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KUL DIE ZWEI i& UREN
C. P. Snow DIE ZWEI KUL UREN Idr mußte dreißig Jahre lang nidrt nur aus Neugier, sondern weil es zu meinen Berufspfliclten gehörte, Verbindung mit Naturwissenschaftlern halten. Während dieser selben dreißig Jahre habe idr aber audr versucht, die Büdrer zu gestalten, die i& schreiben wollte, und das führte midr notwendigerweisemit Schriftsrellerrr zusammen. [. . .] Dieser Verkehr mit beiden Gruppen und mehr noch, glaube idr, das regelmäßige Pendeln von der einen zur anderen war daran sd-ruld, daß midr ein Problem niclt mehr losließ; ic}r hatre es, lange bevor idr es zu Papier brachte, für midr selber die uzwei Kulturenu getauft. Ic.h hatte nämlidr ständig das Gefühl, midr da in zvrei Gruppen zu be'wegen, die von gleicler Rasse und gleidrer Intelligenz waren, aus nidrt allzu verscliedenen sozialen Sdridrten kamen und etwa gleich viel verdienten, sidr dabei aber so gut wie gar nichts mehr zu sagen hatten. [.. .] Das Problem besteht keineswegs nur für die Engländer [...]; das geistige Leben der gesamten westliclen Gesellsdraft spaltet sidr immer mehr in zwei diametrale Gruppen auf. \fenn idr vom geistigen Leben spreche, so mödrte ich darunter audr einen großen Teil unserer Praxis mitverstanden wissen, denn idr wäre der Letzte, der zugeben würde, daß da im tiefsten Grunde ein Untersdried gemadrt werden kann. Auf diese Praxis werde idr etwas später noch zurückkommen. Zwei diametrale Gruppen also: auf der einen Seite haben wir die literarisch Gebildeten, die ganz unversehens, als gerade niemand aufpaßte, die Gewohnheit annahmen, von sidr selbst als von ,den Intellektuellen" zu sprechen, als gäbe es sonst weiter keine. Idr weiß nodr, wie G. H. Hardy in den dreißiger Jahren einmal erwas verdutzr zu mir sagte: "Ist Ihnen schon aufgefallen, wie heutzutage das \7ort 'intellektuell. verwendet wird? Anscheinend gibt es da eine neue Definition, unrer die Rutherford bestimmt nidrt fällt, und Eddington, Dirac, Adrian und idr selber audr nicht. Also wissen Sie. mir kommt das ziemlich komisdr vor.o1 Lirerarisdr Gebildere auf der einen Seite auf der anderen Naturwissensdeaftler, als deren repräsentativste Gruppe die ll physiker gelten. Zwischen beiden eine Kluft gegenseitigen NidTtverstehens, manchmal - und zwar vor allem bei der jungen Generation - Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes verständnis. Man hat ein seltsam verzerrtes Bild voneinander. Selbst im Bereich der Geftihle ist die Einstellung so grundverschieden, daß sich nur sdrwer eine gemeinsame Basis findet. [. . .] Die Gegenspieler der Naturwissenschaftler haben die tiefeingewurzelte Vorstellung, jene seien immer seichte Optimisten, die nicht merken, wo die Mensdrheit steht. Andererseits glauben die Naturwissenschaftler, den literarisdr Gebildeten gehe jede Voraussidrt ab, sie kümmerren sich kaum um ihre Mitmensdren und sie seien in einem tieferen Sinne antiintellektuell und eifrig darauf bedacht, Kunst und Denken auf das existentielle Moment zu besdrränken. Und so weiter' Ver nur eine einigermaßen scharfe Zunge hat, könnte solcfie versteckten Spitzen en,masse Produzieren. Auf beiden Seiten findet sidr mandres, vras nicJrt völlig aus der Luft gegriffen ist. Aber das alles ist destruktiv, und vieles beruht auf gefährlichen Fehldeutungen. Idr mödrte jetzt zwei der entscheidendsten herausgreifen, und z.war von jeder Seite eine. Zunächst einmal: der optimismus der Naturwissenschaftler. Das ist eine Bescl'ruldigung, die so oft vorgebradrt wurde, daß sie scihon zur Platitüde geworden ist. Sie stammt von einigen der besten Köpfe, die im gegnerisclen Lager stehen. Dodr sie beruht auf einer Vermengung der individuellen und der sozialen Erfahrung, der individuellen und der sozialen Situation des Menschen. Die meisten Naturwissensdraftler, die ich kenne, sind genauso fest wie meine Freunde von der Gegenseite davon überzeugt, daß sidr jeder Mensdr als Individuum in einer tragisdren Situation befindet. Jeder von uns ist allein; bisweilen entfliehen wir der Einsamkeit mit Hilfe von Liebe oder Zuneigung oder viellei&t dank sdröpferisdren Augenblid<en, aber diese Triumphe des Lebens sind Lidrtquellen, die wir uns selbst schaffen, während am Rande des veges Finsternis lauert: jeder von uns stirbt allein. Mandre von den Naturwissenschaftlern, die ich kannte, glaubten an geoffenbarte Religion. vielleidrt ist bei ihnen das Gefühl ftir die Tragik der Situation nicht so stark ausgeprägt. Idr weiß das nidrt. Bei den meisten tief empfindenden Mensdren aber, mögen sie nocl so mutig und glü&lich sein, ja bisweilen gerade bei den glüdrlicisten und mutigsten, scheint es tief im \resen verwurzelt zu sein und das GewicJrt des Lebens mit auszumadren. Das gilt für diejenigen Naturwissenschaftler, t2 _dj. i+ besonders Menschen. gut kennengelernt habe, genauso wie für andere Doch fast keiner könnte einsehen und hier darf nun wirklicrr \flort Optimismus fallen _, warum die soziale Lage tragisch das sein müsse, nur weil die Situation des einzelnen es ist. Jeder oÄ r.rr,, irt einsam; jeder von uns.srirbr-allein; nun gut, das ist S*;*rlt, *r"r, ";r, das wir uns nidrt wehren können unserer Lage ist vieres -, "f,..'an.icht nidrt schichsalhafr, und wenn wir uns dagegen wehren, füllen wir unseren Rang als Mensdren nicht aus. so.sind_zum Beispiel die meisten unserer Mitmenschen unterernährt und.sterben vorzeitig. Das ist unsere soziale Lage, wenn man es brutal ausdrü<i<t' Nur zu leid-rt wird die Einsicrt in die menschliche Einsam- keit zu einer moralischen Falle: zur Versuchung nämlich, di. in den-schoß zu legen, sicrr mit der eigenen unüüerbietbaren Ha'd" Tragödie zufrieden zu geben und die anderen urrl.rp"irt zu lassen. Als Gruppe erliegen die Naturwissenschaftler dieser versudrung weni_ "oU ger leidrt als andere. Sie neigen dazu, ungeduldig zu fragen, .ia da nidrt etwas run lasse, und sie neigen *.ir., .i d", M.-irrorrg, _"r, könne etwas tun, solange das Gegenteil nichr bewiesen isr. Daslst ihr eigentlicher optimismus, und diesen optimismus könnten wir anderen dringend gebrauchen. Andererseits har eben diese unbeirrbare und wohlmeinende Flaltung, im Sticrr zu rassen, die Narurwissensdraftler dazu geführt, die soziale Einstellung d., o"rrd._ diese Entsd-rlossenheit, die Mitmenscl-ren nicht ren Kultu* für verächtlicr zu halten. Damit madren sle es sidr zu leicht; in mandren Fällen stimmt es, aber da handert es sicl u,' -.orübergehende zeitersdreinungen, die nidrt als typisdr angesehen vrerden (]urren. Idr erinnere midr an ein Kreuzverhör, das ein berühmter Naturwissenschaftler mit mir angesteilt hat. ,\[arum bekennen sicrr die meisren sclrriftsteller zu sozialen vorste[ungen, die sc-hon zur Plantagenets als höchst barbarisch u.rJ u.."lt.r zeit gegorten hätten? der Auf die meisten berühmten schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts tref,e das doch zu. years, pound, Vyndham. Lewis _ neun Zehntel von denen, die za unserer Zeit. literarisd' den größten Einfluß gehabr hätten, seien dodr in politisdrer Hinsicrrt nicht nur töricht, sondern geradezu !ösartig ge.wesen. Hätten nid-rt die Auswirkungen alles dessie vemraten, Auschwitz mit möglich gemacJrt?. y"r :..n, Idr daclte damals und denke au.l, he,ri" .,oL, d"ß die ricl_rtige Ant_ IJ ob icl-r nodr weirer unterteilen solle, habe mich aber schließlich dagegen entschieden. Mir sdrwebte eine übersdrrift vor, die nicht einfad-r nur ein einprägsames Bild, aber dodr audr absolut keine Generalsrabskarte unserer kulturellen Situation sein sollte - und für diesen Zwecl ist die Formulierung 'Die zwei Kulturen( ganz gut geeignet; bei jeder weiteren Aufgliederung würden die Nachteile den Nutzen übersteigen. wortaufdieseFragendarinbesteht,nidltszuverteidigen,wassidr nadr .,ia. ,r.r,"laigen läßt. Es hatte keinen Sinn zu sagen' daß Yeats.kann' S..ia..n .,roti Fr..rrrden, auf deren Urteil ic,6 micl verlasseneinzigein großer Dichter war, sondern audr ein Mensch von ,ri.tt, .r.r, äft".aktergröße' Es hatte keinen Sinn' Tatsadren abzustreiten' "trt* lautete, daß tatsächlich die äur.lrarrs wahr sind. Die ehrliche Ant.wort frühen zwanzigsten des Kunst zwischen gewissen Strömungen der Äußerungen unsozialen Empfinj"hrhurrd.".ts und den ^b'uidt'tt" erkannt ä.n, .ir, Zusammenhang besteht, den Literaten sräflidr spät haben2. [. . .] korDie tit"ratur wandelt sich langsamer als die \Tissenschaft. Sie jene' deshalb .;gi.. sictr niclt in derselben Veise automatiscl wie jeneund Naturvrisdi'o.rn die phasen ihrer Irrwege länger. Dennoch sind des BeGrund auf sdrriftsteller die die senschaftler schlecht beraten, Auf der einen seite steht die naturwissensdraftlidre Kurtur, die tatsädrlich eine Kultur nid-rt nur im intellektuellen, sondern auch im anthropologischen Sinne ist. Das heißt, die ihr angehören, braucJ-ren einander gar nicht völlig zu versrehen und verstehen einander natüroft auch wirklich nicht ganz; die Biologen haben meist eine ziemlidre versdrwommene vorstellung von der modernen physik; aber es licÄ gibt dodr eine gemeinsame Einstellung, gemeinsame Maßstäbe und Verhaltensweisen, gemeinsame Auffassungen und Ausgangspunkte. Das geht überrasdrend weit und greift erstaunlidr tief. Es überschneidet weismaterials aus den Jahren 1914 bis 1950 beurteilen' Dassirrdzw.eivondenMißverständnissen,diezwisdrendenbeiden zu Kulturen bestehen. Ich darf wohl sagen, daß ic]r allerlei Kritik die sie über hören bekommen habe, seit idr begonnen habe' midr Bekannten meiner meisten Die äußern' zu zwei Kulturen nämlich daran' und die aus den Kreisen der Wissenschaft meinen, es sei etwas auch' Aber das meinen kenne, ich meisten schafienden Künstler, die Naturwisselbst ohne die idr bin von Leuten angegrifien worden, Sie sind vertreten. Interessen senschaftler zu sein - rr".t. praktiscle diese sdron man wenn und der Ansicht, ich hätte allzusthr vereinfadrt, Rede die Begrifie lr.r*.nd., so müsse zumindest von drei Kulturen ,.ii. Si, behaupten, sie seien zwar keine Naturwissenschaftler' teilten mit der aber doclr weigehend deren Empfindungen' Sie könnten ja jene' vielleidrt- nodr neueren Literatur genausowenig anfangen wie Bullodr und Allan Plumb' H' *.ti*.t, da ,i" m.ir darüberwüßten' J' haben Soziologen amerikanisdren -"rrÄ. der mit mir befreundeten und ein in mit Leuten erklärt, sie weigerten sicl ganz entsdrieden' noch sie denen mit werden' d"rrr.lb.n kulturellen Käfit gesPerrt zu ErniAi .inrrr"l begraben sein möcgten, oder als Handlanger bei der zuHoffnung zeugung einer Atmosphäre zu gelten, die keine soziale lasse. Idr respektiere diese Einwände' Die Zahl zwei ist eine sehr gefähr- Gedeshalb ist ja auch der dialektisdre Prozeß etwas so zwei Teile zu fahrlidres. Gegenüber jedem Versudr, irgend etwas in überlegt' lange Ich habe Platze' zerlegen, ist särkstes iulißrr""t" am licSe 14 Zäil: ,.i .t ri andere geistige Normen, wie etvra religiöse, politisdre oder klassenbedingte Vorstellungen. Statistisch gesehen finden sid-r vermutlich unter den Narurwissenschaftlern etwas mehr Ungläubige - im religiösen Sinne als unter den übrigen Intellektuellen, obwohl es auih bei ihnen viele religiöse Mensdren gibt und unter der Jugend diese Tendenz sidr zu verstärken scheint. Statistiscl gesehen steht die Mehrzahl der Naturwissenschaftler politisch links, obwohl es audr hier wiederum immer sdron viele Konservative gegeben hat und bei dem Nacrwudrs in zunehmendem Maße zu geben scheint. Im Vergleich mit der übrigen intellektuellen \7elt kommen hier in England und vermutlich audr in den vereinigten staaten beträchtlicr mehr Naturwissensdraftler aus kleinen Verhältnissen 3. Dodr das alles hat wenig Einfluß auf einen weiten Bereide ihres Denkens und verhaltens. In ihrer Tätigkeit und weitgehend audr in ihrem Gefühlsleben sind sie in ihrer Grundeinstellung anderen Naturwissensdraftlern näher als den Leuten aus dem anderen Laeer. aud-r wenn diese auf religiösem, politisdrem oder sozialem Gebiet ärre Überzeugungen teilen. sollte idr ein knappes schlagwort riskieren, so würde ich sagen, sie haben die Zukunft im Blut. . .J [. {uf der Gegenseite sind die Einstellungen weniger einheitlich. Ganz offensichtlidr trifft man, wenn man sicle von den physikern bis zu den liärarischen Intellektuellen durch die geistige schicht der Gesellschaft nrndurchbewegt, unterwegs auf alle möglichen Sdrattierungen. Aber lch glaube, daß das Exrrem eines völligen Nidrtverstehens gegenüber lf Dieses vollden Naturvrissenscihaften sich auf alles übrige auswirkt' kommeneNichtverstehendurchdringtdiegesamte'überkommene* Kultur viel tiefer, als wir - die wir in ihr leben - es uns klar der machen, es gibt ihr einen narurwissensdraftsfremden Beigesdrmack, -viel weitergehend als wir zugeben - im Begriff ist'. in oft - und werden Feindschaft umzuschlagen. Die Empfindungen der einen Seite die Naturvrissensdtaftler \(enn anderen. zu Anti-Empfindongen der Kultur die Zukunft im Blut haben, dann reagiert die überkommene überDiese Zukunfta' gar keine darauf mit dem \runsch, es gäbe Ausmaß, einem in kommene Kultur jedoch dirigiert die westlicle \relt erstaundas durch das Auftreten der narurwissenschaftlictren Kultur lich wenig gesdrmälert wird. [ '' ' ] Der Grad des beiderseitigen Nidrtverstehens ist einer von den'Witzen, haben etwa die nur noch ein bitteres Ledt.ltt hervorrufen können' \0ir und etwa im Lande fünfzigtausend aktive Naturwissenschaftler \gisangewandten der a.lrtzig"tausend Berufsingenieure oder Vertreter mußten danach ,"or.häft. Vährend d., Krieg., und in den Jahren dieser Leute meine Kollegen und ich etwa dreißig- bis vierzigtausend "ungefähr fünfundzwanzig Prozent also' Diese Zahl ist i"fr"g.n die g.oß !"ttg, um uns ein brauchbares Bild zu liefern' wenn auch t.irtÄ .rnr"r., Gesprächspartner wohl nodl unter vierzig waren' \flir sie lasen konnten bis zu einem gewlssen Grade herausbekommen, was idr, selbst daß gestehe, Idr und worüber sie sich öedanken mac_hten. wenig ein gegenüberstehe' der ich ihnen mit \üohlwollen und Adrtung erschüttert war. \(ir hatten dodi nidrt erwartet, daß die verbindung in zur überkommenen Kultur so dürftig sei und eigentlidr nur mehr Die der rein äußerlichen Andeutung einer Verbeugung bestehe' [ ' ' ' ] Brot Bücher, die für die meisten literarisch Gebildeten das täglidre gar fast spielten Drama Lyrik, sind - Romane, Gesctrichtswerke, morafür Psydrologie, für Interesse keine Rolle. Dabei war durchaus sind sie sicherlidr lisdre oder soziale Fragen vorhanden' Sozial gesehen gesehen, stellen Moralisch uns. stärker engagiert als die meisten von Intellektu-ellen von sie im groier, .rrrd g^flz:efl die gesündeste Gruppe überhaipt: die Naturwissenschaften haben eine moraliscle Kom- p""*r", fast alle ihre vertreter bilden sidr in moralisdrer Hinsidrt "ra ein selbständiges urteil. Psydrologisdr sind sie genauso interessiert wie auf die andere aucfi, docl, stoßen sie ofienbar verhältnismäßig spät Psychologie. Nictrt, daß es ihnen an Interesse mangelte' Vielmehr ,.tr.in, ihnen die Literatur der überkommenen Kultur durdlweg dieses Interesse niclt befriedigen zv können. Nadrlich befinden sie sich da in einem grundlegenden Irrtum. Die Folge ist, daß ihr Einfühlungsvermögen schwächer ausgebildet ist als es sein könnte. Das ist eine selbstverschuldete Verarmung. Aber wie steht es auf der anderen Seite? Aud-r hier herrsdet Verarmung - und vielleicht ist sie noch bedenklicher, weil mehr Eitelkeit dabei ist. Man steilt sich hier gern immer noch so, als wäre die überliefene Kultur dte ganze "Ilulturn, als gäbe es das iteich der Natur gar nidrt. Als wäre die Erforsdrung seiner Ordnung weder um ihrer selbst willen noch ihrer Folgen wegen inreressant. Als wäre das vrissenschafclidre Gebäude der physikalisdren Welt in seiner geistigen Tiefe, Komplexität und Gliederung nicht die schönste und wunderbarste Gemeinschaftsleistung des menschlidren Geistes. Dennoch haben die meisten Mensclen, die nicht Naturwissensdraftler sind, überhaupt keine Vorstellung von diesem Gebäude. Selbst wenn sie gerne eine Vorstellung davon hätten, so können sie sie doch nidrt haben. Es isr ungefähr, als wäre eine ganze Gruppe von Menschen ohne musikalisches Gehör ohne Antenne für einen unabsehbaren Erfahrungsbereich. Nur daß dieser Defekt nidet angeboren, sondern anerzogen oder vielmehr niclt verhindert worden ist. 'S/ie .t:il:.0=t:, ':;-: 76 die unmusikalisclen Mensdren, wissen audr sie nicht, was sie ent- behren. Sie lächeln mitleidig, wenn sie von Naturw.issenschaftlern hören, die bedeutende \7erke der englischen Literatur nie gelesen haben. Sie tun diese Leute als ungebildete Spezialisten ab. Dabei ist ihre eigene Ignoranz und Spezialisierung genauso ersdrreckend. Wie oft bin idr in größerem Kreise mit Leuten zusammengewesen, die, an den Maßstäben der überkommenen Kultur gemessen, als hochgebildet gelten, und die mit beträchtlichem Genuß ihrem ungläubigen Staunen über die Unbildung der Naturwissensc}aftler Ausdrud< gaben. Einoder zweimal habe ich mi& provozieren lassen und die Anwesenden gefragt, wie viele von ihnen mir den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik angeben könnten. Man reagierte kühl - man reagierte aber aucrr negativ. und doch bedeutete meine Frage auf naturwissensdraftlichem Gebiet etq/a dasselbe wie: rHaben Sie etwas von Shakespeare ge,lesen?. Ich glaube heute, daß auch bei einer einfacheren Frage - etwa: '. tr\[as verstehen Sie unter Masseu, oder ,was verstehen Sie unter Be,'I 'lschleunigung?n, die für den Naturwissenschaftler dasselbe bedeuter wie . .. , ]5önn"n Sie lesen?. - höchstens einer unrer zehn hochgebildeten .'1 Mensdren das Gefühl gehabt hätte, daß icl-r dieselbe Spr"d" spreche ,, , .iEä . 17 . wie er. So wird also das großartige Gebäude der modernen Physik errichtet, und die Mehrzahl der gesc}eitesten Leute in der vrestlichen velt verstehen ungefähr genauso viel davon wie ihre vorfahren in der Jungsteinzeit davon verstanden hätten. t...1 Für das Vorhandensein der zwei Kulturen gibt es viele, tiefgreifende die teils auf gesellsdraftliche, teils auf und individuelle Entwicklungen zurückgehen, teils auch auf der inneren komplizierte Gründe, Dynamik der verschiedenen Arten geistiger Tätigkeit beruhen. Einen jedoch möchte ich hier gesondert herausgreifen, der eigentlidr weniger ein Grund ist als ein Korrelat, ein roter Faden, der sidr durdr jede solche Erörterung zieht. Es läßt sich ganz sdrlicht ausdrücken, und zwar folgendermaßen: Lassen qrir die naturwissenschaftliche Kultur außer Betradrr, so isr von den übrigen westliclen Intellektuellen niemals der Versudr gemadlt, der 'Wunsdr geäußert oder die Fähigkeit aufgebracht worden, die industrielle Revolution zu verstehen, geschweige denn sie hinzunehmen. Die Intellektuellen, und ganz besonders die literarisdr Gebildeten, sind geborene Masdrinenstürmer. Das gilt besonders für England, wo die industrielle Revolution fräher als anderswo statrfand - während einer langen Periode der Geistesabwesenheit. Vielleidrt trägt das zur Erklärung unserer hodrgradigen Erstarrung in der Gegenwart bei. Doch mit geringen Einschränkungen gilt das - erstaunlicherweise - aucJr für die Vereinigten Staaten' In beiden Ländern und überhaupr im gesamten \Testen schob sich die erste Velle der industriellen Revolution vorwärts, ohne daß jemand bemerkte, was vorging. Ohne Frage war das - oder wurde zumindest später, unter unseren Augen und in unserer Zeit - bei weitem der gewaltigste Umbrudr in der Gesellsctraft seit der Erfindung des Pfluges. Tatsächlich bradrten diese beiden Revolutionen, die bäuerliche und die naturwissenschaftlich-industrielle, die einzigen qualitativen Veränderungen im Sozialgefüge, die der Mensch je erlebt hat. Aber die überkommene Kultur nahm das nicht wahr, oder, wenn sie es wahrnahm, gefel ihr dieser Anblid< nidrt. [ . . . ] Ruskin etwa, \üilliam Morris, Thoreau, Emerson und Lawrence versuchten sidr in den verschiedensten Phantastereien, die letztlidr nichts anderes waren als ein Aufsd-rrei des Abscheus. Es fällt schwer, einen Schriftsteller von Rang zu nennen, dessen Mitgefühl und Vorstellungskraft so weit reiclrten, daß er die gräßlichen Hinterhöfe, die raudrenden Scilote, den inneren Preis sah, und doch zugleidr auch die 18 Aussichten, die sidr für das Leben der Armen eröffneren, die Chancen, die bisher nur für die Glücklichen da w.aren und nun plötzlich in Reicfi- weite der übrigen 99 Prozent seiner Mitmenscihen rückten. Manche russisclen Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts hätten das vielleich gekonnt, ihr \flesen hatte genügend Spannweite dafür; aber sie lebten in einer vorindustrielle' Gesellschaft, und die Gelegenheit bot sidr ihnen nic}t. Der einzige sdrriftsteller von \7eltruf, der verständnis für die indusrrielle Revolution gehabt zu haben scheint, war der alte Ibsen; und dieser alte Mann verstand ja überhaupt fast alles. Denn eine wahrheit ist unanfechtbar: die Industrialisierung ist die einzige Hoffnung der armen Leute. Ic{r gebraucJre das Wort oFloffnung. in einem brutalen und nüchternen sinn. von dem moraliscLren Empfinden jener Leure, die zu fein sind, um es in diesem Sinn zu gebrauchen, halte idr nicht viel. Uns, die wir in guten Verhältnissen leben, fällt es nicht weiter schwer, zu glauben, daß das Materielle im Leben keine allzu große Rolle spielt. Man kann aucJr durcfuaus für die eigene Person die Industrialisierung ablehnen - sozusagen einen modernen \üalden mimen; wenn einer sidr dann durdrhungert, die meisten seiner Kinder im Säuglingsalter sterben sieht, die vorteile der Bildung verachtet und sich damit abfindet, daß er zwanzigJahre früher stirbt nun, vor der Stärke des ästhetischen \Tiderwillens dieses Mannes habe ide Achtung 5. Aber icJr habe nicfit die geringste Adrtung vor jemandem, der - aucl nur passiv - die gleiche Entsdreidung anderen aufzwingen will, die nidrt die Möglidrkeit der freien \7ahl haben. Außerdem wissen wir ja, wie sie wählen würden. Sdrließlidr sind die armen Leute noch in jedem Land, in dem ihnen die Gelegenheit geboten wurde, in seltener Einmütigkeit so schnell vom Dorf in die Fabriken abgewandert, wie sie dort nur unterkommen konnten. [ . . . ] Die industrielle Revolution hatte sehr verscriedene Aspekte, je nacldem, ob man sie von oben oder von unten sah. Sie hat sie noch heure, je nacJ'rdem ob man sie von Chelsea aus sieht oder von einem Dorf in Asien. [ . . . ] I" den hochentvrickelten Ländern haben wir uns so ungefähr klargemadrt, was die alte industrielle Revolution im Gefolge hatte. Einen großen Bevölkerungszuwachs, weil die ang€wandten Naturwissensdraften Hand in Hand gingen mit der medizinischen Vissenschaft und der medizinischen Fürsorge. Genug zu essen aus einem ähnliclen Grund. Jeder kann lesen und schreiben, weil das in einer Industriegesellschaft unerläßlich ist. Gesundheit, Nahrung, BilT9 Dies ist die materielle Grundlage unseres Lebens, oder genauer, das soziale Plasma, dem auch wir angehören. Und wir wissen fast nidrts darüber. Idr habe oben sdron erwähnt, daß die hochgebildeten Jünger der geisteswissenschaftlichen Kultur nicht einmal mit den einfachsren Begriffen der reinen Naturwissensdraften zuredrtkommen können nun, man solhe es niclt für möglich halten, aber mit den angewandten \Tissenschaften erginge es ihnen noch schlimrncr. [. . .] In dcn Vereinigcen Sraaten sind vielleicht breitere Kreise in etwa mit der Industrie v€rrraur, aber wenn ich es mir recht überlege, hat noch kein amerikanischer Romancier, welcher sozialen Schiclt audr immer, solche Kenntnisse bei seiner Lesersd-raft vorausserzen können. Er kann voraussetzen - und er rut das nur allzu ofr -, daß man über eine pseudofeudale Gesellsdraft Bescheid weiß, etwa über die letzten Relikte des alten Südens - nicht aber über die Industriegesellschaft. Ein englischer Romancier könnte es mit Sicherheit niclt vorausserzen. t. . .] Mit bestimmten Einscfiränkungen glaube ich, daß die Russen die Lage vernünftig beurteilen. Sie haben eine tiefere Einsidrt in die naturwissensciaftliche Revolution als wir und als die Amerikaner. Die Klufr zwischen den Kulturen sdreint bei ihnen nicht annähernd so bre\r. zu sein wie bei uns. Liesr man zum Beispiel sowjetisdre Romane, so stellt man fest, daß deren Verfasser bei ihren Lesern - im Gegensatz zrr uns - zumindest elementare Kenntnisse darüber voraussetzen können, was es mit der Industrie überhaupt auf sidi hat. Um reine \7issenschaft geht es selten, und dabei scheinen sie sidr audr nidrt wohler dung, weil einzig und allein die indusrrielle Revolution das alles bis an die Armsten heranrragen konnte. Das sind die hauptsädrlichen Vorteile - aber es gibr natürliclr audr Naclteile 6. Ein Nachteil ist, daß eine Gesellschaft, die für die Industrie organisiert worden ist, sicl leicht auch für einen vernichtungskrieg organisieren läßt. Aber das hebt die vorteile niclt auf. sie bilden die Grundlage unseref sozialen Hoffnung. ri I l ,. Und dennoch: verstehen wir, wie es dazu gekommen ist? Haben wir überhaupt schon angefangen, wenigstens die alte industrielle Revolution zu verstehen? \üie steht es erst mit der naturq/issenschaftlichen Revolution, in der wir uns befinden? Noch nie hat es einen Vorgang gegeben, für den Verständnis notwendiger gewesen wäre' | ' ' ' ] wenn ich von industrieller Revolution spreche, denke idr an den allmähliclien Einsatz von Maschinen, an die Beschäftigung von Männern und Frauen in Fabriken, hier in England an den Übergang von einer vorwiegend aus Landarbeitern bestehenden Bevölkerung zu einer Bevölkerung, die sich in der Hauptsadre damit befaßt, Fabrikvraren herzustellen und sie nach der Herstellung zu vertreiben. | . . . ] Man kann die Vandlung ungefähr auf den Zettraum von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert ansetzen. Aus ihr ergab sidr eine weirere, die mit der ersten in engem Zusammenhang stand, jedodr viel stärker wissensclaftlici geprägt war, viel rascler vor sidt ging und wahrscheinlidr viel gewaltigere Folgen haben wird. Dieser \fandel kommt daher, daß die Industrie sidr der wirkliclen l7issensdraft bedient, daß nic}t mehr über den Daumen gepeilc, nidrt mehr mit den Ideen vereinzelter rErfinder*, sondern durchaus sadrgemäß gearbeitet wird' von w.ann an man diese zweite veränderung datiert, ist weitgehend eine Geschmadrssache. Mandre möchten am liebsten bis auf die ersten großangelegten dremisd-ren oder Metall-Indusüiebetriebe vor etwa sedrzig Jahren zurüdrgehen. Idr persönlich vrürde sie in weit jüngere Zeit ierlegen und nidrr mehr als dreißig oder vierzig Jahre zurüdrgreifen - grob gesagt' etwa bis auf die Zeit, als man begann, Atomteilchen industrieller'Verwendung zuzuführen. Idr glaube, daß die rndustriegesellschaft der Elektronen, der Atomenergie und der Automation sich ihrem Tflesen nadt ganz grundlegend von jeder früheren unterscleidet und die rwelt viel stärker verwandeln wird. Meiner Ansiclt nach darf eben erst diese verwandlung Ansprudr auf die Bezeichnung'naturwissens*raf tliche Revolution j zu fühlen als die literarisdr Gebildeten hierzulande. Aber die Ingenieurwissenschaften spielen durdraus eine Rolle. Ein Ingenieur wird, wie es scheint, in einem sowjetischen Roman ebenso selbstverständlicJr hingenommen wie ein Psychiater in einem amerikanischen. Man ist dort ebenso bereit, sich in der Kunst mit den Produktionsvorgängen auseinanderzuserzen, wieBalzac das mit dem Handwerk getan hat. Ich möchte dem nicht allzuviel \flert beimessen, aber vielleicht ist es doch bezeichnend. Weiter ist wohl auch bezeidrnend, daß man in diesen Romanen srändig einem leidensdraftlichen Bildungsglauben be- t 't i iI ! s I I I I gegnet. {{ .] haben die Russen sidr ein Urteil darüber gebildet, weldre Jedenfalls Art und weldre Anzahl ausgebildeter Männer und Frauenz ein Land braudrt, um sich in der wissenschaftliclen Revolurion an die Spitze zu setzen. Ich vereinfadte jetzt, aber ihr Voransdrlag, der mir ziemlich richtig zu sein sdreinr, sieht folgendermaßen aus: Erstens: so viele \fis- .! I I o erheben' 20 , ii*i [.. 21 senschaftler t, mit Auszeichnungsexamina wie das Land nur aufbringen kann. Kein Land hat viele solche Leute. Vorausgesetzt, daß die Schulen und Universitäten vorhanden sind, kommt es gar nicht so sehr darauf an, was man ihnen beibringt. Sie machen ihren Weg schon selber 8. \7ir haben vermutlich im Verhältnis mindestens genau so viele wie die Russen und die Amerikaner, das ist unsere geringste Sorge. Zweitens: eine weit größere Schicht erstklassiger Fachleute - das sind die Leute, die die zusätzlidte Forsdrungsarbeit leisten, im Entwerfen und Entwid<eln erste Qualität liefern. | . . . ] Drittens: eine weitere Sdric}t, die etwa die Bildungsstufe unseres ersten naturwissensdraftlic}en Examens beziehungsweise des Ingenieurexamens erreicit hat oder vielleicht ein wenig darunter liegt. Ein Teil dieser Leute nimmt zweitklassige technische Aufgaben wahr, ein anderer Teil jedo& füllt ziemlich verantwortliche Posten aus, vor allem im personalen Bereidr. Der ridrtige Einsatz solcher Leute beruht darauf, daß man die Befähigung anders klassifiziert als es bei uns üblich ist. Mit dem Fortsdrreiten der naturwissenschaftlichen Revolution wird der Bedarf an diesen Leuten ein Ausmaß annehmen, mit dem wir nicht geredrnet haben, wohl aber die Russen. Sie werden zu Tausenden und Abertausenden notwendig werden, und sie werden voll und ganz die Entwicklung ihrer menscllichen Qualitäten braudren, die die Universität ihnen vermitteln kann e. In diesem Punkte hat uns unsere Einsidrt vielleiclt am meisten im Stich gelassen. Viertens und letztens: Politiker, Verwaltungsbeamte, ein ganzes Gemeinwesen, das genug von den Naturwissenschaften versteht, um sich vorstellen zu können, wovon die Naturwissensc.haf tler reden. So oder dodr so ähnlich sieht der Stellenplan für die naturwissenschaftlidre Revolution aus 10. Ic.h wünsdrte, idr wüßte genau, daß wir hierzulande anpassungsfähig genug wären, um sie zu bewältigen. [ . . . ] Die Amerikaner werden heftige und langdauernde Anstrengungen madren müssen, um auf die naturwissenschaftlidre Revolution ebensogut vorbereitet zu sein wie die Russen, aber es bestehen gute Aussidrten, daß sie es sdraffen werden. Trotzdem ist.das nicht die Hauptsadre bei der naturwissensdtaftliclen Revolution. Das Hauptproblem liegt darin, daß die Mensdren in den industrialisierten Ländern reidrer werden, während die in den nicltindustrialisierten bestenfalls ihren Status halten, so daß die Kluft zwischen den industrialisierten Ländern und den übrigen räglicJr größer wird. Auf die ganze \felt hin gesehen, ist dies die Kluft zwischen den Reichen und den Armen. 22 Zu den Reichen gehören die Vereinigten Staaten, die weißrassigen Teile des Commonwealth, Großbritannien, der größte Teil Europas und die UdSSR. China steht irgendwie dazwischen, es ist industriell noch nicht über den Berg, wird das aber wahrsdreinlich fertigbringen. Die Armen sind alle übrigen. In den reichen Ländern leben die Menschen länger, essen besser und arbeiten weniger. In einem armen Land wie Indien werden die Leute im Durdrschnirt nicht halb so alt wie in England. [. . .] Diese Ungleichheit zwischen den Reichen und den Armen ist nicht unbemerkt geblieben. Am sd-rärfsten haben sie verständlicherweise die Armen gesehen. Und eben weil sie sie bemerkt haben, wird es sie nicht mehr lange geben. Was auch immer in der Welt, wie wir sie kennen, sich bis zum Jahr 2000 halten wird - diese Ungleichheit bestimmt nicht. \fenn der \üeg zum Reichtum erst einmal bekannt geworden ist - und das ist heute der Fall -, dann kann die \Melt nicht halb reich und halb arm weiterbestehen. Das gibt es einfach nicht. Der Vesten muß bei dieser Umwandlung helfen. Das Schwierige ist, daß es ihm mit seiner gespaltenen Kultur so schwer fällt zu begreifen, in weldrem Ausmaß und vor allem wie schnell diese Umwandlung vor sidr gehen muß. [. . .] \fährend der ganzen Mensdrheitsgeschichte bis zu unserem Jahrhundert hat sich die Gesellschaft sehr langsam gewandek. So langsam, daß es innerhalb eines Mensdrenlebens kaum zu spüren war. Das hat sich geändert. Das Tempo des Wandlungsprozesses hat sich so stark erhöht, daß unser Vorstellungsvermögen nicht mehr mitkommt. fm nädrsten Jahrzehnt muß notwendigerweise die gesellsclaftliche Veränderung größer sein und müssen mehr Menschen davon betroffen werden, als das je innerhalb von zehn Jahren der Fall war. Und in den siebziger Jahren muß sidr dann zwangsläufig die Veränderung wieder steigern. In den armen Ländern haben die Menschen diese einfadre Vorstellung jetzt erfaßt. Sie sind nidrt mehr willens, Phasen abzuwarten, die über ein N4enschenalter hinausgehen. [ . . .] Man kommt nicht darum herum. Es ist technisdr möglich, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre die narurwissenschaftliche Revolution in Indien, Afrika, Südostasien, Lateinamerika und dem Mittleren Osten durchzuführen. Es gibt keine Entscluldigung für Mensclen im I7esten, wenn sie sidr dieser Einsicfit verschließen. Und der Einsiclt, daß dies der einzige Weg ist, den drei Bedrohungen unserer Zeit zu 23 enrgehen: dem Atomkrieg, der Übervölkerung und der Kluft zwisdren arm und reich Wir befinden uns in einer Lage, in der Harmlosigkeit das größte Verbrechen ist. wenn ich das [. . .l Arrd"t"rseits gebe ich zu - und es wäre nicht redlich, ,,iai tat. -, daß ich nicht weiß, welcher politischen Taktik man sich bedienen müßte, um die positiven mensdrlidren Möglidrkeiten des Westens in Bewegung zu setzen. Das Beste, was man tun kann, ist, immer weiter zu nörgeln, und das ist wahrhaftig eine bescheidende Leistung. vielleiclt ist das ein zu bequemes Mittel, der eigenen unruhe zu entgehen. Denn wenn ich auch nicht weiß, wie wir tun können, was wir tun müssen, oder ob wir überhauPt etwas tun werden, so weiß ich doch das eine: wenn wir es nicht tun, die kommunistisc}en Länder tun es bestimrnt irgendwann. Es wird sie selbst und andere sehr viel kosren, aber sie werden es tun. und wenn es wirklich darauf hinauskommt, dann haben wir praktisch und auch moralisch versagt. Der \üesten ist dann bestenfalls eine Enklave in einer verwandelten 'welt und unser Land wäre eine Enklave in einer Enklave. \flollen wir uns damit abfinden? Die Gesdridrte kennt Versagern gegenüber kein Erbarmen. Vir freilidr werden die Geschichte niclt sdrreiben, wenn es so kommt. Inzwischen müssen Schritte unternommen werden, die nic}t außerhalb der Möglichkeiten nachdenklicher Menschen liegen. In der Bildung liegt zwar nidrt die vollständige Lösung dieses Problems, aber ohne Bildung kann der \Testen nicht im entferntesten hoffen, der Schwierigkeiten Flerr zu werden. Alle Pfeile weisen in dieselbe Ridrtung. oaß *ir die Kluft zwischen unseren Kulturen sctrließen, ist sowohl im extrem geistigen als auch im extrem praktischen Sinn notwendig' [ . . . ] \Wäre es nidrt Zeir, anzufangen? Das Gefährliche ist, daß rnan i" dem Glauben har aufwac}sen lassen, wir hätten unendlidt viel ""r Zeit. \7ir haben nur sehr wenig Zeit' So wenig, daß ich dazu gar keine Vermutun g auszusprechen wage. 2 Etwas ausführlicl-rer habe idr mid-r über diesen Zusammenhang in rThe Times Literary Supplementr, r,Challenge to the Intellect<, 15. August i958, geäußert. Idr hoffe, diese Analyse spärer nodr einmal vertiefen zu können. 3 Eine Analysc der Schulen, aus denen Fellows der Royal Society kommerr, spridrt Bände. Ganz anders sieht es z. B. bei den Mitgliedern des Auswärtigen Amtes oder bei den Kronanwälren aus. a Man vergleiche George Orwells r1984<, wo die Zukunft mit aller Enrschiedcnheit abgelehnt wird, mit J. D. Bernals r\World without rWar<. 5Es ist verständlidr, wenn Intellektuelle lieber in den im /8. Jahrhundert entstandenen Straßen Srodrholms wohnen als in Vallingby. Idr würde das audr vorziehen. Aber es ist nicht zu versrehen, wenn sie verhindern wollen, daß weitere Vallingbys erridrtet werden. 6 Man sollte nicht vergessen, daß sidr ähnliche Nadrreile - freilidr über einen weit längeren Zeitraum hin - ergeben haben müssen, als der Mensdr sidr vom Jäger und Sammler zum Ad<.erbauer entwid<elte. Für manchen muß das eine edrte geistige Verarmung bedeutet haben. 7 Ein Drittel der russisd'ren Ingenieure mir Absdrlußprüfung sind Frauen. Eine unserer größten Torheiten besteht darin, daß wir, wenn wir es audr nidrt oflen zugeben, Frauen nicht für geeignet haken, narurwissensdraftliche Berufe zu ergreifen. Auf diese I(eise halbieren wir fein säuberlidr das Reser- voir unserer Begabungen. I Es würde sidr wahrscheinlidr lohnen, einmal genau zu untersudren, wel<Jren Bildungsgang hundert ganz hervorragend sdröpferisdr begabre Persönlidrkeiten auf dem Gebiet der Naturwissensdraften unseres Jahrhunderts durchlaufen haben. Ich könnte mir denken, daß ein überrasdrend hoher Prozentsatz dte sdrwierigsten althergebrachten F{ürden - erwa Physik II in Cambridge und ähnlidres - gar nicht genommen haben. s Hier in England ist man versucht, diese Leute an Instituten auszubilden, die nicht Universitätsrang haben und infolgedessen als z.weitklassig eingestufr werden. Eine schlimmere Fehlentsdreidung könnten wir gar nidrt treffen. Man begegnet oft amerikanisdren Ingenieuren, die im engen Sinne der Berufsausbildung weniger gut gesdrult sind als die an englisdren tedrnischen Colleges ausgebildeten; trotzdem haben die Amerikaner das soziale und individuelle Selbstbewußtsein, das ihnen durch ihre Gleidrstellung an den t0 Universitären zugewachsen ist. Ich habe midr hier auf die Universität besdrränkt. Art und Anzahl der Tedrniker wären ein anderes und überaus inreressantes Thema. Anmerkungen I Dieser vortrag wurde in cambridge gehalten, vor einem Publikum also, bei dem idr arrf mancles anspielen konnte, ohne es erklären zu müssen' G' H' Hardy, 7877-1947, war einer der hervorragendsten Vertreter der reinen Mathematik seiner Zeit und galt in cambridge als Don und audr nadr seiner Rü&kehr auf den Lehrscuhifür Mathematik im Jahre 1931 als originelle Persönlidrkeit. z+ zt