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Saarbrücker Religionspädagogische Hefte 6

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Saarbrücker Religionspädagogische Hefte 6
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte 6
Fachrichtung Evangelische Theologie
UNIVERSITÄT
DES
SAARLANDES
Evangelische Stadtkirchenarbeit
in Saarbrücken
1
EINLEITUNG ZUM SAARBRÜCKER RELIGIONSPÄDAGOGISCHEN HEFT 6 – 2007
Am 22./23. Juni 2007 hat die Kreissynode des Kirchenkreises Saarbrücken (Evangelische Kirche im Rheinland) über „Stadtkirchenarbeit“ beraten. Im Mittelpunkt stand die Frage,
wie die evangelische Kirche in der
größten Stadt des Saarlandes – Saarbrücken hat knapp 178.000 Einwohner (per 30. September 2006), davon
sind gut 20% Mitglieder der evangelischen (Landes-)Kirche – Menschen
mit ihrer Botschaft erreichen kann,
wie sie Menschen, die auf Distanz zu
ihr gegangen sind, einladen kann.
Neben einem praktisch-theologischen
Vortrag boten dazu Präsentationen
verschiedener Handlungsfelder vielfältige, beflügelnde Anregungen.
Diese Präsentationen waren medial
gestützt und können deshalb hier
nicht ‚abgebildet’ werden – dennoch
aber kann und will dieses Heft einige
der mitgeteilten Informationen und
Anregungen weitergeben.
Präsentiert wurden vier Felder von
Stadtkirchenarbeit:
1. Jugendkirchen – sowohl auf der Synode als auch hier von Willy Schönauer, Geschäftsführer beim Jugendkirchen-Netzwerk e.V., vorgestellt
(auf der Synode beeindruckend multimedial, hier in nüchternen Worten),
2. Citykirchenarbeit am Beispiel des
„Projekt[es] Johanneskirche“, auf der
Synode präsentiert von Martin Heuer
und Pfarrer Jörg Metzinger, vgl. dazu
www.j-kirche.de,
3. Diakonische Arbeit in der Stadt am
Beispiel eines projektierten „Gebrauchtwarenhauses“, getragen vom
Diakonischen Werk an der Saar
gGmbH, auf der Synode wie auch
hier vorgestellt vom Sprecher der Geschäftsführung
des
DWSAAR,
Wolfgang Biehl,
4. Kirchliche Öffentlichkeitsarbeit,
vertreten durch den Öffentlichkeitsbeauftragten der drei (rheinischen)
Kirchenkreise an der Saar, Helmut
Paulus, vgl. dazu www.evangelischekirche-saar.de bzw. die Broschüre
„Wir sind für sie da: die evangelischen Kirchenkreise Ottweiler,
Saarbrücken,
Völklingen“
(Saarbrücken 2007).
Natürlich umreißen diese vier Initiativen nicht alles, was in der evangelischen Kirche in Saarbrücken im Blick
auf die Eingangsfrage nach den sog.
nahen Fernen geschieht – insbesondere die Gemeinden der Innenstadt
sind auch bisher schon in vielfältiger
Weise engagiert (Alt-Saarbrücken:
www.Ludwigskirche.de; St. Johann:
www.ekir.de/st.johann; St. Arnual:
www.musikstiftskirche.de) – doch
die vier Initiativen markieren örtliche
„Leuchtfeuer“ (Evangelische Kirche
in Deutschland: Kirche der Freiheit,
Hannover 2006).
Möge das Heft die Leserinnen und
Leser auf neue Ideen bringen und
zum Nachdenken, -fragen und, vielleicht sogar, Mitgestalten ermutigen!
Saarbrücken, Juli 2007
Bernd Schröder
Heft 6 - 2007
2
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
3
EVANGELISCHE STADTKIRCHENARBEIT IN SAARBRÜCKEN
Einleitung
Seite 1
Prof. Dr. Bernd Schröder:
Stadtkirchenarbeit in Saarbrücken
– eine praktisch-theologische Einführung
Seite 5
Willy Schönauer:
Jugendkirche, oder: Warum Bachläufe durch die Kirche
spirituelles Feuer entfachen können
Seite 23
Wolfgang Biehl:
Diakonische Arbeit in der Stadt
– das Beispiel „Gebrauchtwarenkaufhaus“
Seite 33
Kreissynode des Kirchenkreises Saarbrücken:
Überparochiale Stadtkirchenarbeit in Saarbrücken –
ein Konzept
Seite 39
Bernd Schröder
Nachwort – Stadtkirchenarbeit und Religionsunterricht
Seite 43
Bisher erschienene „Saarbrücker Religionspädagogische Hefte“
Seite 45
Heft 6 - 2007
4
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
5
PROF. DR. BERND SCHRÖDER:
STADTKIRCHENARBEIT IN SAARBRÜCKEN – EINE PRAKTISCH-THEOLOGISCHE
EINFÜHRUNG
VORTRAG VOR DER SYNODE DES EVANGELISCHEN KIRCHENKREISES SAARBRÜCKEN AM
22./23.JUNI 2007
Hohe Synode,
so ungelegen diese Synode Ihnen in
der Zeit des „Endspurts“ vor den
Sommerferien kommen mag, so
wichtig ist das Thema, dem sie sich
widmet.
Denn mit dem Thema „Stadtkirchenarbeit in Saarbrücken“ diskutiert sie
exemplarisch – das heißt an einem
Beispiel, aber eben an einem Beispiel,
dem grundsätzliche Bedeutung zukommt – welchen Weg wir als evangelische Kirche in Saarbrücken mittelfristig gehen wollen, in welche Richtung wir uns als evangelische Kirche,
soviel an uns Menschen ist, entwickeln wollen, was genau hier mit
vereinten Kräften anders, besser zu
machen ist als es bisher gelang.
Ich spreche bewusst von „wir“ und
„von vereinten Kräften“, denn die
Zeit des Sich-mißtrauisch-Beäugens,
die Zeit des Aneinander-vorbei- oder
gar Gegeneinander-Handelns, die
Zeit des Ich-werde-den-Anderenschon-zeigen-was-eine-Harke-ist ist
vorbei, sie muss vorbei sein – gerade
auch in Saarbrücken. Warum? Ganz
schlicht: weil es unserer Kirche nicht
gut geht.
Ich denke dabei nicht in erster Linie
an die Finanzen – obwohl es auch um
die besser bestellt sein dürfte. Ich
denke an Folgendes:
- Wir reden über christliche Werte
und hoffen darauf, dass sie unsere
-
-
Gesellschaft in heiklen Fragen
orientieren sollen: bei Fragen des
Militäreinsatzes, der Bioethik,
beim Umgang mit Arbeitslosigkeit und Arbeit. Und lassen doch
in unserem Handeln als Gemeinden viel zu selten die Klarheit und
das Anderssein erkennen, die
daraus entspringen, dass man die
Welt und die Mitmenschen im
Licht des Evangeliums zu betrachten versucht.
Wir klagen über Mitgliederschwund, verbreitete Kirchenkritik und Gleichgültigkeit. Und
halten doch im Großen und Ganzen unverändert an den kirchlichen Arbeitsformen fest, die wir
seit hundert Jahren kennen und
bislang an dieser Misere nichts
ändern konnten. Ich möchte hinzufügen: Wir lassen selbst in dem,
was wir anbieten zwar viel Routine, aber viel zu selten das erkennen, was uns selbst an christlichem Glauben und Gemeinde
fasziniert.
Wir reden – und träumen vielleicht auch – von Ökumene. Und
lassen selbst nicht einmal die Einheit der evangelischen Kirche erkennbar werden, sondern gefallen
uns darin, Gemeinde X von Gemeinde Y abzugrenzen, vielleicht
nicht selten auch darin, der Nachbarpfarrerin oder dem Nachbarpfarrer den Erfolg nicht zu
Heft 6 - 2007
6
gönnen, den wir uns für uns selbst
wünschen.
Kurz: Es geht unserer Kirche nicht
gut; sie ist blass geworden und über
weite Strecken unscheinbar. Jede und
jeder von uns könnte eigene Beobachtungen hinzufügen, Gründe nennen,
vielleicht auch Ideen bieten, was zu
tun ist. Ich möchte es so zuspitzen:
Die Lage ist mittlerweile so, dass
nicht mehr die unter Rechtfertigungsdruck stehen, die etwas verändern möchten, sondern diejenigen,
die die alten Bahnen fortschreiben
möchten!
1. Arbeitsgruppe „Überparochiale
Stadtkirchenarbeit in Saarbrücken“
Vor zwei Jahren bereits hat diese
Synode diese Misere gesehen und
eine Arbeitsgruppe einberufen, die
Ideen für Stadtkirchenarbeit in Saarbrücken entwickeln sollte – eine Arbeitsgruppe, in der Vertreterinnen
und Vertreter der drei Innenstadtgemeinden St. Johann, Alt-Saarbrücken und St. Arnual, dazu Repräsentanten nicht-parochialer Arbeit,
pars pro toto Ev. Studierendengemeinde, Rundfunk- und Jugendarbeit, Diakonisches Werk und Frauenarbeit vertreten waren.
Diese Arbeitsgruppe legt der Synode
nun Ergebnisse vor. Bewusst knapp
ist ihr Konzept gehalten, um es wirklich lesen und damit arbeiten zu
können; ganz bewusst werden nur
einige wenige Vorschläge stark gemacht, damit sie auch tatsächlich umsetzbar sind. In Anknüpfung an das,
was bereits gelingt, schlagen wir vor
in den nächsten fünf Jahren das Heft
des Handelns in die Hand zu
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
nehmen, Kräfte zu bündeln und
Neues auszuprobieren mit dem Ziel,
- Menschen anzusprechen, die
in Ortsgemeinden keine Heimat finden oder eine solche
Heimat dort gar nicht erst
suchen,
- Gemeinden von bestimmten
Aufgaben zu entlasten, um
Kräfte für Neues freizusetzen,
- und mit dem Ziel, durch Zusammenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit in Zukunft mehr als
bislang deutlich zu machen,
dass in allen Gemeinden und
funktionalen Diensten eine Evangelische Kirche in Saarbrücken am Werk ist.
Nach fünf Jahren soll Bilanz gezogen
werden.
Vorgeschlagen
werden
Schwerpunkte, die in Saarbrücken dringend
Not tun – aus verschiedenen Gründen:
- Jugendarbeit, denn die ist so gut
wie unsichtbar in den Gemeinden und in dieser Stadt –
und wenn das so noch einige
Jahre bleibt, dann sieht unsere
Kirche nicht nur alt aus,
sondern dann hat sie mit den
Jugendlichen auch ihre Zukunft verloren.
- Diakonie, hier soll ein Schwerpunkt gesetzt werden – nicht
weil es keine Diakonie gibt, im
Gegenteil: Diakonische Arbeit
ist in vielerlei Gestalt vorhanden, in den Gemeinden wie im
Diakonischen Werk, doch Not
tut hier ein sichtbarer Ort, den
möglichst alle in der Stadt als
7
Diakonisches Zentrum kennen, der auf andere diakonische und kirchliche Orte
verweist, der vor allem
erkennbarer als bisher ein
integraler
Teil
ist
von
„Evangelisch in Saarbrücken“.
- Und Not tut ein Schwerpunkt
auf der Arbeit für Distanzierte
und Einsteiger: Zwar gibt es seit
Jahren solche Arbeit, getragen
von viel ehrenamtlichem Engagement und Herzblut, sehr
ideenreich und mutig, doch es
fehlt an personeller Kontinuität, an einem oder einer
Hauptamtlichen, die den Ehrenamtlichen mit Perspektive
einen Teil der Last von den
Schultern nimmt, und es fehlt
an einer Struktur, die deutlich
macht: Was hier geschieht, ist
Arbeit für die ganze Stadt; was
hier geschieht, wird von der
ganzen evangelischen Kirche
in Saarbrücken getragen; was
hier geschieht ist kirchliche
Arbeit eigener Art – unabhängig von Parochien.
Wie gesagt, es sind drei Schwerpunkte, die in Saarbrücken dringend
Not tun. Und es sind zugleich
Schwerpunkte, die nicht nur ein paar
delegierte „Arbeitsgruppler“ für richtig erachten, sondern ein breiter
Strom von Reformwilligen in der
ganzen EKD – zunächst in anderen,
vergleichbaren Stadt-Kirchenkreisen,
dann in der EKD insgesamt und,
nicht zuletzt, in der Praktischen
Theologie, also in dem Teil der Theologie als Wissenschaft, der auf das
Handeln der Kirche reflektiert. Eben
dies möchte ich Ihnen nun vorstellen.
2. Stadtkirchenarbeit anderswo in
Deutschland
Schauen wir also zunächst auf andere
städtische, großstädtische Kirchenkreise, dann sieht man schnell, dass
allein in Deutschland in 35, 40 Städten solche Arbeit betrieben wird,
mehr noch, dass diejenigen, die nicht
stur sind oder zerstritten, sich in den
notwendigen Reformen einig sind –
dazu gehören:
Erstens die Nutzung der profilierten
Kirchengebäude in der Stadt als
programmatische Aushängeschilder
– ich wähle Dortmund als Beispiel,
könnte aber ebenso gut Nürnberg,
Leipzig oder Verden an der Aller
nehmen. Die Reinoldikirche in Dortmund steht für offene Arbeit, für Kirche und Kunst, für intellektuellen
Streit um Glauben und Christsein, für
Arbeit am Wegesrand der alten Hansestadt; die benachbarte Marienkirche für missionarischen Ernst, für
Glaubenskurse und Auf- MenschenZugehen. Die Kirchengebäude sind
die Häfen, an denen das Schiff, das
sich Gemeinde nennt, vor Anker
geht.
Zweitens die programmatische Hinwendung zu Kindern und Jugendlichen. Während Landeskirchen und
einzelne Gemeinden landauf landab
in den vergangenen Jahren ihre Arbeit mit Kindern verstärkt haben – ich
erinnere hier nur an die Entwicklung
der Kindergottesdienstbewegung zur
„Kirche mit Kindern“ – ging und geht
Heft 6 - 2007
8
es in der Stadtkirchenarbeit v.a. um
Jugendliche, oft zum Glück um die
Schaffung eines Zentrums für Jugendarbeit, einer Jugendkirche. Dabei geht es nicht mehr um gesichtslose Freiräume für Jugend-liche, die
dann ent-sprechend auch „JUZ“ heißen, sondern um Kirchen, die ganz
allein Jugendlichen zur Verfügung
stehen – umgebaut, um Musikalisches zu ermöglichen, Aus-stellungen
und kreatives Gestalten, programmatisch geöffnet für die Ko-operation
mit Schulen oder Schülern, also für
den Ort, an dem sich Jugend heute zu
großen Teilen abspielt. „Jugendkirchen“ sind das Leitbild der Stunde –
schauen Sie nach Mann-heim, Oberhausen, Münster!
Die dritte Gemeinsamkeit von Stadtkirchenarbeit in Deutschland ist das
Durchbrechen des Zwangs, immer
alles weiter machen zu müssen. In
Zeiten knappen Personals ist allzu
deutlich geworden – keiner allein,
keine Gemeinde kann alles machen.
Wenn allein schon allsonntäglich um
10 Uhr sieben Predigtstätten auf 3
Quadratkilometern bedient werden,
wenn vier Pfarrerinnen und Pfarrer
in ihren Gemeinde je 6 Konfirmanden
zur Konfirmation führen, dann bleibt
eben weder Zeit noch Kraft noch Energie, um etwas Neues anzugehen.
Man muss, zumal in Innenstädten,
Menschen von parochialen Aufgaben
entlasten, damit sie sich den Menschen zuwenden können, die Kirche
und Gemeinde bislang für sich nicht
attraktiv finden, damit sie die Milieugebundenheit unserer Gemeinden
überschreiten können, damit sie die
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
dringend nötigen Erfahrungen sammeln können mit Arbeitsformen, die
uns noch nicht hinreichend vertraut
sind.
Viertens die Vernetzung der Arbeit.
Allerorten geteilt wird die paradoxe
Beobachtung: Für die Menschen, die
in Gemeinden aktiv sind, ist ihre Gemeinde ein wichtiger, unverzichtbarer Ankerpunkt; für die Menschen,
die sich in einer Gemeinde nicht zuhause fühlen, ist das Gemeindemilieu abschreckend – sie fühlen sich
als Mitglied der einen evangelischen
Kirche und nicht der Gemeinde X
oder Y, sie suchen Angebote dieser
einer Kirche, nicht die Konkurrenz
der Gemeinden. Um diese Identität
der einen Kirche zu stärken, ist Vernetzung wichtig – angebahnt durch
viele kleine Zeichen des Zusammenhalts:
- durch einen Ort, der auf Aktionen in allen Gemeinden und
Diensten hinweist, etwa einen
Kirchenladen,
- durch ein Logo „Evangelisch in
...“, das sichtbar macht: Wir
gehören zusammen, durch gemeinsame Programme für einen oder zwei Monate, durch
Flyer oder Broschüren aller
Einrichtungen der einen Kirche, also durch konzentrierte
Öffentlichkeitsarbeit,
- durch Kanzeltausch, Kooperation und gemeinsame Initiativen. Schauen Sie nach Mainz,
Würzburg und Aachen!
Fünftens die Hinwendung zu denen,
die bisher von kirchlicher Arbeit
9
nicht erreicht werden, und dabei
zugleich Konzentration auf das für
wesentlich Erachtete: auf Gottesdienst und Dienst am Nächsten. Die
kirchliche Arbeit hat fraglos viele
Säulen, auf die sie nicht verzichten
kann: Bildung, Seelsorge, Zielgruppenarbeit u.a.m. Doch als Schlüssel
für die kirchliche Identität erweist
sich allerorten, dass zweierlei zusammengehalten werden – Gottesdienst
und Nächstenliebe. Ohne eins der
beiden wird Kirche unglaubwürdig,
beides muss aufeinander verweisen
und zumindest der Gottesdienst
muss ungleich vielgestaltiger werden.
Die evangelische Kirche, die für sich
in Anspruch nimmt, nicht die Tradition, sondern allein die Schrift sei
maßgeblich, befindet sich im Bereich
der Gottesdienstgestaltung noch immer in einer Art babylonischen Gefangenschaft – erstarrt in Fixierung
auf den sonntäglichen 10-Uhr-Gottesdienst, variantenarm und vielerorts
ohne Strahlkraft. Stadtkirchenarbeit
setzt hier an – Ludwigsburg, Hannover und Hamburg lassen grüßen.
Stadtkirchenarbeit ist vielerorts ein
sehr lebendiger Arbeitszweig, gewiss
je nach Ort und Herausforderungen
verschieden akzentuiert, aber eben
doch – überraschenderweise – in vielen Einsichten verbunden!1
Vgl. das „Netzwerk Citykirchenprojekte.
Ökumenische
Arbeitsgemeinschaft
in
Deutschland“ (Flyer) und, speziell im Blick
auf das Rheinland, wo die Citykirchenarbeit
1980 in Bonn ihren Anfang nahm, Engelbert
Kerkhoff u.a. (Hg.): CityKirchenArbeit.
Grundlagen, Modelle und Impulse zur sozialen und kirchlichen Arbeit, Mönchengladbach 2004.
1
3. Kirchenreform in der EKD
Neben den Kirchenkreisen und Gemeinden vor Ort unterstützt nach
meinem Eindruck vor allem die EKD
als Dachorganisation unserer Kirchen
das Bemühen, angesichts mancher
Krisensymptome das Heft des Handelns in der Hand zu behalten und
der Kirche von Morgen programmatisch Gestalt zu geben. Und
zwar, das allein ist schon ein starkes
Signal, weil sie der Versuchung widerstanden hat, ihr Beraten und
Handeln allein auf Sparbemühungen
zu reduzieren – im Vergleich dazu
haben die Landeskirchen, die Ev. Kirche im Rheinland inbegriffen, kaum
die Kraft entwickelt, finanzielle Engpässe mit programmatischen Konzepten einzuholen oder sogar zu überholen.2 Schade!
Die EKD nun hat vor etwa einem
Jahr, im Juli 2006, ihr „Impulspapier“
„Kirche der Freiheit“ vorgelegt. Es ist,
ein gutes Zeichen, außerordentlich
lebhaft rezipiert worden und es ist –
der „Zukunftskongress“ der EKD im
Januar 2007 hat es gezeigt – die
Grundlage des weiteren Reformdenkens und Erprobens in unserer
ganzen Kirche, also auch hier in
Saarbrücken.3
Zielpunkt des Papiers sind 12 sog.
Leuchtfeuer – sie betreffen vier Bereiche notwendiger Veränderung: die
„kirchlichen
Kernangebote“,
die
„Mitarbeiter/innen“, das „kirchliche
EKiR: „Vom offenen Himmel erzählen missionarisch Volkskirche sein“, Düsseldorf
2006. Vgl. außerdem das Proponendum „Auf
Sendung“, das von der Rheinischen Landessynode im Januar 2005 verabschiedet wurde.
3 Vgl. das „Schlusswort des Ratsvorsitzenden
der EKD“ vom 27.1.2007, Abschnitte 1 und 4.
2
Heft 6 - 2007
10
Handeln in der Welt“ und die „kirchliche Selbstorganisation“ (Übersicht
im Anhang). Weithin sind es Dinge,
die auf landeskirchlicher Ebene zu
regeln sind – denn das Papier ist
„entschieden überregional orientier[t]“ wie Jan Hermelink es formuliert hat4 – doch einige dieser
Leuchtfeuer erhellen auch unmittelbar die Saarbrücker Wirklichkeit, etwa der Ruf nach „Vielfalt evangelischer Gemeindeformen“ (LF 2),
der Ruf nach „zielgerichteter [leistungsfördernder] Fortbildung“ der
Mitarbeiter/innen (LF 4), der Ruf
nach „Drittmittelfinanzierung von
Projekten“ (LF 10).
Einige dieser Ideen finden sich auch
im Papier der Arbeitsgruppe wieder,
vor allem aber finden sich Anklänge
an das, was „Kirche der Freiheit“ diesen Leuchtfeuern vorschaltet, nämlich die „vier biblisch geprägten
Grundannahmen“ (s. S. 8 und 45):
„Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität“
„Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit“
„Beweglichkeit in den Formen statt
Klammern an Strukturen“
„Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit“
Näherhin werden diese auf eine Analyse der Situation der Kirche bezogen,
die acht „Herausforderungen“ erkennen lässt (1. „Demographische Entwicklung“, 2. „Finanzielle Entwicklung“, 3. Nicht zufrieden stellender
Jan Hermelink: Die Freiheit des Glaubens
und die kirchliche Organisation, in: PTh 96
(2007), 45-55, hier 47.
4
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Gottesdienstbesuch und Kasualnachfrage, 4. Traditionsabbruch, 5. „Mentalitätswandel“ in der Mitarbeiterschaft, 6. Kirchgebäude, 7. „SelbstVerwaltungskosten der Kirchen“, 8.
„Analyse kirchlicher Schwachstellen“
/Qualitätsmanagement; s. S. 20ff) und
in fünf Leitworte (s. S. 40ff) sowie
einen Zukunfts-Grundsatz überführt:
•
•
•
•
•
Mission verstärken
Kernkompetenzen definieren
Stärken entdecken und aktivieren
Organisation verbessern
Lernen von wirtschaftlichem
Denken
Der „Zukunfts-Grundsatz“ beinhaltet
die „Umkehrung der Begründungspflicht“: „Nicht mehr die lange oder
gute Tradition … ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige Bedeutung.“ Ist es „für die Zukunft des
Protestantismus in Deutschland von
herausragender Bedeutung“, diese
oder jene Aufgabe fortzusetzen? (42)
Wie gesagt die Rezeption war lebhaft;
insbesondere die Konkreta wurden
heftiger Kritik unterzogen, doch überraschend sind im Grunde Grundannahmen und Leitworte weit-hin
akzeptiert worden.5 Sowohl von Synode der EKD (Würzburg 2006) als
auch vom Zukunftskongress unserer
Zur Rezeption siehe den hilfreichen Überblick von zwei der Autoren, nämlich Thomas
Begrich und Thies Gundlach: Reaktionen
und Stellungnahmen zum Impulspapier ...“ =
„Einleitung“ in den "Materialband Diskussion
des Impulspapiers", Hannover 1997 (dokumentiert unter: www.ekd.de).
5
11
Kirche in Wittenberg (Januar 2007)
wurden sie bestätigt!
Es kommt nun darauf an in ihrem
Geist vor Ort Ideen und Projekte zu
entwickeln, ja, so möchte ich es mit
dem Pädagogen Hartmut von Hentig
sagen: Es kommt darauf an, die
„Menschen“, die in dieser Richtung
denken und handeln, zu „stärken“;
die „Sachen“, also Infrastruktur, Finanzen, personelle Optionen, zu
„klären“ und auch Strukturen entsprechend zu verändern!6
„Alles hat seine Zeit“ (Sprüche 3,1
u.ö.), weiß schon die Bibel; die Zeit
für das Hineindenken und Aufgreifen dieser Ideen ist nun da. Die
EKD jedenfalls ruft zu einer „Reformdekade“ auf – der Prozess soll und
wird andauern bis ins Jahr 2017, bis
zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation! Bis dahin, so der Vorsitzende
des Rates der EKD, Wolfgang Huber,
und so auch das Votum des Zukunftskongresses soll „eine veränderte Kirche“ erkennbar sein!7 Jetzt
ist die Zeit, den entstandenen
Reformschwung
tatsächlich
zu
nutzen. Das freilich kann und soll
nicht nur im fernen Hannover geschehen, sondern in allen Landeskirchen, Kirchenkreisen, Gemeinden!
4. Kirchenreform und Praktische
Theologie
Sollte bei Ihnen bisher der Eindruck
entstanden sein, dass sich andernorts
Hartmut von Hentig: Die Menschen stärken, die Sachen klären, Stuttgart 1985.
7 Interview Wolfgang Huber (Matthias Drobinski): „Wir wollen eine veränderte Kirche“,
in: Süddeutsche Zeitung 15.2.2007.
6
bereits Vieles tut, so ist dieser Eindruck zutreffend – an bemerkenswert
vielen Orten werden neue Wege
beschritten, mit viel Engagement von
Haupt- und Ehrenamtlichen, mit
tollen Ideen und getragen nicht
zuletzt von einem breiten Konsens in
der Praktischen Theologie, also dem
Fach der Theologie als Wissenschaft,
das sich der Reflexion kirchlichen
Handelns widmet.
In diese praktisch-theologische Debatte gebe ich einen kleinen Einblick
– mit zwei Vorbemerkungen.
Eine methodische Vorbemerkung: Obwohl Theologie insgesamt, Praktische
Theologie im Besonderen als so etwas
wie das Langzeitgedächtnis der Kirche fungiert, fragt sie nicht zuerst
und keineswegs ausschließlich nach
Tradition. Im Gegenteil, sie nutzt ihre
Einsichten in die Vergangenheit, um
das zu bestimmen, was gegenwärtig
zu tun und für die Zukunft von
Bedeutung ist. Sie tut dies, vereinfacht formuliert, durch Überlegungen
im Sinne des praktisch-theologischen
Ypsilons. D.h. Praktische Theologie
verknüpft drei Fragerichtungen. Sie
fragt historisch, empirisch und vergleichend nach dem Ist-Zustand eines
religionspädagogisch relevanten Phänomens und seiner Genese; sie fragt
systematisch nach biblisch, theologiegeschichtlich oder pädagogisch begründeten Beurteilungskriterien und
sie fragt handlungsorientierend nach
den
bestmöglichen
Handlungs8
weisen.
Notiert in Anlehnung an Christian
Grethlein: Abriss der Liturgik, Gütersloh
1989.
8
Heft 6 - 2007
12
Das praktisch-theologische Ypsilon
- eine schematische Darstellung der
Arbeitsweise Praktischer Theologie
Historische,
empirische und
vergleichende
Fragestellung
Verstehen des
Ist-Zustandes
Systematische
Fragestellung
Gewinnung
von theologischen Urteilskriterien
Handlungsorientierende
Fragestellung
Erkennen, Begründen und Ausloten
von Handlungsoptionen
Diese Struktur der Gedankenführung
steht im Hintergrund der folgenden
Anstöße, auch wenn sie hier nur
verkürzt zur Sprache kommt.
Eine fachliche Vorbemerkung: Auch
wenn ich hier den Konsens in der
Praktischen Theologie hervorheben
kann, so ist nicht zu leugnen, dass es
natürlich unterschiedliche Strömungen und Akzente gibt – die Fachkundigen unter Ihnen wissen es –,
hier seien, zugegebenermaßen vergröbert, vier Strömungen unterschieden (Tabelle s. Folgeseite):
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
13
PRAKTISCHE THEOLOGIE
STRÖMUNGEN
UND
KIRCHENREFORM –
SCHEMATISCHE
DARSTELLUNG
DER
Kirchenreform als Hinwendung zu moderner
Mission
Kirchenreform als
Strukturreform
bzw. Organisationsentwicklung
Kirchenreform
Kirchenreform als
als hermeneuStep-by-Steptisch-kulturtheo- Improvement
logische Wende
Institut zur Erforschung
von Evangelisation und
Gemeindeentwicklung,
Greifswald
Wissenschaftlicher Beirat zur
(Studien- und
Planungsgruppe
der) EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung
Institut für
Religionssoziologie und Gemeindeaufbau,
Berlin
Spirituelles Gemeindemanagement
VELKD-Gemeindekolleg Celle
Amt für Gemeindeentwicklung u. missionarische Dienste, Wuppertal
Michael Herbst
Peter Böhlemann
Hans-Hermann Pompe
Evangelische
Gemeindeakademie Rummelsberg
Gemeindeberatung
Jan Hermelink
Rüdiger Schloz
Angesichts dieser durchaus fundamentalen Unterschiede ist es
um so erstaunlicher, dass im Konkreten ein weitreichender Konsens zu identifizieren ist. Dem
Pfarrkonvent Saarbrücken konnte
ich vor zwei Jahren zehn solcher
Konsenspunkte vorstellen, hier
belasse ich es um der Zeit willen
bei zweien.
1. Milieugebundenheit der Kirchengemeinden bewusst machen und aufbrechen
Empirische Forschung und alltägliche
Beobachtung zeigen es: Die kirchliche
Wilhelm Gräb
Herbert Lindner
Uta Pohl-Patalong
Ortsgemeinde ist keineswegs Spiegelbild aller gesellschaftlichen Gruppen,
sondern sie ist in hohem Maße
milieugebunden. Gemeint ist damit
nicht, dass wie noch im 19. Jh.
konfessionelle Milieus bestünden, die
in die Gesellschaft ausstrahlen – das
gerade nicht! Gemeint ist vielmehr,
dass in den Kirchengemeinden ein
bestimmter Lebensstil vorherrscht,
dass Gemeinden nur für Menschen
bestimmter Milieus anziehend und
ansprechend sind – und allein schon
durch diese ganz und gar nichttheologischen
Umstand
vielen
Heft 6 - 2007
14
Menschen ausgegrenzt werden. Es
droht, so hat es kürzlich der Münchner
evangelische
Theologe
Friedrich-Wilhelm Graf in seinem
Büchlein „Der Protestantismus“ zugespitzt, eine „elementare Milieuverengung“.9
In geradezu bedrückender Deutlichkeit hat dies die vierte Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD aus
dem Jahr 2002 vor Augen gestellt.10
Sie konnte fünf Typen unterscheiden,
wie Mitglieder der Evangelischen
Kirche ihre Mitgliedschaft gestalten
und dazu sechs Lebensstile, sechs
Milieus unter evangelischen Kirchenmitgliedern.
So Friedrich-Wilhelm Graf: Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München
2006, 109.
10 Wolfgang Huber u.a. (Hg.): Kirche in der
Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006. Zur römisch-katholische Kirche
kommt zu ähnlichen Ergebnissen die von der
Medien-Dienstleistung GmbH in Auftrag
gegebene und herausgegebene Studie "Religiöse und kirchliche Orientierungen in den
Sinus-Milieus 2005", München 2006.
9
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Diese
Lebensstile
lassen
sich
identifizieren
anhand
zweier
Kriterien: sozialer Status und Modernität der Auffassungen.11
In Kirchengemeinden vorzugsweise
anzutreffen sind:
Typ
1:
Hochkulturell-traditionsorientiert (ca. 13 %) – hohes Interesse
an Bildung, klassischer Kunst und
Kultur; hohes Interesse an Mitverantwortung in kirchlichen Gremien,
Typ 2: Gesellig-traditionsorientiert
(ca. 16%) – hohes Interesse an Geselligkeit in Vereinen, Nachbarschaft
und Familie; hohes Maß an Dienstund Pflichterfüllungsbereitschaft und
Typ 4: Hochkulturell-modern (ca.
14%) – hohes Interesse an Bildung
und klassischer Kultur, gepaart mit
Computer, Kino, Aktivsport
In Kirchengemeinden kaum vertreten
sind:
Typ 3: Jugendkulturell-modern (ca.
22%) – Interesse an jugendkulturellen
Aktivitäten, nicht an Nachbarschaft,
Dauerbindung und klassischer Kultur,
Typ 5: Von Do-it-yourself geprägter
Lebensstil (ca. 18%) – v.a. Männer;
kennzeichnend ist das Vertrauen auf
den eigenen Verstand und das eigene
Tun sowie Skepsis gegenüber Religion,
Typ 6: Traditionsorientiert- unauffällig (ca. 16%) – niedrige formale
Aus Wolfgang Huber u.a. (Hg.): Kirche in
der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte
EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft,
Gütersloh 2006, hier 216 (sowie nach dem
Vorabdruck von Ergebnissen in „Kirche –
Horizont und Lebensrahmen“, Hannover
2003, 65).
11
15
Bildung, Ablehnung von Gemeinschaft, Skepsis gegenüber Kirche.
Zwei Dinge sind für unseren Zusammenhang von entscheidender Bedeutung:
Erstens, nur ein kleiner Teil der Mitglieder unserer evangelischen Kirche,
in Zahlen: 15,5%, ist überhaupt als
„religiös und kirchennah“ zu verstehen – ich füge hinzu: Dies sind
cum grano salis die Menschen, die
überhaupt eine Affinität, einen Bezug
zur klassischen Parochie haben!
Zweitens, von diesen 15% gehört die
Hälfte zu einem ganz bestimmten
Milieu, nämlich zum „hochkulturelltraditionsorientierten Lebensstil“, ein
weiteres gutes Viertel gehört zum
„gesellig-traditionsorientierten
Lebensstil“ – andere Lebensstile finden
faktisch überhaupt keinen Zugang
zur traditionellen Kirchlichkeit, das
sind insbesondere „jugendkulturellModerne“.
Zugespitzt formuliert: Die klassische
Ortsgemeinde ist gerade nicht Volkskirche, sie ist Milieukirche, Nischenkultur! Nur ein Bruchteil der Kirchenmitglieder nimmt an ihrem Leben
teil.12
Was folgt daraus? Jeder Pfarrer, jede
Pfarrerin, jede Gemeinde muss sich
angesichts dieser Befunde bewusst
machen, dass er oder sie nicht gleichsam objektiv das Evangelium repräsentiert, sondern in einem solchen
Maße kontextuell, eben milieugebunden arbeitet, dass die Botschaft, die er
oder sie auszurichten versucht, da12
Vgl. Wolfgang Huber u.a. (Hg.): Kirche in der
Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh
2006, 64.
durch nur für Menschen eines bestimmten Lebensstils, einer bestimmten Lebensorientierung plau-sibel
wird.
Nun kann man diese Milieuorientierung nicht einfach wechseln wie
das Hemd oder die Hose, um so
wichtiger aber werden alle Arbeitszweige und Einrichtungen der Evangelischen Kirche, die sich in anderen
Milieus bewegen und andere Menschen erreichen als die Parochien! Sie
sind es, die überhaupt nur den großen Pool der „Kirchendistan-zierten“
erreichen, sie sind es, die den Anspruch auf das Volkskirchesein nicht
vollends Makulatur werden lassen!
Eben deshalb ist es so wichtig für die
Kirche, etwa eine Diakonie zu unterhalten, die tatsächlich Außen-seiter
unserer Gesellschaft erreicht, deshalb
ist es so wichtig, eine über-parochiale
Stadtkirche zu haben, die kirchenkritische Gebildete erreicht, deshalb ist
so wichtig, sich mit unabhängigen
Arbeitsformen an Jugendliche, „jugendkulturell Moder-ne“ zu wenden.
Mit dieser Form der Zielgruppenarbeit
durchbricht die Kirche zeichenhaft ihr
Milieu. Das ist nicht nur wichtig für
diejenigen, die durch diese Arbeitsformen erreicht werden, sondern für
die öffentliche Wahrneh-mung von
Kirche überhaupt.
Mit großer Dringlichkeit hat sich, so
der Bonner Praktische Theologe Eberhard Hauschildt, die Kirche, jeder
Kirchenkreis und jede Gemein-de
zwei selbstkritische Fragen zu stellen:
„Welche Milieus werden in der Kirche (bzw. in der Gemeinde) strukturell übergangen ...?“ „Wie verhält
sich
die
faktische
Milieu-
Heft 6 - 2007
16
segmentierung der Kirche zu ihrem
milieuübergreifenden Auftrag?“13
Das Postulat lautet: Milieugebundenheit der Kirche bewusst gestalten und
aufbrechen
2. Ein differenziertes und koordiniertes
Gottesdienstangebot entwickeln
Oben habe ich es erwähnt: Stadtkirchenarbeit an vielen Standorten
hat „Gottesdienst“ als zentrales
Handlungsfeld entdeckt. Zu Recht.
Auch praktisch-theologische Überlegungen weisen den Gottesdienst
als zentrales Handlungsfeld von Kirche aus; Liturgiewissenschaft erfährt
seit ca. 20 Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung; normativ gesprochen gilt nach wie vor:
Gottesdienst ist der Ort der Kirchenbildung und des Kirche-Seins!
Allerdings, das ist Konsens in der
PTh, Gottesdienst kann und soll nicht
heißen Gottesdienst am Sonntagmorgen! Auch hier sprechen die Zahlen für sich:
Zwar geben 10% der Evangelischen
in Deutschland an, jeden Sonntag am
Gottesdienst teilzunehmen, weitere
13% meinen, sie seien jeden zweiten
Sonntag im Gottesdienst – de facto
sind es indes nur 5% - mit anderen
Worten: nur jedes 20. Kirchenmitglied!14
Beispiel: Sonntag „Invokavit“ in der
Passionszeit, der als sog. Zählgottesdienst fungiert und wohl am
ehesten den durchschnittlichen Gottesdienstbesuch widerspiegelt, werEberhard Hauschildt: Milieus in der Kirche, in: Pastoraltheologie 87 (1998), 392-404,
hier 402f.
14 Huber u.a.: KVL 2006 (s.o. Anm. 9), 54.
den bundesweit etwa 25.000 evangelische Gottesdienste gefeiert (bei
einer Zahl von insgesamt 16.000 Gemeinden, also fast zwei pro Gemeinde) – allerdings nehmen daran nur
3,8% der Kirchenmitglieder teil!15 Bedenklich stimmt das Missverhältnis
zwischen dem hohen Aufwand und
dem geringen Radius! Bedenklich
stimmt auch, dass die überwältigende Mehrheit dieser Gottesdienste, ein Blick in das Gottesdiensttableau der evangelischen Gemeinden in Saarbrücken genügt, zeitgleich
stattfindet: Sie folgen gestalterisch
alle einer (agendarischen) Form und
zielen allesamt auf dieselbe Klientel:
die sog. Kerngemeinde.
Man kann also den Sonntagsgottesdienst mit einigem Recht in der Krise
sehen – um eine Krise des Gottesdienstes überhaupt handelt es sich
keineswegs. Andere, vielgestaltige
Gottesdienste finden in der Regel
große Beachtung, denken Sie an
- Kasualien, allein schon die über 300.000 Bestattungen pro
Jahr,
- Familiengottesdienste, die allerorten signifikant mehr Menschen zur Teilnahme locken als
ein „normaler“ Got-tesdienst,
- Schulgottesdienste, besonders
zur Einschulung, für die dasselbe gilt,
- Fernsehgottesdienste, die im
Durchschnitt in etwa genauso
viele Menschen ansprechen
wie die große Zahl aller Sonntagsgottesdienste zusammen,
13
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Evangelische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben in
Deutschland 2005, 15.
15
17
-
Spezialformen wie ThomasMessen, Go-alive-Gottes-dienste, Gottesdienste für Nachtschwärmer, Taizé-Gottesdienste u.a.m., die zu ungewöhnlichen Zeiten und „in anderer
Gestalt“ Menschen mit dem
Evangelium in Kontakt bringen!
Christian Grethlein, der Münsteraner
Praktische Theologe resümiert: Zu
„bestimmten Zeiten, besonders [an
Feiertagen wie] Weihnachten [und
Ostern: Osternacht!] und an Übergängen im Lebenslauf [man denke an
Taufe und Konfirmation, Einschulung, Goldene Konfirmation, Bestattungen u.ä.], besteht großes, teilweise
wachsendes Interesse an liturgischer
Feier.“16
Wenn nicht alles täuscht, deuten sich
in diesen Zahlen tiefgreifende Veränderungen an:
- Menschen regeln ihr gottesdienstliches Leben wie ihre
Teilnahme am kirchlichen Leben überhaupt nicht nach dem
Takt, den die Kirche vor-gibt,
sondern sie regeln es „von ihrem primären Lebens-kontext
her und auf ihn hin“17!
- Gottesdienst wird von einer
wachsenden Zahl von Menschen nicht länger im kurzfristigen Wochentakt als notwendig wahrgenommen, sondern als besonderes Ereignis in
größeren Abständen und als
Begleitung des Lebenslaufes!
Kurz und gut: Man mag das beklagen
– man beklagt damit allerdings einen
Umstand, der mindestens seit zweihundert Jahren, seit den Zeiten Friedrich Schleiermachers konstant ist.
Oder man ändert die eigenen, kirchlichen Gewohnheiten, man be-ginnt
Gottesdienst zu variieren und vervielfältigen – zu Letzterem lädt Praktische Theologie nachhaltig ein:18
- Es braucht ein differenziertes
und koordiniertes Gottesdienstangebot auf Kirchenkreisebene, das Gottesdienste zu
verschiedenen Zeiten und Gottesdienste unterschiedlichen Stils als
Teil
eines
Gesamtpaketes
„Gottesdienst“ ausweist.
- Es braucht ein Gottesdienstangebot, dass Höhepunkte und
Kernbotschaften der christlichen
Kirche erfahrbar aufwertet: Das
Gros der Kraft sollte nicht in
den steten Fluss gleicher Gottesdienst an möglichst vie-len
Orten fließen, sondern in die
Profilierung
diskontinuierlicher Höhepunkte! Weihnachten gelingt dies, andere
Anlässe sind die Osternacht,
das Pfingstfest als Tag der offenen Kirche, Tauffeiern u.a.m.
- Es braucht neben Angeboten
der Kontinuität auch experi-
Vgl. hier nur das „Handbuch der Liturgik“,
in 3. A. hg. von Karl-Heinrich Bieritz, Michael Meyer-Blanck u.a., Göttingen/Leipzig 2003,
sowie das „Liturgische Kompendium“, hg.
von Christian Grethlein und Günter Ruddat,
Göttingen 2004.
18
Christian Grethlein: Grundfragen der Liturgik, Gütersloh 2001, 35.
17 Christsein gestalten. Eine Studie zum Weg
der Kirche, hg. vom Kirchenamt der EKD,
Gütersloh 1986, 28.
16
Heft 6 - 2007
18
mentelle Gottesdienste: Gottesdienste, die in ungewohnter
Form, mit fremden Worten, mit
besonderen Zielgruppen arbeiten:
Familiengottesdienste – ja! Go
alive Gottesdienste – ja! Jugendgottesdienste!
ThomasMessen – ja! Taizé-Gebete,
Gottesdienst für Nachteulen,
musikalische Gottesdienste, liturgische Nächte, interreligiöse Gebete, auch sog. Hochliturgische Messen, thematische Predigtreihen u.a. – ja!
Nicht eine einzelne Gemeinde kann
solche Vielfalt bieten, doch ein Kirchenkreis kann und sollte sie im Blick
haben und er kann dazu auch die
Vielgestaltigkeit der vorhandenen
gottesdienstlichen
Räume
profilieren!
Und ich füge einen Gesichtspunkt
hinzu: M.E. kann sich die Kirche den
Verzicht auf jugendspezifische Gottesdienstangebote nicht länger erlauben. Es ist ein Skandal, dass sie
den schulischen Religionsunterricht
in dieser Hinsicht im Regen stehen
lässt!19
Das Postulat lautet: Ein differenziertes
und koordiniertes Gottesdienstangebot
entwickeln!
Ich breche ab, obwohl das, was Praktische Theologie zu sagen hat, noch
keineswegs erschöpft ist.
Nun mag sich mancher und manche
fragen: Ja, soll denn kein Stein auf
dem anderen bleiben? Soll die OrtsChristian Grethlein: Gottesdienst ohne
Jugendliche!? Empirische Befunde und biblisch-theologische Perspektiven zu einem
Dilemma, in: Texte aus der VELKD 92/1999.
19
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
gemeinde abgewickelt werden? Deshalb:
5. Kirchenreform und kirchliche
Tradition
Nein, natürlich nicht, ist die Antwort
auf die Frage. Aber mit gleicher Deutlichkeit muss hinzugefügt werden:
„Prüfet alles, aber (nur) das Gute behaltet!“ (1. Thess 5,21) Oder mit den
Worten des Impulspapiers der EKD
gesprochen: „Nicht mehr die lange
und gute Tradition ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige Bedeutung“20 – wobei daran zu erinnern ist:
Längst nicht alles, was wir für „lange
und gute Tradition“ halten, ist es
auch.
So möchte ich in diesem Sinne stark
machen: Evangelische Kirche ist in
der Tat eine Kirche der Freiheit, eine
Kirche der Freiheit zu Veränderungen! Dieser Reformwille, dieses Wissen, dass „Kirche stets reformiert zu
werden hat, um Kirche zu bleiben“
(ecclesia semper reformanda), das ist
doch gerade ihre Stärke – ich sage es
plakativ:
- Die Reformation besticht doch
dadurch, dass sie das, was sie
für richtig hielt, tatsächlich geändert hat – gerade trotz alter
Traditionen! Denken Sie an
den Ablass, das Messopfer, die
Ehelosigkeit der Priester, das
Klosterwesen u.a.m. Die Reformation hat hier nicht bloß
diskutiert, sondern Struk-turen
geändert – aus gutem Grund!
- Auch systematisch entfaltete
Evangelische Theologie ist sich
20
Kirche der Freiheit 42.
19
-
21
von Philipp Melanchthon bis
zu Eilert Herms einig daran,
dass längst nicht alles, was
Kirche tut und wie sie sich
darstellt, konstitutiv und unverzichtbar ist – im Gegenteil:
Die Kirche ist ganz minimalistisch definiert: „ein heilige christliche Kirche ..., welche ist die Versammlung aller
Glaubigen, bei welchen das
Evangelium rein gepredigt
und die heiligen Sakrament
lauts des Evangelii gereicht
werden“. Mit anderen Worten:
„gleichförmige Ceremonien“
und Beibehalten dessen, was
war, ist weder ein Kennzeichen
der Kirche noch notwendig
„zur wahren Einigkeit der
christlichen Kirche“ (CA VII) –
alles außer den notae ist „nach
Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit“ zu regeln21.
Und in der Tat: Der Blick auf
die Ökumene zeigt so anschaulich und eindringlich wie
kaum etwas Anderes, wie unterschiedlich kirchliches Leben aussieht. Was unsereinem
hier wie ein ehernes Gesetz erscheint, haben Gemeinden in
Amerika nie gekannt; was uns
etwa im Gottesdienst sakrosankt ist, stößt bei lutherischen
oder unierten Gemeinden in
Afrika auf Verwunderung und
Skepsis. Man sage also nicht
zu schnell: Anders geht es
nicht!
So der konzise Artikel „Kirche VIII.Praktischtheologisch“ von Reiner Preul, in: RGG IV
(42001), 1026-1029.
-
Und schließlich die Grundlage unseres Denkens und
Handelns: Die Bibel ist nun
wahrhaftig kein Zeugnis der
Beharrung und Unveränderlichkeit. Die Geschichte des
Volkes Israel, die Geschichte
der jungen Christenheit sind
vielmehr Zeugnisse einer Weggemeinschaft, eben des „wandernden Gottesvolkes“. Konkrete Beispiele für Aufbrüche
und Veränderungen sind Legion: angefangen von Abraham über Mose, David und die
Propheten bis hin zu Jesus und
Paulus. Die Bibel insgesamt
ruft uns zu, was die Jahreslosung 2007 sagt: „Gott spricht:
Siehe, ich will ein Neues schaffen. Jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“
Kurz: Weder die Geschichte unserer
Kirche noch systematische theologische Reflexion noch der Blick auf
die weltweite Christenheit und erst
recht nicht die Heilige Schrift legitimieren ein „Alles-bleibt-wie-es-ist“.
6. Ausblick
Hohe Synode, das Konzept für überparochiale Stadtkirchenarbeit, das
Ihnen vorliegt, greift Manches von
dem auf, was ich erwähnen konnte,
was andernorts verwirklicht wird,
was viele Praktiker und Theologen
für sinnvoll und hilfreich erachten,
was theologisch mit guten Gründen
zu fordern ist.
Noch ist es nur ein Papier, es kann
und darf kritisiert werden, aber es ist
eine Chance – eine Chance, der evan-
Heft 6 - 2007
20
gelischen Kirche in Saarbrücken ihre
Blässe zu nehmen, eine Chance, manche Gräben zuzuschütten und mit
vereinten Kräften zu arbeiten, eine
Chance, sich nicht in eine Krise hineinzureden, sondern das Heft des
Handeln zielorientiert in die Hand zu
nehmen – und zwar dort, wo es besonders brennt:
- im Blick auf die Mehrheit der
evangelischen Kirchenmitglieder, die sich von den Ortsgemeinden nicht angesprochen
und angezogen fühlen,
- im Blick auf Jugendliche, die in
kaum einer unserer Gemeinden eine Heimat finden,
- im Blick auf Menschen, die in
der Gesellschaft Verlierer wurden, aber zu unserer Kirche so
viel Vertrauen haben, dass sie
hier Beratung und Hilfe suchen,
- im Blick auf die Öffentlichkeit, die in der Fülle der Gemeinden und Einrichtungen
nicht mehr die eine Evangelische Kirche in Saarbrücken
erkennt.
Aus meiner Sicht hat es diese Synode
in der Hand, ein wichtiges Signal zu
senden: Wir sehen die Herausforderungen, vor denen unsere Kirche in
Saarbrücken steht – und wir raufen
uns zusammen, um diesen Herausforderungen gemeinsam etwas entgegen zu setzen. Dafür engagieren
wir uns mit exemplarischen Projekten, mit Ideen, mit ehrlicher Kooperation, und natürlich auch mit Geld.
Ein solches Signal nicht zu geben, eine
Haltung
des
„Interessiert-michnicht“, des „Lass-die-mal-machendie-werden-sich-noch-wundern“ oder des „Funktioniert sowieso nicht“
wäre fatal – mit einer solchen Haltung der stillen Enthaltung oder Blockade, ist niemandem gedient: der
Stadtkirchenarbeit nicht, aber, da bin
ich sicher, auch den Gemeinden
nicht. Deshalb meine Bitte: Unterstützen Sie die Vorschläge des Konzeptes, unterstützen Sie sie mit Ihrer
Stimme, aber auch mit Rat und Tat!
Ich
bedanke
mich
Aufmerksamkeit.
für
Ihre
ANHANG
Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert
Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover Juli 2006 (tabellarische Zusammenfassung von B.S.)
„Vier Veränderungsbereiche“
Aufbruch in den kirchlichen Kernangeboten
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
„Zukunftsvision in zwölf Leuchtfeuern“
1. „Qualitätsstandards in den Kernvollzügen … sicherstellen“
21
2. „Vielfalt evangelischer Gemeindeformen bejahen“ – Ziel: 50%
Parochien, 25% Profilgemeinden
und 25% Netzwerke
3. „Geistliche Zentren“ bzw. „Begegnungsorte“ schaffen
Aufbruch bei allen kirchlichen Mitarbeitenden
4. „Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft“ fördern
5. Ehrenamt würdigen und vermehren
6. Pfarrberuf als „Schlüsselberuf“
und entsprechende Kompetenzen
stärken
Aufbruch beim kirchlichen Handeln in
der
Welt
7. „Bildungsarbeit“ als „eines der
wichtigsten Arbeitsfelder“ ausweisen
8.
„Verbindung zwischen verfasster Kirche und Diakonie“ verbessern
9. Stärker Themen setzen – etwa bis
2017 jedes Jahr eines!
Aufbruch bei der kirchlichen Selbstorganisation
10. Drittmittelfinanzierung von Projekten aufbauen
11. Zahl der Landeskirchen auf 8-12
reduzieren
12. Bundesweit „Kompetenz-„ und
thematische Zentren aufbauen
Heft 6 - 2007
22
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
23
WILLI SCHÖNAUER:
JUGENDKIRCHE, ODER: WARUM BACHLÄUFE
DURCH DIE
KIRCHE
SPIRITUELLES
FEUER
ENTFACHEN KÖNNEN
Von Jugendlichen begeistert gefeiert,
von Gemeinden gelegentlich gefürchtet, gibt es sie bereits 100-mal in
Deutschland, Österreich, Schweiz,
Dänemark und Luxemburg. „Gebt
uns eine leer stehende Kirche und wir
machen was daraus!“ wird daher
einerseits als Drohung, andererseits
als Aufbruch zu neuen Formen der
Beziehung von Jugend und Kirche verstanden - das Phänomen Jugendkirche.
Das Ergebnis der jüngsten evangelischen Reichweiten-Studie bestätigt ähnlich der katholischen SinusStudie, was Insider aus der Jugendarbeit längst schmerzlich erfahren:
Die Kirche hat den Kontakt vor allem
zu jungen Milieus weitgehend verloren.
Wie kommt es, dass Kirche Jugendliche kaum noch erreicht? Zumindest
sind diejenigen, die noch in den
traditionellen Sonntag-Morgen-Gottesdienst gehen, eine kleine Minderheit, die „Abnormen“ – denn normal
ist etwas anderes.
Das klingt hart, man kann das auch
positiv formulieren: Obwohl sonntags früh meist ein Zielgruppengottesdienst für Frauen ab 55 mit
Interesse an Orgelmusik läuft (so beschrieben von Rolf Ulmer, Landesjugendpfarrer Württemberg in seinem Buch „one of us“), der mit den
Lebenswelten der Jugendlichen fast
keine Gemeinsamkeiten mehr hat,
kommen immer noch einige unerschrockene Jugendliche. Jetzt gilt es,
Kirche auch für die anderen wieder
attraktiv zu gestalten. Hier setzt
Jugendkirche („Juki“) an. Der Begriff
ist (bisher) nicht genormt und
subsummiert eine große Bandbreite
von Konzepten zielgruppenorientierter Arbeit, die in ihrer verorteten
Form und mit unterschiedlicher
Schwerpunktsetzung dennoch einige
wesentliche Gemeinsamkeiten haben,
selbst wenn sie unter „jugendpastorales Zentrum“, „Kirche der
Jugend“ oder „Jugendgemeinde“
noch zusätzliche Merkmale aufweisen.
Jugendkirche – was ist das?
In erster Linie: Ein Raumaneignungskonzept.
Erstmals wird Jugendlichen eine
Kirche ganz oder teilweise überlassen. Meist ohne starre Kirchenbänke,
ein spiritueller Raum, der zu Experimenten und Auseinandersetzung,
zu Umgestaltung und Erfahrbarkeit
einlädt und anregt. Ein wertvoller
Raum, der einerseits durch die Überlassung Wertschätzung für die Jugendlichen ausdrückt, der durch
seine Leere aber geradezu nach
Gestaltung schreit. Fragen entstehen
wie z.B.: „Müssen wir nicht leise sein,
damit Gott weiterschlafen kann?“
„Und dürfen wir darin auch einmal
übernachten, obwohl Gott hier sein
Zuhause hat?“
Wenn im Kirchraum eine Kunstausstellung entsteht oder ein Musical,
Heft 6 - 2007
24
sind Fragen nach Spiritualität
vorprogrammiert – zwar nicht vordergründig, eher beiläufig, deshalb
aber nicht minder wichtig und vor
allem auf Augenhöhe Gleichaltriger.
Deshalb ist in vielen Jukis die
Musicalarbeit ein wichtiges Standbein, von „Jesus Christ Superstar“,
„Godspell“ bis hin zum gewagten
„Erotica“, in Wien ebenso wie in
Mannheim, Oberhausen, Hannover,
Chemnitz, von Berlin bis Bad
Segeberg.
Kunstinstallationen, bei denen zuweilen 15 m hohe Lichtskulpturen und
360°-Projektionen den Kirchraum in
buchstäblich neuem Licht erscheinen
lassen und Sonderaktionen zu
aktuellen Themen wie die Umwandlung mancher Kirchen in ein
komplettes Fußballfeld, regen die
Auseinandersetzung mit dem Kirchraum an. Die sich darin aufbauende
Spannung zu Altar, Taufbecken,
Kreuz und Kirchenfenster lädt zu
Diskussion und Reflexion ein.
Jugendkirche bietet deshalb idealerweise eine Art Studio-Charakter, alles
ein wenig rau und unfertig, auf
keinen Fall perfekt durchgestylt bis in
den letzten Winkel. Einen ‚Freiraum’
mit viel Platz fürs Ausprobieren und
für Neues, da ist es auch von Vorteil,
wenn die schweren Kirchenbänke
durch flexible (und meist auch
bequemere) Stühle ersetzt sind.
Damit es gelingen kann, müssen
Jugendliche auf die ‚Location’ aufmerksam werden, größere gelegentliche Events und besondere Aktionen
zu außergewöhnlichen Zeiten können
das bewirken, untermauert durch
regelmäßige zielgruppengenaue An-
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
gebote. Außerdem muss für Kirchenferne die Schwelle zum Sakralraum
und das bisherige Kirchen-Image
überwunden werden – es soll locker
und unverbindlich ein Herantasten
ermöglicht werden, dafür eignet sich
z.B. ein unabhängig von kirchlichen
Veranstaltungen regelmäßig geöffnetes Kirchen-Café.
In zweiter Linie: Inkulturation satt
Sozialisation
In den zurückliegenden Jahrzehnten
hat man viel Kraft darauf ver(sch)wendet, Jugendliche für Kirche
zu sozialisieren, d.h. sie sollten genug
Wissen vermittelt bekommen, um
Kirche
in
ihrer
vorhandenen,
traditionellen Ausprägung kennen
und verstehen zu lernen. Diese
Aufgabe wurde früher gleichermaßen
von Familie, Freunden, Kirche und
Schule übernommen. Mit dem Wegbrechen familiärer Sozialisation, dem
schwindenden sozialen Druck und
der Wandlung von der Volkskirche
zur Minderheitenkirche ist auch die
Sozialisation
Jugendlicher
weitgehend auf der Strecke geblieben.
Zwar sind Jugendliche immer in
Kirche eingeladen gewesen, oftmals
aber unausgesprochen zu den
Bedingungen der einladenden Erwachsenen. Heute beurteilen Jugendliche die Kirche u.a. nach intuitiver
Verständlichkeit, nach erfahrbarer
Freude am Glauben (nicht zu
verwechseln
mit
der
„Spaßgesellschaft“), nach erleb- und auslebbaren Emotionen, nach Gehalt und
unmittelbarer Relevanz für ihr Leben,
ob sie „hier nette (junge) Leute treffen
können“ und ob es „locker möglich
25
ist, einfach mal so hinzugehen“. Bei
traditioneller Kirche sind diese Faktoren kaum vorhanden, die Jugendlichen stimmen mit den Füßen ab
und bleiben einfach weg.
Während man an anderen Orten der
Erde die frohe Botschaft in fremde
Kulturen und Völker hineingetragen
hat, in dem man sie in deren Sprache,
kulturelle, ästhetische und rituelle
Welten übersetzt und damit inkulturiert hat, ist das in die Welt der
Jugendlichen hinein seit ca. 1968 nur
noch vereinzelt und punktuell gelungen. Erst jetzt entdeckt man diese
Herangehensweise wieder neu.
Heute müssen Jugendliche mit unglaublich vielen visuellen Eindrücken
pro Tag umgehen können – einem
Vielfachen dessen, was frühere Generationen
verkraften
mussten.
Denken wir nur an die Schnittfolge
von Filmklassikern und vergleichen
sie mit heutigen Musik-Film-Clips
der „Generation Viva“ – das Tempo
hat sich verzehnfacht. Oder nehmen
wir das Tempo von Weltrevolutionen, mit denen Jugendliche heute
klar kommen müssen: Während
frühere weltumspannende Wandlungen 100 Jahre brauchten (z.B.
Automobilität), jagen sich Umbrüche
mittlerweile im 10-Jahres Rhythmus:
Viele Ältere haben in der Schule noch
mit dem Rechenschieber gearbeitet,
heute hat man einen Taschenrechner
dabei, der die gleiche Rechenleistung
aufweist,
die
damals
zur
Mondlandung nötig war, ganz zu
schweigen von dem MultimediaRechner, der daheim im Jugendzimmer steht. Oder nehmen wir die
Mediengesellschaft (z.B. von zwei
s/w-Fernseh-Programmen in den 60er
Jahren zu derzeit 600 Sendern in
HDTV), Telefon/Handy, Internet,
Gentechnologie, Bionik … – Jugendliche müssen sich diesen Wandlungen stellen, sie sich aneignen, mit
ihnen leben. Wie können wir dann erwarten, dass sie all das außen vor
lassen und Kirche wie vor 40 Jahren
annehmen?
Inkulturation statt Sozialisation funktioniert natürlich nicht nur in Jugendkirchen – an dieser Stelle jedoch
besonders gut, weil es umfassend
realisierbar ist.
In dritter Linie: Beteiligungskirche
mit echter Beteiligung Jugendlicher
Jugendkirche entsteht nicht durch
Fürbitten, die Erwachsene aussuchen
und einem herbeigenötigten Jugendlichen kurz vor dem Gottesdienst
zum Vorlesen in die Hand drücken –
auch die wohlmeinendsten Erwachsenen liegen oft neben den
Wünschen jüngerer. Statt routinierter
Perfektion ist vielmehr gleiche
Augenhöhe gefragt: von Jugendlichen für Jugendliche. Während
evangelische Kirche durch ihre
formell durchgängig demokratische
Struktur prinzipiell keine Probleme
mit dieser Beteiligung hat und eher
nach pragmatischen Wegen sucht,
um
Entscheidungsgremien
für
Jüngere attraktiv zu gestalten, sind
bei katholischen Konzepten die
intensive Beteiligung Jugendlicher bei
wesentlichen Entscheidungen erst in
jüngster Zeit mit festgeschrieben
worden,
wenngleich
die
erste
(katholische) große Juki „TABGHA“
in Oberhausen u.a. von Anfang an
Heft 6 - 2007
26
diese Mitbestimmung vorbildlich
praktiziert haben.
Dazu gehören aufgeschlossene, aber
authentische Erwachsene, die den
Jugendlichen den Rücken freihalten
und sie begleiten, ohne dabei überwiegend
eigenen
Selbstverwirklichungswünschen nachzugeben. Erwachsene, die nicht erwarten, dass
sich Jugendliche mehrere Jahre lang
durch einen Sitzungsmarathon quälen und ihnen dennoch Entscheidungskompetenz zugestehen, die
hierfür geeignete Strukturen schaffen
und dabei Überforderungen vermeiden. Häufig gibt es themenorientierte Arbeitsgruppen, in denen
es leicht fällt, sich einzubringen (in
einem befristeten, überschaubaren
Zeitraum), z.B. Technik-Teams (Licht/
Ton/Medien), Programmgruppe, Jugendgottesdienst-Team, Café-Team,
Security-Team,
Dekorations-Team,
Musicalgruppe, Filmteam, Trendscouts …
In vierter Linie: Aufenthaltsqualität
im Sakralraum
Selbst wenn man es kaum glauben
mag – sobald die Kirche interessant
ist, wollen sich Jugendliche darin
aufhalten – länger als nur für einen
Gottesdienst, auch davor und danach
und zusätzlich für Kulturveranstaltungen. Das erfordert – neben der Erkennbarkeit als Kirche – ein einladendes Ambiente: Wer Jugendliche nach
Wünschen für „ihre“ Kirche fragt,
bekommt
regelmäßig
genannt:
Gemütliche Sitze (keine Bänke), ein
paar Couchen, vielleicht auch eine
Hängematte,
Bistrotische,
CaféTheke, Palmen, einen Brunnen oder
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
einen Bachlauf quer durch die Kirche
(Bauanleitung gibt es im Internetportal www.jugendkirchen.org) …
– kurz eine Mischung aus südlicher
Hotel-Lobby
und
verlängertem
heimischen Wohnzimmer. Selbstverständlich gehört dazu auch ein
gemütliches Klima mit ausreichendem Tageslicht und guter Heizung
im Winter (was gelegentlich zu
Problemen mit der Sicherheitsabschaltung der Temperaturregelung zum Schutz der Orgel führt).
Außerdem: Niedrigschwelligkeit
Normalerweise steht ein Jugendlicher, der nach vielen Jahren
Abwesenheit spontan beschließt, eine
Kirche zu betreten, vor verschlossenen Türen. Im beschlagenen Schaukasten ist zwar der nächste Altennachmittag
angekündigt,
aber
Kirchenöffnungszeiten und Jugendaktionen fehlen. Im Internet sucht er
vergeblich nach dieser Kirche. Nach
einigen Recherchen bringt der Anruf
bei der Seelsorgeeinheit dann Bekanntschaft mit dem Anrufbeantworter und endlich die Auskunft,
dass der nächste Jugendgottesdienst
in zwei Monaten stattfindet. Wer an
diesem Termin die Kirchentüre
öffnet, sieht sich 20 Jugendlichen
gegenüber, die sich untereinander
alle kennen und gemeinsam auf den
„Fremden“ starren ...
Es muss möglich sein, erst einmal
unverbindlich vorbeizuschauen, in
ungezwungener Atmosphäre, ohne
jede Peinlichkeiten. Hierfür ist ein in
die Jugendkirche ein-gebautes Café
mit langen, verlässlichen Öffnungszeiten ein bewährter Baustein.
27
Toll ist natürlich, wenn sich
Jugendliche aus dem „Gastro-Team“
ihre Dienste im Café so einteilen, dass
zu bestimmten Tagen im Monat
immer die gleichen Personen anwesend sind und dadurch zusätzlich
persönliche Bindungen entstehen
können.
Eine Kooperation mit den Schulen
aus dem Einzugsbereich ist ebenso
wichtig, um auch die kirchenfernen
Jugendlichen zu erreichen und durch
besondere, schulspezifische Angebote
ein Kennenlernen zu ermöglichen.
Generation Viva: Technik- und
Medieneinsatz
Die Erwartungen Jugendlicher sind
hoch – nicht etwa durch snobistische
oder elitäre Erziehung, sondern
durch Sehgewohnheiten, die von
Jugend-TV-Sendern wie Viva und
MTV oder kommerziellen Veranstaltungen wie selbstverständlich geprägt werden, ohne dass die
Jugendlichen gleich den gewaltigen
Aufwand abschätzen können, der
dahinter steht.
Tritt eine Newcomer-Band mit kratzendem, rumpelndem Sound auf und
hat als Beleuchtung nur selbstgefärbte Neonröhren dabei, wirkt das
für die BesucherInnen wie „gewollt,
aber nicht gekonnt“. Dagegen bietet
gute
Ausstattung
mit
Veranstaltungstechnik über Technik-Team
und Ausbildung an den Geräten
gleich mehrfach Andockpunkte für
kirchenferne und eher praktisch
orientierte Jugendliche, sie unterstützt Inhalte wirkungsvoll und das
Technik-Team kann als Multiplikator
zusätzlich umliegenden Gemeinden
technische Unterstützung bieten (z.B.
Jugendkirche „Marie“ / Einbeck).
Ein Jugendgottesdienst mit LiveBand, kleinen Theater-Elementen,
Multimedia-Meditation, mit eingebundenem, selbstgedrehtem FilmClip und Fürbitten per Handy-SMS
von den BesucherInnen direkt auf die
Leinwand gesendet, erfordert zwar
Planung und Ausstattung wie ein
Großevent, ermöglich aber auch erstaunliche
BesucherInnen-Zahlen,
Inkulturation der frohen Botschaft in
jugendliche Lebenswelten und intensives emotionales Mitgehen (z.B.
„find-fight-follow“-Jugodis im Umkreis der Jugendkirche Wien).
Mischung
von
Events
und
nachhaltiger Arbeit
Große
unkommerzielle
(„NonProfit“-) Events für junge Menschen
sind selten, alleine deshalb sind
solche Veranstaltungen im Interesse
der Jugendlichen wünschenswert
und genug Legitimation für Kirche,
sie mit anspruchsvollen Inhalten zu
veranstalten. Es entspricht dem
Wunsch Jugendlicher, sich mit vielen
Gleichaltrigen zu treffen und dorthin
zu gehen, „wo etwas los ist“.
Besondere Events sind unverzichtbare Kristallisationspunkte in der
Öffentlichkeitsarbeit der Jugendkirchen, sie helfen, das Image der Einrichtung zu prägen und zu zeigen,
dass Kirche unkonventionelle neue
Wege geht. Die Presse berichtet selten
über einen guten Trommel-Workshop, dagegen ist das Abseilen vom
Kirchendach
mit
abschließender
Feuershow immer eine Meldung
wert. Diese „sichtbare Spitze eines im
Heft 6 - 2007
28
Wasser treibenden Eisbergs“ wird in
Jugendkirche durch nachhaltige, kontinuierliche Angebote untermauert,
ohne die die Events ein Strohfeuer
blieben (das ist dann der „unter
Wasser liegende Teil des Eisbergs“):
Von der Musicalgruppe über das
Jugendgottesdienst-Team bis hin zu
einer Jugendseelsorgegruppe, wo
erfahrene Jugendliche nach dem
Peer-Group-Education-Prinzip
zu
Seelsorgehelfern ausgebildet werden, um dann beim nächsten Event
als Ansprechpersonen auf gleicher
Augenhöhe dabei zu sein (z.B. Seelsorgeprojekt
Jugendkulturkirche
Sankt Peter / Frankfurt/M).
Fünf Angebotssäulen
finden sich in vielen JugendkirchenKonzepten (z.B. evangelische Jugendkirche Kassel), in unterschiedlicher
Gewichtung:
- Eventagentur / Veranstaltungsmanagement (z.B. Konzerte
frommer Bands, Musicals)
- Seminarbetrieb (z.B. Trommelworkshop)
- Café / Bistrobetrieb (niedrigwelliges Angebot, Internetcafé
integriert)
- Jugendseelsorge
(möglichst
durch ausgebildete Jugendliche)
- Jugendgottesdienste (in unterschiedlichen Formaten, meist
multimedial)
Diese Angebots-Hauptsäulen machen
Sinn – in ihrem Zusammenwirken
ermöglichen sie, Jugend und Kirche
intensiv in Beziehung zu setzen und
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
auch kirchenferne Jugendliche wieder
anzusprechen.
Um einseitige Prägung z.B. als HipHop-Juki zu vermeiden, werden
rasterartig unterschiedliche Gruppierungen angesprochen, dabei entsteht eine Wechselwirkung zwischen
den
verschiedenen
jugendkulturellen Scenes und der Jugendkirche,
sie wirkt in diese Milieus hinein und
kann entsprechende Kompetenzen
auch für die kirchliche Arbeit nutzbar
machen (z.B. Techno-Gottesdienst im
Umfeld
des
Events
„ChurchVibration“ / Jugendkirche Stuttgart).
Als der Bund Deutscher Katholischer
Jugend vor einem Jahr die erste
Jugendkirche Bayerns in München
eröffnete, sagte Johannes Merkl
(BDKJ-Präses) im Interview: „Es geht
nicht darum zu sagen, ui, ich mache
ja ganz provokante Sachen, also
dieser Knister, ich mache was
Verbotenes, sondern es geht wirklich
darum zu sagen: „Ich möchte mit
dem, was ich gut finde, cool finde,
was mich bewegt, einfach auch mal in
diesem Gottesdienst vorkommen,
und wenn es Rollerblades wären in
Gottes Namen, dann wäre das
tatsächlich so.“
Fünf Entstehungs-Varianten:
Oft steht am Anfang einer zielgruppengerechten Ansprache Jugendlicher nicht gleich der Wunsch
nach einer Jugendkirche. Vielmehr
gibt es zahlreiche Vorstufen, die sich
in vier Hauptgruppen zusammenfassen lassen:
29
Jugendgemeinden entstehen (meist
im evangelisch-freikirchlichen Bereich) aus missionarisch angelegten
Hauskreisen, die zu groß werden,
sich mehrmals teilen und irgendwann auch wieder gemeinsame
Veranstaltungen wünschen, dafür
einen Raum suchen und so auf den
Weg zur Jugendkirche kommen.
Gemeindejugendarbeit gibt sich bei
Zusammenlegung zu Pastoralverbünden und Seelsorgeeinheiten für
die ortsübergreifende Arbeit zunächst ein „Label“, konzentriert dann
seine Arbeit zunehmend in der am
wenigsten genutzten Kirche des
Verbunds und ist schließlich auf dem
Weg zur Jugendkirche.
Jugendgottesdienstreihen laufen erfolgreich, werden umfangreicher,
müssen mehrfach in Kirchen mit
größerer Kapazität umziehen, haben
enormen Aufwand bei Auf- und
Abbau, bis sie schließlich in einer
dauerhaft nutzbaren Kirche auch
zusätzliches Programm anbieten
können. Ein Beispiel hierfür ist die
Jugodi-Reihe „find-fight-follow“ in
Wien, die den Anstoß zur ersten
Österreichischen Jugendkirche gegeben hat oder „MOC“ in Leonberg.
Temporäre Jugendkirchen-Projekte
fangen mit einem befristeten Projekt
an, z.B. drei Wochen „Jugendliche
erfinden Kirche ganz neu“. Nach der
Projektphase wird ausgewertet und
eine Wiederholung geplant, neue
Ideen kommen hinzu, bisherige
Erfahrungen fließen ein und nach
einigen Aktionszeiträumen kann sich
schließlich die Frage nach einer
dauerhaften Einrichtung stellen (z.B.
Meschede „light my fire“). Diese
Projekte weisen meist eine hohe
Effizienz und große ZielgruppenNähe auf.
Jugendkirchen, die gleich von
Anfang an als umfassendes Projekt
geplant werden, haben häufig die
längste Vorlaufzeit, werden meist
von top to down entwickelt, verfügen
über das größte Start-Budget, müssen
sich dabei jedoch intensiv um
Zielgruppenausrichtung
bemühen,
da die Vorplanungen überwiegend
ohne Jugendbeteiligung lief. Wenn
sie schließlich starten, können sie sich
der medialen Aufmerksamkeit sicher
sein, bei geschicktem Handling auch
ein
größeres
Sponsorenpotential
nutzen, stehen andererseits jedoch
unter gewaltigem Erfolgsdruck (z.B.
Jugendkulturkirche Sankt Peter /
Frankfurt/M).
Begriffsdefinition für Jugendkirche
fehlt noch
Vor über einem Jahrzehnt schwappte
die Jugendkirchenidee aus England
in den deutschsprachigen Raum
herüber. Zunächst mehr ein Konzept
von Jugendgemeinde, war sie stark
missionarisch ausgelegt. Erste kleine
Heft 6 - 2007
30
Jugendkirchen entstanden im evangelisch-freikirchlichen Bereich.
Die Katholische und Evangelische
Kirche entwickelten parallel eigene
Ansätze mit einer Betonung des
Raumaneignungskonzepts. So entstand TABGHA in Oberhausen
(Deutschland / Ruhrgebiet) als erste
katholische
und
erste
größere
Jugendkirche im deutschsprachigen
Raum überhaupt. Seit sechs Jahren ist
sie ausgesprochen erfolgreich in Betrieb, hat den Status eines Experiments verlassen und gilt nun als
Innovationsmodell, hat zahlreichen
weiteren Jukis „Geburtshilfe“ gegeben, blieb in jüngster Zeit jedoch
von den allgemeinen Kürzungen im
Bistum Essen bedauerlicherweise
nicht verschont – die „Führungsrolle“
hat mittlerweile TABGHAs Tochter
„effata!“ in Münster übernommen,
mit etwas konservativerer Ausrichtung.
Die erste evangelisch-landeskirchliche Juki entstand in Chemnitz und
ist aus kleinen Anfängen seither
kontinuierlich gewachsen, während
die erste große norddeutsche Juki in
Hannovers Lutherkirche im kommenden Jahr vor einschneidenden
Umstrukturierungen steht und die
süddeutsche Jugendkirche Stuttgart
nach drei Jahren erfolgreichem Projektaufbau zunächst nicht in einen
Regelbetrieb überführt werden konnte und seit diesem Jahr auf einen
beachtlichen, aber temporären Betrieb
zurückgefahren ist. Dafür eröffnet
Ende dieses Jahres die lange geplante,
auf absehbare Zeit größte Jugendkirche Deutschlands in der Frankfurter Sankt-Peter-Kirche, ganz in der
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Nähe der Haupteinkaufsmeile „Zeil“
und ist neben freikirchlicher und der
ebenfalls
großen
katholischen
Jugendkirche „Jona“ bereits die dritte
Einrichtung dieser Art in der Mainmetropole. In Berlin gab es den ersten
ausdrücklich ökumenischen Jugendkirchen-Versuch, der jedoch nicht
zustande kam, dafür weist die
Hauptstadt mit sieben Locations die
höchste Jugendkirchen-Anzahl auf.
Aktuell entstehen neue Jugendkirchen u.a. in Saarbrücken, Karlsruhe,
Nürnberg, Kassel, Bremen, Ham-burg
… Aktuelle Infos gibt es auf dem
Jugendkirchen-Portal oder dem zugehörigen Portal für Jugendliche
www.
(www.jugend-kirchen.org;
jukis.org).
Erst in jüngster Zeit bemühen sich die
Projekte in einem langsam entstehenden ökumenischen Netzwerk
Jugendkirchen (www.jukinetz.de) im
Zusammenwirken mit der katholischen Arbeitsstelle afj, der evangelischen Jugend aej und dem
Jugendkirchen-Netzwerk
e.V.
(www.jukis.de), den Begriff innerhalb
der ACK genauer zu fassen, denn
nicht immer ist Jugendkirche drin,
wenn Jugendkirche darauf steht. Bis
es allerdings so weit ist, bis es
vielleicht sogar zu einer Registered
Trademark kommt, ist es noch ein
weiter Weg.
„Ein Bach soll durch die Kirche
fließen!“ – so oder ähnlich äußern
Jugendliche immer wieder eine
Gestaltungsidee für die Jugendkirche.
Wer einmal miterlebt hat, wie solch
ein Projekt ungeahnte Potentiale
freisetzt, Anknüpfungsmöglichkeiten
für breit gestreute Aktionen und
31
Gespräche bietet, Gemeinde lebendig
werden lässt, viele Menschen (nicht
nur junge) in ihren Bann zieht und
auch kirchenferne Jugendliche anspricht, wird „Kirche nicht mehr nur
so weitermachen wollen wie bisher“.
Warum hierbei Zielgruppenangebote
speziell für Jugendliche nötig sind,
hat der aej-Vorsitzende Rolf Ulmer in
seinem Buch „one of us“ ein-leuchtend an einem Beispiel erklärt: Die
Seniorentanzgruppe und jugendliche
Tänzer treffen sich, die Jugendlichen
laden die Senioren in ihre TechnoDisco ein, damit sie dort mitfeiern
und tanzen können – das funktioniert
höchstens fünf Minuten lang und
danach geht jeder wieder seines
Weges: Trotz gleichem Hobby
(„tanzen“) haben wir es hier mit zwei
völlig unterschiedliche Lebenswelten
zu tun, die unterschiedliche Räume,
Ambiente, Beleuchtung, Uhrzeit,
Musikstil etc. erfordern.
Oft fürchten Gemeinden, in deren
Nähe eine Jugendkirche entsteht,
dass ihre „letzten Jugendlichen abgesaugt“ werden. Nach sechs Jahren
Erfahrung im Jugendkirchen-Betrieb
kann man aber Entwarnung geben, es
passiert nicht, sondern es entstehen
im Gegenteil neue und zusätzliche
Chancen, um Jugendliche zu halten.
Nicht jede zweite Kirche muss zur
Jugendkirche umgestaltet werden
und vieles vom Wirkprinzip einer
Jugendkirche kann man sich für die
normale Gemeindejugendarbeit „abschneiden“. Sinnvoll wäre allerdings
die Einrichtung von einer Jugendkirche je Region im Umkreis von 25
km, damit alle interessierten Jugendlichen zwei Mal im Monat die Chance
hätte, sie zu besuchen, so zumindest
die Vision unseres JugendkirchenNetzwerk e.V.
– denn, so das
Statement von Konstantin (Jugendlicher): „Sie soll ein Ort sein, wo
Kirche lebendig sein kann, wo Kirche
von Jugendlichen für Jugendliche
gestaltet wird, Jugendliche, die sich
der großen Tradition ihrer Kirche
bewusst sind, aber die sie einfach
notfalls mit einem kleinen Tritt ins 21.
Jahrhundert versetzen wollen und
dort einfach auch die wieder
ansprechen können, die vielleicht ein
bisschen den Faden verloren haben.“
Zum Autor:
Willi Schönauer, Bj. 59, Architekt,
Kulturmanager, Projektberater und
Geschäftsführer beim JugendkirchenNetzwerk e.V. (Sitz: Schlossstr. 7,
76456 Kuppenheim bei BadenBaden), Aufbau der JugendkirchenInternet-Portale
www.jugendkirchen.org, www.jukis.
org,
Mitorganisator
des
Jugendkirchen-Symposiums
„Innovation Jugendkirche 2005“,
Mitautor
des
Standardwerks
„Innovation Jugendkirche“, Mitarbeit
am Jugendkirchen-Symposium 2007
in Wien, zuvor 2 Jahre befristete
Projektleitung Jugend-Kultur-Kirche
Frankfurt/M, davor 20 Jahre JugendKulturmanagement,
Projektleitung
und -beratung, katholisch/ökumenisch, 2 Töchter (im relevanten
Zielgruppenalter);
mail:
[email protected].
Heft 6 - 2007
32
Zum Weiterlesen:
Katrin Fauser, Arthur Fischer,
Richard Münchmeier: "Jugend im
Verband", Teil 1: Jugendliche als
Akteure im Verband. Ergebnisse
einer empirischen Untersuchung der
Evangelischen Jugend, Opladen 2006.
Caroline Hopf / Alexandra von Streit:
"Jugend im Verband", Teil 2: "Man
muss es selbst erlebt haben ...".
Biografische Porträts Jugendlicher
aus der Evangelischen Jugend,
Opladen 2006.
Mike Corsa (Hg.): "Jugend im
Verband", Teil 3: Praxisentwicklung
im Jugendverband.
Prozesse
–
Projekte – Module, Opladen 2007.
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Michael Freitag / Christian Scharnberg (Hg.): Innovation Jugendkirche.
Konzepte und Know-how, Hannover
2006.
MDG (Hg.): "Religiöse und kirchliche
Orientierungen in den Sinus-Milieus
2005", München 2006 (MDG MedienDienstleistung
GmbH,
Postfach
201417, 80014 München).
Rolf Ulmer (Hg.): One of us. Jugendgottesdienst
und
Jugendkirche,
Stuttgart 2004.
Ruth Würfel: Jugendkirche und
Schule, in: Bernd Schröder (Hg.):
Religion im Schulleben. Christliche
Präsenz nicht allein im Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn 2006,
123-128.
33
WOLFGANG BIEHL:
DAS DIAKONISCHE ZENTRUM
GEBRAUCHTWARENKAUFHAUS“
IN DER
1.
Die „Diakonisches Werk an der Saar
gGMBH“ (DWSAAR) ist eine Gesellschaft der evangelischen Kirchenkreise Ottweiler, Saarbrücken und Völklingen und zugleich der evangelische
Wohlfahrtsverband an der Saar. Das
DWSAAR bietet in rund 100 Einrichtungen im ganzen Saarland Menschen Hilfe, Beratung und Begleitung
in allen persönlichen und sozialen
Notlagen an. Daneben werden gefährdete und benachteiligte Kinder
und Jugendliche in den Einrichtungen des Jugendhilfeverbundes und
der Jugendberufshilfe betreut, begleitet und ausgebildet. Alte und pflegebedürftige Menschen sowie ihre Angehörigen erfahren Beratung und
Unter-stützung. Als kirchliche Einrichtung ist das DWSAAR Partner
evangelischer Kirchengemeinden im
Saarland
bei
sozialen
Fragestellungen.
Seit mittlerweile 11 Jahren ist das
DWSAAR mit verschiedenen Einrichtungen in der Alten Kirche am St.
Johanner Markt vertreten. Damit werden die ehemaligen Gemeinderäume
unter dem Gottesdienstraum anders
als bis dato genutzt – nämlich für diakonische Zwecke.
Das Diakonische Zentrum – so lautet
der Name der Einrichtung – führt
unter seinem Dach verschiedene Arbeitsgebiete zusammen, die in der
ALTEN KIRCHE ST. JOHANN – „PROJEKT:
jeweiligen Klammer im Text holzschnittartig beschrieben werden:
• eine Clearingstelle, in der in enger Anbindung an Kirchengemeinden soziale Hilfsanfragen sortiert und die zuständige Beratungsstelle eingeschaltet wird,
• eine Sozialberatung für sozial
schwache Personen mit all ihren
Problemen
(Unterstützung bei Antragstellungen
an die Ämter, Führen von
Postadressen für Menschen
ohne Wohnsitz, allgemeine soziale Fragestellungen),
• eine Kurvermittlung, die das
Diakonische Werk an der Saar
gemeinsam mit dem Saarverband der Frauenhilfe betreibt
(Vermittlung insbesondere von
Mutter-Kind-Kuren im Rahmen
des
Müttergenesungswerks, Beratung in Widerspruchsverfahren,
Kurnachsorge zur Prolongierung
des Kureffektes, Gesprächsgruppen und Infoangebote)
• eine Fachberatungsstelle für
wohnungslose Menschen (Hilfe bei der Wiedereingliederung in die „gesellschaftliche
Normalität“,
Unterstützung bei Wohnungssuche
und Unterlagenbeschaffung)
• eine Kleiderkammer (Abgabe
von gebrauchten Kleidern und
Heft 6 - 2007
34
•
•
•
kleineren Hausratsgegenständen an arme Menschen)
eine aufsuchende Arbeit speziell
für Wohnungslose (Besuche
von Wohnungslosen „auf Platte“ in Saarbrücken, Hilfsangebote zur Verbesserung
der Situation dieser Menschen)
eine Praxis für Wohnungslose
zur medizinischen Grundversorgung in Kooperation mit
der Kassenärztlichen Vereinigung (feste medizinische
Sprechzeiten von Ärzten in der
Alten Kirche St. Johann, Angebote zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation von
Wohnungslosen „auf Platte“)
eine Beratungsstelle, in der Hilfen zum selbstbestimmten Leben und Wohnen für erwachsene seelisch behinderte
Menschen angeboten werden
(„Sozialbeistandschaften“)
Neben diesen Angeboten hat in der
Alten Kirche St. Johann auch der
Betreuungsverein für Saarbrücken
und Umgebung e.V. seine Geschäftsstelle, ein Verein, der Mitglied im Diakonischen Werk ist und eng verzahnt mit den anderen Angeboten
des DWSAAR arbeitet.
2.
Warum nun ein solcher diakonischer
Schwerpunkt mitten in Saarbrücken?
Man kann in Abänderung eines bekannten Wortes sicherlich sagen
„wenn nicht dort, wo denn sonst?“.
Neben dem eher profanen Argument
der guten Erreichbarkeit über Nahverkehrsmittel ist Saarbrücken selbst
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
als Landeshauptstadt schon seit langem zu einem Brennglas der sozialen
Probleme im Saarland geworden.
Hier treffen sich im Herzen von Saarbrücken arme Men-schen, Randständige, Geschäftsleute und ihre Kunden
und „Otto Normal-verbraucher“ auf
relativ engem Raum. Soziale Probleme bündeln sich. Diakonische Kompetenz ist gefragt. Dabei spielt insbesondere die Armutsproblematik in
Saarbrücken eine große Rolle.
Dazu einige Anmerkungen: Der Wissenschaftler Professor Roland Merten
von der Universität Jena hat in verschiedenen Veranstaltungen der Diakonie im Jahr 2006 erstmalig Zahlen
über das Ausmaß insbesondere der
Kinderarmut im Saarland vorgelegt.
Aufgrund seiner empirischen Berechnungen kann man davon ausgehen, dass im Saarland jedes 7. Kind
unter Bedingungen strenger Armut
aufwächst. In seinen Ausführungen
zum Thema Kinderarmut im Saarland mit dem Titel „Kinderarmut im
Saarland – Ausmaß und Auswege“
benennt er die Zahl von 24.083 von
Kindern bis zum vollendeten 15. Lebensjahr im Saarland, die auf dem
Sicherungsniveau des soziokulturellen Existenzminimums stehen. „Das
bedeutet einen
Zuwachs vom
31.12.2004 bis zum Juli 2006 um insgesamt 43,2 %!“ (Quelle: Roland Merten: „Kinderarmut im Saarland –
Ausmaß und Auswege“, Vortrag Dezember 2006, Seite 5).
Sicherlich konzentriert sich die Armutsproblematik auf bestimmte Orte
im Saarland und Quartiere in der
Landeshauptstadt – aber auch dort
hat das „Diakonische Werk an der
35
Saar“ verschiedene Einrichtungen
wie beispielsweise die Gemeinwesenprojekte in Malstatt, Bur-bach und
Brebach und das Stadtteilbüro in
Neunkirchen.
Auch wenn es Sachverständige und
Politiker gibt, die der Meinung sind,
Armut sei ein „großer Glanz von innen“, so darf nicht übersehen werden, dass Armut auf die Lebenssituation in der Familie sowie das
Eingebundensein in Dorf und Quartier gravierende Auswirkungen hat.
Das beginnt damit, dass Vereinsbeiträge nicht bezahlt werden können, Kinder nicht an Konfirmandenfreizeiten teilnehmen können, es an der Witterung angemessener Kleidern fehlt und die Ernährung unzureichend ist. In bestimmten Saarbrücker Stadtteilen
kann es passieren, dass Kinder auch
im strengen Winter keine geeigneten
Schuhe tragen.
Armut kann aber auch den gesellschaftlichen und kulturellen Horizont
sehr einschränken („ich wusste nicht,
dass durch Saarbrücken ein Fluss
fließt“), da wenige Mitwirkungsmöglichkeiten existieren. Es wird in
der Arbeit der Mitarbeitenden in den
Kinderarmutsprojekten, in der Sozialberatung, in den Beratungsstellen
bis hin zu der Kurvermittlung deutlich, welche Problemstellungen bestehen. Die Kolleginnen und Kollegen
sprechen oft von einer tickenden „sozialen Zeitbombe“ für Demokratie
und Gesellschaft, die sie in der Armutsproblematik wahrnehmen.
So findet man beispielsweise im Jahresbericht 2006 der Evangelischen
Beratungsstelle für Erziehungs-, Ehe-
und Lebensfragen geschrieben: „Bei
uns ist Armut meist ein Stigma, wodurch die Betroffenen ausgegrenzt
werden. Doch Armut ist viel mehr,
als nur wenig Geld zu haben. Arme
Kinder leben auf einem Einkommensniveau, das sie vom Alltag Gleichaltriger ausschließt. Es gibt keinen
Musikunterricht, keinen Sportverein,
keinen Schwimmbadbesuch usw. Da
sie nicht mit anderen Kindern mithalten können, sind sie oft sozial isoliert, sind häufig krank und leben in
beengten Wohnverhältnissen in vernachlässigten Stadtteilen mit mangelnden sozialen Angeboten. Wegen
schlechter Bildungschancen kommen
Kinder aus armen Familien nur
schwer aus dem Armutskreislauf
heraus. Bereits im Kleinkindalter zeigen sich viele Erziehungsdefizite. Die
Wissenschaft weist wiederholt auf die
Weichen stellende Bedeutung der
ersten Lebensjahre und die Wichtigkeit früher Hilfen hin.“
Kinderarmut gefährdet das Kindeswohl – und damit greift die UNKinderrechtskonvention. Deren Leitbegriff „best interest of the child“
wird durch Kinderarmut mit Füßen
ge-treten. In der UN-Kinderrechtskonvention sind Kinderrechte beschrieben, die auch ausdrücklich von
der deutschen Regierung ratifiziert
wurden. Dabei gehören zu den
Grundbedürfnissen von Kindern und
Jugendlichen unter anderem Nahrung, Schutz und Pflege, intellektuelle Anregung und Hilfe beim Verstehen der Innen- und Außenwelt.
Durch das Zulassen von Kinderarmut
im von Professor Merten beschriebenen Umfang verstößt unsere GeHeft 6 - 2007
36
sellschaft permanent gegen diese UNKinderrechtskonvention.
3.
Aber kommen wir zurück zum Diakonischen Zentrum in der Alten Kirche. Hier wird Armut tagtäglich
wahrgenommen und Hilfeleistungen
angeboten.
So wurde die Kleiderkammer im Keller der Alten Kirche St. Johann im
Jahr 2006 ca. 2.116 mal von insgesamt
1.287 Personen aufgesucht – davon
386 Kinder, das sind fast ein Drittel.
Im Jahr 2006 wurden von der Kleiderkammer 54 Tonnen Textilien gesammelt. Nach Aussortierung von
Müll und nicht nutzbarer Kleidung
konnten 6 Tonnen an Kleidung an
Bedürftige weitergegeben werden.
Weiterhin wurden 9,3 Tonnen Hausrat weitergegeben. 80 % der „Nutzer“
der Kleiderkammer waren Bezieher
von sozialen Transferleistungen –
konkret Arbeitslosengeld II. „In besonderem Maße wird die Kleiderkammer von Wohnungslosen, Migranten und Familien mit Kindern in
Anspruch genommen.“ (Quelle: Jahresbericht 2006 der Kleiderkammer
im Diakonischen Zentrum Saarbrücken, Saarbrücken März 2007).
Um die „Angebotspalette“ für arme
und sozial schwache Menschen zu
komplettieren, soll an dieser Stelle
noch gesagt werden, dass es im Saarland mittlerweile 9 „Tafeln“ gibt, in
denen an bedürftige Menschen Lebensmittel weiter gegeben werden.
Das „Diakonische Werk an der Saar“
ist im Saarland an dreien dieser Tafeln als Träger oder Mitträger beteiligt.
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Aus den Zahlen zu der Kleiderkammer in der Alten Kirche St. Johann
kann man leicht ablesen, dass die
Räumlichkeiten und die Lagerressourcen an ihre Kapazitätsgrenzen
gestoßen sind.
Derzeit sucht man nach Möglichkeiten, in Saarbrücken-Stadtmitte
eine größere Kleiderkammer für soziale Zwecke einzurichten. Dazu ist die
Idee der St. Johanner Börse entstanden, in der gebrauchte Kleidung und
kleinere Haushaltsgegenstände an
arme und bedürftige Personen abgegeben werden. In dieser St. Johanner
Börse werden die Kleiderabgabe –
kombiniert mit einer professionellen
Sozialberatung – auf dem Hintergrund der Erfahrung, dass es in der
Regel nicht nur an Kleidung mangelt.
Das Angebot soll leben aus der Kombination von direkter Hilfe und Unterstützung und Verbindung mit den
pro-fessionellen Beratungsangeboten
des „Diakonischen Werkes an der
Saar“ in den unterschiedlichsten Bereichen. Der Standort und die Umsetzungsmöglichkeiten für eine St.
Johanner Börse in Saarbrückenzentral werden derzeit geprüft. Ziel
ist, an einem identifizierbaren Standort in der City verschiedene Aufgaben zu bündeln:
Menschen in sozialen und persönlichen Notlagen Hilfe gewähren, Bürger und Bürgerinnen mit sozialer Arbeit in evangelischer Verantwortung
vertraut machen und soziales Lernen
zu ermöglichen und präsent sein angesichts der sozialen Fragestellungen
in der Landeshauptstadt Saarbrücken. Damit ist die Arbeit des „Diakonischen Werkes an der Saar“ in das
37
Konzept der überparorchialen Stadtkirchenarbeit in Saarbrücken eingebunden.
4.
Ansprechpartner für die Arbeit der
Einrichtungen im Diakonischen Zentrum in der Alten Kirche St. Johann
sind:
Birgit Metzger (Kurvermittlung)
Martin Kunz (Sozialberatung, Fachberatungsstelle, medizinische Praxis
und Kleiderkammer)
Thomas Braun (aufsuchende Arbeit)
Gabriele Serf-Glitt (Sozialbeistandschaften)
Erreichbar unter der Sekretariatstelefonnummer 0681/38983-30, unter
der Mail-Adresse [email protected] und
unter folgender Postadresse:
Diakonisches Zentrum Saarbrücken
Ev. Kirch-Strasse 29
66111 Saarbrücken
Der Betreuungsverein ist mit Herrn
Thiele und Herrn Schneider unter der
Telefonnummer 0681/38983-33/34 zu
erreichen oder unter der Mail-Adresse [email protected].
Für Fragen zum Diakonischen Werk
an der Saar allgemein stehen gerne
die Mitglieder der Geschäftsführung
zur Verfügung: Pfr. Udo Blank,
Wolfgang Biehl und Walter Schneider.
Sie sind am besten erreichbar über
die Sekretariate Frau Timm, Frau
Löhr und Frau Lorenz unter den Telefonnummern 06821/956-207 oder 204 oder -121. Die Mail-Adresse lautet [email protected].
Zum Autor:
Wolfgang Biehl,
stellvertretender
Geschäftsführung
gGMBH
Mitglied und
Sprecher
der
der DWSAAR
Als Sekretärin und Gesprächsvermittlerin
begrüßt
Sie
Frau
Wrublewsky.
Heft 6 - 2007
38
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
39
KREISSYNODE DES KIRCHENKREISES SAARBRÜCKEN:
ÜBERPAROCHIALE STADTKIRCHENARBEIT IN SAARBRÜCKEN – EIN KONZEPT
Den folgenden konzeptionellen Überlegungen liegen – durchaus kontroverse – Diskussionen einer Arbeitsgruppe zugrunde, die von der Kreissynode
des
Kirchenkreises
Saarbrücken am 18./19.11.2005 zu
diesem Zweck eingerichtet wurde.
Ihr gehörten Vertreter/innen der drei
innen-städtischen Parochien sowie
des Kreissynodalvorstands und Repräsentant/inn/en
verschiedener
funktionaler Dienste an.
Unsere Analyse
Im Herzen der Stadt Saarbrücken gibt
es ein breites Spektrum evangelischkirchlicher Aktivitäten. Die drei
evangelischen Kirchengemeinden am
Ort bieten über die parochiale
Grundversorgung ihrer Mitglieder
hinaus jeweils besondere innergemeindliche wie öffentlichkeitswirksame
Aktivitäten
(z.B.
die
kirchenmusikalischen und kirchraumpädagogischen Angebote in der
Stiftskirche und in der Ludwigskirche
und die Angebote des Projekts
Johanneskirche). Andere funktionale
Dienste – von den Religionslehrenden
in den verschiedenen Schulformen
bis zur Hochzeitsmesse, von der
Kircheneintrittsstelle bis zur Telefonseelsorge, vom Diakonischen Werk
bis zur Erwachsenenbildung – erreichen eine Vielzahl von Menschen
mit ihrer Arbeit.
In Anknüpfung daran sollten sich Gemeinden und Dienste nach unserer
Auffassung in Zukunft verstärkt
bemühen,
- Menschen anzusprechen, die
zu Parochien keinen Zugang
finden, aber gleichwohl spirituelle Angebote suchen, und
programmatisch Schwerpunkte
aufzubauen, die sich eigens an
alle Christinnen und Christen
bzw. an alle Bürgerinnen und
Bürger richten und missionarische Wirkung entfalten können,
- die jeweils eigenen Aktivitäten
durch die Angebote anderer
Stadtgemeinden und nicht parochialer Dienste entlasten bzw.
ergänzen zu lassen, so das je eigene Profil zu schärfen und
zugleich
das
Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen
den verschiedenen Gemeinden
und Diensten zu stärken,
- in der Öffentlichkeit erkennbar zu machen, dass in Gestalt
von Gemeinden und funktionalen Diensten eine Evangelische Kirche in Saarbrücken
wirksam ist, nicht etwa unverbundene oder gar konkurrierende Einzelinstitutionen.
Angesichts der aktuellen und strukturellen Veränderungen (nicht nur)
im Evangelischen Kirchenkreis Saarbrücken – Rückgang der Mitgliederzahlen und der Kirchensteuereinnahmen – scheinen uns gerade
diese drei Richtungsentscheide von
wegweisender Bedeutung zu sein,
Heft 6 - 2007
40
um die Strahlkraft der kirchlichen
Tätigkeiten zu erhöhen.
Unter den Arbeitsfeldern der Kirche
in Saarbrücken bedürfen derzeit nach
unserem Eindruck – aus unterschiedlichen Gründen – insbesondere drei
verstärkter Aufmerksamkeit und Förderung: „Jugendarbeit", „Kirche für
Distanzierte und Einsteiger" (mit dem
Schwerpunkt Gottesdienst) sowie
„Beratung und Hilfe".
Unsere Perspektive
Grundlage unserer Einschätzung der
gegenwärtigen kirchlichen Arbeit
sind folgende gemeinsame Überzeugungen:
- Die strukturelle Krise der evangelischen Kirche ist als
Anlass und Chance zu einer
kritischen Revision bisheriger
Arbeit zu begreifen.
- Biblische Impulse zum Leben
der Gemeinden und theologische Einsichten sprechen
nicht gegen Veränderungen im
kirchlichen Leben, sondern
begründen sie – exemplarisch
sei auf die Jahreslosung 2007
hingewiesen „Gott spricht:
Siehe, ich will ein Neues
schaffen, jetzt wächst es auf,
erkennt ihr's denn nicht?" (Jes
43,19a)
- Die Menschen, die in der
evangelischen Kirche Mitglied
sind und in ihr arbeiten,
müssen und können mit ihren
Ideen und Fähigkeiten neue
Wege erkennen und gehen, um
die beflügelnde Kraft des
Evangeliums erkennbar werden zu lassen und „von Gott
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Gutes zu sagen" (Kirche der
Freiheit. Ein Impulspapier des
Rates der EKD, Hannover 2006,
77; s.www.ekd.de/download/
kirche-der-freiheit.pdf).
Unser Vorschlag
1. In den nächsten fünf Jahren richten
sich die Anstrengungen der drei
Gemeinden im Stadtzentrum und der
dortigen überparochialen Dienste darauf, die drei oben genannten Richtungsentscheide in ihrer Arbeit zu
verwirklichen und die drei markierten Arbeitsfelder öffentlichkeitswirksam zu profilieren.
2. Für evangelische „Jugendarbeit"
wird ein kirchlicher Standort in der
Innenstadt als „Jugendkirche" gestaltet. Dringende Aufgabe ist es hier,
- ein Spektrum übergemeindlicher jugendspezifischer Gottesdienste und „events" anzubieten,
- Angebote im Blick insbesondere auf die große Zahl der
Schüler/innen weiterführender
allgemeiner und berufsbildender Schulen zu entwickeln,
- innerhalb des Kirchenkreises
und seiner Gemeinden der Einsicht Gehör und Geltung, zu
verschaffen, dass die Kirche
ohne attraktive Kinder- und
Jugendarbeit keine Zukunft
hat.
Mit der Entwicklung eines detaillierten, realisierbaren Konzepts wird
das Evangelische Jugendwerk betraut; es soll bis Ende 2007 entwickelt
sein und dann unverzüglich implementiert werden.
41
3. Die Angebote der „Kirche für
Distanzierte und Einsteiger" werden
primär am Standort „Johanneskirche"
ausgebaut und ergänzt:
- Fortgeschrieben werden die
kulturbezogenen
und
experimentellen Arbeitsformen,
- vervielfältigt werden muss das
gottesdienstliche Angebot für
diese Zielgruppen,
- hinzukommen sollen missionarische Arbeitsformen, die
nicht zuletzt auf die Gewinnung von Unterstützern dieser
Arbeit zielen.
4. Im Arbeitsbereich „Beratung und
Hilfe" sollen an einem identifizierbaren Standort in der City, vorzugsweise in der „Alten Kirche", drei
zentrale Aufgaben wahrgenommen
werden:
- Menschen in sozialen und
persönlichen Notlagen Hilfe
gewähren,
- Bürger/innen,
insbesondere
Schüler/innen (!), mit sozialer
Arbeit in evangelischer Verantwortung vertraut machen und
soziales
Lernen
zu
ermöglichen,
- Stellung zu sozialen Fragen in
der Stadt beziehen.
Das Diakonische Werk betreibt bereits seit vielen Jahren das Diakonische Zentrum „Alte Kirche“ und
ist dabei, dieses weiter auszubauen.
Das Diakonische Werk wird gebeten,
das Diakonische Zentrum „Alte
Kirche“ als Teil des Konzepts überparochialer Stadtkirchenarbeit in
Saarbrücken zu verstehen.
5. Der Kirchenkreis befürwortet die
Einrichtung einer Stelle für Stadtkirchenarbeit, deren Umfang, Finanzierung und Personalisierung noch
zu klären ist. Diese Stelle dient
ausschließlich dazu, Stadtkirchenarbeit und Aufbauarbeit im Sinn des
Konzepts zu betreiben, vorhandene
Angebote zu koordinieren, und die
Profilierung einer evangelischen Kirche im Stadtzentrum Saarbrückens
voranzutreiben.
Auch die Sondierung alternativer
Finanzierungsmöglichkeiten gehört
zu den Aufgaben der Stelleninhaberin/des Stelleninhabers. Binnen
fünf Jahren soll ein Förderkreis für
diese Arbeit aufgebaut werden, der
möglichst auch alternative Finanzierungsmöglichkeiten für diese Stelle
realisiert.
Diese Pfarrstelle ist gegenüber dem
KSV weisungsgebunden.
Anmerkung:
Das Presbyterium der Ev. Kirchengemeinde St. Johann beabsichtigt,
eine Pfarrstelle mit 50 % Dienstumfang für die Angebote im Projekt
City-Kirche zu besetzen.
6. Um die Zusammengehörigkeit
dieser Säulen für die Öffentlichkeit
durchsichtig zu machen, bedarf es
dringend identifizierbarer Kommunikationsformen: etwa Beschilderungen der Einrichtungen mit einem
einheitlichen Logo, ein durchdachter,
aktueller Internetauftritt, ein gemeinsamer Flyer der Stadtkirchenarbeit,
Monatsprogramme u.ä.
Weitere Arbeitsfelder wie z. B. „Erwachsenenbildung" können und
Heft 6 - 2007
42
sollen in die Öffentlichkeitsarbeit einbezogen werden. Die Federführung
dafür liegt bei der Inhaberin/dem
Inhaber der Stadtkirchenpfarrstelle;
der Öffentlichkeitsbeauftragte des
Kirchenkreises wird von Beginn an
einbezogen.
7. Um die Öffentlichkeitsarbeit, die
Vernetzung und Koordination der
Stadtkirchenarbeit und die Realisierung dieses Konzepts voranzutreiben,
bilden die beteiligten Werke, funktionalen Dienste und Parochien sowie
Vertreter/innen des KSV einen Stadtkirchenausschuss, der dem KSV rechenschaftspflichtig ist, seine Arbeit
in Sitzungsprotokollen dokumentiert
und nach fünf Jahren einen Erfahrungsbericht an die Kreissynode
richtet.
Dieser Ausschuss tritt an die Stelle
der Arbeitsgruppe, die dieses Konzept vorlegt, sowie an die Stelle des
Citykirchenausschusses des Ev. Kirchenkreises Saarbrücken.
Ziel dieses Konzeptes ist es nicht, in
parochiale
Arbeit
einzugreifen,
sondern Ziel ist es, über diese Arbeit
hinaus koordinierte Angebote an
Menschen in Distanz zu oder außerhalb von Parochien zu richten. Dabei
sollen alle Mitarbeitenden auf eine
- identifizierbare,
- einladende,
- über ihren Glauben wie ihr
Konzept auskunftsfähige
evangelische Kirche in der Stadt Saarbrücken hinwirken. Wir sind davon
überzeugt, dass eine solche überparochiale Stadtkirchenarbeit für die
Gemeinden im Stadtzentrum kein
Schade, sondern eine Bereicherung
ist.
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
Unser Verfahrensvorschlag
Die Kreissynode befürwortet grundsätzlich die in diesem Konzeptionspapier aufgeführten Richtungsentscheidungen.
Die Kreissynode beauftragt den KSV,
einen Vorschlag zu erarbeiten, in
welchem Umfang und mit welchen
Qualifikationen und Kompetenzen
eine Stadtkirchenarbeit nach dem
vorgestellten Konzept personell ausgestattet werden müsste und einen
Vorschlag zur Finanzierung vorzulegen.
Sie beauftragt den KSV mit der
Einberufung und Beauftragung des
Stadtkirchenausschusses und mit der
Herstellung des Einvernehmens mit
dem Kreissynodalvorstand des Kirchenkreises Völklingen über dieses
Vorgehen.
Sie bittet das Diakonische Werk, die
Arbeit des Diakonisches Zentrums
„Alte Kirche“ mit dem Konzept einer
Stadtkirchenarbeit in der Innenstadt
Saarbrückens zu vernetzen (sowie
um Mitwirkung in dem o.g. Ausschuss).
Sie bittet das Ev. Jugendwerk an der
Saar um Konzipierung und Implementierung einer Jugendkirche
(sowie um Mitwirkung in dem o. g .
Ausschuss).
Der KSV berichtet der Herbstsynode
2007 über den Stand der Dinge in
Bezug auf die Stadtkirchenarbeit.
Anm. (B.S.): Dieses Konzept wurde
von der Synode des evangelischen
Kirchenkreises Saarbrücken am 23.
Juni 2007 verabschiedet
43
BERND SCHRÖDER:
NACHWORT , ODER: STADTKIRCHENARBEIT UND RELIGIONSUNTERRICHT
Was haben Beiträge zur „Stadtkirchenarbeit“ in „Religionspädagogischen Heften“ zu suchen? Auf den
ersten Blick nichts, auf den zweiten
Blick nicht wenig.
Stadtkirchenarbeit bietet, wenn sie
gut gelingt, die vielerorts vermissten
und lang ersehnten Anschauungsbeispiele oder, besser noch: Erfahrungsräume für eine Kirche, die so
ist, wie (viele) junge Menschen sie
suchen. Junge Menschen, das sind
junge Erwachsene und Jugendliche,
die in der Regel einen großen Teil
ihrer Zeit in Schulen zubringen –
wenn nicht in allgemeinbildenden,
dann in beruflichen Schulen. Sie haben meist ihre Kirchengemeinde vor
Augen, wenn sie von „der Kirche“
reden, oder öffentliche Repräsentanten der Kirchen vom Papst bis zur
Pfarrerin oder dem Pfarrer, der ‚dies
und das gemacht oder gesagt hat’ …
Für sie kann gute, gelingende Stadtkirchenarbeit wich-tig werden:
- Sie zeigt als Citykirchenarbeit,
dass christliche Glaube sich
sehr wohl mit modernem Lebensstil, mit Kreativität und
Kunst, mit Ungewohntem und
mit der Erweiterung des eigenen Horizontes vereinbaren
lässt und dass Kirche – im
doppelten Sinne: als Kirchengebäude wie als Gemeinschaft
der Gläubigen – sehr wohl offen und einladend ist für Menschen, die noch unsicher sind,
ob sie Einsichten des christli-
-
-
chen
Glaubens
Vertrauen
schenken können.
Sie zeigt als Diakonisches Zentrum, dass christlicher Glaube
und Hilfeleistung für Menschen, die sich am Rande unserer Gesellschaft befinden,
zusammengehören, dass viele
Menschen diese Hilfeleistung
unterstützen, sei es durch ihre
Mitarbeit, durch Spenden von
Sachen oder Geld, durch Solidaritätsbekundungen und Interesse an den Menschen, die
an diesen Ort kommen. Und
sie zeigt als Diakonisches
Zentrum, dass diese konkrete
Hilfe eines ist; dass daneben
als zweites das Nachdenken
über Gerechtigkeit in den
Strukturen
und
Leitvorstellungen unserer Gesellschaft
steht: Evangelische Kirche
bringt evangelische Perspektiven ein und erhebt im gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihre Stimme – ein
Quellort dafür wird im Diakonischen Zentrum sichtbar.
Sie zeigt als Jugendkirche, dass
christlicher Glaube keineswegs
nur etwas für alte Menschen
(über 35) ist, dass er sehr unterschiedliche
Gestalt
annehmen kann, dass er von den
Menschen lebt und auf je ihre
Weise verwirklicht wird, die
sich ihm anvertrauen, kurz:
dass christlicher Glaube eben
auch „jung“ sein kann.
Heft 6 - 2007
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Natürlich bietet auch Stadtkirchenarbeit keine perfekten Anschauungsbeispiele; auch in Stadtkirchenarbeit
gelingt nicht alles – doch Religionsunterricht kann Schülerinnen
und Schüler an Orte der Stadtkirchenarbeit einladen, er kann Raum
und Zeit zur Verfügung stellen, um
mit Schülerinnen und Schülern hinzugehen und sie eigene Eindrücke
gewinnen zu lassen, er kann in Kooperationsphasen oder Projekten die
eine oder andere Idee selbst realisieren helfen, er kann mit Schülerinnen
und Schülern das reflektieren, was in
Stadtkirchenarbeit geschieht.
Dies letztere ist seine Hauptaufgabe,
denn Religionsunterricht ist Unterricht – er dient der Schulung des
Geistes, er soll Kenntnisse und Denkbewegungen anbahnen, die für den
Umgang mit Religion erforderlich
sind, er will den Schülerinnen und
Schülern den Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit Religion
ermöglichen. Eben dies geschieht am
Lernort „Unterricht“.
Zugleich aber ist Religionsunterricht
nicht neutral – evangelischer Religionsunterricht, seine Lehrerinnen
und Lehrer, sind überzeugt davon,
dass die Deutung des eigenen Lebens
und der Welt im Lichte des Evangeliums dazu verhilft, klarer zu sehen,
besser mit dem Leben zurecht zukommen, die Perspektive auf ein erfülltes Lebens zu gewinnen. Deshalb
verweist er über den Unterricht hinaus auf gelebte christliche Religion,
deshalb lädt er Schülerinnen und
Schüler ein, damit ihre Erfahrungen
zu machen und sich in ihrer Freizeit
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte
oder – unter bestimmten günstigen
Voraussetzungen und unter dem
Vorzeichen der Freiwilligkeit – im
Rahmen von unterrichtlichen Projekten auf die Praxis des Glaubens einzulassen.23 Stadtkirchenarbeit bietet
für beides – für kritische Reflexion
wie für die eigene Erfahrung – gute
Möglichkeiten. Sie bietet Formen
christlichen Glaubens, die für einen
großen Teil jugendlicher Schülerinnen und Schüler interessant und ansprechend wirken.
Was genau im Schnittfeld zwischen
schulischem Religionsunterricht und
Stadtkirchenarbeit möglich ist, hängt
von mancherlei Faktoren ab
- von der Entfernung zwischen Schule und Stadtkirchen,
- von Termin und Qualität der Ange
bote der Stadtkirchenarbeit,
- von der Einstellung der Schüler/innen und Lehrer/innen,
- vom Einvernehmen zwischen Stadtkirchenarbeiter/innen und Teilnehmenden u.a.m.
Doch in jedem Fall ist Stadtkirchenarbeit ein Angebot – Religionsunterricht ist eingeladen, dies Angebot in der Weise zu nutzen, die Schüler/innen und Lehrer/innen angemessen und sinnvoll zu sein schein! Religionslehrer/innen sind eingeladen,
sich zunächst einmal selbst damit
vertraut zu machen, was „Stadtkirchenarbeit“ ist oder sein kann – und
eben dazu soll dieses Heft anregen!
Vgl. dazu die grundsätzlichen (theologischen, pädagogischen, rechtlichen) Überlegungen und die Praxisbeispiele in Bernd
Schröder (Hg.): Religion im Schulleben,
Neukirchen-Vluyn 2006.
23
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DIE BISHERIGEN SAARBRÜCKER
RELIGIONSPÄDAGOGISCHEN HEFTE
Heft 1 (2006):
Evangelische Bildungskonferenz
Saar: Globalisierung und Bildung –
Auswirkungen in der Region
Heft 2 (2006):
Martin Stöhr: Abrahamische
Ökumene –Leitbild für Theologie
und Religionsunterricht?
Heft 3 (2006):
Bernhard Dressler: Religiöse Bildung
in der Schule „nach PISA“ – warum
und wozu?
Heft 4 (2007):
Konfessionen und Religionsgemeinschaften im Saarland – Selbstdarstellungen
Heft 5 (2007):
Werkstatt RU – Rainer Lachmann: 40
Jahre religionspädagogische Mittäterschaft
Heft 6 - 2007
Saarbrücker Religionspädagogische Hefte 6
UNIVERSITÄT
DES
SAARLANDES
Fachrichtung Evangelische Theologie
Zu den Saarbrücker Religionspädagogischen Heften
Seit dem Jahr 2006 gibt die Fachrichtung Evangelische Theologie der Universität
des Saarlandes die „Saarbrücker Religionspädagogischen Hefte“ heraus.
In lockerer Folge werden darin
l theologische bzw. religionspädagogische Vorträge oder Aufsätze,
l Dokumentationen,
l Unterrichtsentwürfe und -materialien für den evangelischen Religionsunterricht
veröffentlicht.
Es handelt sich um Beiträge, von denen wir meinen, dass sie für Religionslehrerinnen und -lehrer sowie alle Anderen, die insbesondere im Saarland an
Fragen evangelischer Bildungsverantwortung interessiert sind, aufschlussreich
und anregend sein können.
Um die Hefte zu einem anregenden Forum zu gestalten, laden wir Religionslehrerinnen und -lehrer aller Schulformen, Theologinnen und Theologen und
andere religionspädagogisch Aktive ein, uns eigene Arbeiten, die zur Wahrnehmung von Bildungsverantwortung aus evangelischer Perspektive beitragen
können, zur Veröffentlichung zuzusenden.
Vor der Veröffentlichung behalten wir uns allerdings eine Prüfung vor.
Die Hefte sind gegen eine Schutzgebühr (Selbstkostenpreis) im Sekretariat
unserer Fachrichtung (0681/302-4376 oder -2349) erhältlich; sie stehen unter
www.uni-saarland.de/EvangelischeTheologie zum kostenlosen Download zur
Verfügung.
Verantwortlich für die Herausgabe und im Sinne des Presserechts:
Professor Dr. Bernd Schröder
Universität des Saarlandes
Fachrichtung Evangelische Theologie
Postfach 15 11 50
66041 Saarbrücken
0681/ 302-2949
[email protected]
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