Ordnung abweichendes Fehlverhalten motiviert und gerechtfertigt
wird. Die Versehrung des Schuldigen kann dabei ganz funktional in die zu vermittelnde Lehre
eingebunden sein und rangiert dann als zeichenhafte Verletzung, so etwa beim voreiligen Verkäufer in der ‚Bärenjagd III‘ oder bei den verprügelten Ehemännern, die in zahlreichen Varianten der
Treueprobe (z.B. ‚Bestraftes Misstrauen‘, ‚Der Herr mit den vier Frauen‘) glauben müssen, ihre
Frauen zu Unrecht verdächtigt zu haben.
Neben solchen funktionierenden Strafmechanismen reagieren zahlreiche Verserzählungen
aber auch auf die Erkenntnis einer Vergeblichkeit körperlicher Züchtigung, wenn selbst ernsthafte Verletzungen diejenigen, die gegen den ordo verstoßen, nicht zu Einsicht und Besserung führen: In dem revueartigen Märe ‚Die zwölf (sieben) Pfaffenknechte‘ wenden sich die Sprecher –
freilich in komischer Überzeichnung – auch dann nicht vom Laster der Faulheit ab, wenn es für
sie mit massiven körperlichen Verletzungen einhergeht. Vor allem für Züchtigungen im Rahmen
ehelicher Kraft- und Machtproben lässt sich beobachten, wie die Verserzählungen die Wirksamkeit der Maßregelung problematisieren. Die Frage, wie man die widerspenstige Frau zähmt und
zu einem gesellschaftskonformen Verhalten führt, geht aus der übeliu-wîp-Thematik hervor und
wird nicht nur in Strickers ‚Die eingemauerte Frau‘, sondern besonders eindrücklich auch in Sibotes ‚Frauenerziehung‘ durchgespielt. So ist die Mutter in Sibotes Erzählung nicht durch die graduell gesteigerten Züchtigungen des Ehemanns zu bezwingen, wohl aber durch den psychischen
Druck, der aus der Androhung einer extremen und zugleich zeichenhaften Verletzung, nämlich
dem Herausschneiden zweier Zornbraten aus ihren Beinen, entsteht. Eine interessante Kombination mit der geistlichen Denkform der Passion erfährt das Motiv im ‚Frauentrost‘ von Siegfried
dem Dörfer, wenn die von ihrem ungerechten Ehemann gezüchtigte Frau durch Marienerscheinungen vom Selbstmord abgehalten und ihre Qual mit der Marter Christi parallelisiert wird, das
Arrangement schließlich in eine Bekehrung des Mannes mündet.
Der Vortrag verfolgt an Verserzählungen hauptsächlich des 14. und 15. Jahrhunderts die
Ausgestaltung und Problematisierung des Motivs der Züchtigung und körperlichen Bestrafung.
Dabei wird herausgearbeitet, wie einige Textbeispiele kritisch reflektieren, dass die Züchtigung
kein sicheres Mittel darstellt, um moralische Ansprüche sicher durchzusetzen, und zugleich alternative Strategien entwerfen, wie man den Wirkungsgrad von Normen und Erziehung verbessern
kann.
Prof. Dr. Nigel Palmer:
Die Blutvergießungen Christi.
Es gibt, so weit ich sehe, keine Studien zum Thema der ‚Blutvergießungen Christi’ (zur Reihe von
fünf oder sieben ‚blutigen‘ Erlebnissen des Heilands, angefangen mit der Beschneidung). Der
Vortrag untersucht deutsche (und eventuell auch niederländische) Gebete, die sich mit diesem
Thema befassen. Der Kontext, in dem diese Andacht entstanden ist, dürfte franziskanisch sein,
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und eher im ripuarischen / niederländischen / norddeutschen Raum als im Süden angesiedelt.
Das Thema scheint mir überhaupt von Bedeutung für die Frage zu sein, wie es zu dem besonderen Interesse an Wonderful Blood im 13. und 14. Jahrhundert kommt und wie das Textensemble, in
dem Fragen des Heiligen Bluts thematisiert werden, überhaupt konturiert ist. Die untersuchten
Texte sind natürlich nur als ein kleiner Teil dieser Textgruppe anzusehen, bieten aber vielleicht
einen guten Einstieg. Ich möchte auf jeden Fall versuchen, diese kleine Textgruppe nicht nur im
Kontext der mittelalterlichen Frömmigkeit zu sehen, sondern auch zu schauen, ob es Bezüge zu
übergreifenden kulturgeschichtlichen Fragen gibt.
Dr. Silvia Reuvekamp:
Gawans Wunden.
Zur Virulenz innerer Aggression im arthurischen Gesellschaftsentwurf.
Gaweins Tod in Folge einer schweren Kopfverletzung, die er im Gerichtskampf gegen Lancelot
davonträgt, gehört zu den integralen Bestandteilen der finalen Untergangshandlung des ‚ProsaLancelot‘. Was sich allerdings in der Handlungszusammenfassung als stimmige Abfolge unmittelbar aufeinander bezogener Ereignisse liest, erweist sich beim näheren Hinsehen als ungleich komplexerer Problemzusammenhang, bei dem sich handlungslogische Unbestimmtheiten auftun, unterschiedliche und zum Teil gegenläufige Motivationen überlagern und verschiedene Sinnebenen
der Wunde Gaweins öffnen, ohne durch eine auktoriale Stimme in einen gemeinsamen Verständnishorizont eingeordnet zu werden. Dies führt dazu, dass das Verständnis von Gaweins Wunde
changiert zwischen einer konkreten körperlichen und medizinisch kategorisierbaren Verletzung in
Folge eines Kampfgeschehens und einer zeichenhaften Vergegenwärtigung einer sehr viel
schwerwiegenderen innerlichen Versehrung des Helden als Konsequenz des unheilbaren Bruches
zwischen ihm und einem eigentlich in Liebe verbundenen Freund, die gleichermaßen Indikator
und Auslöser der Implosion der arthurischen Utopie ist.
Dass Gaweins todbringende Verletzung in diesem Sinne auf einer quer zur Handlungslogik stehenden Ebene in Verbindung zu seiner Unfähigkeit gebracht wird, einen Konflikt zu lösen,
der nicht von außen an den Artushof dringt, sondern innerhalb der Hofgesellschaft selbst entsteht, scheint einen neuralgischen Aspekt der Erzähltradition aufzugreifen und bildhaft zu verdichten. Indem sich nämlich gerade Gawein als einer der wichtigsten Exponenten des Artushofes
bei aller Souveränität in der Verteidigung gegen äußere Angriffe immer wieder als merkwürdig
gefährdet durch interne Spannungen und Konflikte erweist, hilflos gegenüber dem Bösen, das im
eigenen Personenverband entsteht, drängt sich die Frage auf, welche für das Bestehen jeder Gesellschaft immens wichtigen Mechanismen zur Bewältigung innerer Aggressionen am Artushof
überhaupt zur Verfügung stehen. Dies gilt umso mehr als Keies Strategien, vor allem durch verletzende Worte latente Aggressionen am Hof sichtbar zu machen, damit letztlich aber die Oberflächlichkeit arthurischer Zivilisiertheit aufzudecken und Formen naiver Selbstvergewisserung zu
unterlaufen, an kaum einer Stelle ganz explizit in ihrer gesellschaftsstabilisierenden Funktion reflektiert werden.
Der Beitrag möchte vor dem Hintergrund solcher Überlegungen eine bisher in der Forschung wenig beachtete Seite der Gesellschaftsdarstellung im Artusroman in den Blick nehmen.
Es soll gezeigt werden, dass von Beginn der Romantradition an die Gefährdung des arthurischen
Gesellschafsmodells durch innere Aggression ein hoch virulentes Problem darstellt, das aber anAbstracts Anglo-German 2015, Seite 11 von 17
ders als die Konflikte mit der Außenwelt in der Regel nicht offen thematisiert wird. Den so entstehenden Subtext arthurischen Erzählens möchte der Beitrag im Spannungsfeld von Gawans
körperlichen Wunden und Keies verletzenden Worten nachzeichnen und in seinen Konsequenzen für Fragen der Rezeptionssteuerung und Funktionalisierung beleuchten.
Prof. Dr. Dr. Ortrun Riha:
Verwundungen aus der Sicht mittelalterlicher Chirurgen.
Diagnose, Prognose, Therapie.
Prof. Dr. Christian Rohr:
Unfälle, Räuber und Lawinen.
Verletzungsgefahren reisender Pilger und Kaufleute im Mittelalter.
Das Reisen brachte im Mittelalter (und auch danach) zahlreiche Gefahren mit sich, die auch in
einer Vielzahl historisch-erzählender und literarischer Quellen teils ausführlich geschildert werden, teils aber auch fast schamhaft verschwiegen werden. Im Rahmen dieses Beitrags soll es in
erster Linie um die Gefahr körperlicher Verletzungen gehen bzw. weniger um die Gefahr des
Verlustes von materiellen Gütern. Dabei lassen sich drei Grundformen der Verletzungsgefahr erkennen:
Erstens konnte es zu Unfällen mit dem Transportmittel kommen: Schiffe auf den
Binnenflüssen oder auf dem Meer kenterten oder liefen auf Felsen auf, sodass sich die Menschen
oft nur mit knapper Not retten konnten. Fuhrwerke konnten umstürzen, insbesondere im steilen,
alpinen Gelände. Dies passierte etwa auch dem Gegenpapst Johannes XXIII., als er auf dem Weg
zum Konzil von Konstanz den Arlberg überqueren musste. Auch geben vereinzelte Votivtafeln
Auskunft über derartige Errettungen bzw. die Überwindung von Verletzungen.
Zweitens konnten extreme Naturereignisse zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod
führen. Dies geht sehr anschaulich aus den zwar spärlichen, aber sehr emotional geschilderten
Berichten über Alpenüberquerungen im Winter hervor, die immer wieder zu Toten und Verletzten durch Lawinen führten. Schilderungen wie in Lamperts von Hersfeld Chronik zum Zug König Heinrichs IV. nach Canossa, in den ‚Gesta abbatum Trudonensium‘ über die Rückkehr des Abtes
Rudolf von Saint-Trond aus Italien oder im Brief Leonardo Brunis an seinen Humanistenfreund
Niccolo Niccolì erwähnen neben den verletzten Menschen vor allem auch das Elend der Lasttiere. Ähnliches gilt für Berichte zu Verletzungen beim Überqueren hochwassergefährdeter Flüsse
oder nach Steinschlag.
Drittens konnten Verletzungen auch von Überfällen durch Räuberbanden herrühren, die
gerade im Spätmittelalter sehr häufig waren. Besonders die Wälder um die Stadt Nürnberg waren
im 14. Jahrhundert ein sehr gefährliches Terrain, wie etwa Johann von Winterthur in seiner Chronik berichtet. Im ‚Theuerdank‘ (1517), einem Renaissance-Ritterepos auf Kaiser Maximilian I., gerät der Held in einen Hinterhalt seitens seines Widersachers Unfalo, der eine Lawine auf Theuerdank mutwillig loslöst.
Anhand der skizzierten Gefahrenfelder für Verletzungen auf Reisen und unter Berücksichtigung unterschiedlicher sozialer Gruppen, die sich diesen Gefahren auf dem Reiseweg aussetzen mussten, soll auch untersucht werden, inwiefern sich signifikante Unterschiede oder GeAbstracts Anglo-German 2015, Seite 12 von 17
meinsamkeiten bei einem Vergleich literarischer und nicht-literarischer Textgattungen erkennen
lassen. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich dabei vom 11. bis zum beginnenden 16. Jahrhundert,
muss sich aber natürlich auf eine subjektive Auswahl an Quellen beschränken.
Prof. Dr. Heike Sahm:
Das Blut des getöteten Helden.
Überlegungen zur narrativen Funktion blutgetränkter Gegenstände in Vergeltungshandlungen der europäischen Heldenepik.
Das Narrativ von Totschlag und Vergeltung ist in der europäischen Heldenepik bekanntermaßen
verbreitet. In meinem Beitrag soll es um die Frage gehen, wie dieser Handlungszusammenhang
durch das Blut des Helden motiviert und präsent gehalten wird: Das Blut des sterbenden Helden
tränkt sein Gewand. Während der Leichnam bestattet wird, kann das blutige Hemd verwahrt
werden, und es ist dann weit mehr als ein Andenken, an dem getrocknetes Blut klebt. Von
diesem Gegenstand geht im Moment seiner Bergung die nonverbale Aufforderung zur Reaktion
aus, und der Spannungsbogen bis zur Vergeltung kann sich dadurch auszeichnen, dass dieses
‚Ding‘ verborgen oder gezeigt, beweint oder übergeben wird. Der Beitrag soll die narrative Funktion des blutigen Gegenstandes an einzelnen Texten aus der mittelhochdeutschen, altnordischen
und altfranzösischen heroischen Literatur nachzeichnen und die gattungstypische Diskussion von
Totschlag und Vergeltung auf diesem Weg um einen neuen Aspekt ergänzen.
Dr. Regina Schiewer:
... das sein leip nie verseret wart ...
Verletzte und unversehrte Heilige als role models für geistliche Frauen des 14. und 15.
Jahrhunderts.
Untersuchungen zur Schilderung von Verletzungen in religiösen Texten der deutschen Literatur
des Mittelalters haben im Wesentlichen den Gedanken der imitatio Christi, der Nachfolge Christi
auch und gerade im Leiden, zum Gegenstand. Zentrales Kennzeichen der Menschwerdung Gottes ist seine Leidensfähigkeit. Christus im Leiden nachzufolgen, bedeutet also, ihn zu verehren
und die eigene Menschlichkeit durch diesen Nachvollzug zu erhöhen. Verletzungen und das
durch sie implizierte Leiden werden in diesem Zusammenhang in den mittelalterlichen Texten
überaus positiv bewertet. Eine der wesentlichen Voraussetzungen für diese imitatio bzw. compassio
ist dabei nicht nur die willentliche Zufügung von Verletzungen – etwa durch Selbstkasteiungen –,
sondern auch die kontemplative ‚Einfühlung‘ in den Schmerz des gekreuzigten Erlösers. Die
Ebene der persönlichen Andacht wird damit – angeregt durch die Lehre Bernhards von Clairvaux
– mit einer Dimension des Intersubjektiven versehen, die diese empathischen Wahrnehmungen
der Verletzungen eines anderen mit einer dezidiert religiösen Konnotation versieht. Während die
imitatio Christi durch vor allem selbstzugefügte Verletzungen in der Vergangenheit Gegenstand
unterschiedlicher Studien war (Haug/Wachinger [Hgg.], Die Passion Christi in Literatur [...],
1993; Gsell, Das fließende Blut, 2000; Kemper, Kreuzigung Christ, 2006; u.v.a.m.), wurde die Bedeutung verletzter bzw. unversehrter Heiliger für die Entwicklung von Rollenmustern für religiöse Frauen des Spätmittelalters bisher nicht untersucht.
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‚Blutzeugen‘, Heilige, die für das Zeugnis ihres Gottes ihr Leben verlieren und gemartert
und gequält ihr Leben verlieren, sind die Heiligen, die nicht nur in deutschsprachigen Legenden
des Mittelalters am häufigsten vertreten sind. Sie beweisen ihre Glaubenskraft dadurch, dass sie
Schmerz und Verletzung nicht fürchten, sondern unbeirrt von Christus zeugen. Diese Glaubenskraft wird von Gott meist dadurch belohnt, dass ihnen die Schmerzen erspart werden und sie erst
zu dem Zeitpunkt, den Gott selbst bestimmt, ihr Leben aufgeben. Doch neben dieser Gruppe
der ‚Blutzeugen‘ gibt es andere Heilige, allen voran die Gottesmutter Maria und den Evangelisten
Johannes, von denen die Legenden berichten, dass sie unversehrt in den Himmel aufgenommen
wurden. Der Vortrag beschäftigt sich ausgehend von den aus süddeutschen Dominikanerinnenklöstern überlieferten Heiligen-Libelli mit der Frage, wie die Unversehrtheit der Heiligen ins
Blickfeld der Rezipientinnen gerückt, welche Bedeutung ihr zugemessen und in welcher Weise sie
als Alternativmodell zur Rolle der ‚Leidensmystikerin‘ instrumentalisiert wurde. Den Legenden
der Heiligen-Libelli werden hierbei Texte der Schwesternbücher und einzelpersönliche Viten
gegenübergestellt, um die Art und Weise der Implementierung der Heiligengruppe der ‚Unversehrten‘ als role model für geistliche Frauen des Spätmittelalters darzustellen.
Dr. Simone Schultz-Balluff:
Das Wissen über Wunden.
Verwendungsweisen – Konzept – Semantisierung.
Hermann Paul fordert 1898 in den Prinzipien der Sprachgeschichte, die „Beschreibung von Zuständen“ (§15) derart vorzunehmen, dass nicht nur die „Elemente, aus denen sie bestehen“ vollständig aufgezählt würden, sondern vielmehr „das Verhältnis derselben zu einander [...], ihre relative
Stärke, die mannigfachen Verbindungen, die sie unter einander eingegangen sind, den Grad der
Enge und Festigkeit dieser Verbindungen“ zu beschreiben. In seinen Ausführungen geht Paul
letztlich so weit, die Beschreibung sprachlicher Zustände und sprachlichen Wandels als Grundlage jeder kulturwissenschaftlichen Betrachtung zu sehen:
„Es gibt keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwickelung mit
solcher Exaktheit erkennen lassen als bei der Sprache, und daher keine Kulturwissenschaft, deren Methode zu solchem Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann
wie die der Sprachwissenschaft.“
(Paul, Prinzipen, §3)
Wenn nun bei der Betrachtung von Sprache und den durch ihre Fixierung geschaffenen komplexen schriftlichen Einheiten – d.h. Text im Allgemeinen und Literatur im Speziellen – die von
Paul genannten Aspekte berücksichtigt werden, kann für jede Analyse von Text, die das Ziel verfolgt, den kulturellen Bedingungen eines historischen Zeitabschnitts näher zu kommen, die Betrachtung ihrer sprachlichen Einheiten als unbedingt notwendig angesehen werden. Weitergedacht hat Literaturwissenschaft (nur) dann eine kulturwissenschaftliche Relevanz, wenn sie die
sprachlichen Elemente reflektiert und Sprache als Sprachhandeln begreift. Meinem Vortrag liegt
die Verpflichtung gegenüber beiden Disziplinen – der Literatur- und der Sprachwissenschaft –
zugrunde, und dementsprechend setzt meine Untersuchung an der sprachlichen Basis an.
Den Ausgangspunkt bilden die Verwendungsweisen von ahd. wunta / as. wunda / mhd.
wunte (f.). Neue mediale Möglichkeiten, wie z.B. die Verfügbarkeit annotierter Korpora historischer Sprachstufen, zeitigen das Überdenken empirischen Arbeitens und den Einsatz der MethoAbstracts Anglo-German 2015, Seite 14 von 17
den – insbesondere auch für historisch-semantische Studien –, und so wird der Wissensbereich
‚Wunde‘ über die derzeit zugänglichen Referenzkorpora (Altdeutsch und Mittelhochdeutsch) und
vor allem unter besonderer Berücksichtigung unterschiedlicher Textsorten erarbeitet. Mit dem
lexembasierten Zugang eröffnet sich das konzeptuelle Feld über die Erfassung und Auswertung
des sprachlichen Umfelds (Kollokationen, Phrasen, Metaphern u.a.). In meinem Vortrag werde
ich die Visualisierung der Bezugsstrukturen über sog. Wissensrahmen/Frames vorstellen.
Das Ziel dieser historisch-semantischen Standortbestimmung ist das Skizzieren von konzeptuellen Linien, Diskursivität und Semantisierungsrichtungen des Wissensbereichs ‚Wunde‘ anhand deutschsprachiger Texte bis 1350.
Dr. Anne Simon:
Gegeißelt, gebraten und glorifiziert.
Verletzung und Unversehrtheit in ausgewählten Heiligenlegenden.
Die routinemäßige Folter und Zerstückelung der den Märtyrertod begrüßenden Heiligen sind ein
Bestandteil von deren Vorbildhaftigkeit und Identität: Der heilige Lorenz wird gegeißelt und gebraten, Barbara und Katharina von Alexandrien gegeißelt und enthauptet, der heilige Stephan gesteinigt usw. Die Verletzungssucht, die wohl als Nachahmung Christi gedacht ist, wird oft zum
Wahrzeichen des Heiligen (der heilige Dionysius wird mit seinem getrennten Kopf dargestellt, die
heilige Lucia mit ihren herausgestochenen Augen) und dient als Paradebeispiel der Liebe zu Gott
und seitens Gottes, der die Haut und den Körper seiner Auserwählten sozusagen als Leinwand
für die öffentliche, blutig gemalte Darstellung seiner Macht und Gnade benutzt, um die Leidenden anschließend zu sich in das Himmelreich zu holen. Diese physische Versehrtheit wird somit
zur sicht- und greifbaren Manifestation der geistigen Unversehrheit der Heiligen sowie ihrer zur
Schau getragenen, stur gottgerichteten Strebsamkeit und Belohnung. Ihre spirituelle Intaktheit
kann sich wiederum auch in erneuter körperlicher Intaktheit ausdrücken: Der Leichnam der heiligen Katharina wird, zum Beispiel, von den ihn auf den Sinaiberg bringenden Engeln wieder zusammengesetzt, so dass ihre ewige Ganzheit in Gott als zweites mirakulöses Zeichen seiner Liebe
funktioniert. Paradoxerweise beruhte aber die mittelalterliche Reliquienanbetung geradezu auf der
Zerstückelung der Heiligen, wie auch in den Heiligenlegenden dargestellt wird: Der böhmische
König Wenzel etwa bittet um eine Kopfreliquie der heiligen Barbara, bringt diese nach Prag und
lässt ihr zu Ehren dort eine Kapelle erbauen. Die Unversehrtheit des irdischen Körpers ist also
nicht von erstrangiger Wichtigkeit, vielleicht weil die Macht des Heiligen in jedem Körperteil vorhanden war und großzügig-gewinnbringend verteilt werden sollte. In Traum und Vision erscheinen die Heiligen den Gläubigen als Hinweis auf das ewige Leben in Gott allerdings unversehrt. In
den Wundergeschichten erleiden diese Gläubigen spiegelartig die den Märtyrertod ihres bevorzugten Heiligen ermöglichenden Verletzungen und werden dadurch zu weiteren Exemplaren der
Liebe zu Gott: Zum Beispiel bleibt ein im Wald enthaupteter, die heilige Barbara verehrender
Räuber solange lebendig – und sprachfähig –, bis drei Äbte ihn entdecken und seinen Körper
vorübergehend wieder zusammenbringen, so dass er beichten, den Leib des Herrn empfangen
und eines seligen Todes sterben kann, wonach sein Körper gleich wieder zerfällt.
Allerdings wird nicht nur der menschliche Körper im Dienst Gottes zerschunden und
zerschmettert, sondern auch die Erde und die Gesetze der Physik. In der Barbaralegende biegt
sich der Turm zur Erde, damit die Heilige ihrem Vater entkommen kann, ein Felsen spaltet sich,
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damit sie sich vor ihm verstecken kann. In der Katharinenlegende zeugen Nebel und Erdbeben
vom Zorn Gottes, wenn ein Heide den Bischof von Mailand tötet. Auch wenn letzterer durch
Katharina anschließend wiederhergestellt wird, bleibt die zerrissene, zerfurchte Landschaft als
dauerhaftes Andenken an eine tiefere Wahrheit als die oberflächlich menschliche zurück, und der
Nebel drückt die geistige Blindheit der Nichtgläubigen aus, die in den Wundergeschichten auch
buchstäblich realisiert wird, zum Beispiel, wenn der heilige Sebaldus einen jungen Mönch wegen
respektlosen Zupfens des heiligen Bartes so hart ohrfeigt, dass diesem ein Auge verlorengeht.
Im Beitrag wird das paradoxe Zusammenspiel der Verletzung und Unversehrtheit in den
Heiligenleben untersucht, denn die Heiligen zeigen sich nicht nur als liebende Beschützer ihrer
Verehrer, sondern auch als eitle, rachesüchtige, nachtragende Genießer ihres durch körperlichen
Schmerz verdienten Status der Ausgewählten. Ihre willkürliche Verletzung Anderer wird durch
die Rettung der gefährdeten Seelen gerechtfertigt, also als Weg zum Heil und zu einer dauerhaften seelischen Ganzheit angeboten. Die Verletztheit wird somit zur Quelle der Hoffnung und
Sinngebung, die den andächtigen Menschen ‚ergänzt‘ und seinerseits zum spiegelbildartigen, Heil
versprechenden Exemplar werden lässt.
Jan Stellmann:
leitliche blicke.
Poetik des verletzenden Sehens bei Heinrich von Morungen.
Die Lieder Heinrichs von Morungen thematisieren verschiedentlich den verletzenden Blick (Leitlîche blícke, XIII,1,1; hg. von Tervooren 2003), der von der Dame ausgeht. Im ‚Elbenlied‘ etwa
werden viele Männer von den Elben entsehen (V,1,1), der Blick entzündet (V,3,1) und geht direkt
durch das Herz (V,4,2). ir liehten ougen / diu hânt âne lougen / mich senden verwunt (XXVI,1,4-6). Aber
auch der Anblick der Dame verletzt das Ich (IX,1,8ff.; XIX,5ff.; XXV,2,5f.) – ebenso der unterbrochene Blick auf die Dame (XIII,4,5ff.). Poetologisch reflektiert wird der verletzende Blick im
‚Narzisslied‘, indem der Blick auf den Sehenden zurück geworfen wird. Die zentrale Frage jeder
Interpretation ist das rôte mündelîn, das ein lützel was versêret (XXXII,2,7). Wie hängt diese Verletzung mit dem Sehen zusammen? Und, darauf aufbauend: Wie mit dem Singen? Der Beitrag
sucht diese und weitere Fragen nach der Bedeutung des verletzenden Blicks unter Einbezug der
erstmals von Giorgio Agamben (Stanzen 2004 [zuerst 1977]) und, von germanistischer Seite an
diesen anknüpfend, von Hans Jürgen Scheuer fokussierten ‚Pneumo-Fantasmologie‘ zu beantworten. Im Zentrum steht der Konnex von Sehen und Verletzung im Zeichen der Liebeskrankheit bzw. Melancholie. Neben Morungens Liedern wird die entsprechende zeitgenössische medizinische Theorie zum amor hereos berücksichtigt, die seit dem 11. Jahrhundert im Anschluss an die
Schriften von Constantinus Africanus eine intensive Rezeption findet.
Prof. Dr. Michael Stolz:
The vulnerable text.
Verwundbarkeit als intertextuelles Phänomen in Wolframs ‚Parzival‘ (aufgezeigt an der
Anfortas- und Sigune-Handlung).
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Intertextuality imposes vulnerability – unter diesem Motto entwickelt der Renaissance-Forscher Thomas M. Greene die These, dass Texte im Zuge von Prozessen der Übertragung und Aneignung
‚verwundbar‘ werden (Thomas M. Greene, The Vulnerable Text. New York 1986). Die so verstandene ‚Verwundbarkeit‘ sei insbesondere ein Symptom vormoderner Textualität, die Texte zumeist ‚aus zweiter Hand‘ produziere und den Begriff der ‚Originalität‘ noch nicht kenne: „Part of
the text’s vulnerability lies in its dependence on second hand signifiers, a vulnerability aggravated
in a culture which does not yet fetishize originality“. Während Greenes Ansatz in der Altgermanistik bereits im Hinblick auf die zwischen der Eigengesetzlichkeit vormoderner Texte und deren
philologischer Erschließung bestehende Spannung zur Anwendung gebracht und problematisiert
wurde (so von Christian Kiening für den ‚Ackermann‘: Schwierige Modernität. Tübingen 1998),
harrt er in Bezug auf das Verständnis von Intertextualität noch der altgermanistischen Auseinandersetzung. Diese versucht der Beitrag mit einem Fallbeispiel in Gang zu bringen.
Als Textgrundlage werden Chrétiens ‚Perceval ou le Conte du Graal‘ und dessen Aneignung
durch Wolfram von Eschenbach gewählt, dies im Blick auf die Anfortas- und Sigune-Handlung
(was es ermöglicht, den ‚Titurel‘ mit einzubeziehen). Der Beitrag geht (im Anschluss an Jean
Fourquet, Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal. Paris 1938, 21966) davon aus, dass Wolfram die
Bücher III bis VI des ‚Parzival‘ (Jugendgeschichte bis zu Kundries Verfluchung wegen der unterlassenen Mitleidsfrage) nach einer handschriftlichen Vorlage des französischen Textes gestaltete,
die ihm nach Abschluss dieses Teils abhanden kam. Für die Anfertigung der übrigen Bücher
dürfte Wolfram eine anders geartete handschriftliche Vorlage zur Verfügung gehabt haben, was
zur Überarbeitung eines bereits in Umlauf befindlichen deutschsprachigen Textes führte, die sich
noch in Fassungsvarianten der Überlieferung widerspiegelt. Aufgrund veränderter intertextueller
Relationen wird also Wolframs eigener Text im Zuge der Redaktion ‚verwundbar‘. Dieser Sachverhalt soll an Varianzen der Anfortas-Handlung aufgezeigt werden, wie sie insbesondere zwischen Buch V (Parzivals erster Besuch auf der Gralburg) und Buch IX (Parzivals Aufklärung
durch den Einsiedler Trevrizent) fassbar werden. Der wunde Anfortas kann dabei auf Handlungsebene als Prototyp der Verletzbarkeit schlechthin gelten – einer Verletzbarkeit, die mit jener
des Textes interagiert.
Mit in diese Perspektive einbezogen werden sollen Elemente der Sigune-Handlung. Der
Vorlagenwechsel veranlasst Wolfram auch im Hinblick auf den Kampfestod von Sigunes Geliebtem Schionatulander (bei Chrétien sind beide Figuren namenlos) zu den erwähnten Adaptationen
und hat wohl seinerseits die Entstehung des ‚Titurel‘ motiviert, wo die Verletzbarkeit im Umgang
mit textlichen ‚Vorlagen‘ sogar thematisiert wird: Sigune zerschürft ihre Hände beim Versuch, das
beschriftete Brackenseil zu behalten. Das Paradox der ‚Titurel‘-Dichtung besteht dabei darin, dass
die erwähnte Szene und die darin beschriebene Verwundbarkeit der Figur eine Vorlage thematisiert, die der Text selbst gerade nicht hat. Denn der ‚Titurel‘ dürfte unabhängig von einer konkreten Quelle, wie sie Chrétiens ‚Perceval‘ darstellt, entstanden sein und besitzt damit gerade jene
‚Originalität‘, die Greene im Rahmen seines Konzepts von ‚vulnerabilty‘ vormodernen Texten abspricht.
Abstracts Anglo-German 2015, Seite 17 von 17
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