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KUL DIE ZWEI i& UREN

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KUL DIE ZWEI i& UREN
C. P. Snow
DIE ZWEI KUL UREN
Idr mußte dreißig Jahre lang nidrt nur aus Neugier, sondern weil es
zu meinen Berufspfliclten gehörte, Verbindung mit Naturwissenschaftlern halten. Während dieser selben dreißig Jahre habe idr aber audr
versucht, die Büdrer zu gestalten, die i& schreiben wollte, und das
führte midr notwendigerweisemit Schriftsrellerrr zusammen. [. . .]
Dieser Verkehr mit beiden Gruppen und mehr noch, glaube idr, das
regelmäßige Pendeln von der einen zur anderen war daran sd-ruld,
daß midr ein Problem niclt mehr losließ; ic}r hatre es, lange bevor idr
es zu Papier brachte, für midr selber die uzwei Kulturenu getauft. Ic.h
hatte nämlidr ständig das Gefühl, midr da in zvrei Gruppen zu be'wegen, die von gleicler Rasse und gleidrer Intelligenz waren, aus nidrt
allzu verscliedenen sozialen Sdridrten kamen und etwa gleich viel
verdienten, sidr dabei aber so gut wie gar nichts mehr zu sagen hatten. [.. .]
Das Problem besteht keineswegs nur
für die Engländer [...];
das
geistige Leben der gesamten westliclen Gesellsdraft spaltet sidr immer
mehr in zwei diametrale Gruppen auf. \fenn idr vom geistigen Leben
spreche, so mödrte ich darunter audr einen großen Teil unserer Praxis
mitverstanden wissen, denn idr wäre der Letzte, der zugeben würde,
daß da im tiefsten Grunde ein Untersdried gemadrt werden kann. Auf
diese Praxis werde
idr
etwas später noch zurückkommen. Zwei
diametrale Gruppen also: auf der einen Seite haben wir die literarisch
Gebildeten, die ganz unversehens, als gerade niemand aufpaßte, die
Gewohnheit annahmen, von sidr selbst als von ,den Intellektuellen"
zu sprechen, als gäbe es sonst weiter keine. Idr weiß nodr, wie G. H.
Hardy in den dreißiger Jahren einmal erwas verdutzr zu mir sagte:
"Ist Ihnen schon aufgefallen, wie heutzutage das \7ort 'intellektuell.
verwendet wird? Anscheinend gibt es da eine neue Definition, unrer
die Rutherford bestimmt nidrt fällt, und Eddington, Dirac, Adrian
und idr selber audr nicht. Also wissen Sie. mir kommt das ziemlich
komisdr vor.o1 Lirerarisdr Gebildere auf der einen Seite auf der
anderen Naturwissensdeaftler, als deren repräsentativste Gruppe die
ll
physiker gelten. Zwischen beiden eine Kluft gegenseitigen NidTtverstehens, manchmal - und zwar vor allem bei der jungen Generation -
Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes verständnis. Man hat ein seltsam verzerrtes Bild voneinander. Selbst im
Bereich der Geftihle ist die Einstellung so grundverschieden, daß sich
nur sdrwer eine gemeinsame Basis findet. [. . .]
Die Gegenspieler der Naturwissenschaftler haben die tiefeingewurzelte Vorstellung, jene seien immer seichte Optimisten, die nicht merken, wo die Mensdrheit steht. Andererseits glauben die Naturwissenschaftler, den literarisdr Gebildeten gehe jede Voraussidrt ab, sie kümmerren sich kaum um ihre Mitmensdren und sie seien in einem tieferen
Sinne antiintellektuell und eifrig darauf bedacht, Kunst und Denken
auf das existentielle Moment zu besdrränken. Und so weiter' Ver nur
eine einigermaßen scharfe Zunge hat, könnte solcfie versteckten Spitzen en,masse Produzieren. Auf beiden Seiten findet sidr mandres, vras
nicJrt völlig aus der Luft gegriffen ist. Aber das alles ist destruktiv,
und vieles beruht auf gefährlichen Fehldeutungen. Idr mödrte jetzt
zwei der entscheidendsten herausgreifen, und z.war von jeder Seite
eine.
Zunächst einmal: der optimismus der Naturwissenschaftler. Das ist
eine Bescl'ruldigung, die so oft vorgebradrt wurde, daß sie scihon zur
Platitüde geworden ist. Sie stammt von einigen der besten Köpfe, die
im gegnerisclen Lager stehen. Dodr sie beruht auf einer Vermengung
der individuellen und der sozialen Erfahrung, der individuellen und
der sozialen Situation des Menschen. Die meisten Naturwissensdraftler, die ich kenne, sind genauso fest wie meine Freunde von der Gegenseite davon überzeugt, daß sidr jeder Mensdr als Individuum in einer
tragisdren Situation befindet. Jeder von uns ist allein; bisweilen entfliehen wir der Einsamkeit mit Hilfe von Liebe oder Zuneigung oder
viellei&t dank sdröpferisdren Augenblid<en, aber diese Triumphe des
Lebens sind Lidrtquellen, die wir uns selbst schaffen, während am
Rande des veges Finsternis lauert: jeder von uns stirbt allein. Mandre
von den Naturwissenschaftlern, die ich kannte, glaubten an geoffenbarte Religion. vielleidrt ist bei ihnen das Gefühl ftir die Tragik der
Situation nicht so stark ausgeprägt. Idr weiß das nidrt. Bei den meisten tief empfindenden Mensdren aber, mögen sie nocl so mutig und
glü&lich sein, ja bisweilen gerade bei den glüdrlicisten und mutigsten,
scheint es tief im \resen verwurzelt zu sein und das GewicJrt des
Lebens mit auszumadren. Das gilt für diejenigen Naturwissenschaftler,
t2
_dj.
i+
besonders
Menschen.
gut kennengelernt habe, genauso wie für andere
Doch fast keiner könnte einsehen und hier
darf nun wirklicrr
\flort Optimismus fallen _, warum die soziale Lage tragisch das
sein
müsse, nur weil die Situation des einzelnen
es ist. Jeder oÄ r.rr,, irt
einsam; jeder von uns.srirbr-allein; nun gut,
das ist
S*;*rlt, *r"r,
";r,
das wir uns nidrt wehren können
unserer Lage ist vieres
-,
"f,..'an.icht
nidrt schichsalhafr, und wenn wir uns dagegen
wehren, füllen wir
unseren Rang als Mensdren nicht aus.
so.sind_zum Beispiel die meisten unserer Mitmenschen
unterernährt
und.sterben vorzeitig. Das ist unsere soziale Lage,
wenn man es brutal
ausdrü<i<t' Nur zu leid-rt wird die Einsicrt in
die menschliche Einsam-
keit zu einer moralischen Falle: zur Versuchung nämlich,
di.
in den-schoß zu legen, sicrr mit der eigenen unüüerbietbaren
Ha'd"
Tragödie
zufrieden zu geben und die anderen urrl.rp"irt zu lassen.
Als Gruppe erliegen die Naturwissenschaftler dieser
versudrung weni_
"oU
ger leidrt als andere. Sie neigen dazu, ungeduldig
zu fragen,
.ia
da nidrt etwas run lasse, und sie neigen *.ir., .i d",
M.-irrorrg, _"r,
könne etwas tun, solange das Gegenteil nichr bewiesen
isr. Daslst ihr
eigentlicher optimismus, und diesen optimismus könnten
wir anderen dringend gebrauchen.
Andererseits har eben diese unbeirrbare und wohlmeinende
Flaltung,
im Sticrr zu rassen, die
Narurwissensdraftler dazu geführt, die soziale Einstellung
d., o"rrd._
diese Entsd-rlossenheit, die Mitmenscl-ren nicht
ren Kultu* für verächtlicr zu halten. Damit madren
sle es sidr zu
leicht; in mandren Fällen stimmt es, aber da handert
es sicl u,' -.orübergehende zeitersdreinungen, die nidrt als typisdr
angesehen vrerden
(]urren.
Idr erinnere midr an ein Kreuzverhör, das ein berühmter
Naturwissenschaftler mit mir angesteilt hat. ,\[arum
bekennen sicrr die meisren
sclrriftsteller zu sozialen vorste[ungen, die sc-hon
zur
Plantagenets als höchst barbarisch u.rJ
u.."lt.r
zeit
gegorten hätten?
der
Auf
die meisten berühmten schriftsteller des zwanzigsten
Jahrhunderts
tref,e das doch zu. years, pound, Vyndham.
Lewis _ neun Zehntel
von denen, die za unserer Zeit. literarisd' den
größten Einfluß gehabr
hätten, seien dodr in politisdrer Hinsicrrt
nicht nur töricht, sondern
geradezu !ösartig ge.wesen. Hätten
nid-rt die Auswirkungen alles dessie vemraten, Auschwitz mit möglich gemacJrt?.
y"r
:..n,
Idr daclte damals und denke au.l, he,ri" .,oL,
d"ß die ricl_rtige Ant_
IJ
ob
icl-r nodr weirer unterteilen solle, habe mich aber schließlich dagegen
entschieden. Mir sdrwebte eine übersdrrift vor, die nicht einfad-r nur
ein einprägsames Bild, aber dodr audr absolut keine Generalsrabskarte
unserer kulturellen Situation sein sollte - und für diesen Zwecl ist
die Formulierung
'Die zwei Kulturen( ganz gut geeignet; bei jeder
weiteren Aufgliederung würden die Nachteile den Nutzen übersteigen.
wortaufdieseFragendarinbesteht,nidltszuverteidigen,wassidr
nadr
.,ia. ,r.r,"laigen läßt. Es hatte keinen Sinn zu sagen' daß Yeats.kann'
S..ia..n .,roti Fr..rrrden, auf deren Urteil ic,6 micl verlasseneinzigein großer Dichter war, sondern audr ein Mensch von
,ri.tt, .r.r,
äft".aktergröße' Es hatte keinen Sinn' Tatsadren abzustreiten'
"trt*
lautete, daß tatsächlich
die äur.lrarrs wahr sind. Die ehrliche Ant.wort
frühen zwanzigsten
des
Kunst
zwischen gewissen Strömungen der
Äußerungen unsozialen Empfinj"hrhurrd.".ts und den
^b'uidt'tt"
erkannt
ä.n, .ir, Zusammenhang besteht, den Literaten sräflidr spät
haben2. [. . .]
korDie tit"ratur wandelt sich langsamer als die \Tissenschaft. Sie
jene'
deshalb
.;gi.. sictr niclt in derselben Veise automatiscl wie jeneund
Naturvrisdi'o.rn die phasen ihrer Irrwege länger. Dennoch sind
des BeGrund
auf
sdrriftsteller
die
die
senschaftler schlecht beraten,
Auf der einen seite steht die naturwissensdraftlidre Kurtur, die tatsädrlich eine Kultur nid-rt nur im intellektuellen, sondern auch im
anthropologischen Sinne ist. Das heißt, die ihr angehören, braucJ-ren
einander gar nicht völlig zu versrehen und verstehen einander natüroft auch wirklich nicht ganz; die Biologen haben meist eine ziemlidre versdrwommene vorstellung von der modernen physik; aber es
licÄ
gibt dodr eine
gemeinsame Einstellung, gemeinsame Maßstäbe und
Verhaltensweisen, gemeinsame Auffassungen und Ausgangspunkte.
Das geht überrasdrend weit und greift erstaunlidr tief. Es überschneidet
weismaterials aus den Jahren 1914 bis 1950 beurteilen'
Dassirrdzw.eivondenMißverständnissen,diezwisdrendenbeiden
zu
Kulturen bestehen. Ich darf wohl sagen, daß ic]r allerlei Kritik
die
sie
über
hören bekommen habe, seit idr begonnen habe' midr
Bekannten
meiner
meisten
Die
äußern'
zu
zwei Kulturen nämlich daran' und die
aus den Kreisen der Wissenschaft meinen, es sei etwas
auch' Aber
das
meinen
kenne,
ich
meisten schafienden Künstler, die
Naturwisselbst
ohne
die
idr bin von Leuten angegrifien worden,
Sie sind
vertreten.
Interessen
senschaftler zu sein - rr".t. praktiscle
diese
sdron
man
wenn
und
der Ansicht, ich hätte allzusthr vereinfadrt,
Rede
die
Begrifie lr.r*.nd., so müsse zumindest von drei Kulturen
,.ii. Si, behaupten, sie seien zwar keine Naturwissenschaftler' teilten
mit der
aber doclr weigehend deren Empfindungen' Sie könnten ja
jene'
vielleidrt- nodr
neueren Literatur genausowenig anfangen wie
Bullodr und
Allan
Plumb'
H'
*.ti*.t, da ,i" m.ir darüberwüßten' J'
haben
Soziologen
amerikanisdren
-"rrÄ. der mit mir befreundeten
und
ein
in
mit
Leuten
erklärt, sie weigerten sicl ganz entsdrieden'
noch
sie
denen
mit
werden'
d"rrr.lb.n kulturellen Käfit gesPerrt zu
ErniAi .inrrr"l begraben sein möcgten, oder als Handlanger bei der
zuHoffnung
zeugung einer Atmosphäre zu gelten, die keine soziale
lasse.
Idr respektiere
diese Einwände'
Die Zahl zwei ist eine sehr gefähr-
Gedeshalb ist ja auch der dialektisdre Prozeß etwas so
zwei Teile zu
fahrlidres. Gegenüber jedem Versudr, irgend etwas in
überlegt'
lange
Ich
habe
Platze'
zerlegen, ist särkstes iulißrr""t" am
licSe
14
Zäil:
,.i
.t
ri
andere geistige Normen, wie etvra religiöse, politisdre oder klassenbedingte Vorstellungen.
Statistisch gesehen finden sid-r vermutlich unter den Narurwissenschaftlern etwas mehr Ungläubige - im religiösen Sinne als unter den
übrigen Intellektuellen, obwohl es auih bei ihnen viele religiöse Mensdren gibt und unter der Jugend diese Tendenz sidr zu verstärken
scheint. Statistiscl gesehen steht die Mehrzahl der Naturwissenschaftler politisch links, obwohl es audr hier wiederum immer sdron viele
Konservative gegeben hat und bei dem Nacrwudrs in zunehmendem
Maße zu geben scheint. Im Vergleich mit der übrigen intellektuellen
\7elt kommen hier in England und vermutlich audr in den vereinigten
staaten beträchtlicr mehr Naturwissensdraftler aus kleinen Verhältnissen 3. Dodr das alles hat wenig Einfluß auf einen weiten Bereide
ihres Denkens und verhaltens. In ihrer Tätigkeit und weitgehend
audr in ihrem Gefühlsleben sind sie in ihrer Grundeinstellung anderen
Naturwissensdraftlern näher als den Leuten aus dem anderen Laeer.
aud-r wenn diese auf religiösem, politisdrem oder sozialem Gebiet ärre
Überzeugungen teilen. sollte idr ein knappes schlagwort riskieren, so
würde ich sagen, sie haben die Zukunft im Blut. . .J
[.
{uf der Gegenseite sind die Einstellungen weniger einheitlich. Ganz
offensichtlidr trifft man, wenn man sicle von den physikern bis zu den
liärarischen Intellektuellen durch die geistige schicht der Gesellschaft
nrndurchbewegt, unterwegs auf alle möglichen Sdrattierungen. Aber
lch glaube, daß das Exrrem eines völligen Nidrtverstehens gegenüber
lf
Dieses vollden Naturvrissenscihaften sich auf alles übrige auswirkt'
kommeneNichtverstehendurchdringtdiegesamte'überkommene*
Kultur viel tiefer, als wir - die wir in ihr leben - es uns klar
der
machen, es gibt ihr einen narurwissensdraftsfremden Beigesdrmack,
-viel
weitergehend als wir zugeben - im Begriff ist'. in
oft - und
werden
Feindschaft umzuschlagen. Die Empfindungen der einen Seite
die
Naturvrissensdtaftler
\(enn
anderen.
zu Anti-Empfindongen der
Kultur
die Zukunft im Blut haben, dann reagiert die überkommene
überDiese
Zukunfta'
gar
keine
darauf mit dem \runsch, es gäbe
Ausmaß,
einem
in
kommene Kultur jedoch dirigiert die westlicle \relt
erstaundas durch das Auftreten der narurwissenschaftlictren Kultur
lich wenig gesdrmälert wird. [ '' ' ]
Der Grad des beiderseitigen Nidrtverstehens ist einer von den'Witzen,
haben etwa
die nur noch ein bitteres Ledt.ltt hervorrufen können' \0ir
und etwa
im
Lande
fünfzigtausend aktive Naturwissenschaftler
\gisangewandten
der
a.lrtzig"tausend Berufsingenieure oder Vertreter
mußten
danach
,"or.häft. Vährend d., Krieg., und in den Jahren
dieser Leute
meine Kollegen und ich etwa dreißig- bis vierzigtausend
"ungefähr
fünfundzwanzig Prozent also' Diese Zahl ist
i"fr"g.n die
g.oß !"ttg, um uns ein brauchbares Bild zu liefern' wenn auch
t.irtÄ .rnr"r., Gesprächspartner wohl nodl unter vierzig waren' \flir
sie lasen
konnten bis zu einem gewlssen Grade herausbekommen, was
idr,
selbst
daß
gestehe,
Idr
und worüber sie sich öedanken mac_hten.
wenig
ein
gegenüberstehe'
der ich ihnen mit \üohlwollen und Adrtung
erschüttert war. \(ir hatten dodi nidrt erwartet, daß die verbindung
in
zur überkommenen Kultur so dürftig sei und eigentlidr nur mehr
Die
der rein äußerlichen Andeutung einer Verbeugung bestehe' [ ' ' ' ]
Brot
Bücher, die für die meisten literarisch Gebildeten das täglidre
gar
fast
spielten
Drama
Lyrik,
sind - Romane, Gesctrichtswerke,
morafür
Psydrologie,
für
Interesse
keine Rolle. Dabei war durchaus
sind sie sicherlidr
lisdre oder soziale Fragen vorhanden' Sozial gesehen
gesehen, stellen
Moralisch
uns.
stärker engagiert als die meisten von
Intellektu-ellen
von
sie im groier, .rrrd g^flz:efl die gesündeste Gruppe
überhaipt: die Naturwissenschaften haben eine moraliscle Kom-
p""*r",
fast alle ihre vertreter bilden sidr in moralisdrer Hinsidrt
"ra
ein selbständiges urteil.
Psydrologisdr sind sie genauso interessiert wie
auf die
andere aucfi, docl, stoßen sie ofienbar verhältnismäßig spät
Psychologie. Nictrt, daß es ihnen an Interesse mangelte' Vielmehr
,.tr.in, ihnen die Literatur der überkommenen Kultur durdlweg dieses
Interesse niclt befriedigen zv können. Nadrlich befinden sie sich da
in einem grundlegenden Irrtum. Die Folge ist, daß ihr Einfühlungsvermögen schwächer ausgebildet ist als es sein könnte. Das ist eine
selbstverschuldete Verarmung.
Aber wie steht es auf der anderen Seite? Aud-r hier herrsdet Verarmung
- und vielleicht ist sie noch bedenklicher, weil mehr Eitelkeit dabei
ist. Man steilt sich hier gern immer noch so, als wäre die überliefene
Kultur dte ganze "Ilulturn, als gäbe es das iteich der Natur gar
nidrt. Als wäre die Erforsdrung seiner Ordnung weder um ihrer selbst
willen noch ihrer Folgen wegen inreressant. Als wäre das vrissenschafclidre Gebäude der physikalisdren Welt in seiner geistigen Tiefe, Komplexität und Gliederung nicht die schönste und wunderbarste Gemeinschaftsleistung des menschlidren Geistes. Dennoch haben die meisten
Mensclen, die nicht Naturwissensdraftler sind, überhaupt keine Vorstellung von diesem Gebäude. Selbst wenn sie gerne eine Vorstellung
davon hätten, so können sie sie doch nidrt haben. Es isr ungefähr, als
wäre eine ganze Gruppe von Menschen ohne musikalisches Gehör ohne Antenne für einen unabsehbaren Erfahrungsbereich. Nur daß
dieser Defekt nidet angeboren, sondern anerzogen oder vielmehr niclt
verhindert worden ist.
'S/ie
.t:il:.0=t:,
':;-:
76
die unmusikalisclen Mensdren, wissen audr sie nicht, was sie ent-
behren. Sie lächeln mitleidig, wenn sie von Naturw.issenschaftlern
hören, die bedeutende \7erke der englischen Literatur nie gelesen
haben. Sie tun diese Leute als ungebildete Spezialisten ab. Dabei ist
ihre eigene Ignoranz und Spezialisierung genauso ersdrreckend. Wie
oft bin idr in größerem Kreise mit Leuten zusammengewesen, die, an
den Maßstäben der überkommenen Kultur gemessen, als hochgebildet
gelten, und die mit beträchtlichem Genuß ihrem ungläubigen Staunen
über die Unbildung der Naturwissensc}aftler Ausdrud< gaben. Einoder zweimal habe ich mi& provozieren lassen und die Anwesenden
gefragt, wie viele von ihnen mir den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik angeben könnten. Man reagierte kühl - man reagierte aber aucrr
negativ. und doch bedeutete meine Frage auf naturwissensdraftlichem
Gebiet etq/a dasselbe wie: rHaben Sie etwas von Shakespeare ge,lesen?. Ich glaube heute, daß auch bei einer einfacheren
Frage - etwa:
'. tr\[as verstehen Sie unter Masseu, oder ,was verstehen Sie unter Be,'I 'lschleunigung?n, die für den Naturwissenschaftler dasselbe bedeuter wie
. .. , ]5önn"n Sie lesen?. - höchstens einer unrer zehn hochgebildeten
.'1 Mensdren das Gefühl gehabt hätte, daß icl-r dieselbe Spr"d" spreche
,, ,
.iEä
.
17
.
wie er. So wird also das großartige Gebäude der modernen Physik
errichtet, und die Mehrzahl der gesc}eitesten Leute in der vrestlichen
velt verstehen ungefähr genauso viel davon wie ihre vorfahren in
der Jungsteinzeit davon verstanden hätten.
t...1
Für das Vorhandensein der zwei Kulturen gibt
es
viele, tiefgreifende
die teils auf gesellsdraftliche, teils auf
und
individuelle Entwicklungen zurückgehen, teils auch auf der inneren
komplizierte Gründe,
Dynamik der verschiedenen Arten geistiger Tätigkeit beruhen. Einen
jedoch möchte ich hier gesondert herausgreifen, der eigentlidr weniger
ein Grund ist als ein Korrelat, ein roter Faden, der sidr durdr jede
solche Erörterung zieht. Es läßt sich ganz sdrlicht ausdrücken, und
zwar folgendermaßen: Lassen qrir die naturwissenschaftliche Kultur
außer Betradrr, so isr von den übrigen westliclen Intellektuellen niemals der Versudr gemadlt, der 'Wunsdr geäußert oder die Fähigkeit
aufgebracht worden, die industrielle Revolution zu verstehen, geschweige denn sie hinzunehmen. Die Intellektuellen, und ganz besonders die literarisdr Gebildeten, sind geborene Masdrinenstürmer.
Das gilt besonders für England, wo die industrielle Revolution fräher
als anderswo statrfand - während einer langen Periode der Geistesabwesenheit. Vielleidrt trägt das zur Erklärung unserer hodrgradigen
Erstarrung in der Gegenwart bei. Doch mit geringen Einschränkungen
gilt das - erstaunlicherweise - aucJr für die Vereinigten Staaten'
In beiden Ländern und überhaupr im gesamten \Testen schob sich die
erste Velle der industriellen Revolution vorwärts, ohne daß jemand
bemerkte, was vorging. Ohne Frage war das - oder wurde zumindest
später, unter unseren Augen und in unserer Zeit - bei weitem der
gewaltigste Umbrudr in der Gesellsctraft seit der Erfindung des Pfluges.
Tatsächlich bradrten diese beiden Revolutionen, die bäuerliche und die
naturwissenschaftlich-industrielle, die einzigen qualitativen Veränderungen im Sozialgefüge, die der Mensch je erlebt hat. Aber die überkommene Kultur nahm das nicht wahr, oder, wenn sie es wahrnahm,
gefel ihr dieser Anblid< nidrt.
[ . . . ] Ruskin etwa, \üilliam Morris, Thoreau, Emerson und Lawrence
versuchten sidr in den verschiedensten Phantastereien, die letztlidr
nichts anderes waren als ein Aufsd-rrei des Abscheus. Es fällt schwer,
einen Schriftsteller von Rang zu nennen, dessen Mitgefühl und Vorstellungskraft so weit reiclrten, daß er die gräßlichen Hinterhöfe, die
raudrenden Scilote, den inneren Preis sah, und doch zugleidr auch die
18
Aussichten, die sidr für das Leben der Armen eröffneren, die Chancen,
die bisher nur für die Glücklichen da w.aren und nun plötzlich in Reicfi-
weite der übrigen 99 Prozent seiner Mitmenscihen rückten. Manche
russisclen Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts hätten
das vielleich gekonnt, ihr \flesen hatte genügend Spannweite dafür;
aber sie lebten in einer vorindustrielle' Gesellschaft, und die Gelegenheit bot sidr ihnen nic}t. Der einzige sdrriftsteller von \7eltruf, der
verständnis für die indusrrielle Revolution gehabt zu haben scheint,
war der alte Ibsen; und dieser alte Mann verstand ja überhaupt fast
alles.
Denn eine wahrheit ist unanfechtbar: die Industrialisierung ist die
einzige Hoffnung der armen Leute. Ic{r gebraucJre das Wort oFloffnung. in einem brutalen und nüchternen sinn. von dem moraliscLren
Empfinden jener Leure, die zu fein sind, um es in diesem Sinn zu gebrauchen, halte idr nicht viel. Uns, die wir in guten Verhältnissen
leben, fällt es nicht weiter schwer, zu glauben, daß das Materielle im
Leben keine allzu große Rolle spielt. Man kann aucJr durcfuaus für die
eigene Person die Industrialisierung ablehnen
- sozusagen einen modernen \üalden mimen; wenn einer sidr dann durdrhungert, die meisten
seiner Kinder im Säuglingsalter sterben sieht, die vorteile der Bildung
verachtet und sich damit abfindet, daß er zwanzigJahre früher stirbt
nun, vor der Stärke des ästhetischen \Tiderwillens dieses Mannes habe
ide Achtung 5. Aber icJr habe nicfit die geringste Adrtung vor jemandem, der - aucl nur passiv - die gleiche Entsdreidung anderen aufzwingen will, die nidrt die Möglidrkeit der freien \7ahl haben. Außerdem wissen wir ja, wie sie wählen würden. Sdrließlidr sind die armen
Leute noch in jedem Land, in dem ihnen die Gelegenheit geboten
wurde, in seltener Einmütigkeit so schnell vom Dorf in die Fabriken
abgewandert, wie sie dort nur unterkommen konnten. [ . . . ]
Die industrielle Revolution hatte sehr verscriedene Aspekte, je nacldem, ob man sie von oben oder von unten sah. Sie hat sie noch heure,
je nacJ'rdem ob man sie von Chelsea aus sieht oder von einem Dorf in
Asien. [ . . . ] I" den hochentvrickelten Ländern haben wir uns so
ungefähr klargemadrt, was die alte industrielle Revolution im Gefolge
hatte. Einen großen Bevölkerungszuwachs, weil die ang€wandten
Naturwissensdraften Hand in Hand gingen mit der medizinischen
Vissenschaft und der medizinischen Fürsorge. Genug zu essen aus
einem ähnliclen Grund.
Jeder kann lesen und schreiben, weil das in
einer Industriegesellschaft unerläßlich ist. Gesundheit, Nahrung, BilT9
Dies ist die materielle Grundlage unseres Lebens, oder genauer, das
soziale Plasma, dem auch wir angehören. Und wir wissen fast nidrts
darüber. Idr habe oben sdron erwähnt, daß die hochgebildeten Jünger
der geisteswissenschaftlichen Kultur nicht einmal mit den einfachsren
Begriffen der reinen Naturwissensdraften zuredrtkommen können nun, man solhe es niclt für möglich halten, aber mit den angewandten
\Tissenschaften erginge es ihnen noch schlimrncr. [. . .]
In dcn Vereinigcen Sraaten sind vielleicht breitere Kreise in etwa mit
der Industrie v€rrraur, aber wenn ich es mir recht überlege, hat noch
kein amerikanischer Romancier, welcher sozialen Schiclt audr immer,
solche Kenntnisse bei seiner Lesersd-raft vorausserzen können. Er kann
voraussetzen - und er rut das nur allzu ofr -, daß man über eine
pseudofeudale Gesellsdraft Bescheid weiß, etwa über die letzten
Relikte des alten Südens - nicht aber über die Industriegesellschaft. Ein
englischer Romancier könnte es mit Sicherheit niclt vorausserzen. t. . .]
Mit bestimmten Einscfiränkungen glaube ich, daß die Russen die Lage
vernünftig beurteilen. Sie haben eine tiefere Einsidrt in die naturwissensciaftliche Revolution als wir und als die Amerikaner. Die Klufr
zwischen den Kulturen sdreint bei ihnen nicht annähernd so bre\r. zu
sein wie bei uns. Liesr man zum Beispiel sowjetisdre Romane, so stellt
man fest, daß deren Verfasser bei ihren Lesern - im Gegensatz zrr
uns - zumindest elementare Kenntnisse darüber voraussetzen können, was es mit der Industrie überhaupt auf sidi hat. Um reine \7issenschaft geht es selten, und dabei scheinen sie sidr audr nidrt wohler
dung, weil einzig und allein die indusrrielle Revolution das alles bis an
die Armsten heranrragen konnte. Das sind die hauptsädrlichen Vorteile - aber es gibr natürliclr audr Naclteile 6. Ein Nachteil ist, daß
eine Gesellschaft, die für die Industrie organisiert worden ist, sicl leicht
auch für einen vernichtungskrieg organisieren läßt. Aber das hebt die
vorteile niclt auf. sie bilden die Grundlage unseref sozialen Hoffnung.
ri
I
l
,.
Und dennoch: verstehen wir, wie es dazu gekommen ist? Haben wir
überhaupt schon angefangen, wenigstens die alte industrielle Revolution zu verstehen? \üie steht es erst mit der naturq/issenschaftlichen
Revolution, in der wir uns befinden? Noch nie hat es einen Vorgang
gegeben, für den Verständnis notwendiger gewesen wäre' | ' ' ' ]
wenn ich von industrieller Revolution spreche, denke idr an den allmähliclien Einsatz von Maschinen, an die Beschäftigung von Männern
und Frauen in Fabriken, hier in England an den Übergang von einer
vorwiegend aus Landarbeitern bestehenden Bevölkerung zu einer Bevölkerung, die sich in der Hauptsadre damit befaßt, Fabrikvraren herzustellen und sie nach der Herstellung zu vertreiben. | . . . ]
Man kann die Vandlung ungefähr auf den Zettraum von der Mitte
des achtzehnten Jahrhunderts bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert ansetzen. Aus ihr ergab sidr eine weirere, die mit der ersten in
engem Zusammenhang stand, jedodr viel stärker wissensclaftlici geprägt war, viel rascler vor sidt ging und wahrscheinlidr viel gewaltigere Folgen haben wird. Dieser \fandel kommt daher, daß die Industrie sidr der wirkliclen l7issensdraft bedient, daß nic}t mehr über den
Daumen gepeilc, nidrt mehr mit den Ideen vereinzelter rErfinder*,
sondern durchaus sadrgemäß gearbeitet wird'
von w.ann an man diese zweite veränderung datiert, ist weitgehend
eine Geschmadrssache. Mandre möchten am liebsten bis auf die ersten
großangelegten dremisd-ren oder Metall-Indusüiebetriebe vor etwa
sedrzig Jahren zurüdrgehen. Idr persönlich vrürde sie in weit jüngere
Zeit ierlegen und nidrr mehr als dreißig oder vierzig Jahre zurüdrgreifen - grob gesagt' etwa bis auf die Zeit, als man begann, Atomteilchen industrieller'Verwendung zuzuführen. Idr glaube, daß die
rndustriegesellschaft der Elektronen, der Atomenergie und der Automation sich ihrem Tflesen nadt ganz grundlegend von jeder früheren
unterscleidet und die rwelt viel stärker verwandeln wird. Meiner Ansiclt nach darf eben erst diese verwandlung Ansprudr auf die Bezeichnung'naturwissens*raf tliche Revolution
j
zu fühlen als die literarisdr Gebildeten hierzulande. Aber
die
Ingenieurwissenschaften spielen durdraus eine Rolle. Ein Ingenieur
wird, wie es scheint, in einem sowjetischen Roman ebenso selbstverständlicJr hingenommen wie ein Psychiater in einem amerikanischen.
Man ist dort ebenso bereit, sich in der Kunst mit den Produktionsvorgängen auseinanderzuserzen, wieBalzac das mit dem Handwerk getan
hat. Ich möchte dem nicht allzuviel \flert beimessen, aber vielleicht ist
es doch bezeichnend. Weiter ist wohl auch bezeidrnend, daß man in
diesen Romanen srändig einem leidensdraftlichen Bildungsglauben be-
t
't
i
iI
!
s
I
I
I
I
gegnet.
{{
.]
haben
die Russen sidr ein Urteil darüber gebildet, weldre
Jedenfalls
Art und weldre Anzahl ausgebildeter Männer und Frauenz ein Land
braudrt, um sich in der wissenschaftliclen Revolurion an die Spitze zu
setzen. Ich vereinfadte jetzt, aber ihr Voransdrlag, der mir ziemlich
richtig zu sein sdreinr, sieht folgendermaßen aus: Erstens: so viele \fis-
.!
I
I
o erheben'
20
,
ii*i
[..
21
senschaftler
t,
mit Auszeichnungsexamina wie das Land nur aufbringen
kann. Kein Land hat viele solche Leute. Vorausgesetzt, daß die Schulen und Universitäten vorhanden sind, kommt es gar nicht so sehr
darauf an, was man ihnen beibringt. Sie machen ihren Weg schon
selber 8. \7ir haben vermutlich im Verhältnis mindestens genau so
viele wie die Russen und die Amerikaner, das ist unsere geringste Sorge.
Zweitens: eine weit größere Schicht erstklassiger Fachleute - das sind
die Leute, die die zusätzlidte Forsdrungsarbeit leisten, im Entwerfen
und Entwid<eln erste Qualität liefern. | . . . ] Drittens: eine weitere
Sdric}t, die etwa die Bildungsstufe unseres ersten naturwissensdraftlic}en Examens beziehungsweise des Ingenieurexamens erreicit hat
oder vielleicht ein wenig darunter liegt. Ein Teil dieser Leute nimmt
zweitklassige technische Aufgaben wahr, ein anderer Teil jedo& füllt
ziemlich verantwortliche Posten aus, vor allem im personalen Bereidr.
Der ridrtige Einsatz solcher Leute beruht darauf, daß man die Befähigung anders klassifiziert als es bei uns üblich ist. Mit dem Fortsdrreiten der naturwissenschaftlichen Revolution wird der Bedarf an
diesen Leuten ein Ausmaß annehmen, mit dem wir nicht geredrnet
haben, wohl aber die Russen. Sie werden zu Tausenden und Abertausenden notwendig werden, und sie werden voll und ganz die Entwicklung ihrer menscllichen Qualitäten braudren, die die Universität
ihnen vermitteln kann e. In diesem Punkte hat uns unsere Einsidrt
vielleiclt am meisten im Stich gelassen. Viertens und letztens: Politiker, Verwaltungsbeamte, ein ganzes Gemeinwesen, das genug von den
Naturwissenschaften versteht, um sich vorstellen zu können, wovon
die Naturwissensc.haf tler reden.
So oder dodr so ähnlich sieht der Stellenplan für die naturwissenschaftlidre Revolution aus 10. Ic.h wünsdrte, idr wüßte genau, daß wir
hierzulande anpassungsfähig genug wären, um sie zu bewältigen.
[ . . . ] Die Amerikaner werden heftige und langdauernde Anstrengungen madren müssen, um auf die naturwissenschaftlidre Revolution
ebensogut vorbereitet zu sein wie die Russen, aber es bestehen gute
Aussidrten, daß sie es sdraffen werden. Trotzdem ist.das nicht die
Hauptsadre bei der naturwissensdtaftliclen Revolution. Das Hauptproblem liegt darin, daß die Mensdren in den industrialisierten Ländern reidrer werden, während die in den nicltindustrialisierten bestenfalls ihren Status halten, so daß die Kluft zwischen den industrialisierten Ländern und den übrigen räglicJr größer wird. Auf die ganze \felt
hin gesehen, ist dies die Kluft zwischen den Reichen und den Armen.
22
Zu den Reichen gehören die Vereinigten Staaten, die weißrassigen
Teile des Commonwealth, Großbritannien, der größte Teil Europas
und die UdSSR. China steht irgendwie dazwischen, es ist industriell
noch nicht über den Berg, wird das aber wahrsdreinlich fertigbringen.
Die Armen sind alle übrigen. In den reichen Ländern leben die Menschen länger, essen besser und arbeiten weniger. In einem armen Land
wie Indien werden die Leute im Durdrschnirt nicht halb so alt wie in
England. [. . .]
Diese Ungleichheit zwischen den Reichen und den Armen ist nicht
unbemerkt geblieben. Am sd-rärfsten haben sie verständlicherweise
die Armen gesehen. Und eben weil sie sie bemerkt haben, wird
es sie nicht mehr lange geben. Was auch immer in der Welt, wie wir
sie kennen, sich bis zum Jahr 2000 halten wird - diese Ungleichheit
bestimmt nicht. \fenn der \üeg zum Reichtum erst einmal bekannt
geworden ist - und das ist heute der Fall -, dann kann die \Melt
nicht halb reich und halb arm weiterbestehen. Das gibt es einfach
nicht.
Der Vesten muß bei dieser Umwandlung helfen. Das Schwierige ist,
daß es ihm mit seiner gespaltenen Kultur so schwer fällt zu begreifen,
in weldrem Ausmaß und vor allem wie schnell diese Umwandlung vor
sidr gehen muß.
[. . .] \fährend der ganzen Mensdrheitsgeschichte bis zu unserem Jahrhundert hat sich die Gesellschaft sehr langsam gewandek. So langsam,
daß es innerhalb eines Mensdrenlebens kaum zu spüren war. Das hat
sich geändert. Das Tempo des Wandlungsprozesses hat sich so stark
erhöht, daß unser Vorstellungsvermögen nicht mehr mitkommt. fm
nädrsten Jahrzehnt muß notwendigerweise die gesellsclaftliche Veränderung größer sein und müssen mehr Menschen davon betroffen
werden, als das je innerhalb von zehn Jahren der Fall war. Und in den
siebziger Jahren muß sidr dann zwangsläufig die Veränderung wieder
steigern. In den armen Ländern haben die Menschen diese einfadre
Vorstellung jetzt erfaßt. Sie sind nidrt mehr willens, Phasen abzuwarten, die über ein N4enschenalter hinausgehen.
[ . . .] Man kommt nicht darum herum. Es ist technisdr möglich, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre die narurwissenschaftliche Revolution
in Indien, Afrika,
Südostasien, Lateinamerika
und dem Mittleren
Osten durchzuführen. Es gibt keine Entscluldigung für Mensclen im
I7esten, wenn sie sidr dieser Einsicfit verschließen. Und der Einsiclt,
daß dies der einzige Weg ist, den drei Bedrohungen unserer Zeit zu
23
enrgehen: dem Atomkrieg, der Übervölkerung und der Kluft zwisdren
arm und reich Wir befinden uns in einer Lage, in der Harmlosigkeit
das größte Verbrechen ist.
wenn ich das
[. . .l Arrd"t"rseits gebe ich zu - und es wäre nicht redlich,
,,iai tat. -, daß ich nicht weiß, welcher politischen Taktik man sich
bedienen müßte, um die positiven mensdrlidren Möglidrkeiten des
Westens in Bewegung zu setzen. Das Beste, was man tun kann, ist,
immer weiter zu nörgeln, und das ist wahrhaftig eine bescheidende
Leistung. vielleiclt ist das ein zu bequemes Mittel, der eigenen unruhe
zu entgehen. Denn wenn ich auch nicht weiß, wie wir tun können,
was wir tun müssen, oder ob wir überhauPt etwas tun werden, so
weiß ich doch das eine: wenn wir es nicht tun, die kommunistisc}en Länder tun es bestimrnt irgendwann. Es wird sie selbst und andere sehr
viel kosren, aber sie werden es tun. und wenn es wirklich darauf
hinauskommt, dann haben wir praktisch und auch moralisch versagt.
Der \üesten ist dann bestenfalls eine Enklave in einer verwandelten
'welt und unser Land wäre eine Enklave in einer Enklave. \flollen
wir uns damit abfinden? Die Gesdridrte kennt Versagern gegenüber
kein Erbarmen. Vir freilidr werden die Geschichte niclt sdrreiben,
wenn es so kommt.
Inzwischen müssen Schritte unternommen werden, die nic}t außerhalb
der Möglichkeiten nachdenklicher Menschen liegen. In der Bildung
liegt zwar nidrt die vollständige Lösung dieses Problems, aber ohne
Bildung kann der \Testen nicht im entferntesten hoffen, der Schwierigkeiten Flerr zu werden. Alle Pfeile weisen in dieselbe Ridrtung.
oaß *ir die Kluft zwischen unseren Kulturen sctrließen, ist sowohl
im extrem geistigen als auch im extrem praktischen Sinn notwendig'
[ . . . ] \Wäre es nidrt Zeir, anzufangen? Das Gefährliche ist, daß rnan
i" dem Glauben har aufwac}sen lassen, wir hätten unendlidt viel
""r
Zeit. \7ir haben nur sehr wenig Zeit' So wenig, daß ich dazu gar keine
Vermutun g auszusprechen wage.
2
Etwas ausführlicl-rer habe idr mid-r über diesen Zusammenhang in rThe Times
Literary Supplementr, r,Challenge to the Intellect<, 15. August i958, geäußert. Idr hoffe, diese Analyse spärer nodr einmal vertiefen zu können.
3 Eine Analysc
der Schulen, aus denen Fellows der Royal Society kommerr,
spridrt Bände. Ganz anders sieht es z. B. bei den Mitgliedern des Auswärtigen Amtes oder bei den Kronanwälren aus.
a Man vergleiche George Orwells r1984<, wo die Zukunft mit
aller Enrschiedcnheit abgelehnt wird, mit J. D. Bernals r\World without rWar<.
5Es ist verständlidr, wenn Intellektuelle lieber in den im /8.
Jahrhundert entstandenen Straßen Srodrholms wohnen als in Vallingby. Idr würde das audr
vorziehen. Aber es ist nicht zu versrehen, wenn sie verhindern wollen, daß
weitere Vallingbys erridrtet werden.
6 Man sollte
nicht vergessen, daß sidr ähnliche Nadrreile - freilidr über einen
weit längeren Zeitraum hin - ergeben haben müssen, als der Mensdr sidr
vom Jäger und Sammler zum Ad<.erbauer entwid<elte. Für manchen muß das
eine edrte geistige Verarmung bedeutet haben.
7 Ein Drittel
der russisd'ren Ingenieure mir Absdrlußprüfung sind Frauen. Eine
unserer größten Torheiten besteht darin, daß wir, wenn wir es audr nidrt
oflen zugeben, Frauen nicht für geeignet haken, narurwissensdraftliche Berufe zu ergreifen. Auf diese I(eise halbieren wir fein säuberlidr das Reser-
voir unserer Begabungen.
I Es würde sidr wahrscheinlidr lohnen, einmal genau zu untersudren, wel<Jren
Bildungsgang hundert ganz hervorragend sdröpferisdr begabre Persönlidrkeiten auf dem Gebiet der Naturwissensdraften unseres Jahrhunderts durchlaufen haben. Ich könnte mir denken, daß ein überrasdrend hoher Prozentsatz dte sdrwierigsten althergebrachten F{ürden - erwa Physik II in Cambridge und ähnlidres - gar nicht genommen haben.
s Hier in England ist man versucht, diese Leute an Instituten auszubilden, die
nicht Universitätsrang haben und infolgedessen als z.weitklassig eingestufr
werden. Eine schlimmere Fehlentsdreidung könnten wir gar nidrt treffen.
Man begegnet oft amerikanisdren Ingenieuren, die im engen Sinne der Berufsausbildung weniger gut gesdrult sind als die an englisdren tedrnischen
Colleges ausgebildeten; trotzdem haben die Amerikaner das soziale und
individuelle Selbstbewußtsein, das ihnen durch ihre Gleidrstellung an den
t0
Universitären zugewachsen ist.
Ich habe midr hier auf die Universität besdrränkt. Art und Anzahl der Tedrniker wären ein anderes und überaus inreressantes Thema.
Anmerkungen
I Dieser vortrag wurde in cambridge gehalten, vor einem Publikum also, bei
dem idr arrf mancles anspielen konnte, ohne es erklären zu müssen' G' H'
Hardy, 7877-1947, war einer der hervorragendsten Vertreter der reinen
Mathematik seiner Zeit und galt in cambridge als Don und audr nadr seiner
Rü&kehr auf den Lehrscuhifür Mathematik im Jahre 1931 als originelle
Persönlidrkeit.
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