IV. ZEIT DER GASMORDE 1. Verschiebung der Machtverhältnisse
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IV. ZEIT DER GASMORDE 1. Verschiebung der Machtverhältnisse
332 IV. ZEIT DER GASMORDE 1. Verschiebung der Machtverhältnisse a) Provinzialidentität versus Reichsgaumodell Im Januar 1940 begannen im Deutschen Reich die seit 1939 konkret vorbereiteten systematischen Morde an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in Gaskammern: die groß angelegte (später so genannte) „Aktion T4“.1 Allerdings wurde diese „Euthanasie“-Aktion nicht im gesamten Reichsgebiet gleichzeitig, sondern zeitversetzt in den verschiedenen Ländern und Provinzen in die Wege geleitet und umgesetzt. Die Agenda des Bezirksverbandes Nassau, in dessen Bereich mit den Morden im Januar 1941 begonnen wurde, war Ende 1939 und während des gesamten Jahres 1940 von einem gänzlich anderen Thema beherrscht: von den Plänen des Landeshauptmanns Traupel zur Vereinigung der beiden von ihm geleiteten Bezirksverbände („Nassau“/Wiesbaden und „Hessen“/Kassel) in einem Provinzialverband der Provinz Hessen-Nassau, wogegen der Frankfurter Gauleiter Sprenger aufs Heftigste opponierte, was zu einem erbitterten Machtkampf zwischen diesen beiden Exponenten des „Dritten Reiches“ in der Region führte.2 Der Ausgang dieses Machtkampfes zugunsten des Gauleiters und zuungunsten des Landeshauptmanns, welcher in der Folge weitgehend von der Bildfläche verschwand, sollte entscheidende Auswirkungen auch auf die Binnenmachtverhältnisse in den – schließlich weiter bestehenden – beiden Bezirksverbänden haben. Dieses Resultat der Auseinandersetzungen zwischen Traupel und Sprenger schuf auch die Grundlage dafür, dass die beiden Bezirksverbände sich im Hinblick auf die „Euthanasie“-Verbrechen deutlich unterschieden: In dem einen Verband (nämlich im Bezirksverband Nassau) mit seinem nun unumschränkt waltenden Anstaltsdezernenten Bernotat wurden die Krankenmorde wesentlich extensiver betrieben als im Reichsdurchschnitt, während dies für den anderen (den Bezirksverband Hessen) ohne derart engagierte „Euthanasie“befürworter in zentraler Position nicht zutraf. Dies lässt es angebracht erscheinen, die Voraussetzungen und den Verlauf des Machtkampfes Traupel – Sprenger sowie die damit verbundenen unterschiedlichen Vorstellungen einer territorialen Neugliederung des hessisch/hessisch-nassauischen Raumes einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. Der Ursprung der Querelen zwischen Traupel und Sprenger ist bereits in der zusätzlichen Übernahme des Kasseler Landeshauptmannamtes durch den Wiesbadener Amtsinhaber Traupel im Jahr 1936 – und vor allem in der damit verbundenen Übersiedlung Traupels nach Kassel – zu suchen.3 Die Motive für diesen Wechsel, die sich bislang nicht wirklich ergründen ließen, dürften zumindest auch in einer beginnenden Entfremdung zwischen Traupel und seinem ehemaligen Mentor Sprenger zu suchen sein.4 Traupels Freund SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt5 sah später „die Hauptursache des Zerwürfnisses“ darin, dass Traupel 1936 „aus gewissen damals berechtigten Gründen nach Kassel“ gegangen sei.6 Sprenger wertete diesen Wechsel als eine Unterminierung seiner Macht als Gauleiter, da der von Traupel gewählte Dienstsitz Kassel nicht zu Sprengers Gaugebiet Hessen-Nassau zählte. Aus Sprengers Sicht hatte es 1936 keinen sachlichen Grund für Traupels Wechsel gegeben, „da er die beiden Bezirksverbände auch von Wiesbaden hätte führen können.“ Sprenger will Traupel gebeten haben, in Wiesbaden zu bleiben, Traupel aber habe den Wechsel gegen den Willen des Gauleiters vollzogen, was dieser 1 Siehe dazu insb. Kap. IV. 2. u. IV. 3. Die Grundzüge dieser Auseinandersetzung sind ausführlich dargestellt bei Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322– 325; auch bei dems., Führerstaat (1989), S. 219–223; siehe auch Zibell, Sprenger (1998), S. 283–288. 3 Zu Traupels Wechsel zum 01.01.1936 siehe Kap. III. 1. a). 4 Zu Differenzen mit Sprenger wegen Traupels SS-Beitritt 1933 siehe Kap. II. 1. a) u. Kap. II. 2. b). 5 Zu Richard Hildebrandt (1897–1951) siehe biogr. Anhang. 6 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471–2666474, [HSSPF SS-Gruppenführer] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SSOberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666471, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 2 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 333 „ihm nie verzeihen könne.“7 Offenbar hatte Traupel einen Verbleib in Wiesbaden zu keiner Zeit ernsthaft erwogen – im Gegenteil hatte er ursprünglich sogar den Wiesbadener Posten ganz aufgeben wollen. Gemeinsam mit Hildebrandt schmiedete er 1935 den Plan, den damals als Führer des SSAbschnitts XI in Wiesbaden amtierenden Hildebrandt als neuen Landeshauptmann (und damit als seinen Nachfolger) in Wiesbaden zu lancieren. Himmler aber verwarf dieses Vorhaben bereits im Vorfeld: Er war nicht bereit, eine Personalunion der beiden Ämter – des Landeshauptmanns und des SS-Abschnittsleiters – zuzulassen. Hildebrandt gab seinerzeit dem SS-Amt den Vorzug, sodass schließlich Traupel den Posten beim Bezirksverband Nassau (zusätzlich zu seinem neuen Kasseler Amt) beibehielt: Er habe nicht verantworten können, „von dem Amt zurückzutreten, ohne zu wissen, daß es in die Hände eines guten SS-Führers übergehen würde.“8 Nach seinem Antritt als Landeshauptmann in Kassel wuchs bei Traupel mehr und mehr der Sinn für die Gestaltungsspielräume, die ihm seine Position an der Spitze beider Selbstverwaltungsbehörden bot. Mit Blick auf die (während der NS-Zeit allzeit im Raum stehenden) Pläne zu einer grundlegenden „Reichsreform“9 prognostizierte er zum einen, dass die „Selbstverwaltung später einmal die einzige Behörde sein wird“, in der man „Initiative entwickeln und selbstschöpferisch Aufgaben in Angriff nehmen kann“.10 Zum anderen gewann er die Überzeugung, dass der Gau Kurhessen (und entsprechend der Bezirksverband Hessen im Regierungsbezirk Kassel) wegen mangelnder Größe bei einer „Reichsreform“ nicht allein werde fortexistieren können: „Kurhessen allein bleibt zweifellos nicht bestehen und es muß irgendwo hin ein Anschluß erfolgen, der sich natürlicherweise nach dem Süden richten muß.“11 Insofern bezogen sich seine Projekte zur Stärkung einer landschaftlichen Identität auf das Gebiet der gesamten Provinz Hessen-Nassau. Als Renommierprojekt mit Verklammerungsfunktion diente beispielsweise die seit 1936 für die Bezirksverbände Nassau und Hessen gemeinsam zuständige „Abteilung Erb- und Rassenpflege“12, mehr noch aber schien aus Traupels Sicht die Kulturpolitik seiner Verbände geeignet zu sein, von ihrem neuen Standort Marburg aus zu Schaffung und Ausbau einer von der Bevölkerung mitgetragenen Provinzialidentität beizutragen.13 Zum natürlichen Mentor der neuen Traupel’schen Zielrichtung entwickelte sich der Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau, der in Kassel amtierende Philipp Prinz von Hessen,14 der seit 1934 (durch 7 Sprengers Aussagen paraphrasiert in: NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666532 f., hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 8 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666420; vgl. auch ebd., Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666416, beides hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Der Vorschlag, Hildebrandt zum LH zu machen, wurde Himmler von Traupel u. Hildebrandt in Hildebrandts Wiesbadener Wohnung unterbreitet; Ende 1939/Anfang 40 genehmigte Himmler – anders als 1935 – die Übernahme des Amtes des LH in Stettin durch SS-Gruppenführer Mazuw, der dennoch die Führung des SS-Oberabschnitts Ostsee beibehielt; zu Emil Mazuw (* 1900) siehe auch biogr. Anhang. 9 Zu den Plänen einer „Reichsreform“, die während der NS-Zeit nicht diskutiert werden sollten, siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 1. a). 10 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666494 f., LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Hahn/Taunus (11.12.1939), hier Frame 2666494, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 11 Ebd., hier Frame 2666495. – Siehe auch ebd., Frame 2666435 f., LH Traupel, Kassel, an RMdI, Staatssekretär Dr. Stuckart bzw. Ministerialdirektor Surén, Berlin (18.04.1940), Abschr. als Anlage 7 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05. 1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 12 Siehe dazu Kap. III. 2. b). – Die Zusammenfassung war allerdings nur für ca. ein Jahr wirksam. 13 Siehe dazu Kap. II. 3. b). 14 Zu Philipp Prinz (später Landgraf) von Hessen (1896–1980) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: BA, BDCUnterlagen (SA) zu Philipp Prinz von Hessen, Kopie aus SL 167/6/7, Liste der SA-Obergruppenführer; ebd., „Personalfragebogen für die Anlegung der SA-Personalakte“ (20.11.1937); BA, R43 II/660b; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 876– 880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt, vernommen im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947); HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Beiakten Bd. I, Bl. 120 f., Zeugenaussage der Mutter Margarethe Beatrice Landgräfin von Hessen u. Prinzessin von Preußen in der Haftentlassungssache Philipp Prinz von Hessen (15.07.1946); ebd., weitere Dokumente in dieser Spruchkammerakte zu Philipp von Hessen; Frankfurter Zeitung, Jg. 1933, Nr. 374, 1. Morgenblatt (21.05.1933), „Der neue Oberpräsident von Hessen-Nassau“; ebd., Nr. 518, 1. Morgenblatt (15.07.1933), „Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen in den Staatsrat berufen“, beide vorgenannten Zeitungsausschnitte auch in IfStG Ffm, Mag.-A. 334 IV. Zeit der Gasmorde das Oberpräsidentengesetz) nicht nur oberster Repräsentant der staatlichen (ursprünglich preußischen) Verwaltung der Provinz, sondern formal auch Leiter der kommunalen Selbstverwaltungsverbände – der Bezirksverbände in Kassel und Wiesbaden – war.15 Bei Philipp Prinz von Hessen, einem Neffen des letzten Kaisers Wilhelm II., handelte es sich um den künftigen Chef des Adelshauses Hessen, das mit seinen Landgrafen bis zur erzwungenen Abdankung 1866 die Kurfürsten in Kassel gestellt hatte.16 Dass Philipp von Hessen 1933 nationalsozialistischer Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau werden konnte, hatte er nicht etwa einer besonders exponierten Stellung in der Hierarchie der Partei zu verdanken, der er allerdings bereits seit 1930 angehörte. Vielmehr ist er ein Beispiel für die Tendenz des NS-Staates, gerade in den Westprovinzen zunächst bevorzugt Oberpräsidenten ins Amt zu bringen, die „nach Karriere oder Stand eher den deutschnationalen Honoratioren zuzurechnen waren“.17 Während 1933 nur eine Minderheit der preußischen Oberpräsidenten zugleich Gauleiter war, nahm diese Verquickung von Staats- und Parteigewalt dann binnen weniger Jahre rapide zu und wurde schließlich beinahe zum Normalfall.18 Philipps Ernennung diente also dazu, im Anfang die Unterstützung konservativer Kräfte für die nationalsozialistische Herrschaft zu gewinnen. Seinen entschiedensten Förderer fand Philipp von Hessen im preußischen Innenminister und Ministerpräsidenten Hermann Göring, der seit Jahren freundschaftlich mit ihm verbunden war und der Philipps Ernennung zum Oberpräsidenten 1933 mit dem Hinweis veranlasste, dass auch Gründe der Machtbalance ihn zu dieser Wahl bewogen hatten: „Die Provinz hätte zwei Gauleiter und jeder dieser beiden wollte Ober-Präsident werden.“ Göring, so erklärte Philipp von Hessen später, „wollte einen dritten dazu nehmen, da er keinen von den beiden Gauleitern über den anderen setzen wollte.“19 Mit einer derartigen Einschätzung war auch von Anfang an vorgezeichnet, dass der stärkere der beiden Gauleiter, der Frankfurter Jakob Sprenger, in Prinz Philipp immer nur einen lästigen Konkurrenten würde sehen können, der seinen, Sprengers, Machtbestrebungen im Wege stand. Prinz Philipp war Anfang der 1920er Jahre nach Italien gegangen und hatte sich dort als Innenarchitekt betätigt. Seine Bewunderung für den italienischen Faschismus und für Mussolini, den „Duce“, ließen ihn dann in Deutschland früh zur NSDAP stoßen; bereits zeitig pflegten auch andere Verwandte Kontakt zu Hitler – nicht nur Philipps Vetter August Wilhelm Prinz von Preußen (genannt „Auwi“), der den Nationalsozialismus lange vor 1933 aktiv unterstützte.20 Dank seiner Ehe mit Prinzessin Mafalda von Savoyen, der Tochter des italienischen Königs Viktor Emanuel III., verfügte Philipp von Hessen über beste Verbindungen zu den führenden Kreisen Italiens und wurde von Hitler seit 1936 häufig für Sonderaufgaben als „Verbindungsmann des Führers zum Duce“ nach Rom entsandt.21 Im März 1938 etwa schickte Hitler ihn per Flugzeug nach Rom zu Mussolini, ließ ihn dort den am folgenden Tag bevorstehenden deutschen Einmarsch in Österreich ankündigen und sich dann umgehend telefo4.054, Bl. 14 bzw. 26; Dülfer, Regierung (1960), S. 445; Klein, Beamte (1988), S. 22 f., S. 142; Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 303–305; Recker, Hessen (1997), S. 264; Grundriß (1979), S. 314; Philippi, Landgraf (1980/81); Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 5 (1997), S. 1. 15 Zur Unterstellung der Verbände unter den staatlichen OP durch das „Oberpräsidentengesetz“ vom 15.12.1933 siehe Kap. II. 1. b). 16 Siehe oben (Anm. mit biografischen Angaben); siehe auch Frankfurter Zeitung, Jg. 1933, Nr. 374, 1. Morgenblatt (21.05.1933), „Der neue Oberpräsident von Hessen-Nassau“, Zeitungsausschnitt auch in IfStG Ffm, Mag.-A. 4.054, Bl. 14. – Die Mutter Philipps, Margarethe Beatrice Landgräfin von Hessen u. Prinzessin von Preußen, war die Schwester Kaiser Wilhelms II. 17 Broszat, Staat (1979), S. 140. – Broszat zählt ausdrücklich auch Philipp von Hessen zu dieser Gruppe. 18 Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 263, der darauf hinweist, dass 1933 erst 4 der 10 Oberpräsidenten Gauleiter waren, während diese Zahl bis 1939 auf 7 anwuchs. 19 HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Hauptakten Bd. II, Bl. 114–127, Aussage Philipp Prinz von Hessen b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager in seinem Verfahren (Verhandlung 1. Instanz) (15.–17.12.1947), hier Bl. 120 (Zitat); zur Protektion u. Freundschaft Görings siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 303; Philippi, Landgraf (1980/1981); zum Konkurrenzverhältnis mit den Gauleitern Weinrich u. Sprenger vgl. Rebentisch, Politik (1978), S. 204, bzw. Zibell, Sprenger (1998), S. 176. 20 Ebd. (Aussage Philipp v. Hessen v. 15.–17.12.1947), hier Bl. 115; ebd., Beiakten Bd. I, Bl. 120 f., Zeugenaussage der Mutter Margarethe Beatrice Landgräfin von Hessen u. Prinzessin von Preußen in der Haftentlassungssache Philipp Prinz von Hessen (15.07.1946) (danach war Hitler 1931 u. 1932 je einmal am Sitz der Familie in Kronberg/Taunus „zum Tee“, 1933 traf er mit der Familie im Haus von Philipps Bruder Wolfgang Prinz von Hessen in Ffm zusammen); vgl. auch Zibell, Sprenger (1998), S. 175. 21 Philippi, Landgraf (1980/1981); Klein, Beamte (1988), S. 22 f., S. 142. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 335 nisch über die Reaktion des „Duce“ unterrichten.22 Ähnliche Mittlerdienste übernahm Philipp auch vor Interventionen in andere Länder: beim Einmarsch in Prag ein Jahr später oder beim deutschen Angriff auf Frankreich im Zweiten Weltkrieg.23 Zeitgenossen beschrieben Philipp von Hessen als „kunst- und feinsinnigen Menschen“24 – dieser Ruf eines Kunstliebhabers und -kenners führte den Oberpräsidenten nach Kriegsbeginn im Rahmen eines weiteren Sonderauftrags von Hitler durch halb Europa (soweit es von deutschen Truppen besetzt war), wo Philipp von Hessen Kunstschätze für Hitlers Projekt eines überdimensionalen Kunstmuseums in Linz an der Donau zusammentrug.25 Die Spuren, die Philipp von Hessen in der von ihm bis 1943 geleiteten Provinz Hessen-Nassau hinterließ, sind als gering einzuschätzen – nicht zuletzt aufgrund seiner häufigen Abwesenheit. Als eine der wenigen auf ihn zurückgehenden Initiativen gilt der Bau des Staatsarchivs in Marburg, durch den er sich – wie es heißt – „ein steinernes Denkmal gesetzt“ habe.26 Die Historiographie wird in ihm kaum eine starke Politikerpersönlichkeit erkennen. Die einzigen Pfunde, mit denen Philipp von Hessen wuchern konnte, waren die Unterstützung durch Göring, die er jahrelang genoss, sowie der „Zugang zum Führer“, der ihm ebenfalls lange Zeit offen stand. Dass Landeshauptmann Traupel ab 1936 zunehmend die Allianz mit Philipp von Hessen suchte, stieß bei Traupels Freund Richard Hildebrandt zumindest auf Unverständnis, denn dieser hielt es für verhängnisvoll, dass Traupel seine Pläne „mit einer derart traurigen Gestalt“ verkoppelte. Philipp von Hessen war aus seiner Sicht „im Grund [...] ein Mann [...], mit dem man keine ernstzunehmende Politik auf die Dauer betreiben kann.“27 Als später sämtliche Pläne Traupels zur Zusammenlegung der beiden Bezirksverbände gescheitert waren, urteilte Hildebrandt in einer Stellungnahme gegenüber Himmler: „Er [Traupel] hat sich zu stark auf die Versprechungen von Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen verlassen, die sich dann im Ernstfalle als sehr schwach und nicht durchführbar erwiesen haben. Bei den maßgeblichen Verhandlungen in Berlin war der Oberpräsident von Kassel jedenfalls nicht in der Lage, seine Sache entsprechend stark und überzeugend zu vertreten.“28 Bis es 1940 zu dieser Niederlage kam, hatten die Pläne Traupels und Philipp von Hessens zunächst Erfolg versprechende Fortschritte gemacht. Traupel hatte begonnen, sich „für die Einheit der Provinz Hessen-Nassau zu erwärmen“.29 Tatsächlich ist der Landeshauptmann als Motor der Idee eines einheitlichen Provinzialverbandes der Provinz 22 Noch am Vorabend des Einmarsches telefonierte Philipp von Hessen mit Hitler und berichtete u. a.: „Der Duce hat die ganze Sache sehr freundlich aufgenommen. Er laesst Sie sehr herzlich grüssen.“ – HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Hauptakten Bd. I, Bl. 141 f., Schriftliche Darstellung von Philipp Prinz von Hessen, Darmstadt (24.07.1947); ebd., Bl. 165/167, Wortlaut des Telefonats zwischen Hitler und Philipp Prinz von Hessen, aufgezeichnet in Zürich (11.03.1938, 22.25–22.29 Uhr). – Der Wortlaut des abgehörten Telefonats kann als ein seltenes Textdokument gelten, das authentisch die nichtöffentliche Rede und Kommunikation Hitlers wiedergibt: Hitler ergeht sich in mehrfach wiederholten Dankbarkeitsbekundungen über Mussolini (z. B. „[...] ich werede [!] ihm das nie vergessen. [...] Nie, nie, nie, es kann sein, was will. Ich bin jetzt noch (?) [Fragezeichen im Original, P. S.] bereit, mit ihm eine ganz andere Abmachung zu gehen“), während Philipp von Hessen unterwürfig Hitlers Worte entgegennimmt (mehrfach „Jawohl, mein Fuehrer“). 23 Ebd., Bl. 207, beglaubigte (auszugsweise) Abschr. aus: Graf Galeazzo Ciano: Tagebücher 1939–1943, Bern (1. Aufl.) 1946. – Philipp traf Ciano häufig in Rom. 24 Ebd., Beiakten Bd. I, Bl. 69, Erklärung d. 1. LdsR a. D. Max Kranzbühler, betr. „den ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, z. Zt. Civil Internant. Camp 91, Darmstadt“ (25.07.1946), eingegangen mit Anschreiben Kranzbühlers (26.07.1946) (= Bl. 68) beim Dt. Sicherheitsnachprüfungsamt Frankfurt a. M. 25 Ebd., Hauptakten Bd. I, Bl. 85, Aussage Dr. Hans Steegmann (zeitweise pers. Referent des OP) in Kassel ggü. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager im Verfahren gegen Philipp Prinz von Hessen (28.03.1947), Abschr.; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 234, Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); zu Hitlers Plänen in Linz siehe Hamann, Wien (1996), S. 11, S. 13; zur sog. „Linzer Liste“ (genannt nach dem geplanten Museum), welche generell durch den NS-Staat geraubte oder beschlagnahmte Kunst beinhaltet, siehe Frankfurter Rundschau, 56. Jg., Nr. 90 (15.04.2000), Ausgabe S, S. 28 (Kulturspiegel), „‚Linzer Liste‘. Mehr als 130 Werke in Hessens Museen“; Hessische Allgemeine (HNA), Nr. 90 (15.04.2000), S. 27, „‚Linzer Liste‘. 260 Werke in Hessen“; Internet: www.lostart.de/ recherche (Stand 15.04.2000). 26 Klein, Beamte (1988), S. 22 f., hier S. 23. 27 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471–2666474, [HSSPF] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SS-Oberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666472 u. -71, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 28 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSS u. Chef d. Deutschen Polizei im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666535. 29 Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. 336 IV. Zeit der Gasmorde Hessen-Nassau anzusehen; unzutreffend wäre es, hier die Initiative bei Oberpräsident Philipp von Hessen und dessen vermeintlichen Abwehrbestrebungen gegen expansionistische Absichten des Gauleiters Sprenger zu sehen.30 Traupel war überzeugt, wenn nicht besessen von der Vorstellung, „daß der landschaftliche Raum der Provinz Hessen-Nassau in einer einheitlichen Verwaltung weitergeführt werden“ müsse; es sei „gleichgültig, wo künftig der Sitz dieses Provinzialverbandes“ sein würde, „in Kassel, in Wiesbaden oder – was noch besser wäre – in der Mitte der Provinz, etwa in Marburg“.31 In einem ersten, inhaltlich sicher von Traupel konzipierten Geheimschreiben vom Juni 1939 unterbreitete der Oberpräsident die Vorschläge dem Innenministerium. Vorab hatten bereits Gespräche Philipp von Hessens zunächst mit Göring, dann mit Innenminister Frick stattgefunden, die beide signalisierten, dass der Oberpräsident „die Verwaltungen vereinfachen und zusammenziehen darf.“ Formal sollten nicht die beiden Bezirksverbände in Wiesbaden und Kassel fusioniert, sondern ihre jeweiligen Aufgaben dem zwar bereits bestehenden, aber bislang relativ unbedeutenden Provinzialverband der Provinz HessenNassau (mit Traupel als Landeshauptmann) übertragen und ihr Personal dorthin versetzt werden.32 In intensiven Gesprächen versuchte Traupel fortan, weitere Unterstützung für seinen Plan zu gewinnen. Wie wichtig es war, Allianzen zu schmieden, war dem Landeshauptmann vollkommen klar, denn er „wußte, daß hier personelle Schwierigkeiten mit dem einen oder auch mit beiden Gauleitern kommen würden.“ Traupel erlangte über den Leiter des persönlichen Stabs des Reichsführers-SS, SSGruppenführer Karl Wolff, die Zusage, Himmler selbst wolle versuchen, Staatssekretär Stuckart für die Sache zu gewinnen. Stuckarts Votum erschien besonders wichtig, da dieser gute Beziehungen zu Sprenger unterhielt.33 Gerade der dann beginnende Krieg schien Traupels Pläne zu begünstigen. Der Landeshauptmann wies darauf hin, dass Hessen-Nassau als einzige Provinz über drei Selbstverwaltungsverbände (die beiden Bezirksverbände und den Provinzialverband) verfüge und dass dies bei dem „ungeheuren Bedarf an Menschenmaterial [...] heute ein unverantwortlicher Luxus“ sei.34 Bei allen Bemühungen um Unterstützung hatte Traupel versucht, seine Pläne nicht bis zu Gauleiter Sprenger dringen zu lassen. Offenbar hatte diese Geheimhaltetaktik auch Erfolg bis zum 18. November 1939, dem Termin, zu dem Oberpräsident Philipp von Hessen (unter Hinweis auf die „Fühlungnahme“ mit Göring und Frick) anordnete, die Verwaltungen der beiden Bezirksverbände in der Verwaltung des Provinzialverbandes zusammenzufassen. Der Oberpräsident berief sich dabei auch auf den drei Tage vor Kriegsbeginn ergangenen Führererlass über die Vereinfachung der Verwaltung und schlussfolgerte: „Die heutige Zeit erfordert gebieterisch, [...] von allen durch Verwaltungsvereinfachung möglichen 30 Dieser Eindruck könnte infolge der Darstellung ebd. entstehen; auch bei Zibell, Gauleiter (2001), S. 404, wird Philipp von Hessen die Urheberschaft zugeschrieben. 31 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666420, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 32 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., OP d. Provinz Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an RMdI, „Geheim“, betr. „Organisatorische Zusammenfassung und Übertragung der Aufgaben der Bezirksverbände Hessen und Nassau auf den Provinzialverband der Provinz Hessen-Nassau“ (20.06.1939), Abschr. – Zur Zustimmung Görings u. Fricks: NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666420 f. (Zitat „die Verwaltungen [...]“), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; zu Görings u. Fricks Plazet auch BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschr. (1944); siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. – Zum Nebeneinander der beiden Bezirksverbände und des Provinzialverbandes in Hessen-Nassau siehe Preuß. Gesetzsammlung, Jg. 1885, Nr. 25 (01.07.1885), S. 242–246, „Gesetz über die Einführung der Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 in der Provinz Hessen-Nassau“ (08.06.1885); ebd., S. 246–272, „Bekanntmachung, betreffend die Provinzialordnung für die Provinz Hessen-Nassau“ (08.06.1885), darin S. 247–270: „Provinzialordnung für die Provinz Hessen-Nassau“ [08.06.1885]; siehe auch Darstellung in Kap. I. 1. b).; zu den 3 LH-Ämtern Traupels seit 1936 siehe Kap. III. 1. a). 33 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666421, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. – Zu Karl Wolff (1900–1984) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Wistrich, Reich (1987), S. 381 f.; Stockhorst, Köpfe (1987), S. 453. 34 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666420, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen] 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 337 Sparmaßnahmen auch im Interesse einer zweckmässigen Menschenökonomie Gebrauch zu machen.“35 Als Sprenger nun von den Plänen erfuhr,36 fühlte er sich als Führer seines Gaues düpiert. Über den Umweg des Stellvertreters des Führers ließ er beim Reichsminister des Innern sogleich Protest einlegen; Frick fügte sich dieser Einflussnahme und formulierte Ende November 1939 an die Adresse Philipps von Hessen einen – wie dieser es nannte – „Stopperlass“.37 „Gauleiter Sprenger schießt natürlich gegen den Beschluß des Oberpräsidenten“38 – das war Traupel im Dezember 1939 wohl bewusst; dennoch ließ er sich durch diesen Parteieinspruch nicht in seinem Vorhaben beirren. Man könnte nun annehmen, Traupel habe damit die realen Machtverhältnisse im „Dritten Reich“ verkannt; sein weiteres Vorgehen wird aber dadurch nachvollziehbarer, dass Ministerpräsident Göring – ob bewusst oder unbewusst im Widerspruch zu Sprenger und Frick – den Oberpräsidenten Ende November 1939 noch dazu aufforderte, über die Zusammenlegungsverfügung hinaus auch einen Gesetzentwurf mit demselben Ziel vorzulegen.39 Offenbar wollte Göring sich nicht damit begnügen, die Aufgaben der Bezirksverbände in deren eigener Verantwortung – was das Gesetz zur Provinzialordnung von 1885 ausdrücklich ermöglichte40 – auf den Provinzialverband übertragen zu lassen. (Zu dieser reinen Übertragung genügte nach der Einführung des Führerprinzips formal die entsprechende Entscheidung des Oberpräsidenten als Nachfolger der Kommunallandtage; die Bezirksverbände wären dann als mehr oder weniger zweckentleerte Körperschaften bestehen geblieben.) Um aber eine grundsätzliche Neuregelung zu erreichen, brachte Traupel nun im Auftrag Philipp von Hessens trotz der bekannten Einsprüche „einen Gesetzesentwurf [...] auf den Weg“, und zwar – wie Rebentisch meint – „so geschickt, daß die Papiere bei Göring erst Ende Januar 1940 und bei Frick sogar erst im Februar eingingen.“41 Wenn auch die Eigeninitiative Traupels in diesem Punkt wohl nicht so hoch anzusetzen ist wie Rebentisch vermutet, so hatte die Zusammenfassungsidee sich in Traupels Vorstellung doch bereits so weit verfestigt, dass er kein Zurück mehr hinnehmen wollte. In verschiedenerlei Hinsicht hatte Traupel auch bereits begonnen, vollendete Tatsachen zu schaffen. Da trotz der zwischenzeitlichen Gedankenspiele über einen zentralen Sitz in Marburg zumindest kurz- und mittelfristig doch nur die Belassung des Provinzialverbandes in Kassel realistisch erscheinen konnte, hatte Traupel bereits vor35 IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 72, Beschluss d. OP der Provinz Hessen-Nassau als Leiter der Bezirksverbände Hessen und Nassau (18.11.1939), hier als hektographiertes Rundschreiben d. RP Wiesbaden (25.11.1939); auch veröffentlicht in: Städtisches Anzeigeblatt [Frankfurt a. M.], Jg. 1939, Nr. 49 (08.12.1939), Letzteres auch vorhanden in ebd. (IfStG), Bl. 75. – Bezugnahme auf RGBl. 1939 I, Nr. 153 (30.08.1939), S. 1535–1537, „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung“ (28.08.1939) (im Erlass vom 18.11.1939 wird statt auf das RGBl. als Quelle fälschlich auf die Preuß. Gesetzsammlung verwiesen). 36 Der Beschluss des OP vom 18.11.1939 wurde auch Gauleiter Sprenger übersandt: vgl. NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666459, Abschrift des Telegramms von LH Traupel, Kassel, an Gauleiter Sprenger, Ffm (08.03.1940), Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 37 Auf Sprengers Darstellung beruht die Datierung (30.11.1939) der entsprechenden Weisung Fricks: Eingabe von Sprenger an RMdI Frick (17.04.1940), zit. im Schreiben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453–2666455, OP d. Prov. HessenNassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier Frame 2666453, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; ein weiterer Hinweis auf Sprengers Darstellung findet sich in BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Schreiben [wahrscheinlich des Obersten Parteigerichts] an Wilhelm Traupel, Feldpost-Nr. 24097 (29.01.1942), hier Abschr. (1944); der „Stopperlass des Reichsinnenministers“ wird (ohne Datierung) auch bestätigt durch Philipp von Hessen in ebd., o. Bl.-Nr., Protokoll von dessen Zeugenvernehmung durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944); zur Einschaltung von Heß durch Sprenger siehe auch IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 73, Stadtrat Arntz, Ffm, an OB, Ffm (28.11.1939); vgl. Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 220 f. 38 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666494 f., LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Hahn/Taunus (11.12.1939), hier Frame 2666494, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 39 BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944). 40 Preuß. Gesetzsammlung, Jg. 1885, Nr. 25 (01.07.1885), S. 242–246, „Gesetz über die Einführung der Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 in der Provinz Hessen-Nassau“ (08.06.1885), hier S. 243 (Art. III. A. 3. IV): „Der Provinziallandtag ist berufen, [...] den Provinzialverband in denjenigen Angelegenheiten zu vertreten, beziehungsweise über diejenigen Gegenstände zu berathen und zu beschließen, welche ihm durch Gesetze oder Königliche Verordnungen, oder durch übereinstimmenden Beschluß der beiden Bezirksverbände überwiesen werden.“ 41 Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 220. 338 IV. Zeit der Gasmorde gesorgt: Um Platz für die zusammengefasste (und damit am Ort vergrößerte) Verwaltung zu schaffen, war das Ständehaus in Kassel, der Sitz des Bezirksverbandes Hessen, prophylaktisch um eine Etage aufgestockt worden. Auch einzelne Versetzungen von Wiesbaden nach Kassel hatten bereits bis 1939 stattgefunden, wobei die jeweiligen Mitarbeiter mit Tätigkeiten für beide Bezirksverbände betraut wurden.42 Schlag auf Schlag schuf Traupel dann zwischen Januar und März 1940 vollendete Tatsachen durch Veränderungen in der Geschäftsverteilung: Am 29. Januar ernannte er seinen SS-Genossen und „allernächsten Mitarbeiter“, den Kasseler Landesrat Dr. Paul Schlemmer zum Kulturdezernenten für die beiden Bezirksverbände (der bisherige Wiesbadener Kulturreferent, SD-Mitglied Dr. Carl Sommer, sollte stellvertretender Kulturdezernent mit Dienstsitz in Marburg werden); am folgenden Tag übertrug Traupel Schlemmer zudem „die Verwaltung des Finanzdezernats einschließlich der Wirtschaftsangelegenheiten für beide Bezirksverbände“; schließlich übernahm Schlemmer auch für beide Verwaltungen die Funktion des Justiziars.43 Den damit überzähligen Finanz- und Wirtschaftsdezernenten des Bezirksverbandes Nassau, Landesrat Willi Schlüter, lobte Traupel weg zur Nassauischen Landesbank in Wiesbaden, wo Schlüter die Geschäfte eines stellvertretenden Generaldirektors übernehmen sollte.44 Das vereinigte Straßenbaudezernat übernahm ab Ende Februar 1940 der bisher allein für den Kasseler Bereich zuständige Dezernent Dr. Otto Kirsten, den der Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen Fritz Todt empfohlen hatte; auch hier sollte für den bisher in Wiesbaden zuständigen Dezernenten (Friedrich Kind) eine neue Verwendung gefunden werden (in diesem Fall durch die Vermittlung Todts).45 Während in den genannten Fällen die von Traupel verfügten Änderungen zu einem Abbau der Wiesbadener Verwaltung zugunsten der in Kassel tätigen Dezernenten führen sollten, wollte der Landeshauptmann im Bereich des Anstaltswesens den umgekehrten Weg gehen: hier sah er den Wiesbadener Landesrat Fritz Bernotat als Dezernenten dieses Bereichs für den gesamten Provinzialverband vor. Bereits Anfang Januar 1940 hatte Traupel ihm das Gebiet übertragen, Anfang März bestimmte er, dass Bernotat zusätzlich zum Anstaltswesen auch die vereinigte Fürsorgeabteilung der beiden Verbände übernehmen und dazu seinen Dienstsitz nach Kassel verlegen sollte; anfangs war Bernotat anscheinend auch zu dem Umzug von Wiesbaden nach Kassel bereit. Die beiden bisherigen Fürsorgedezernenten Ludwig Johlen (Wiesbaden) und Dr. Otto Schellmann (Kassel), die allerdings seinerzeit nach Prag abgeordnet bzw. zur Wehrmacht eingezogen waren, hätten ihre Positionen damit auf Dauer verlieren sollen. Auch die Allgemeine Verwaltung und die Personalverwaltung beabsichtigte Traupel in Kassel 42 HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden, schriftl. Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 93. 43 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666440, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau [vermutlich gez. i. V. Landeshauptmann Traupel], Kassel, an BV Hessen bzw. an BV Nassau (29.01.1940) [nur erste Seite des Dok. vorhanden]; ebd., Frame 2666441, Vfg. zum Schreiben PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV Hessen bzw. BV Nassau sowie als Abschr. an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, u. an LdsR Dr. Schlemmer, Kassel (30.01.1940), beide Dok. als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., W. Traupel, LH d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, an SS-Gruppenführer Wolff, Chef d. Persönlichen Stabes RFSS, Berlin (10.02.1940) (Zitat „allernächster Mitarbeiter“). – Zu Dr. jur. Paul Schlemmer (* 1904) und zu Dr. Carl Sommer (* 1900) siehe biogr. Anhang. 44 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666442, Vfg. zum Schreiben PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an Direktion d. Nass. Landesbank, Wiesbaden, sowie als Abschr. an OP d. Provinz Hessen-Nassau, Kassel, u. an LdsR Schlüter, Wiesbaden (02.02.1940), hier als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Willi Schlüter (* 1884) siehe biogr. Anhang. 45 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666444, Vfg. zum Schreiben PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV Hessen u. an BV Nassau, sowie als Abschr. an OP d. Provinz Hessen-Nassau, Kassel, an Landesoberbaurat Dr. Ing. Kirsten, Kassel, an Landesoberbaurat Kind, Münster am Stein, u. an Landesverwaltungsrat Mai, Kassel (26.02.1940), hier als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; vgl. auch BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., W. Traupel, LH d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, an SS-Gruppenführer Wolff, Chef d. Persönlichen Stabes RFSS, Berlin (10.02.1940); zur Empfehlung durch Fritz Todt siehe NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465– 2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666466, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Dr. Otto Kirsten (* 1898) siehe biogr. Anhang; zu Friedrich Kind siehe die Angaben in Kap. II. 1. a). 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 339 unter Leitung des bisherigen Wiesbadener Landesrates Kranzbühler zu vereinigen. In Wiesbaden sollte nur die als selbstständiges Institut verfasste Nassauische Brandversicherungskasse verbleiben, während für die Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau insgesamt in Wiesbaden lediglich vorübergehend noch eine Abwicklungsstelle unter Leitung von Dr. Hans-Joachim Steinhäuser vorgesehen war. Wirksam werden sollte die Zusammenlegung und der Umzug der Verwaltung von Wiesbaden nach Kassel zum 1. April 1940, dem Beginn des neuen Wirtschaftsjahrs, wie Traupel am 2. März festlegte.46 Traupel konnte die Auflösung der Wiesbadener Verwaltung zugunsten einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung in Kassel im ersten Quartal 1940 nur deshalb mit so großer Konsequenz – oder vielleicht „Dreistigkeit“47 – vorantreiben, weil er sich trotz Widerspruchs des Innenministers Frick weiterhin durch maßgebliche NS-Repräsentanten gestützt sah. Philipp von Hessen, der sich der Rückendeckung durch Göring gewiss war, trug ausdrücklich sämtliche Verfügungen mit, mit denen Traupel zwischen Januar und März die Verlegung von Wiesbaden nach Kassel betrieb. Infolge eines Gesprächs, das der Oberpräsident nach dem Einhalt gebietenden Erlass Fricks mit dem Innenminister geführt hatte, sah Philipp von Hessen sich erst recht ermutigt.48 Traupel war Anfang März 1940 überzeugt, dass „alle einsichtigen Männer“ die „Maßnahmen für richtig“ halten, und zu diesen rechnete er Göring, Himmler, Heydrich, Kultusminister Rust und Generalinspekteur Todt.49 Nicht bekannt war dem SS-Oberführer Traupel zu diesem Zeitpunkt offenbar, dass ausgerechnet „sein“ Reichsführer-SS Heinrich Himmler im Gespräch mit Sprenger nicht eindeutig für ihn Partei ergriff.50 Als wesentlichstes Pfund erschien jedoch eine günstige Äußerung Hitlers, zumal eine „Führerentscheidung“51 im Bewusstsein der Zeitgenossen gemeinhin als letztinstanzlicher Spruch bei Streitig46 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666439, Vfg. d. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel (03.01.1940), hier als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig; ebd., Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508–2666510; ebd., Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster (01.03.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier Frame 2666464; ebd., Frame 2666445–2666447, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV Hessen u. an BV Nassau, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, sowie an diverse Empfänger innerhalb d. BV Hessen u. Nassau (02.03.1940); ebd., Frame 2666475–2666477, LH W. Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (06.11.1940), hier Frame 2666476, alle vier vorgenannten Dok. hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 221. – Zu Fritz Bernotat (1890–1951), Ludwig Johlen (1885–1960), Max Kranzbühler (1878–1964), Dr. jur. Hans-Joachim Steinhäuser (* 1906) und Dr. jur. Otto Schellmann (1880–1953) siehe biogr. Anhang. – Quellen zu Schellmann: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1991, Schellmann, Otto, Dr.; ebd., Zug. 1981, Ma., Th., Bl. 25 f., LdsR a. D. Dr. Schellmann, Kassel, an KV Kassel (25.03.1946), hier Bl. 25; LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 11, Geschäftsverteilungsplan d. BV Hessen (o. D. [1936]); StA Mr, Best. 220 Nr. 712, Geschäftsverteilungsplan d. BV Hessen (o. D. [vor und nach dem 29.08.1939]), auch vorhanden als Kopie in LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 13; IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 4, 42-seitiger „Bericht der Verwaltung des Bezirksverbandes Hessen über die Verwaltungsergebnisse im Rechnungsjahr 1937 (1. April 1937 bis 31. März 1938)“, hier S. 4; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 115 f., Aussage Otto Schellmann b. d. StAnw in Kassel (04.07.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 167–174, Protokoll d. Zeugenvernehmung Otto Schellmann im HadamarProzess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). 47 Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 221. – Begriff hier bezogen auf Traupels Berufung auf „die Billigung des Führers“ (siehe dazu unten). 48 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666429, OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an Gauleiter des Gaues HessenNassau, Sprenger, Frankfurt a. M. (14.03.1940), auszugsweise Abschr. als Anlage 4 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944). – Die Formulierungen in BA, R43 II/1346b, RMdI, Frick, Schnellbrief an Preuß. Min.-Präs. (12.03.1940), deutet Rebentisch, Gau (1978), S. 151, sogar als „kaum verschlüsselte Aufforderung an den Oberpräsidenten, die Zusammenlegung auf kaltem Wege weiterzutreiben.“ 49 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666510, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Bernhard Rust (1883–1945) war 1925–1940 Gauleiter in Hannover und ab 1934 Reichsminister f. Wiss., Erziehung u. Volksbildung: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 355; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 217; Wistrich, Reich (1987), S. 300 f. 50 Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323. – Zu Himmlers Indifferenz ggü. Traupel siehe auch Kap. IV. 1. b) u. V. 4. b). 51 Zur Bedeutung der „Entscheidung“ Hitlers siehe z. B. Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 549, S. 551. – Die pointierte Gegenposition stammt von Mommsen, Nationalsozialismus (1971), Sp. 702, der Hitler als einen „entscheidungsunwilligen, häufig unsicheren, [...] in mancher Hinsicht schwachen Diktator“ charakterisiert. 340 IV. Zeit der Gasmorde keiten oder Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Repräsentanten des „Dritten Reiches“ galt. Die Kenntnis über Hitlers Bemerkung zur Neugliederung der Selbstverwaltungsverbände in der Provinz Hessen-Nassau beruht auf Auskünften des Oberpräsidenten Philipp von Hessen (und mittelbar des Landeshauptmanns): Bevor Philipp von Hessen im Februar 1940 einen seiner häufigen Auslandsaufenthalte antrat, habe er – so seine Auskunft 1942 – „es für notwendig gehalten, auch den Führer über die Zusammenlegung der Bezirksverbände zu unterrichten, ohne eine Entscheidung seinerseits herbeiführen zu wollen. Ich bin an den Führer deshalb herangetreten, da die Möglichkeit bestand, dass während meiner Abwesenheit der Fragenkomplex an ihn dienstlich herangetreten [!] würde. Der Führer nahm diese Information zur Kenntnis und äusserte sich dahin, dass die beabsichtigten Massnahmen richtig und vernünftig zu sein schienen.“52 Nun war diese Aussage Hitlers (der Darstellung des Oberpräsidenten entsprechend) kaum als „Führerentscheidung“ im eigentlichen Sinne zu verstehen, anscheinend hatte Philipp von Hessen versäumt, Hitler die Gegnerschaft Sprengers zu dem Plan kundzutun. Doch Traupel nutzte, nachdem der Oberpräsident ihn informiert hatte, die Bemerkung Hitlers sowohl innerhalb der eigenen Wiesbadener Verwaltung als auch – wie es später hieß: „in der Hitze des Gefechts“ – gegenüber Gauleiter Sprenger, um seine Position als (durch die angebliche Führerentscheidung) unangreifbar darzustellen.53 Diese Hitzigkeit war es wohl auch, die Traupel schon kurz darauf zum politischen und karrieremäßigen Verhängnis werden sollte. Traupel selbst gestand später seinen Fehler gegenüber Philipp von Hessen ein: „Ich habe [...] nicht jedes Wort auf die Wagschale [!] gelegt und das Wort ‚entschieden‘ gebraucht [...]; es hätte heißen müssen, daß der Führer durch Sie, Herr Oberpräsident, informiert worden sei und Ihre Maßnahmen für richtig und gut befunden habe.“54 Dass Jakob Sprenger in der folgenden Zeit alles daran setzte, die Traupel’schen Absichten zu durchkreuzen, war auf den Plan des Gauleiters zurückzuführen, seinen NSDAP-Gau so bald wie möglich zu einem „Reichsgau“ nach dem Vorbild der entsprechenden, 1938 in Österreich und im Sudetenland sowie 1939 im besetzten Polen eingerichteten Reichsgaue umzugestalten. Dort waren die Territorien der Partei- und Staatsverwaltung deckungsgleich, Partei- und Staatsherrschaft war in einer Hand, der des Gauleiters und Reichsstatthalters, vereinigt, dem (nach dem preußischen Modell der Provinzialverbände) ein Landes- oder Gauhauptmann als Leiter der „Gauselbstverwaltung“ zugeordnet war. Entsprechende Reichsgaupläne waren auch für das „Altreich“ wiederholt geschmiedet, von Hitler jedoch – 52 BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944). – Kurz darauf berichtete der inzwischen informierte Traupel auch R. Hildebrandt u. K. Wolff über das Gespräch („Was aber das wichtigste ist: Prinz Philipp hatte Gelegenheit, die Sache dem Führer persönlich vorzutragen, und er hat sich genauestens unterrichten lassen und, ohne daß der Oberpräsident eine Entscheidung von ihm haben wollte, hat er von sich aus gesagt, er halte diese Maßnahmen für absolut richtig.“ – bzw. „In der Frage der Zusammenlegung der Wiesbadener und Kasseler Verwaltungen hatte mein Oberpräsident Gelegenheit, dem Führer persönlich die Sachlage vorzutragen. Der Führer hat die von mir betriebenen Maßnahmen als richtig anerkannt“): NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666510, bzw. ebd., Frame 2666424– 266426, LH W. Traupel, Kassel, an Chef d. Pers. Stabes RFSS, SS-Gruppenführer Wolff, Berlin, (05.03.1940), Abschr. als Anlage 1 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666426, beide vorgenannten Dok. hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 53 Eingabe von Sprenger an RMdI Frick (17.04.1940), zitiert im Schreiben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453– 2666455, OP d. Prov. Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940), Abschr., hier Frame 2666453 (Zitat „in der Hitze [...]“); ebd., Frame 2666459, Telegramm von LH Traupel, Kassel, an Gauleiter Sprenger, Ffm (08.03.1940), Abschr., Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940) (danach der Wortlaut von Traupels Äußerung: „Außerdem liegt Zustimmung vor [...] neuerdings vom Führer persönlich“); ebd., Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster (01.03.1940), Abschr., hier Frame 2666463, alle 3 vorgenannten Dok. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; Rebentisch, Gau (1978), S. 151; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 221. 54 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier Frame 2666456, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 341 um Unruhe zu vermeiden – vorerst immer wieder auf Eis gelegt worden, ja selbst die Diskussion über diese – mit anderer Akzentsetzung – bereits zu Weimarer Zeiten propagierte Reichsreform hatte nach einem „ausdrücklichen Wunsche des Führers“ zu unterbleiben.55 Neben dieser verfassungspolitischen Komponente der Reformdiskussion (also insbesondere der Frage nach der Machtverteilung zwischen Partei und Staat, zwischen Reichsgau und Reich) spielten immer auch die Überlegungen zur Raumordnung und territorialen Neugliederung eine erhebliche Rolle – so auch in der Region Hessen/Hessen-Nassau. Im Grunde gingen sowohl Sprenger als auch Traupel von der Prämisse aus, dass bei einer Reichsreform größere Einheiten als die bisherigen staatlichen Territorien zu schaffen seien; in beider Vorstellung kristallisierten die Zusammenlegungsbestrebungen sich an dem wirtschaftsstärksten Zentrum des Rhein-Main-Gebiets, dem Regierungsbezirk Wiesbaden mit den Großstädten Frankfurt und Wiesbaden. Während Sprenger immer die Zusammenlegung des Wiesbadener Bezirks mit dem Darmstädter Gebiet (dem Land Hessen) nach dem Muster seines NSDAP-Gaus anstrebte (Rhein-Main-Lösung),56 bemühte sich Traupel, den Bezirk Wiesbaden – wie gezeigt – im Rahmen der bestehenden preußischen Provinzgrenzen stärker als bisher mit dem allein zu schwachen Kasseler Bezirk zu verklammern (Provinziallösung). Als das nach Raumordnungsgesichtspunkten angemessenste Konzept hätte wohl eine dritte Variante, die Zusammenfassung aller drei Teilgebiete (Kassel – Wiesbaden – Darmstadt) zu einem „Großhessen“ gelten können, so wie sie in groben Zügen dann im Oktober 1945 in der amerikanischen Besatzungszone mit der Gründung des entsprechenden Bundeslandes umgesetzt wurde.57 Derartige Pläne hatten bereits früher bestanden: So sah ein erster, nicht realisierter Entwurf zur Weimarer Reichsverfassung Anfang 1919 die Zerschlagung Preußens und u. a. die Zusammenfassung von Hessen und Hessen-Nassau zu einer gemeinsamen Selbstverwaltungskörperschaft vor.58 In staatlichen Teilbereichen wurde diese Zusammenfassung wenig später sogar Wirklichkeit: Beispielsweise umfasste der Reichstagswahlkreisverband „Hessen“ seit 1924 sowohl die preußischen als auch die volksstaathessischen Teile der Region, ebenso deckte seit Mitte der 1920er Jahre der Landesarbeitsamtsbezirk Hessen sowohl Hessen-Nassau als auch Hessen(-Darmstadt) ab.59 Als Traupels eigene Provinzialverbandspläne bereits zum Scheitern verurteilt waren und zunehmend die „Erörterung über die Reichsgaue in den neuen Gebieten seine Phantasie und nicht weniger seinen Ehrgeiz“ beflügelte,60 rückte für ihn die Großhessenlösung verstärkt ins Blickfeld. Trotz aller Schranken, die der Reichsreformdiskussion auferlegt waren, fühlte Traupel sich im Frühjahr und Sommer 1940 bemüßigt, sowohl beim Reichsinnenministerium als auch bei der Parteileitung in München Neugliederungspläne für die hessische Region zu unterbreiten: Bei der Reichsreform sollten seiner Vorstellung nach die seinerzeit 55 Siehe dazu Rebentisch, Führerstaat (1989), darin insb. S. 215 ff. (Kap. III. 3.), S. 231 ff. (Kap. IV. 1.), S. 273 ff. (Kap. IV. 4.); Teppe, Provinz (1977), S. 202–245 (= Fünftes Kapitel); Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 749. – Während an der Spitze der Gauselbstverwaltungen in den österreichischen Reichsgauen je ein „Landeshauptmann“ stand, wurden die Gauselbstverwaltungen in den Reichsgauen im Sudetenland und im besetzten Polen (einschließlich Danzigs) von je einem „Gauhauptmann“ angeführt. – In HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12840, o. Bl.-Nr., RuPrMdI, Rund-Erl. I 292/2155 (14.03.1935), hier als Abschr. von OP in Kassel an BV Nassau (19.03.1935), hieß es explizit: „Nach einem ausdrücklichen Wunsche des Führers sollen Erörterungen jeder Art über die Reichsreform nach wie vor unterbleiben. [...] Unter den Begriff der Reichsreform fällt ebenso die Neugliederung des Reiches wie die Neuordnung in Verfassung und Verwaltung.“ 56 Zuzüglich der ebenfalls zum NSDAP-Gau Hessen-Nassau zählenden Kreise Hanau (Stadt u. Land), Gelnhausen u. Schlüchtern, welche staatlich zum Reg.-Bez. Kassel zählten. – Zu Sprengers Bestrebungen siehe insb. Rebentisch, Gau (1978); siehe auch Recker, Hessen (1997), S. 267 f.; Zibell, Gauleiter (2001), S. 401 f. 57 Nun allerdings ohne die in der französischen Besatzungszone liegenden Gebiete im Westerwald und an der Unterlahn sowie die linksrheinischen (rheinhessischen) Gebiete des früheren Volksstaats. – Müller, Adler (1966), S. 358. 58 Dieser Entwurf von dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium und späteren Reichsinnenminister Hugo Preuß (1860– 1925) wurde verworfen, da die einheitsstaatliche Ausrichtung bei den Ländern auf Widerspruch stieß: Schön, Entstehung (1972), S. X; Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 8 (1998), S. 65. 59 Demandt, Geschichte (1980), S. 592. – Am 05.01.1924 wurden die bisherigen Wahlkreise 19 (Provinz Hessen-Nassau ohne Schmalkalden u. Schaumburg, zuzüglich des Landes Waldeck u. des rheinischen Kreises Wetzlar) und 33 (Volksstaat Hessen) zu dem Wahlkreisverband zusammengefasst. – Zum Landesarbeitsamt Hessen mit Sitz in Ffm siehe auch Ämter (1997), S. 186. 60 Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. – Zum Vorbild der neuen „Reichsgaue“ siehe unten in diesem Kap. IV. 1. a). 342 IV. Zeit der Gasmorde existierenden NSDAP-Gaue Kurhessen (Kassel) und Hessen-Nassau (Frankfurt) zusammengefasst werden; als denkbare Gauhauptstadt favorisierte Traupel nun (wegen der geografischen Mittelpunktlage) entweder Marburg oder Gießen. Er fand sogar versöhnliche Worte über seinen Widersacher Sprenger: Wahrscheinlich hätte die Landschaft Hessen/Hessen-Nassau eine positive „Entwicklung genommen, wenn 1933 Gauleiter Sprenger Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau geworden wäre, wie er das gewollt hat.“61 Ob zu Recht oder zu Unrecht, vermutete Traupel allerdings bei Sprenger mittlerweile, da dieser nicht mehr die Großhessenlösung verfolgte, eine gewisse Kurzsichtigkeit, denn – so Traupel – „wenn er [Sprenger] mitzöge, so wäre er der erste Anwärter als Reichsstatthalter für den Gau, der sich hier bilden kann.“62 Andererseits dürften Sprenger wirtschaftspolitische Erwägungen und eine realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten dazu bewogen haben, die Rhein-Main-Lösung zu präferieren. Möglicherweise spielten dabei – trotz gelegentlicher Rivalität63 – auch gegenseitige Rücksichtnahmen mit seinem Kasseler Gauleiterkollegen Karl Weinrich eine Rolle. Weinrich selbst hatte zwar intern die ursprüngliche Traupel’sche Initiative zur Zusammenfassung der Bezirksverbände für gut befunden, aber darauf verzichtet, nach außen hin dafür Partei zu ergreifen, da er „als Gauleiter von Kurhessen nicht in Gegensatz zu Gauleiter Sprenger treten konnte und wollte“.64 Im Gegenzug beschränkte der Frankfurter Gauleiter sich ebenfalls auf das eigene Zuständigkeitsgebiet. Er verstieg sich – offenbar mit Blick auf die geringe Wirtschaftskraft, die Kurhessen hätte beitragen können – anscheinend sogar zu der Bemerkung, „Kassel interessiere ihn nicht und was damit würde, wäre ihm egal“.65 Auch zur Realisierung der durch Sprenger beständig und immer vehementer verfolgten Neugliederungsvariante in Mittel- und Südhessen hatte es bereits in der Weimarer Republik (vergebliche) Anläufe gegeben. Ende 1928/Anfang 1929 schlug der hessische Innenminister Wilhelm Leuschner vor, im Rhein-Main-Gebiet ein „Musterland für die Reichsreform“ zu bilden, das sich aus dem bisherigen Volksstaat und den südlichen Teilen Hessen-Nassaus zusammensetzen sollte; der preußische Innenminister Albert Grzesinski lehnte ein solches „Reichsland Hessen“ allerdings postwendend ab, da der wirtschaftlich schwächere Kasseler Raum bei Preußen verblieben wäre, welches damit die Lasten allein zu tragen gehabt hätte. Mit dem Gegenvorschlag Grzesinskis, das Land Hessen solle seine Verwaltung (staatsvertraglich geregelt) dem Land Preußen übertragen, konnte sich wiederum die Darmstädter Regierung nicht anfreunden.66 Wenn auch dieses Projekt ebenso wie andere Anläufe während der Weimarer Zeit zur Verklammerung des Rhein-Main-Gebietes nicht realisiert worden waren, so konnte Sprenger doch nun darauf Bezug nehmen.67 Früh war die Zusammenfassung des RheinMain-Gebiets nach der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ in verschiedenen nicht staatlichen Bereichen gelungen: Die evangelische Kirche orientierte sich weitgehend an den Grenzen des 61 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666435 f., LH Traupel, Kassel, an RMdI, Staatssekretär Dr. Stuckart bzw. Ministerialdirektor Surén, Berlin (18.04.1940), Abschr. als Anlage 7 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666436; ebd., Frame 2666539–2666542, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666541 f. (Zitat: Frame 2666542), hier als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), beide vorgenannten Dok. hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 62 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666494 f., LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Hahn/Taunus (11.12.1939), hier Frame 2666495, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 63 Zur Rivalität Sprenger – Weinrich siehe z. B. Reuling, Atlaswerkstatt (1997), S. 1196 f. (Anm. 136). 64 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., NSDAP, Gauleitung Kurhessen, gez. Gauleiter Weinrich, an RFSS Himmler (03.12.1940). – Zu Karl Weinrich (1887–1973) siehe biogr. Anhang. 65 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Danach hat Sprenger diese (hier von Traupel zitierte) Äußerung – vermutlich im August 1940 – gegenüber Richard Hildebrandt gemacht. 66 Jeserich, Provinzen (1931), S. 41 f. (auf S. 41 Zitat „Musterland [...]“); Schön, Entstehung (1972), S. IX. – Zu Wilhelm Leuschner (1890–1944) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 6 (1997), S. 354 f. – Albert Grzesinski (1879–1947), SPD, war 1926–1930 preußischer Innenminister: ebd., Bd. 4 (1996), S. 230. 67 Grundlegend zu dieser Thematik ist der Aufsatz „Der Gau Hessen-Nassau und die nationalsozialistische Reichsreform“: Rebentisch, Gau (1978); siehe auch ders., Revolution (1983), S. 239 f. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 343 Sprenger’schen NSDAP-Gaus, als sie im September 1933 (wie von der Gauleitung gewünscht) ihre nassauische, ihre hessisch-darmstädtische und ihre Frankfurter Landeskirche zur evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen zusammenschloss.68 Auch Organisationen der Wirtschaft wie der „RheinMainische Industrie- und Handelstag“ oder der rhein-mainische Zeitungsverlegerverband hatten ab 1933 die hessisch-preußische Grenze im Rhein-Main-Gebiet ignoriert und ganz in Sprengers Sinne „alle Hemmnisse, Rechtstraditionen und staatliche Schranken niedergerissen, an denen die Neugliederungspläne der Weimarer Republik noch gescheitert waren.“69 Für den staatlichen Bereich dagegen hatte Sprenger langfristig zu beklagen, dass sich der „Gau Hessen-Nassau [...] verwaltungsmäßig noch aus seinen vorrevolutionären Bestandteilen“ zusammensetzte, und es könne „wohl keiner der Beteiligten behaupten“, so meinte der Gauleiter, dass „dieser Zustand ein idealer sei“.70 Mindestens ebenso sehr wie auf die territorialen Aspekte nahm Sprenger auf die verfassungspolitischen Implikationen des avisierten Reichsgaumodells Bedacht. Da er im preußischen Teil seines Gaugebiets zunächst keine bedeutende staatliche Position innehatte, richteten seine ganzen Anstrengungen sich anfangs auf das Land Hessen, den bisherigen Volksstaat, wo er seit 1933 als Reichsstatthalter in Darmstadt amtierte und wo er bereits entscheidende Schritte auf dem Weg der Vereinigung von staatlicher und parteigebundener Herrschaft hatte machen können. Wie Rebentisch konstatiert, war Hessen (neben Sachsen) dasjenige Land im Deutschen Reich, in dem „die Umstrukturierung der L[andes]verwaltung nach dem Reichsgaumodell“ am weitesten fortgeschritten war. Sprenger hatte das Führerprinzip so weit getrieben, dass er die Darmstädter Landesregierung, die ab 1935 weder einen Ministerpräsidenten noch Minister hatte, sondern nur noch von einem Staatssekretär repräsentiert wurde, „zu einer Art Wurmfortsatz des Reichsstatthalterbüros“ gemacht hatte.71 Schreiben der Darmstädter Innenverwaltung (des ehemaligen Innenministeriums) tragen z. B. den Briefkopf „Der Reichsstatthalter in Hessen [/] – Landesregierung – [/] Abteilung III (Innere Verwaltung)“ – dies stellte eine reichsweit beinahe einzigartige Subordination dar.72 Rebentisch stellt zusammenfassend die Modellhaftigkeit dieser Darmstädter Lösung heraus: „Die Personalunion von Gauleiter, Reichsstatthalter und Chef der Landesregierung, die im Machtbereich Sprengers allerdings nur für die hessischen Teile und nicht für die preußischen Gebiete des Gaus Hessen-Nassau galt, war ungefähr das, was allen Gauleitern als die Idealform der nationalsozialistischen Verfassung vorschwebte. Auch Sprenger hat dies, wie seine engsten Mitarbeiter unabhängig voneinander bezeugen, so gesehen und alles daran gesetzt, die preußische Verwaltung in seinem Gau durch Unterminierung für die kommende territoriale Neugliederung und die Überführung in einen ‚Reichsgau‘ reif zu machen.“73 Vor diesem Hintergrund sah Sprenger im preußischen Bezirksverband Nassau die Keimzelle für eine spätere Gauselbstverwaltung in seinem Gaugebiet Hessen-Nassau (d. h. Rhein-Main), zumal im Land Hessen keine derartige überörtliche Selbstverwaltungskörperschaft (mehr) existierte.74 Die Tätigkeit 68 Ebd. (Revolution), S. 242 (dort auch Hinweis auf Wunsch der Gauleitung); Sauer, Widerstand (1996), S. 292 (Gründung der Kirche am 12.09.1933); Demandt, Geschichte (1980), S. 596. – Die 1933 gegründete Landeskirche ist der Vorläufer der heutigen, etwa dasselbe Gebiet abdeckenden „Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau“, die sich jedoch nicht in die Tradition der NS-Gründung stellt, sondern das Datum ihrer Neugründung am 30.09.1947 als ihren „Geburtstag“ ansieht: zu Letzterem vgl. Dietze, Jahrhundert (1997), S. 12. 69 Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 218; zu den Zusammenschlüssen siehe auch ders., Gau (1978), S. 133–135. 70 HStA Wi, Abt. 1129 Nr. 6, o. Bl.-Nr., Druckschrift „‚Partei und Staat‘. Die Stellung des Beamten beim Umbau des Staates unter besonderer Berücksichtigung des Gaues Hessen-Nassau. Gauleiter Sprenger vor dem Führerkorps der Partei und den Behördenleitern von Staat und Gemeinden am 13. Januar 1943. Nur zum persönlichen Gebrauch“ (o. D.), S. 6. – Diese Sätze sind in der Druckschrift (mit Bleistift) gestrichen, möglicherweise wegen des Gebotes, das Thema „Reichsreform“ öffentlich nicht zu behandeln. 71 Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 751 f. (auf S. 751 Zitat „die Umstrukturierung [...]“, dort pluralisch: „Länderverwaltung“); ders., Führerstaat (1989), S. 218 (Zitat „zu einer Art [...]“); siehe auch Recker, Hessen (1997), S. 263. 72 Zu dem Briefkopf siehe z. B. LWV, Best. 14/169, o. Bl.-Nr., Schreiben an LHPA Heppenheim (03.03.1939). 73 Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 219. – Zur Frage der Kongruenz oder Inkongruenz von Reichsstatthalterbezirken/Gauen und der Ähnlichkeit mit den Reichgauverhältnissen siehe auch ebd., S. 247. 74 Sprenger selbst hatte 1937 die drei Provinzen des Landes Hessen (Rheinhessen, Starkenburg, Oberhessen), die ähnlich den bayerischen Bezirken sowohl staatliche Verwaltungsbezirke als auch Körperschaften der überörtlichen Selbstverwaltung waren, aufgelöst; sein 1940 neu erwachtes Interesse für die Selbstverwaltung erweist sich dadurch als machtpolitisches Manöver zur „stille[n] Anpassung an die Struktur der Reichsgaue im Osten“ und nicht als die Förderung einer „vorbildliche[n] Verfassungskonstruktion“: Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 219. 344 IV. Zeit der Gasmorde des Wiesbadener Verbandes hätte über kurz oder lang auf das darmstädtische Territorium ausgedehnt werden sollen – so Sprengers Vorstellungen schon während der 1930er Jahre.75 Insofern durchkreuzte das von Traupel beabsichtigte Aufgehen dieses Bezirksverbandes Nassau in einem größeren Provinzialverband (mit Sitz in Kassel und damit außerhalb des Frankfurter Gaugebiets) die machtpolitischen Wunsch- und Zielvorstellungen Sprengers komplett. Der Reichsstatthalter versuchte dann 1940, eine neue Selbstverwaltungskörperschaft im Land Hessen zu gründen, und führte dazu „sehr eingehende Verhandlungen“ mit dem Reichsinnenministerium.76 Auf Initiative Sprengers war Minister Frick sogar „neuesten Gedanken einer Trennung von Hessen und Nassau [gemeint war Provinz oder Provinzialverband Hessen-Nassau] und einer Vereinigung des Bezirksverbandes [Nassau] mit dem Lande Hessen“77 näher getreten. Dahinter steckte der bereits von Reichskanzleichef Lammers, von Parteikanzleichef Bormann und von Himmler abgesegnete Plan, dass der Wiesbadener Landeshauptmann – dies sollte allerdings nicht mehr Traupel sein – „in Personalunion die neugebildete Selbstverwaltungskörperschaft des Landes Hessen übernehmen“ sollte.78 Dieses Vorhaben scheiterte 1940/41 u. a. daran, dass die Verhandlungspartner nicht darüber einig werden konnten, wer von ihnen das Aufsichtsrecht über den Darmstädter Selbstverwaltungsverband würde ausüben dürfen: der Reichsstatthalter in Darmstadt oder der Reichsminister des Innern.79 Dennoch macht das Szenario deutlich, dass Sprenger das Instrument der Personalunion (hier im Bereich der Selbstverwaltung) als einen Umweg zu seinem eigentlichen Ziel, einer späteren institutionellen Verschmelzung, verstand. Eben diesen Weg hatte er auch schon früher mit einem ähnlichen Manöver im Bankwesen eingeschlagen: Sprenger als Reichsstatthalter ernannte Wilhelm Avieny,80 den Direktor der Nassauischen Landesbank (die dem Bezirksverband Nassau in Wiesbaden zugeordnet war), kurzerhand – und zwar ohne Traupel zu konsultieren oder zu informieren – zugleich zum Kommissar für die Hessische Landesbank (Staatsbank) in Darmstadt; Avieny arbeitete daraufhin für Sprenger einen Plan zur Verschmelzung der beiden Institute aus.81 Mitte 1944, kurz vor Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, sollte Sprenger dann schließlich auch im preußischen Teil seines NSDAP-Gaus die obersten staatlichen Machtpositionen erlangen. Er konnte 75 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666533, zit. n. d. Kopie in BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Danach sollten Sprengers Vorstellungen zufolge „nach der Gründung der Reichsgaue die noch nicht zum Bezirksverband [Nassau, P. S.] gehörenden Gebiete von Hessen [= Land, P. S.] ohne weiteres“ dazukommen. – Siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. 76 BA, R1501/alte Sign.: R18/1283, Bl. 30, RMdI, Vm. Ministerialdirigent Dr. Loschelder (02.08.1944). – Vgl. auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 321; ders., Führerstaat (1989), S. 277; zur weiteren Entwicklung dieses Planes 1944 siehe Kap. V. 4. b). 77 BA, R1501/50480, o. Bl.-Nr., Vm. RMdI, gez. Frick (12.06.1940). – In dem Dokument ist zwar der „Bezirksverband Hessen“ genannt, als Kandidat für die Vereinigung konnte jedoch nur der BV Nassau in Frage kommen. 78 Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Vm., gez. Dr. Stuckart, an Ministerialdirektor Dr. Surén (30.05.1940). – Ein Vm. von Himmler (25.05.1940) mit entsprechendem Inhalt ist auch zit. b. Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 324, bzw. b. dems., Führerstaat (1989), S. 222: „Es herrscht Einigkeit darüber, daß man die beiden (sic!) Selbstverwaltungskörper teilen muß, einen Selbstverwaltungskörper für Kurhessen, einen für Hessen-Nassau in Personalunion verbunden mit einem von Sprenger bereits beantragten und zu genehmigenden für das Land Hessen-Darmstadt“. – Einfügung „(sic!)“ so bei Rebentisch. 79 BA, R1501/alte Sign.: R18/1283, Bl. 12 f., Vm. RMdI, Referent Ministerialdirigent Dr. Loschelder (10.06.1944), hier Bl. 12. 80 Zu Wilhelm („Willi“) Avieny (* 1897) siehe biogr. Anhang. – Quellen: BV Nassau, Verwaltungsbericht (Anfang 1933– Anfang 1934), S. 3; dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 4; LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 9, Geschäftsverteilungsplan d. BV Nassau (02.10.1934); HStA Wi, Abt. 403 Nr. 1498, o. Bl.-Nr., Niederschrift über die Sitzung des Landesausschusses im Landeshaus in Wiesbaden (Sitzungsdatum: 03.11.1933), Tagesordnungspunkte 18 u 19; ebd., o. Bl.-Nr., Wahlvorschlag d. NSDAP zur Wahl des Landesausschusses, gez. Sprenger u. a. (o. D.), hier beglaubigte Abschrift (Beglaubigung: 08.11.1933); Frankfurter Zeitung, Jg. 1935, Nr. 74 (16.03.1935), „Ernennung preussischer Provinzialräte“, hier n. d. Abschr. in IfStG Ffm, Mag.-A. 4.056, Bl. 18; IfStG Ffm, Mag.-A. 4.056, Bl. 19–21, Bl. 62, Bl. 79 f., div. Verzeichnisse der Provinzialräte der Prov. Hessen-Nassau (o. D. [ca. 1935 bzw. 1938 bzw. 1937]); ebd., Mag.-A. 8.974, Korrespondenz Avieny – Stadt Ffm (1942), StA Da, Abt. G 24, Nr. 936, Bl. 40 f., „Namentliches Verzeichnis der Gauamtsleiter, Gauleitung Hessen-Nassau in Frankfurt am Main“, hier als Abschr. innerhalb des Schreibens OLG-Präs. Darmstadt, gez. Dr. Scriba, an d. Gerichte d. OLG-Bezirks (08.01.1943), hier Bl. 40; Gimbel, Schilderungen (1941), S. 144; BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., 16-seitiges Schreiben von W. Traupel, LH d. Provinz Hessen-Nassau, an Gauleiter d. Gaues Hessen-Nassau, Sprenger (11.03.1940), Abschr., hier S. 9 f. 81 Ebd. (Traupel-Schreiben), hier S. 9 f. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 345 die Verklammerung der beiden Territorien faktisch weit vorantreiben, ohne allerdings die integrierte Lösung eines „Reichsgaus Rhein-Main“ formal je erreicht zu haben.82 * Im Jahre 1939 wurden die (nicht deckungsgleichen) Territorien der preußischen Provinz und des NSDAP-Gaus Hessen-Nassau zu einem regionalen Schauplatz der auch andernorts kontrovers geführten Reichsreformdebatte, die jedoch diese Bezeichnung wegen eines Hitler’schen Diskussionsverbotes nicht tragen durfte. Diese Debatte ist einzuordnen vor dem Hintergrund der 1938 und 1939 an den Ostund Südosträndern des deutschen Machtbereichs bereits entstandenen Reichgaue, in denen – anders als im „Altreich“ – Staats- und Parteimacht in einem Amt, dem des Gauleiters, vereinigt waren. Der Kasseler Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, versuchte gemeinsam mit dem Landeshauptmann Wilhelm Traupel, welcher sowohl für den Bezirksverband Nassau in Wiesbaden als auch für den Bezirksverband Hessen in Kassel zuständig war, die Institutionen in der Provinz enger miteinander zu verklammern. Im Widerspruch dazu war der Frankfurter Gauleiter und Darmstädter Reichsstatthalter Jakob Sprenger daran interessiert, die Gemeinsamkeiten zwischen den hessischen und preußischen Teilen seines Gaugebietes (dem Land Hessen und hauptsächlich dem Regierungsbezirk Wiesbaden) weiter auszubauen. Der Konflikt entzündete sich an dem Bezirksverband Nassau, der in beiden Konzepten eine zentrale Rolle spielte. Nur vordergründig ging es für die Hauptkontrahenten, Traupel und Sprenger, um die sachliche Frage, wie sinnvollerweise die Zukunft des Wiesbadener Bezirksverbandes aussehen solle: ob dieser, wie von Traupel angestrebt, zusammen mit seinem Kasseler Pendant in einem gemeinsamen Provinzialverband Hessen-Nassau aufgehen sollte, oder ob er, wie von Sprenger gewollt, in Personalunion mit einem Darmstädter Selbstverwaltungsverband geführt werden und damit den Grundstein für einen künftige „Gauselbstverwaltung“ im angestrebten Reichsgau Rhein-Main bilden sollte. Letztlich waren es eher machtpolitische Bestrebungen und persönliche Differenzen zwischen den Kontrahenten als wirklich sachliche Argumente, die den folgenden Konflikt heraufbeschworen. Unter raumordnungspolitischen Gesichtspunkten nämlich unterschieden die Vorstellungen von Landeshauptmann Traupel und Gauleiter Sprenger sich nicht grundsätzlich. Zwar versuchte Traupel herauszustreichen, er selbst werde vom Motiv der „Verwaltungsvereinfachung“ bewegt, während die Angelegenheit von Sprenger auf die „Basis [...] der Reichsreform gebracht“ worden sei,83 in Wirklichkeit aber zielten doch beide Protagonisten darauf ab, im Rahmen der Reichsreform eine sinnvolle regionale Einheit zu kreieren. Dass zur Begründung des jeweiligen Vorhabens der Landeshauptmann die Förderung einer landschaftlichen und kulturellen Identität auf Basis der bisherigen preußischen Provinz in der Vordergrund stellte, während der Gauleiter die Konzeption der neuen Reichsgaue zum Vorbild nahm, muss sekundär erscheinen – zumal auch Traupel die Reichsgaulösung auf Dauer als die gegebene ansah. Anders als bei dem antikirchlichen Engagement oder der „rassenhygienischen“ Behindertenfeindlichkeit des Bezirksverbandes, denen tatsächlich ideologische Motive zugrunde lagen, war in diesem Fall die reine Machtfrage ausschlaggebend. Sämtliche Konflikte – so sehr sie auch vordergründig mit Sachargumenten ausgefochten wurden – spitzten sich zu auf die Entscheidung, ob der Bezirksverband Nassau als eigenständige Selbstverwaltungsinstitution in Wiesbaden (und damit im Sprenger’schen Gau) bestehen bleiben würde oder ob die Verwaltung nach Kassel verlegt und damit die überörtliche Selbstverwaltung für die „nassauische“ Region künftig von dort aus (und damit von außerhalb des Sprenger’schen Einflussbereichs) betrieben werden sollte. Von Interesse war letztlich nur noch die Frage „Verlegung – ja oder nein?“ 82 Siehe dazu Kap. V. 4. b). NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666421, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 83 346 IV. Zeit der Gasmorde b) Entmachtung des Landeshauptmanns In seinem Bestreben, die Aufgaben der beiden Bezirksverbände Nassau und Hessen unter dem Dach des Provinzialverbandes Hessen-Nassau zusammenzufassen, hatte Landeshauptmann Wilhelm Traupel im Jahr 1939 und in den ersten beiden Monaten des Jahres 1940 nur kleinere Hürden überwinden müssen, ansonsten aber hatte er seine Absichten unbehelligt verfolgen können. Nachdem Traupel und sein Widerpart, der Frankfurter Gauleiter Jakob Sprenger, in dieser Phase überwiegend hinter den Kulissen agiert hatten, kam es im März 1940 zum direkten Schlagabtausch, der sich schnell zu einem existenziellen Machtkampf ausweitete.84 Als Sprenger in den ersten Märztagen – durch einen Hinweis seines Vertrauten im Bezirksverband Nassau, Fritz Bernotat – gewahr wurde, dass Landeshauptmann Traupel sich trotz der Intervention der Aufsichtsbehörde und trotz des erkennbaren Willens der Partei nicht davon hatte abhalten lassen, die Zusammenfassung seiner beiden Bezirksverbände zu forcieren, begann Sprenger in aller Offenheit machtvoll gegen seinen Widersacher vorzugehen. Besonders dass Traupel ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen versucht und damit Sprengers Stellung als Gauleiter nicht respektiert hatte, scheint diesen gekränkt zu haben: Traupel habe es „versäumt und nicht für notwendig gehalten, ihn von der geplanten Zusammenlegung der beiden Verwaltungen nach Kassel pflichtgemäß zu orientieren. Er [Sprenger, P. S.] habe von diesen Dingen erst dann erfahren, als sie ungefähr perfekt waren und auch dann nur durch den ihm persönlich sehr ergebenen SS-Sturmbannführer Bernotat.“85 Sprenger hatte aber bereits kurz vorher (Ende Februar) bei „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler gegen Traupel agitiert. Während generell das Verhältnis der Gauleiter zur SS (und speziell auch dasjenige Sprengers zu Himmler) zumindest als zwiespältig einzuschätzen ist, findet sich hier „ein temporäres pragmatisches Zusammengehen“86, mit dem Sprenger die Ausschaltung seines Gegners bezweckte. Gegenüber Himmler denunzierte er Traupel, 1933 oder 1934, also nach der „Machtübernahme“, zum Katholizismus konvertiert zu sein. Diese Verleumdung säte tatsächlich Misstrauen bei Himmler und brachte Traupel ein Verfahren vor dem „kleinen Schiedhof beim Reichsführer-SS“ ein. Zwar konnte der Landeshauptmann dort den Vorwurf entkräften und sich zumindest formal rehabilitieren, doch trug die Angelegenheit dazu bei, seine Reputation innerhalb der SS zu schmälern.87 Am 8. März 1940 erklärte Sprenger dann dem Landeshauptmann offen die Feindschaft und ließ sich zu einer – ansonsten nicht seinem Naturell entsprechenden – „fast pathologischen Verfolgungswut gegen Traupel hinreißen“.88 In einem mitten in der Nacht zugestellten Telegramm warf Sprenger seinem Kontrahenten Traupel mit Hinweis auf die Zusammenlegungsmaßnahmen eine fortgesetzte Missachtung der Partei vor – dem Landeshauptmann sei schließlich Sprengers „entgegengesetzte Forderung bekannt“ gewesen – und er verbot ihm das Betreten sämtlicher Dienstgebäude der NSDAP im Gau 84 Zum Ablauf dieses Schlagabtausches im März 1940 – soweit hier nicht wiedergegeben – siehe die ausführliche Darstellung bei Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322–325; auch bei dems., Führerstaat (1989), S. 219–223; kürzer bereits bei dems., Gau (1978), S. 150–152. 85 Sprengers Position, wiedergegeben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666533, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Entsprechend auch Sprengers Anwurf, dass „überhaupt nicht der Versuch gemacht wurde, mit mir als dem zuständigen Gauleiter in der Angelegenheit in Verbindung zu treten“: BA, BDCUnterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., Gauleiter Sprenger, Telegramm an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen (08.03.1940, 0.13 Uhr), Abschr. 86 Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 173. – Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221, weist darauf hin, dass „Sprenger de[n] Reichsführer-SS [...] sonst gar nicht schätzte“. 87 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666504–2666507, LH Traupel, Kassel, an HSSPF Gruppenführer Hildebrandt, z. Zt. Berlin (05.03.1940), hier Frame 2666505–2666507; ebd., Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier Frame 2666418 f.; ebd., Frame 2666424–266426, LH W. Traupel, Kassel, an Chef d. Pers. Stabes RFSS, SS-Gruppenführer Wolff, Berlin (05.03.1940), die beiden zuletzt genannten Schreiben hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), alles n. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., Der kleine Schiedhof beim Reichsführer-SS, Berlin, an SS-Obergruppenführer LH Traupel, Kassel (30.08. 1940). – Es wurde festgestellt, dass der Übertritt zur kath. Kirche 1925 oder 1926 stattgefunden habe. – Zur Datierung des Gesprächs Sprenger – Himmler auf Ende Feb. (22.02.1940) siehe Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221. – Zur antikonfessionellen Haltung des BV Nassau in den 1930er Jahren und zu Traupels ehemaligen Konfessionen siehe Kap. II. 3. c). 88 Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 222; vgl. auch ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 324. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 347 Hessen-Nassau.89 Darüber hinaus lehnte er jegliche weitere Zusammenarbeit mit Traupel persönlich und mit ihm als Behördenleiter strikt ab, was schließlich zur Folge hatte, dass Parteistellen im Gau Hessen-Nassau dem Bezirksverband Nassau behördliche Schreiben unbearbeitet zurücksandten, wenn diese Traupels Unterschrift trugen.90 Zwar stellte Oberpräsident Philipp von Hessen sich voll und ganz hinter Traupel und übernahm die Verantwortung für dessen Maßnahmen, doch Sprenger ließ sich davon nicht im Geringsten beeindrucken.91 Parallel zu seinen persönlichen Attacken gegen Traupel arbeitete Sprenger fieberhaft daran, die Zusammenlegung der Bezirksverbände zu stoppen, die er gegenüber Oberpräsident Philipp von Hessen als „völlig ungesetzlich“ bezeichnete.92 In Gesprächen mit Göring und Innenstaatssekretär Pfundtner gelang es dem Gauleiter Mitte März, die Front der Unterstützer Traupels und Philipps zumindest aufzuweichen.93 Unterdessen betrieb Traupel die Zusammenlegung zunächst unbeirrt weiter. Nun allerdings, im März 1940, zeigte sich, dass Sprenger nicht sein einziger Widersacher war, sondern dass Traupel auch in Wiesbaden selbst auf massive Widerstände traf. Von Anfang an hatte der Wiesbadener Bürgermeister und ehemalige NSDAP-Kreisleiter Felix Piékarski versucht, den Umzug zu verhindern; hierzu hatte er bereits Ende 1939 Gespräche in Berlin geführt und parallel eine Allianz mit der Stadt Frankfurt gesucht in der Absicht, gemeinsam mit dieser zur Verhinderung der Verlegung „auf das grössere [...] Gewicht des Rhein-Main-Gebietes und des Regierungsbezirkes Wiesbaden innerhalb der Provinz Hessen-Nassau hin[zu]weisen“. Die Stadt Frankfurt allerdings unterstützte die Wiesbadener Initiative ausdrücklich nicht, sondern erhoffte sich von einer Verlegung der Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes nach Kassel mittelbar sogar Vorteile: Der Umzug nämlich bedeute „einen Einbruch in die Stellung W[iesbadens] als Regierungssitz“, der der Stadt Frankfurt „bei späteren Auseinandersetzungen vielleicht zum Vorteil sein“ könne.94 Zum Scheitern von Traupels Plänen trug aber viel entscheidender als alle Einwände der Stadt Wiesbaden der Unwillen beim Gros der Wiesbadener Mitarbeiter des Bezirksverbands bei, die bei einer Zusammenlegung ihren angestammten Arbeitsplatz hätten aufgeben müssen und bei denen die geplanten Versetzungen nach Kassel „große Erregung“ hervorriefen. Wie der Wiesbadener Landesrat Kranzbühler gegenüber Traupel ausbreitete, sahen viele der Wiesbadener Beamten und Angestellten sich aus persönlichen Gründen (etwa wegen Familienbindung oder körperlicher Behinderung) nicht in der Lage, nach Kassel umzuziehen, zumal sie befürchteten, dort während des Krieges kaum geeignete Wohnungen finden zu können.95 Auch Sprenger wies auf die „tiefste Depression“ hin, die unter Beamten und Angestellten im Wiesbadener Landeshaus geherrscht habe; „tiefe Sorge um ihr zukünftiges Schicksal“ hätten ebenso auch „mehrere[...] hundert im Felde stehende[...] Gefolg89 HStA Wi, Abt. 520 KZ Nr. 3217, Bl. 16, Telegramm von Gauleiter Sprenger an LH Traupel, Kassel (08.03.1940, 1.30 Uhr nachts), Abschr. mit dem Zusatz „Original beim Obersten Parteigericht“; weitere Abschr. vorhanden in BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr. – In der Abschr. in HStA Wi heißt es anstatt „entgegengesetzte“: „entgegensetzte“. 90 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666429, OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an Gauleiter des Gaues HessenNassau, Sprenger, Ffm (14.03.1940), auszugsweise Abschr. als Anlage 4 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940); ebd., Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666545, hier als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), beide vorgenannten Dok. hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 91 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666429, OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an Gauleiter des Gaues HessenNassau, Sprenger, Ffm (14.03.1940), auszugsweise Abschr.; ebd., Frame 2666430, NSDAP-Gauleitung Hessen-Nassau, Gauleiter Sprenger, Frankfurt a. M., an OP der Prov. Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, Kassel (23.03.1940), auszugsweise Abschr., beide vorgenannten Dok. waren Anlage 4 bzw. Anlage 5 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), beide Dok. hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 92 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., Gauleiter Sprenger, Telegramm an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen (08.03.1940, 0.13 Uhr), Abschr. 93 Vgl. Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323. – Die Unterredung Sprenger – Göring fand am 19.03.1940 statt. 94 IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 73, Stadtrat Arntz, Ffm, an OB, Ffm (28.11.1939) (Zitat zur Initiative Piékarskis); ebd., Bl. 74, Vm. aus dem Hauptverwaltungsamt der Stadt Ffm (o. D. [29.11.1939]) (Zitat zur Haltung Frankfurts). 95 HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden, schriftliche Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 93. 348 IV. Zeit der Gasmorde schaftsmitglieder des Landeshauses [gehabt], die befürchteten, daß ihnen der Arbeitsplatz wegorganisiert wird, während sie mit der Waffe in der Hand das Vaterland verteidigen“.96 Möglicherweise hatte Traupel die geballte Macht, die von der Wiesbadener Mitarbeiterschaft ausging, unterschätzt, vielleicht war sie ihm persönlich tatsächlich verborgen geblieben. Zwar gestand er ein, die geplante Zusammenlegung sei eine „Maßnahme, die [...] viele meiner Mitarbeiter in Wiesbaden persönlich schmerzlich berührt und berühren muß“ – doch von „einer ‚tiefsten Depression‘“ habe er „nichts feststellen können.“97 Möglicherweise hatte Traupel auch versucht, die vorübergehende Abwesenheit einzelner leitender Beamter auszunutzen, die mit den Verlegungsmaßnahmen aus persönlichen Gründen nicht einverstanden waren. Bernotat fiel Anfang 1940 mehrere Wochen krankheitsbedingt aus; nach einer Gallenoperation verbrachte er einige Zeit im Krankenhaus. Einerseits erfuhr er dadurch von Traupels Maßnahmen erst mit Verspätung (und meldete sie auch erst verspätet an Sprenger), andererseits hatte er dadurch auch seiner Versetzung nach Kassel, die Bernotats in Wiesbaden verwurzelte Ehefrau partout verhindern wollte, zunächst nichts entgegensetzen können.98 Ebenso schien anfangs der nach Prag abgeordnete Landesrat Ludwig Johlen der Streichung seines Wiesbadener Amtes als Fürsorgedezernent machtlos ausgeliefert. Traupel setzte sich im Februar 1940 dafür ein, dass der Reichsprotektor endgültig eine Beamtenstelle für Johlen in Prag schaffen möge – andernfalls könne der Landesrat weiterhin für das Protektorat beurlaubt bleiben, Traupel jedenfalls habe „keine Verwendung mehr für [ihn]“.99 Als Johlen dies gewahr wurde, setzte er alles daran, aus Prag loszukommen und „so schnell wie möglich wieder nach Wiesbaden zurückzukehren“, um zu verhüten, dass er dort „aus der Verwaltung [...] herauskomme“; Mitte April 1940 schließlich gelang ihm die Rückkehr.100 In der Zwischenzeit hatte im Wiesbadener Landeshaus aber ausgerechnet Landesrat Max Kranzbühler, Traupels ansonsten immer so loyaler Stellvertreter, die Initiative ergriffen und Insubordination geübt. Auch dem mittlerweile fast 62-jährigen Kranzbühler, in zweiter Ehe in Wiesbaden verheiratet,101 dürfte die in Aussicht genommene Versetzung nach Kassel wenig verlockend erschienen sein. Um den Umzug zu verhindern, führte er jedoch niemals persönliche Gründe an, sondern seine abweichende „Rechtsauffassung“, nach der für die Zusammenlegung die Genehmigung des Reichsinnenministers 96 Eingabe von Sprenger an RMdI Frick (17.04.1940), zit. im Schreiben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453– 2666455, OP d. Prov. Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier Frame 2666453 f., hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 97 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster (01.03.1940), Abschr., hier Frame 2666462 (Zitat „Maßnahme, die [...]“); ebd., Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP in Kassel (16.05.1940), Abschr., hier Frame 2666457 (Zitat „[...] ‚tiefsten Depression‘“), beide vorgenannten Dokumente hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 98 Bernotat befand sich im Februar im Wiesbadener Krankenhaus „Schöne Aussicht“, Anfang März war seine Gesundheit noch nicht wieder hergestellt: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 4–8, Bl. 10, Protokoll d. Vernehmung Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946), hier Bl. 4; NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666445–2666447, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV Hessen u. an BV Nassau, an OP in Kassel, sowie an diverse Empfänger innerhalb d. BV Hessen u. Nassau (02.03.1940), hier Frame 2666445; ebd., Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508 u. 2666510, beide vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Fritz Bernotat (1890–1951) siehe auch biogr. Anhang. 99 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666448–2666451, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an komm. Leiter d. Bodenamtes, Ministerium f. Landwirtschaft, z. H. Staatskommissär Groß, Prag (29.02.1940), Abschr. als Anlage zum im Folgenden genannten Schreiben, hier Frame 2666450 f.; vgl. auch ebd., Frame 2666504–2666507, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, z. Zt. Berlin (05.03.1940), hier Frame 2666504 f., beide vorgenannten Schreiben hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Ludwig Johlen (1885–1960) siehe biogr. Anhang. 100 NARA, T-81, Roll 41, Frame 3863–3866, SS-Sturmbannführer LdsR Johlen, [z. Zt. auf Urlaub in] Wiesbaden, an HSSPF Danzig-Westpreußen, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (04.04.1940), hier Frame 3864 f.; siehe auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Johlen, Ludwig, Teil 6, Bl. 22–24, hier Bl. 24, Ludwig Johlen, Anlage zum Fragebogen d. Military Government of Germany (o. D. [1945]) (hier datiert Johlen sein „Loskommen“ aus Prag allerdings auf März 1940); siehe auch HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 24451, Bl. 12–16, Ludwig Johlen, Darmstadt [= Internierungslager], Lebenslauf für Spruchkammer (15.04.1947), hier Bl. 13. 101 BA, BDC-Unterlagen (PK) zu Kranzbühler, Max, Personalblatt zu Kranzbühler ohne Urheberangabe [= BV Nassau für RMdI-Personalakte Kranzbühler] (01.05.1944). – Zu Max Kranzbühler (1878–1964) siehe biogr. Anhang. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 349 notwendig sei. Als ihm kurz vor den Osterfeiertagen 1940 bekannt wurde, dass Landeshauptmann Traupel für den Dienstag nach Ostern, den 26. März, bereits Möbelwagen hatte bestellen lassen, um den Umzug der Wiesbadener Straßenbauabteilung nach Kassel zu vollziehen, griff Kranzbühler – assistiert von seinem Landesratskollegen Bernotat – ein. Kranzbühler informierte Bernotat, der sich (wohl noch als Rekonvaleszent) in seinem Jagd- und Wochenendhaus in Weilmünster aufhielt, über die neuesten Entwicklungen. Bernotat empfing dann in Weilmünster den Gauleiter Sprenger und eröffnete diesem im vertraulichen Gespräch die Neuigkeiten. Wie wohl von Kranzbühler erhofft, meldete Sprenger sich umgehend, noch am Karsamstag, telefonisch bei ihm und drohte an, er werde „alle seine Machtmittel einsetzen [...], um die Abfahrt der Möbelwagen zu verhindern. Was dies heiße, würde ich“ – so Kranzbühler – „ja wohl wissen.“ Die „Vermeidung eines öffentlichen Skandals in Wiesbaden, z. B. Abführung der beladenen Möbelwagen“, bot für Kranzbühler nun die willkommene Begründung, die Spedition postwendend abzubestellen. Zugleich wandte er sich unmittelbar an das Ministerium des Innern. Beides konnte er ohne Gewissensnöte und ohne formale Verletzung des Dienstweges tun, da sowohl Landeshauptmann Traupel als auch Oberpräsident Philipp von Hessen über Ostern verreist waren, sodass Kranzbühler selbst die verantwortliche Vertreterposition zufiel. Am Ostersonntag erreichte er über Umwege den Innenminister Frick, der sich – ebenfalls im Osterurlaub – am Tegernsee aufhielt. Kranzbühler erfuhr, dass Frick bereits kurz zuvor den Kasseler Oberpräsidenten angewiesen hatte, die Zusammenlegung zu stoppen. Damit – so Kranzbühler – habe sich seine Vermutung bestätigt, dass es sich bei der geplanten Verlegung „lediglich um eine Gewaltmaßnahme des Landeshauptmanns Traupel gehandelt hatte“.102 Kranzbühler rühmte sich später, dass „die Erhaltung der Verwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden lediglich [s]einem Eingreifen [...] zu verdanken“103 gewesen sei. Nachdem die Wiesbadener Landesräte den Gauleiter informiert hatten, konnte Sprenger nicht nur die konkrete Umzugsmaßnahme Ende März verhindern – auch der bisherige Landesrat Willi Schlüter wurde durch ihn um seine neue Stellung als stellvertretender Generaldirektor der Nassauischen Landesbank in Wiesbaden gebracht. Im Zuge der Traupel’schen Zusammenlegungspläne hatte Schlüter Anfang März die Ernennungsurkunde des Oberpräsidenten für diese Position entgegengenommen.104 In seiner neuen Stellung stand Schlüter sich von Status und Gehalt wesentlich besser als bisher, sodass er die Wechselofferte gern akzeptiert hatte – zumal damit sein Verbleib in Wiesbaden gesichert schien. Offenbar bei seinem Besuch bei Bernotat in Weilmünster kam Jakob Sprenger zu dem Entschluss, die Ernennung Schlüters rückgängig zu machen, wozu er freilich formal gar keine Handhabe hatte. Wenngleich durch die Aushändigung der Ernennungsurkunde die Einweisung in die Stelle bereits rechtswirksam geworden war, setzte Sprenger nun alles daran, dies post festum rückgängig zu machen. Er verlangte, dass Schlüter die Urkunde an den Oberpräsidenten zurücksende. Bernotat übernahm am Karsamstag die telefonische Übermittlung der Sprenger’schen Forderung. Schlüter sah sich nun in einer Zwickmühle: Gab er die Urkunde zurück, so gab er damit seine neue Stelle bei der Landesbank auf – in seine alte Position als Landesrat des Bezirksverbandes hätte er damit allerdings nicht automatisch zurückkehren können, zumal Traupel bereits die Streichung der Stelle aus dem Stellenplan veranlasst hatte. Gab er die Urkunde dagegen nicht zurück, handelte er gegen den ultimativ geäußerten Willen des Gauleiters. In Telefonaten zunächst mit dem Sprenger-Stellvertreter Karl Linder, dann mit dem Gauleiter selbst, versuchte Schlüter, Verständnis für seine Zwangslage zu vermitteln – letztlich jedoch vergeblich. Sprenger verlangte von dem Exzentrumspolitiker schließlich: „die Urkunde muss Oster102 HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden, schriftliche Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 93 f. – Dass die Information Sprengers über Bernotat erfolgte, lässt sich aus Kranzbühlers Formulierung „[...] ließ ich ihm von der beabsichtigten Verwaltungsverlegung Kenntnis geben“ (ebd., Bl. 93) und aus der Tatsache schließen, dass Sprenger gerade zu diesem Termin Bernotat in Weilmünster aufsuchte. – Zu diesem Besuch am Vormittag des Karsamstag (23.03.1940) oder kurz davor siehe HStA Wi, Abt. 520 BW Nr. 4469, Bl. 84 f., Eidesstattliche Erklärung von Rosel W., ehem. Dezernatssekretärin, für Willi Schlüter (22.09.1947), Kopie, hier Bl. 84. – Auf einen entsprechenden „Stopperlass“, den das RMdI in diesen Tagen nach Kassel sandte, verweist auch Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221; auch ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323. 103 HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 31–34, I. LdsR a. D. Kranzbühler an RP Wiesbaden, betr. „Einspruch gegen meine Dienstentlassung“ (22.06.1945), hier Bl. 33. 104 Siehe dazu Kap. IV. 1. a). – Zu Willi Schlüter (* 1884) siehe biogr. Anhang. 350 IV. Zeit der Gasmorde dienstag beim Oberpräsidenten auf dem Schreibtisch in Kassel liegen, Durchschlag des Anschreibens bei mir, sonst sind Sie erledigt!“ Schlüter fügte sich diesem Druck. Immerhin konnte er dann allerdings bald wieder als Finanz- und Wirtschaftsdezernent des Bezirksverbandes Nassau tätig werden, nachdem Traupel die meisten Vereinigungsmaßnahmen mit dem Kasseler Verband hatte rückgängig machen müssen. Der Vorgang belegt, in welch weit gehendem Maße Gauleiter Sprenger bereit war, seine Machtinteressen über Recht und Gesetz – und selbst, wie in diesem Fall geschehen, über das von ihm ansonsten hoch gehaltene Beamtenrecht – zu stellen.105 Durch Sprengers Eingriffe hatten sich die Fronten zwischen Gauleiter und Landeshauptmann weiter verhärtet. Traupel war nun zusätzlich dadurch düpiert, dass Sprenger im Landeshaus durch seinen Stabsamtsleiter (in Anwesenheit von Bernotat und Kranzbühler, aber ohne Wissen des Landeshauptmannes selbst) Vernehmungen von Mitarbeitern des Bezirksverbandes hatte vornehmen lassen, um Argumente gegen Traupel zu sammeln.106 Nur noch ein für Mitte April 1940 angesetztes Spitzengespräch in Berlin schien Abhilfe zu ermöglichen. Eine Woche vor diesem Treffen gab Traupel sich verhalten zuversichtlich, dass er seinen Zusammenlegungsplan doch noch werde durchsetzen können: „Göring will die Sache durchführen, und ohne ihn wird die Sitzung nicht stattfinden, auch wenn sie nochmals verschoben werden müßte.“ Anders als Göring gehörte Frick nicht mehr zu den Unterstützern des Plans; der Innenminister hatte sich inzwischen – so Traupels Einschätzung – von Sprenger und Stuckart „einwickeln lassen“. Der Landeshauptmann glaubte indessen auch noch daran, bei der Besprechung werde „die Aussöhnung mit Sprenger (auf Druck) erfolgen“ – anderenfalls schwebte Traupel ein Rededuell zwischen ihm selbst und Sprenger vor, wobei Rudolf Heß als Schiedsrichter über Sieg und Niederlage hätte entscheiden sollen.107 Das Gespräch am 16. April im Berliner Innenministerium – in seinem Verlauf von Rebentisch eindrücklich dargestellt – wurde für Traupel zum Fiasko, wenn er auch später versuchte, das Ergebnis als „Kompromiss“ darzustellen. Anders als von ihm prognostiziert fehlte Göring (laut Traupel wegen „der Entwicklung in Norwegen“); auch der erwartete Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, war nicht persönlich anwesend, sondern ließ sich durch den Leiter seiner staatsrechtlichen Abteilung, Walther Sommer, vertreten. Während Oberpräsident Philipp von Hessen nur wenig zur Verteidigung seines Landeshauptmannes vorzubringen vermochte, konnte Gauleiter Sprenger sich fast auf der ganzen Linie durchsetzen. Traupel, der nicht einmal im Sitzungsraum selbst anwesend sein durfte, hatte sich anschließend nur noch von Frick das Ergebnis verkünden zu lassen: Die Verwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden müsse wieder voll hergestellt werden, und bis auf einzelne, schon früher vorgenommene Versetzungen habe auch der personelle Status quo ante wieder zu gelten; sowohl Bernotat als auch Schlüter sollten ihre Ämter weiter bzw. wieder in Wiesbaden ausüben.108 105 HStA Wi, Abt. 520 BW Nr. 4469, Bl. 14–17, Schriftl. Darstellung LdsR a. D. Willi Schlüter (ohne Adressat, wahrscheinlich für Spruchkammer Wiesbaden) (25.09.1946), hier Bl. 16 f.; ebd., Bl. 28, Bestätigung Landesbankdirektor F., Nass. Landesbank Wiesbaden, für LdsR a. D. Willi Schlüter (09.09.1946), Abschr.; Bl. 84 f., Eidesstattliche Erklärung von Rosel W., ehem. Dezernatssekretärin, für Willi Schlüter (22.09.1947), Kopie. 106 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940), Abschr., hier Frame 2666458, hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Bei Sprengers Stabsamtsleiter handelte es sich um Dr. W. Hildebrandt (nicht zu verwechseln mit Richard Hildebrandt). 107 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666500 f., LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Danzig (10.04.1940), hier Frame 2666500, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 108 BA, NS25/909, Bl. 38–40, NSDAP-Gauleitung Ffm, stv. Gauleiter, an Hauptamt für Kommunalpolitik, betr. „Zusammenlegung der Bezirksverbände Nassau und Hessen“ (29.05.1940); NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666421 f. (in Frame 2666422 Zitat zu Norwegen); ebd., Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666535, beide vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 220; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323 f. – Außer den bereits Genannten nahmen teil vom RMdI: Staatssekretär Stuckart, Ministerialdirektor Surén, Ministerialrat Jung u. Ministerialdirigent Medicus. – Zu Walther Sommer (1893–1946) siehe biogr. Anhang. – Quelle zur Biografie: Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 412 f. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 351 Was Traupel als angeblich festgelegte Kompromisslinie verstand, hielt er drei Tage später schriftlich gegenüber dem Innenministerium fest – wobei sich nicht mit Sicherheit klären lässt, ob man sich tatsächlich auf diese Linie festgelegt hatte oder ob Traupel versuchte, sein Terrain neu abzustecken. Nun nämlich bemühte sich auch der Landeshauptmann – wie in anderem Zusammenhang bereits Sprenger – den Weg der Personalunion als Vorstufe zur Fusion zu gehen: Sowohl die Anstalts- als auch die Straßenbauverwaltungen beider Bezirksverbände sollten formal zwar getrennt, aber personell von jeweils nur einem gemeinsamen Dezernenten betreut werden – ersteres Gebiet von Bernotat in Wiesbaden, letzteres von Kirsten in Kassel. Traupel interpretierte das Besprechungsergebnis zudem dahingehend, dass „die Angelegenheiten der provinziellen Kulturpflege, der Denkmalpflege, die Hochbauangelegenheiten und Baupflegesachen“ künftig auf den Provinzialverband Hessen-Nassau übertragen würden – mit einem zentralen Dienstsitz für dieses Arbeitsfeld in Marburg.109 Dass das Innenministerium bereits knapp zwei Monate später nicht – oder nicht mehr – bereit war, weitere Personalunionen zwischen den beiden Bezirksverbänden zuzulassen, erwies sich anhand eines Präzedenzfalles. Als nämlich der für Finanzen zuständige Kasseler Landesrat Schlemmer im Mai 1940 zum Dienst bei der Waffen-SS eingezogen werden sollte, beantragte der Oberpräsident für den Bezirksverband Hessen, dass vorübergehend der nun wieder als Finanzdezernent des Bezirksverbandes in Wiesbaden amtierende Schlüter dessen Aufgaben mitversehen dürfe, da (nach Schlemmers Einberufung) in Kassel alle Landesräte eingezogen seien. Vorsorglich bemerkte Philipp von Hessen „ausdrücklich, daß es sich hier um eine vorübergehende Kriegsmaßnahme“ handele, die mit seinem „Beschluß [...] über die Bezirksverbände nichts zu tun“ habe. Das Innenministerium aber verweigerte genau mit jenem Argument die Zustimmung: eine zusätzliche Beauftragung Schlüters mit den Kasseler Dienstgeschäften „würde einen weiteren Schritt in der Richtung einer Vereinigung der beiden Bezirksverbände bedeuten und somit den seinerzeit gemeinsam erörterten Bestrebungen zuwiderlaufen.“110 Diese Haltung Fricks lässt die Traupel’sche Initiative zur Vereinigung bestimmter Kasseler und Wiesbadener Funktionen in einer Hand als eigenmächtige Interpretation der Besprechungsergebnisse erscheinen; aber auch eine plötzliche Abwendung des Ministeriums von einem „Kompromiss“ ist nicht auszuschließen. Traupel jedenfalls wusste mit Bestimmtheit zu berichten, dass durch Frick zunächst noch einen Erlass unterzeichnet worden sei, der „den ersten Schritt für die Zusammenlegung“ vorgesehen habe. Göring habe diesen Erlass im Mai/Juni 1940 gegengezeichnet, aber auf dem Weg zu Heß sei das Dokument dann „spurlos verschwunden“ – Sprenger dagegen behauptete, Göring habe in der betreffenden Frage ihm und nicht Traupel Recht gegeben.111 Man darf wohl spekulieren, dass es Sprenger im Rahmen seiner im Mai und Juni 1940 betriebenen Anstrengungen zur Bildung einer hessen-darmstädtischen Selbstverwaltungs109 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., BV Hessen, gez. i. V. LH Traupel, Az. A (S), Bericht an RMdI, betr. „Verwaltung der Bezirksverbände Hessen-Nassau“ (19.04.1940), Durchschr. einer Abschr. 110 BA, R1501/50480, o. Bl.-Nr., OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an RMdI, „Eigenhändig!“, betr. „U. K.-Stellung des Landesrats Dr. Schlemmer, Bezirksverband Hessen“ (29.05.1940); ebd., Vfg. zum Schnellbrief RMdI, gez. Frick, an OP d. Prov. Hessen-Nassau (12.06.1940). – SS-Sturmbannführer Schlemmer wurde bald darauf (u. a. im August 1940) von der Waffen-SS in Warschau eingesetzt: NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666466, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 111 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier 2666534 (dort gibt Hildebrandt die Aussage Sprengers wieder, im „übrigen seien die maßgeblichen Organe in Berlin und München (Innenministerium, Göring und Bormann) alle gegen die Zusammenlegung der beiden Verbände“); ebd., Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666469; vgl. auch ebd., Frame 2666471–2666474, Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SS-Oberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666473 (in diesem Antwortschreiben äußert Hildebrandt Verwunderung über die Unstimmigkeiten: „Sehr interessiert hat es mich zu hören, daß Göring in der ganzen Angelegenheit im Gegensatz zu der Meinung von Sprenger einen anderen Standpunkt bezogen hatten, und das Heß – wie Du mir schreibst – überhaupt nicht über die Sache orientiert sein soll. Damit würde die ganze Frage von Grund auf natürlich wesentlich anders aussehen. Ich kann aber nicht verstehen, daß Sprenger mich so falsch unterrichtete. Er muß doch damit rechnen, daß diese falschen Ansichten sehr bald berichtigt werden“; vgl. auch ebd., Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666416 (hier gibt Traupel noch die Darstellung, Göring sehe diese Kompromissregelung zwar „nur als vorläufig an“, habe aber den Erlass bereits Anfang Mai gegengezeichnet und an das Innenministerium zurückgegeben). – Alle 4 vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 352 IV. Zeit der Gasmorde körperschaft und zu deren personeller Verklammerung mit dem Bezirksverband Nassau112 gelungen ist, auch die letzten Zugeständnisse, die die Ministerialbürokratie – dem Willen Görings entsprechend – gegenüber Traupel und Philipp von Hessen gemacht hatte, mit Macht und Einfluss zu Fall zu bringen. Im Frühjahr 1940 stand Landeshauptmann Traupel mit seiner Position relativ allein da – nur Oberpräsident Philipp von Hessen hielt weiterhin zu ihm. Dass Traupel derart ins Abseits geraten war, muss auch auf den fehlenden Rückhalt in der eigenen Verwaltung – und schließlich auch bei seinen einstigen Freunden und Mentoren in der SS zurückgeführt werden. Immerhin ist es bemerkenswert, dass weder Himmler noch sonst ein hochrangiger SS-Repräsentant bei der Besprechung am 16. April im Innenministerium anwesend war, um für Traupel Partei zu ergreifen. Schon recht frühzeitig scheint Himmler in der Auseinandersetzung auf vorsichtige Distanz zu Traupel gegangen zu sein, denn ein der SS zugehöriger Landeshauptmann, der sich – ob im Recht oder nicht – mit dem Gauleiter in seiner Region derart massiv anlegte, konnte auf lange Sicht der SS insgesamt eher schaden als nützen. Traupel indessen suchte Himmlers Nähe und trat auf fast pathetische Weise an diesen herantrat: „Als SS-Oberführer bitte ich um Ihren Schutz, Reichsführer.“ Doch der SS-Chef hielt sich gegenüber Traupels Bemühungen um eine Kontaktaufnahme äußerst bedeckt – fast inständig wirken nach mehrwöchigem vergeblichen Warten die Bitten des Landeshauptmanns an Himmler, doch endlich sein „Urteil“ über ihn, Traupel, bekannt zu geben. Traupels Wunsch, Himmler möge ihn „einmal für eine halbe Stunde empfangen“, scheint der Reichsführer-SS im Laufe der gesamten Auseinandersetzung nicht erfüllt zu haben.113 Traupel musste sich mit der dürren – über Philipp von Hessen ausgerichteten – Bemerkung Himmlers begnügen, „er würde nach wie vor zu mir stehen.“114 Besonders dass sein langjähriger Adlatus und SS-Kamerad Fritz Bernotat ihm in den Rücken fiel und „Verrat und Intrige“ übte, ging Traupel nahe – er fühlte sich persönlich enttäuscht von Bernotat, dem er „immer nur Gutes getan und ihn gefördert“ habe.115 Selbst gegenüber Himmler persönlich klagte Traupel 1940, er habe eine „sehr traurige Erfahrung [...] mit [s]einem früheren Adjutanten [...] gemacht, der sich von Gauleiter Sprenger vor den Wagen spannen ließ“.116 Wie war es konkret zu diesem „Verrat“ gekommen? Dass Bernotat Sprenger im März 1940 über Traupels Pläne informierte, war eine deutliche Eskalation, doch das Verhältnis zwischen dem Landeshauptmann und seinem Adjutanten wies längst vorher Anzeichen der Zerrüttung auf. Die Unstimmigkeiten gingen zurück bis ins Jahr 1938 und gründeten in der Zeit, kurz nachdem Bernotat seine Ernennung zum Landesrat117 erhalten hatte. Den ersten Anlass für Missstimmigkeiten gab der „bekannte Fall Pfeffer“, wie Traupel später rekapitulierte. Es dürfte sich dabei um die Kritik an der desolaten Situation 112 Siehe dazu Kap. IV. 1. a). NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666424–266426, LH W. Traupel, Kassel, an Chef d. Pers. Stabes RFSS, SSGruppenführer Wolff, Berlin, (05.03.1940), Abschr. hier als Anlage 1 zum folgenden Schreiben; ebd. Frame 2666418– 266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), Abschr., hier insb. Frame 2666419 (Bitte um „Urteil“) u. Frame 2666423 (Zitat „[...] halbe Stunde [...]“), beide vorgenannten Schreiben hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940) (dem Schreiben an Himmler bzw. der Abschrift an Hildebrandt waren 8 Anlagen zur Dokumentation der gesamten bisherigen Auseinandersetzung beigefügt); ebd., Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666552 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS über SD-Hauptamt, z. H. SS-Brigadeführer Dr. Best, Berlin (06.08.1940), Abschr., hier insb. Frame 2666553 (dort Zitat „[...] Schutz [...]“), beide vorgenannten Schreiben als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), alle Schreiben hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen] (das Schreiben an Himmler persönlich vom 06.08.1940 [keine Abschr.] findet sich auch in BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr.). 114 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666414, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (08.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 115 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Provinz Hessen-Nassau, W. Traupel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942); vgl. auch NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666416; vgl. auch ebd., Frame 2666452, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), Original aus den Unterlagen von SS-Gruppenführer Hildebrandt, beide vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 116 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., „Der Oberpräsident (Verwaltung des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, SS-Oberführer W. Traupel, an RFSS Heinrich Himmler, persönlich, Berlin (06.08.1940). 117 Siehe Kap. III. 3. a). 113 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 353 im „nassauischen“ Anstaltswesen gehandelt haben, die der Wiesbadener Regierungspräsident Fritz von Pfeffer118 im Frühjahr 1938 an das Innenministerium in Berlin weiterleitete, womit Bernotat als Anstaltsdezernent in die Bredouille zu geraten drohte.119 Bernotat hatte in diesem Zusammenhang Traupel – so dessen Darstellung – „übel genommen“, dass der Landeshauptmann im Berliner Innenministerium nicht wie Bernotat „gegen Pfeffer vorgeprescht“ sei. Weiterhin hatte Bernotat – wohl auch 1938 – Sprenger zugetragen, dass Traupel das Marburger Schloss als Zentrum der Kulturarbeit der beiden Bezirksverbände ins Auge gefasst hatte; dabei hatte Bernotat dem Gauleiter gegenüber den – im Nachhinein betrachtet gar nicht so falschen – Eindruck erweckt, Traupel wolle dort – in Marburg – die beiden Bezirksverbände zusammenziehen. Mit dieser Indiskretion hatte Bernotat das Vertrauen seines bisherigen Mentors Traupel erstmals in eklatanter Weise gebrochen.120 Auf der Suche nach den Ursachen für Bernotats „Verrat“ im März 1940 kam Traupels langjähriger Vertrauter Richard Hildebrandt121 in einem Brief an den Landeshauptmann zu folgender Analyse der Bernotat’schen Persönlichkeit und von dessen Beweggründen: „Daß er sich vollkommen auf die Seite von Sprenger geschlagen hat, hängt wesentlich damit zusammen, daß er sich von Dir in seiner Autorität als Landesrat in Wiesbaden schwer angegriffen fühlte, wenn ich mir auch darüber klar bin, daß hier die tiefere Ursache in der Tatsache liegt, daß er überhaupt je so viel geworden ist.“ Letztlich wies Hildebrandt damit Traupel die Verantwortung dafür zu, dass jener Bernotat zum Landesrat hatte befördern lassen – ein Vorwurf, den auch Traupel selbst sich mittlerweile machte. Zugleich verwies Hildebrandt auf seine eigenen Bemühungen, schon die ersten Missstimmigkeiten zwischen Traupel und Bernotat auszuräumen, „vor allem, weil ich mir klar darüber war, daß Bernotat – wenn schon eine Feindschaft besteht – dann nur in der seiner Bildung und seiner Art entsprechenden Weise reagieren kann. [...] Naturen wie Bernotat sind in Ihrer Zuneigung so extrem veranlagt, wie in ihrer Ablehnung.“ Schließlich erging Hildebrandt sich in schicksalsergebenen Deutungen: „Es ist sehr schade, daß alles so gekommen ist, und, daß vielleicht letzten Endes die Verhältnisse und die Dinge stärker wurden, als die Menschen selber.“122 Traupel selbst in seiner gekränkten Ehre interpretierte es – bezogen auf die Persönlichkeit Bernotats – als „ein Charakter-Manko, wenn man sich immer nur von Speichelleckern beeinflussen läßt, insbesondere auch gegen die Menschen, deren Freundschaft man erproben konnte.“123 Die seit 1938 aufgekommenen Differenzen zwischen Traupel und Bernotat waren den übrigen Mitarbeitern des Bezirksverbandes Nassau nicht verborgen geblieben. In dieser Situation, als Bernotat durch Ernennung zum Landesrat zwar einen entscheidenden Karriereschritt gemacht hatte, als er jedoch angesichts der Differenzen mit Traupel keine wirklichen Entfaltungsmöglichkeiten mehr sah, ließ er sich im späten Frühjahr 1939, kurz nach der deutschen Okkupation der so genannten „Resttschechei“, in das dortige „Protektorat Böhmen und Mähren“ abwerben, welches (auch mit Unterstützung des Bezirksverbandes) ausgebildete Verwaltungskräfte zum Aufbau einer „deutschen“ Verwaltung suchte. Gemeinsam mit rund einem Dutzend weiterer Beamter und Angestellter des Bezirksverbandes Nassau ging Bernotat nach Prag zum „Bodenamt“ des „Protektorats“. Bei einem Betriebsappell im Wiesbadener Landeshaus zur Verabschiedung der dorthin abgeordneten Mitarbeiter hatte Traupel im 118 Zu Fritz von Pfeffer (1892–1961) siehe biogr. Anhang. Siehe dazu Kap. III. 3. b). 120 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666467, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Traupels Aktivitäten auf dem Gebiet der Kulturpflege siehe Kap. II. 3. b). 121 Zu Richard Hildebrandt (1897–1951) siehe biogr. Anhang. 122 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471-2666474, [HSSPF SS-Gruppenführer] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SSOberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666472, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Hervorhebung im Dokument durch Sperrung. – Vgl. ebd., Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Dort (Frame 2666466) bekennt Traupel: „Tatsache ist, – vielleicht der Vorwurf gegen mich –, dass Bernotat sein Hochkommen mir zu verdanken hat.“ 123 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666512 f., LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (08.06.1940), hier Frame 2666512, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 119 354 IV. Zeit der Gasmorde Juni 1939 die verfahrene Situation mit guter Miene überspielt: gegenüber Bernotat habe er „alle Empfindungen unterdrückt und [...] ihn zusammen mit Johlen [...] in einer Art und Weise verabschiedet, daß alle Redereien abgebogen wurden. Er wurde von mir als mein treuester Mitarbeiter und als mein Freund bezeichnet.“ Ob Bernotat in Prag eine neue Perspektive suchte oder lediglich eine Erholungspause von der unerquicklich erscheinenden Situation in Wiesbaden – letztlich war ihm weder das eine noch das andere vergönnt. Wie Traupel wusste, eckte Bernotat – erst einmal „[a]uf sich gestellt“ – „im Protektorat überall an und überwarf sich mit allen Oberlandräten.“ Ob aus freien Stücken oder um einer Entlassung zuvorzukommen (wie Traupel meinte) – in jedem Fall beantragte Bernotat bereits nach nicht einmal drei Monaten die Aufhebung der Abordnung und kehrte im September 1939 nach Wiesbaden zurück.124 Frustriert und offenbar völlig demotiviert nahm Bernotat seine Wiesbadener Tätigkeit im Bezirksverband wieder auf: „Seine Erlebnisse im Protektorat haben ihn ganz verbiestert“, resümierte Traupel. Durch einen schweren Autounfall schien Bernotat nach Einschätzung des Höheren SS- und Polizeiführers in Wiesbaden, Erwin Rösener, „irgendwie einen Knacks bekommen“ zu haben, und auch Traupel glaubte, dieser „Unfall und die kürzlich stattgefundene Gallenoperation haben ihm doch einen schweren Schlag versetzt.“125 Unterdessen war der Landeshauptmann empört, dass Bernotat in Wiesbaden – anscheinend von seinem Krankenlager aus – „mit einigen Querulanten“ gegen die geplante Zusammenlegung der beiden Bezirksverbände agitierte. Traupel vertrat die Auffassung, Bernotat als Beamter hätte „wenigstens befehlsgemäß mitziehen müssen.“ Um ihn kaltzustellen und weitestgehend aus seinem Blickfeld zu verbannen, bot Traupel Bernotat den Posten des Anstaltsdirektors in Weilmünster an, „wo er seine Kräfte noch haushälterisch hätte einsetzen können“. Anscheinend trug sich der Landeshauptmann ohnehin mit dem Gedanken, den Weilmünsterer Anstaltsdirektor Dr. Ernst Schneider seiner Direktorenfunktion zu berauben. Es wäre vorstellbar, dass ein weniger ehrgeiziger Beamter als Bernotat die Möglichkeit, an seinem Wochenendsitz eine verantwortliche Position zu übernehmen, zumindest in Erwägung gezogen hätte. Von dem Anstaltsdezernenten jedoch wurde diese – allerdings auch recht durchsichtige – Offerte „glattweg ausgeschlagen.“126 Zuträgereien und Intrigen, in die sowohl der gemeinsame Freund Georg Sauerbier als auch Bernotats Ehefrau Auguste involviert waren, brachten neue Differenzen zwischen Traupel und Bernotat. Diese Konflikte im privaten Bereich taten ein Übriges, um die Situation Anfang 1940 zu verschärfen.127 Ohnehin war Traupel der Meinung, Bernotats 124 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666467, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; zur Aufhebung der Abordnung zum 30.09.1939 siehe auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.Akten Zug. 1981, Ma., Ot., Teil 1, Bl. 304, BV Nassau, gez. LH Traupel, an d. komm. Leiter d. Bodenamtes, Ministerium f. Landwirtschaft, Sektion IX, Prag (02.09.1939), Abschr. – Außer den Landesräten Fritz Bernotat und Ludwig Johlen handelte es sich bei den vom BV Nassau nach Prag Abgeordneten um LI Otto M., LOI K., LOI Sch., LI Heinz C., LS Ernst W., die Verw.-Ang. H., Verw.-Ang. Eleonore Sch., Verw.-Ang. Gertrud Sch., den Verw.-Ang. R., Verw.-Ang. Witold M. sowie Fahrmeister G.: siehe ebd., Bl. 299–314, Korresp. zwischen BV Nassau, Wiesbaden, u. Reichsprotektor Böhmen und Mähren, Prag, bzw. dem dorthin abgeordneten LI M. (09.06.–09.11.1939). – Zur Abordnung Johlens nach Prag und zur Funktion des „Bodenamtes“ siehe auch Kap. III. 1. b). – Mit Vfg. vom 14.06.1939 (Az. „Ia Bew. 39“) suchte der BV Nassau zudem „Arbeitskräfte, die im Büro- und Verwaltungsdienst geschult sind“, zum Einsatz in Heil- und Pflegeanstalten im „Protektorat“: vgl. LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1984, Op., Ro., Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau durch LHA Herborn an Robert O. (04.07.1939), Abschr. – Im Juli 1939 waren 4 Mitarbeiter des BV zur Dienstleistung im Sudetenland, 14 zur Dienstleistung im Protektorat und 5 zur Dienstleistung im Verwaltungsdienst der Luftwaffe beurlaubt: Ebd., Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 67 f., Vfg. zum Schreiben BV Nassau an SA-Gruppe Hessen, Ffm (27.07.1939), Abschr. 125 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508; ebd., Frame 2666484 f., HSSPF Wiesbaden, Rösener, Wiesbaden, an HSSPF Danzig Westpreußen, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (28.08.1940), hier 2666485, beide vorgenannten Dokumente hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 126 Ebd. (Schreiben vom 01.03.1940) (Zitat „[...] Querulanten“ in Frame 2666508, Zitat „wenigstens befehlsmäßig [...]“ in Frame 2666511). – Anfang 1941 scheint vorübergehend geplant gewesen zu sein, Dr. Ernst Schneider als Anstaltsdirektor in Weilmünster durch Dr. Walter Schmidt (bisher LHA Eichberg) zu ersetzen; siehe dazu Kap. IV. 3. a). 127 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster (01.03.1940), Abschr., hier Frame 2666460 f., hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940); ebd., Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 266417; ebd., Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666467 f., alle 3 vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; vgl. auch NARA, T-81, Roll 41, Frame 38342, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an SS-Obersturmbannführer LdsR Bernotat, Wiesbaden (19.04.1940), Durch- 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 355 Frau übe „immer mehr einen unheilvollen Einfluß auf ihn [Bernotat, P. S.] aus und trägt viel zu einer ohnehin vorhandenen starken Selbstüberschätzung seiner Person bei.“128 In diesem Moment wollte Traupel offenbar „Treue“ und „Gehorsam“ seines Adjutanten und SSGenossen Bernotat einer Feuerprobe unterziehen. Der Landeshauptmann wandte sich in einem ausführlichen, fünf Seiten langen Brief an den „[l]iebe[n] Berno!“ Man könnte den Brief vordergründig als Versöhnungsangebot verstehen, doch er war zugleich mit einer Reihe von Vorhaltungen gegenüber Bernotat und von Rechtfertigungen Traupels über die eigene Haltung gespickt. Traupel beschwor Werte wie „Pflicht“, „Treue und Kameradschaft“, enthielt sich aber auch nicht der Bemerkung, „daß eine Leitung immer da war, vielleicht Dir gegenüber manchmal eine, die nicht straff genug war.“ Zumindest zweischneidig wirkt es, wenn Traupel die langjährige Rückendeckung für Bernotat damit begründete, dass er den „sauberen Charakter in Dir und Deine Treue höher einschätzte als die offensichtlichen Fehler, mit denen Du behaftet bist.“ Die Fehler nannte Traupel unumwunden: dass Bernotat seinem „Temperament freien Lauf“ lasse und dass er sich stark durch Leute beeinflussen lasse, die „nicht immer die Besten“ gewesen seien. Schließlich wagte Traupel ein Vabanquespiel und setzte alles auf eine Karte: Er gab dem (krankheitsbedingt noch nicht in den Dienst zurückgekehrten) Bernotat im Einzelnen Kenntnis von den (oben dargestellten) Umzugsplänen zum 1. April 1940, die die endgültige Auflösung der Wiesbadener Verwaltung nach sich gezogen hätten. Diese internen Information verband er jedoch mit einem Schweigeangebot, dessen gegenseitige Einhaltung gleichzeitig als Aussöhnungsgeste und als Treueschwur hätte verstanden werden sollen: „Das in diesem Schreiben Gesagte betrachte ich als eine Angelegenheit zwischen uns beiden und gebe dementsprechend von dem Inhalt niemand [!] Kenntnis. Wenn Du es ebenfalls so handhaben wirst, so mag sich daraus für die Zukunft ein korrektes, kameradschaftliches Verhältnis zwischen uns ergeben. Solltest Du es aber für nötig halten oder Dich gebunden fühlen, anderen davon Kenntnis zu geben oder Einblick zu gewähren, so lasse mich dies bitte vorher wissen, dann behandle ich dieses Schreiben auch nicht weiter vertraulich.“129 Bernotat ging auf Traupels Angebot nicht ein. Im Grunde muss Traupel dies geahnt haben, denn von früheren entsprechenden Fällen war ihm bekannt, dass „[j]ede meiner Verfügungen [...] schnellstens in Frankfurt“130 gelandet war. Entsprechendes geschah dann auch dieses Mal: Bernotat informierte Sprenger über das Traupel’sche Schreiben – mit den bekannten Folgen, die in Form des nächtlichen Sprenger-Telegramms vom 8. März 1940 nur ihren Anfang nahmen.131 Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als habe Traupel sich einen tragischen Helden des klassischen Dramas zum Vorbild genommen und bewusst seinen ehrenhaften Untergang inszenieren wollen, denn damit läutete er das Ende seiner Landeshauptmannschaft ein. Ein retardierendes Moment stellte Traupels neuerlicher Versuch dar, doch noch zu einer Verständigung mit Bernotat zu kommen. Man kann darin wohl ein letztes Bemühen Traupels sehen, durch eine Aussöhnung mit dem mächtigen Widersacher Bernotat die eigene schr., hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 3853 [NSDAP, SS, verschiedene Provenienzen]; siehe auch BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., W. Traupel, LH d. Provinz Hessen-Nassau, Kassel, an SS-Obergruppenführer Richard Hildebrandt, General der Polizei, Danzig (17.07.1942). – U. a. verdächtigte Auguste Bernotat den Provinzialgüterdirektor Georg Sauerbier, Informationen aus seinen Gesprächen mit den Bernotats an Traupel weitergetragen zu haben (Frame 2666461); zudem war Traupel überzeugt, Bernotat und dessen Frau hätten vor dem 01.03.1940 „üble Reden über mein Privatleben geführt“ (Frame 2666467). – Zu Georg Sauerbier (* 1886), der im Feb. 1940 vom BV Nassau zum BV Hessen abgeordnet wurde, siehe biogr. Anhang. 128 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508, hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 129 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster (01.03.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Hervorhebung im Original durch Unterstreichung. 130 Ebd., hier Frame 2666464. 131 Siehe oben in diesem Kap. IV. 1. b). – NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666452, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), Original aus den Unterlagen von Hildebrandt, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. Traupel beklagte das Verhalten Bernotats, der „ohne daß er auf mein Schreiben überhaupt geantwortet hat, [...] es Sp[renger] zur Verwendung gegeben“ habe; entsprechend auch erneut in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666468, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 356 IV. Zeit der Gasmorde Stellung zu retten. Zu Bernotats 50. Geburtstag am 10. April 1940, kurz vor der für den Landeshauptmann desaströsen Berliner Sitzung bei Frick, schickte Traupel dem Anstaltsdezernenten Glückwünsche und Blumen. Bei seinem nächsten Aufenthalt in Wiesbaden rief er ihn in sein Zimmer und wollte sich – so Traupels eigene Worte – „mit ihm aussprechen“; dabei aber verlangte Traupel auch, Bernotat müsse „sein unrichtiges Verhalten [...] einsehen“, davon hänge es ab, „ob unser altes Verhältnis weiter bestehen kann oder nicht.“ Bernotat habe „schroff“ erklärt, „für ihn sei die Angelegenheit erledigt, er wollte keine Versöhnung.“ Damit war das Tischtuch zwischen beiden endgültig zerschnitten. Traupel entzog Bernotat die Funktion als Wiesbadener Adjutant des Landeshauptmanns, der die „persönlichen Sachen bearbeitet[e]“, und verbannte ihn aus seinem Vorzimmer.132 So kann man es nur als Provokation und als neuerliche Kampfansage Sprengers interpretieren, dass dieser nun wenige Tage später (ab dem 15. Mai 1940) Bernotat über das Amt für Beamte zum neuen RDB-Fachschaftsgruppenwalter im Landeshaus ernennen und ihm damit eine Parteifunktion angedeihen ließ, durch welche er in die personellen Angelegenheiten des Bezirksverbandes eng einzubinden war. Es war völlig gegen die Usancen, eine solche Personalie nicht im Einvernehmen mit dem Leiter der Verwaltung zu treffen, weshalb Traupel klagte: „Die neuerdings eingesetzte Beamtenfachschaftsvertretung für meine Wiesbadener Verwaltung genießt nicht mein Vertrauen und ist mit Absicht gegen mich so gewählt worden.“ Der Landeshauptmann sah sich infolgedessen in seinen Rechten als faktischer Behördenchef beschnitten. Ein interner Traupel-Vermerk diesen Inhalts wurde von einem parteihörigen Beamten gleich an die NS-Gauleitung weitergetragen, woraufhin Sprengers Gaupersonalamtsleiter Holländer bemerkte, dem Landeshauptmann sei „im Gau Hessen-Nassau ja das Betreten aller nationalsozialistischen und parteiamtlichen Dienststellen untersagt“ und deshalb könne „in seinem Falle von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit überhaupt keine Rede mehr sein“. Traupels kritischer Vermerk, so hieß es weiter, „schießt deswegen vollkommen am Ziel vorbei.“ Traupel aber wollte nicht klein bei geben und meldete die Konflikte um die Ernennung Bernotats und das Geplänkel mit Holländer nun dem „Führer“-Stellvertreter Rudof Heß „persönlich“. Indem er sogar kleinlich die Unterrichtung und die Reaktion des Gaupersonalamtsleiters aufführte, demonstrierte Traupel, wie sehr er, in die Ecke gedrängt, allmählich die Maßstäbe seines Handelns aus den Augen zu verlieren drohte.133 Bernotat und Sprenger trieben die Provokation auf die Spitze, indem sie durch die Beamtenfachschaft ausgerechnet den Gaupersonalamtsleiter Holländer, mit dem Traupel spätestens jetzt „verfeindet“ war, als Referenten zu einem „Schulungsabend“ der Partei einluden, welcher noch während der Dienstzeit am Nachmittag im Wiesbadener Landeshaus stattfinden sollte. Zwar verbot Traupel sowohl Zeit als auch Ort der Veranstaltung, er konnte dieses Verbot jedoch nicht mehr durchsetzen. Der in Wiesbaden als Quasi-Hausherr anwesende Landesrat Kranzbühler hoffte zwar noch, Bernotat zu einer Verlegung des Termins veranlassen zu können – doch vergeblich: Bernotat holte bei Sprenger die telefonische Anordnung ein, Traupels Verfügung zu missachten. Kranzbühler sah sich damit in argen Loyalitätskonflikten: Setzte er Traupels Verfügung durch, dann legte er sich mit dem Gauleiter an, erlaubte er die Abhaltung der Schulung, widersetzte er sich den Weisungen seines Dienstvorgesetzten. Für den „korrekten Beamten“ Kranzbühler erschien dies als „unlösbare[...] Zwangslage“, wie sie „in einem geordneten Staat [...] für Beamte nicht vorkommen dürfte.“ Kranzbühler ging den Weg des 132 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666468 (Zitate „[...] aussprechen“, „schroff“, „[...] keine Versöhnung“); ebd., Frame 2666475–2666477, LH W. Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (06.11.1940), hier Frame 2666475 f. (Zitate „sein unrichtiges [...]“, „ob unser [...]“), beide Dokumente hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 133 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., NSDAP-Kreisleitung Wiesbaden, Amt für Beamte, an [den bisher amtierenden und künftig stv. Fachschaftsgruppenwalter] Hans K. bzw. an Bernotat (15.05.1940), mit Erklärung Bernotat (01.06.1940) u. Vm. Traupel (10.06.1940), alles in Abschr.; ebd., o. Bl.-Nr., H[ans] K. an LH Traupel, Kassel (18.06. 1940), Abschr. (dort die Zitate von Holländer), vorgenannte Dokumente auch vorhanden in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666549–2666551; NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666545 (auch Zitat „Die neuerdings [...]“, hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zur Funktion der RDB-Fachschaftsgruppe und des Fachschaftsgruppenwalters siehe auch Kap. II. 2. a). 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 357 geringsten Widerstandes und verzichtete darauf, die Weisung Traupels den Mitarbeitern des Landeshauses auch nur bekannt zu geben, um diese „nicht in einen Gewissenskonflikt mit ihren Pflichten gegenüber ihrem Dienstvorgesetzten, dem Landeshauptmann, und denjenigen gegenüber der Fachschaft bezw. der Partei zu bringen.“ Kranzbühler meinte sein Missfallen über derartige Auswüchse der polykratischen Herrschaft dadurch kundzutun, dass er während der Parteischulung „ostentativ in [s]einem Dienstzimmer“ blieb.134 Im Zuge des dramatisch verschlechterten Klimas begann ein weiterer „Skandal“ Kreise zu ziehen, der bislang allein in Zwiegesprächen Platz gefunden hatte. Es handelte sich um eine Intrige mit übler Nachrede zu Lasten des Oberpräsidenten Philipp Prinz von Hessen, dem seine Widersacher – Sprenger und Bernotat, aber auch der SD – homosexuelle Kontakte zuschreiben wollten. Philipp selbst stellte nach Kriegsende die Aktivitäten Bernotats in den Kontext des Sprenger’schen Kampfes gegen Traupel: „Ich weiss, dass er einmal im Auftrag des Gauleiters Sprenger zu mir kam und versuchte, auch mich unter Druck zu setzen, da er alle möglichen Sachen über mich wusste, die er an die große Glocke hängen wollte. Ich habe ihn festgenagelt. Ich sagte ihm, ich werde die Sache vor Hitler bringen. Darauf hat er sich in feiger Weise zurückgezogen. Er äusserte sich, es wäre nicht so gemeint gewesen. Ich habe mir mein Teil dabei gedacht.“135 Aufgekommen war das Thema innerhalb des Bezirksverbandes bereits im Herbst 1939, kurz nach Bernotats Rückkehr aus Prag. Sowohl Traupel als auch Bernotat erhielten von dem Kulturreferenten des Bezirksverbandes Dr. Carl Sommer, der zugleich SD-Mitarbeiter war, den Hinweise auf angebliche SD-Ermittlungen, nach denen Philipp von Hessen wegen Verstößen gegen den Strafrechtsparagrafen 175 überführt werden könne; die „Angelegenheit sei aber von einer höheren Warte abgeblasen.“ Traupel und Bernotat unterhielten sich auch über diese Mitteilung (wobei allerdings im Detail ihre Darstellungen divergieren). Es war sogar auch die Rede davon, dass mittlerweile aus der Führungsriege des „Dritten Reiches“ ausgerechnet Göring, Philipps Mentor, über das „SD-Geheimnis“ im Bilde sei, während Hitler nichts wisse. Die Umstände lassen nur den Schluss zu, dass die Angelegenheit darauf abzielte, den Oberpräsidenten politisch auszuschalten (was schließlich erst 1943 gelang). In dieses Bild passt auch, dass Bernotat wie schon in anderen Fällen den Gauleiter Sprenger informierte. Sprenger, so scheint es, wollte den Fall nutzen, um einen Keil zwischen Philipp von Hessen und Traupel zu treiben. Der Gauleiter ließ daher Bernotat nach Kassel zum Oberpräsidenten fahren und gegenüber diesem die Homosexualitätsvorwürfe als Behauptungen Traupels ausgeben.136 Sprenger legte es schließlich darauf an, Traupel mithilfe der Angelegenheit Schaden zuzufügen; dieser musste sich 1942 auf Antrag Sprengers sogar vor dem Obersten Parteigericht verantworten, u. a. weil „er seinen Vorgesetzten, den Oberpräsidenten Prinz von Hessen, wahrheitswidrig als homosexuell bezeichnet habe.“ Nach den Ermittlungsergebnissen der Partei jedoch wurde Traupel als „wesentlich entlastet“ angesehen.137 134 HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden, schriftl. Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 92 f. (hier auf S. 93 Zitate „[...] Zwangslage [...]“, „[...] geordneten Staat [...]“, „[...] Gewissenskonflikt [...]“ u. „ostentativ [...]“); ebd., Bl. 6–14, Max Kranzbühler, Anlage zum Meldebogen für die Spruchkammer Wiesbaden (o. D. [Meldbogen: 24.04.1946]), hier Bl. 8 (Zitat „verfeindet“); ebd., Bl. 18, Erklärung von Gustel Sch. (ehem. Sekretärin) für LdsR a. D. Kranzbühler (02.04.1946), Abschr. – Die Sekretärin Sch. datiert den ganzen Vorfall auf „Spätjahr 1940“. – Nach eigenen Angaben handelte sich Kranzbühler durch sein Verhalten eine Rüge des Gauleiters ein, musste sein Parteibuch für eine Zeitlang abgeben, offenbar sah Sprenger aber von weiteren Sanktionen ab, da ein Parteigerichtsverfahren unverhältnismäßig erschien und da Kranzbühler zudem im Bezirksverband den Interessen des Nationalsozialismus gute Dienste leistete. – Traupel schrieb an anderer Stelle von „Personalamtsleiter Holländer, der mir die Schweinerei in dem Betriebsappell im Landeshaus verursacht hat“, woraus jedoch nicht ersichtlich wird, ob der Schulungsabend gemeint ist oder – was wahrscheinlicher ist – ein früherer Vorfall: BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Prov. Hessen-Nassau, W. Traupel, an SS-Obergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942). 135 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 234 f., Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. HvTag (06.03.1947). 136 BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokolle d. Zeugenvernehmungen Bernotat und Traupel durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (20.05.1942), hier Abschriften (1944) (in der Bernotat-Aussage: Zitat „Angelegenheit sei [...]“). 137 Ebd., o. Bl.-Nr., Vm. ohne Urheberangabe [= RMdI], „Auszug aus den Akten des Obersten Parteigerichts über das Untersuchungsverfahren gegen Landeshauptmann Traupel“ (o. D. [Verfahren 1942, Auszug ca. 1944]). 358 IV. Zeit der Gasmorde Noch im August 1940 waren die Vorwürfe gegen Philipp von Hessen selbst nach Kenntnis der Eingeweihten unbewiesen. Diese Unklarheit brachte die Beteiligten schier zur Verzweiflung. Richard Hildebrandt, der inzwischen in Danzig ansässige Traupel-Vertraute, bekannte: „Ich weiß [...] nicht mehr, was ich von der ganzen Sache heute zu halten habe. Es wäre doch komisch, wenn es nicht gelänge, endlich einmal in diesen ganzen Dingen die Wahrheit zu ermitteln.“138 Selbst Gauleiter Sprenger hatte zu diesem Zeitpunkt keine anderen Informationen als die durch Bernotat übermittelten Gerüchte und wollte auf „der Klärung dieser Angelegenheit [...] sowohl aus persönlichen als auch aus sachlichen Gründen bestehen.“139 Offenbar zogen die Anschuldigungen innerhalb der SS-Eliten immer weitere Kreise – nach eigenen Angaben war Traupel zusätzlich auch von dem Kasseler Höheren SS- und Polizeiführer Josias Erbprinz zu Waldeck140 sowie von SD-Chef Reinhard Heydrich darauf angesprochen worden. Dabei habe Heydrich aus „seiner persönlichen Meinung [...] kein Hehl gemacht und [...] erklärt, daß, wenn er die Erlaubnis bekäme, er sowohl den Fall Prinz von Hessen wie den Fall Gründgens so erledigen würde, wie sich dies gehörte.“141 Bis heute ist nicht geklärt, ob oder inwieweit die Homosexualitätsvorwürfe bei der späteren Verhaftung Philipps von Hessen im September 1943 (nach Zusammenbruch der Achse Berlin – Rom) und bei seiner KZ-Einweisung nach Flossenbürg eine Rolle gespielt haben; besonders die parallele Einweisung seiner Ehefrau Mafalda ins KZ Buchenwald rückt die außenpolitischen Motive in den Vordergrund. Nach dem Krieg gingen die Justizbehörden jedenfalls davon aus, das „Gerücht, daß homosexuelle Neigungen des Prinzen der Grund zur Verhaftung gewesen seien“, sei „offenbar lediglich aus der Absicht der Gestapo entstanden, einen Vorwand zu schaffen.“142 Bernotats Verhalten in der „175er-Affäre“ trieb dessen Zerwürfnis mit Traupel weiter voran und brachte den Landeshauptmann dazu, „einen endgültigen Trennungsstrich [...] zu ziehen.“ Als Traupel im Nachhinein – im Sommer 1940 – von Bernotats Intrigen in dieser Sache erfuhr – nach Traupels Verständnis war es der Verrat eines SD-Geheimnisses an die Nicht-SS-Mitglieder Sprenger und Philipp von Hessen –, lehnte er jede weitere Zusammenarbeit mit dem Landesrat ab, zeigte ihn wegen seines Vorgehens bei der SS an und bat den Oberpräsidenten als gemeinsamen Dienstvorgesetzten, Bernotat aus dem Wiesbadener Landeshaus zu entfernen. Ganz um sein Selbstbild eines „Ehrenmannes“ bemüht, betonte Traupel zunächst noch, er habe „keine Rachegefühle und möchte auch Bernotat nicht im Wege des Dienststrafverfahrens als Beamten entfernen, weil er von früher her immerhin nicht unerhebliche Verdienste um die Bewegung“ habe. Der Landeshauptmann gab sich der Hoffung hin, Sprenger könne Bernotat in die hessische Staatsverwaltung in Darmstadt übernehmen. Parallel setzte Traupel dann aber doch auf das Disziplinarverfahren, welches Philipp von Hessen noch im August 1940 beim Innenministerium gegen Bernotat beantragte (das das Innenministerium aber aufgrund der Protektion u. a. von Staatssekretär Wilhelm Stuckart nie eröffnete). Gegenüber Hildebrandt spekulierte Traupel über die Gründe für Bernotats Verhalten, wertete es aber letztlich als „nebensächlich“, ob „nun Krankheit oder übersteigerter Ehrgeiz vorliegt“.143 138 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471–2666474, [HSSPF SS-Gruppenführer] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SSOberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666474, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 139 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666534, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen] (es werden Sprengers Äußerungen vom August 1940 gegenüber Hildebrandt wiedergegeben). 140 Zu Josias Erbprinz zu Waldeck-Pyrmont (1896–1967) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 436; Wistrich, Reich (1987), S. 369 f.; Weiß, Lexikon (1998), S. 477 f.; Schmeling, Erbprinz (1993); IfStG Ffm, Mag.-A. 4.051, Bl. 79 f., „Verzeichnis der Provinzialräte der Provinz Hessen-Nassau“ (o. D. [1937]). 141 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Prov. Hessen-Nassau, W. Traupel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942). 142 HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Beiakten Bd. II, Bl. 1–3, Beschluss d. Kammer II d. Haftprüfungsamtes Kassel in d. Haftsache Philipp Prinz von Hessen (26.07.1946), hier Bl. 1. – Zur Entmachtung Philipps von Hessen als OP u. zur KZEinweisung siehe Kap. V. 4. b). – Zum italienischen Hintergrund vgl. Recker, Hessen (1997), S. 269; vgl. auch Zibell, Sprenger (1998), S. 280. 143 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666557 bzw. 2666556 bzw. 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an SS-Oberabschnitt Wiesbaden (06.08.1940) (dort Zitat „keine Rachegefühle [...]“) bzw. an SS-Brigadeführer Rös[e]ner, SS-Oberabschnitt Rhein, Wiesbaden, „Persönlich!“, bzw. an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (alle 06.08.1940), alle 3 Dokumente hier in Abschr. als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940) (im Schreiben an Himmler das Zitat „[...] Trennungsstrich [...]“); ebd., Frame 2666465–2666470 bzw. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 359 Für das weitere berufliche Schicksal Traupels aber sollte nicht sein Zerwürfnis mit dem bisherigen Adjutanten Bernotat entscheidend werden, sondern der „Krieg“ zwischen ihm und dem Gauleiter. Bereits einen Tag nach der entscheidenden Besprechung vom 16. April 1940 im Reichsinnenministerium erhob Sprenger gegenüber dem Ministerium eine Reihe von Vorwürfen gegen Traupel wegen dessen eigenmächtigen Handelns bei der geplanten Zusammenlegung der Bezirksverbände. Den Kern der Anschuldigungen bildete dabei die erwähnte Berufung Traupels auf die „Führerentscheidung“. Der Landeshauptmann wurde dadurch zur Rechtfertigung gegenüber seiner Aufsichtsbehörde genötigt,144 wenn ihm auch letztlich ein regelrechtes Disziplinarverfahren, wie es sowohl Sprenger als auch Martin Bormann angestrebt hatten, erspart blieb.145 Sprenger zog Ende Juni 1940 die Schraube weiter an und ließ das Verbot an Traupel, Parteigebäude im Gau Hessen-Nassau zu betreten, parteiöffentlich den „Politischen Leitern“ im Gau bis hinab zur Riege der Ortsgruppenleiter verkünden. Vermittelt durch seinen Stellvertreter Linder drohte Sprenger dem Landeshauptmann für den Fall der Missachtung des Verbots die Verhaftung an. Besonders in diesem Punkt verlangte Traupel Genugtuung durch Widerrufung, ja er kündigte sogar an, zur Durchsetzung seines vermeintlichen Rechtes werde er „nur in SS-Uniform“ erscheinen und „ggf. [...] von der Waffe Gebrauch machen.“146 Offenbar war Traupel durch die Auseinandersetzung derart „betriebsblind“ geworden und überschätzte seine Position so eklatant, dass er mit dem Gedanken spielte, Sprenger durch ein Parteiverfahren zum Einlenken zu zwingen, ihn möglicherweise sogar um sein Gauleiteramt bringen zu können. Dies nun musste im NS-Staat als recht abwegig erscheinen – wenn auch in Einzelfällen Gauleiter wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Verfehlungen ihres Amtes enthoben wurden.147 Doch erst als der Heß-Mitarbeiter Walther Sommer den Landeshauptmann belehrte, „wenn 2666486 f., zwei Schreiben von LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08. bzw. 02.09.1940), hier Frame 2666466 (Zitat „nebensächlich“, „nun Krankheit [...]“), Frame 2666468 f. bzw. 2666486 f.; ebd., Frame 2666475-2666477, LH W. Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (06.11.1940), hier Frame 2666476 (dort noch setzte Traupel auf die Möglichkeit, „daß Sp[renger] lieber den B[ernotat] zu sich nimmt als ihn nach Kassel gehen zu lassen“; in diesem Fall könne der OP die Niederschlagung des Disziplinarverfahrens beantragen), alle vorgenannten Dokumente hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Staatssekretär Hans Pfundtner habe gegenüber Philipp von Hessen bemerkt, „dass Bernotat weitgehend durch die NSDAP. gestützt werde, dass er die Billigung des Gauleiter [!] Sprenger habe und dass ein Einschreiten gegen ihn daher sehr schwierig sei“, dagegen wusste Philipp „von dem zweiten Staatssekretär, Dr. Stuckart [...], dass er in dieser Angelegenheit Bernotat deckte“: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt, vernommen im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 879, weitere Durchschr. auch in den Akten d. Hess. Ministeriums der Justiz, Az. IV – 149/49, Bl. 14 f., hier Bl. 14. 144 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453–2666455, OP d. Prov. Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940), Abschr., beide vorgenannten Dokumente hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 145 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666452, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), Original aus den Unterlagen von SS-Gruppenführer Hildebrandt („[...] möchte Spr[enger] mir beim Innenminister ein Disziplinarverfahren an den Hals hängen [...]“); ebd., Frame 2666539, handschriftl. Notizen ohne Urheberangabe [von R. Hildebrandt] (o. D.) auf der Abschrift eines Schreibens von Traupel vom 06.08.1940 (a. a. O.) (aus Hildebrandts Notizen ist zu schließen, dass Bormann sich ca. im August 1940 für ein Disziplinarverfahren gegen Traupel wegen dessen eigenmächtigen Zusammenlegungsverfügungen ohne RMdI-Genehmigung aussprach: „Brief an I. Min – keine Verlegung nach Kassel – Disziplinarverfahren deshalb gegen Traupel – Bormann dafür“), beide vorgenannten Dokumente hier n. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., RMdI, gez. Frick, Az. V b 17.46 VIII/40, an Oberstes Parteigericht der NSDAP, München (07.07.1941), hier Abschrift (1944) (Traupels Verfehlungen seien eher innerparteilicher Art denn dienstlicher Natur, sodass dem Parteigerichtsverfahren Vorrang eingeräumt werden solle). 146 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666547, Gaupersonalamtsleiter, gez. Holländer, Frankfurt a. M., „Rundschreiben/An alle Gauamtsleiter und Kreisleiter“ (28.06.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666555 (Zitat „[...] SSUniform [...]“, „[...] Waffe Gebrauch machen“), beide vorgenannten Schreiben hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen] (das Schreiben an Himmler [keine Abschr.] findet sich auch in BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr.); BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., NS-Kreisleiter Wiesbaden, vertrauliches Rundschreiben an alle Kreisamtsleiter und Ortsgruppenleiter (02.07.1940), hier als Abschr. einer Fotokopie, auch vorhanden in BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen], Frame 2666548; siehe auch Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 222; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 324. 147 Zum Beispiel musste Josef Wagner (1899–1945) im Jahr 1941 als Gauleiter in Schlesien zurücktreten und wurde im selben Jahr seines anderen Gauleiterpostens in Westfalen-Süd wegen seiner Bindungen zum Katholizismus enthoben; auch Karl 360 IV. Zeit der Gasmorde ein Gauleiter mit einem Parteigenossen, auch wenn letzterer eine hohe Staatsstellung innehat, nicht auskommt [...], [werde] der Führer nicht die Entfernung des Gauleiters vornehmen“, sah Traupel – wie er dem Stellvertreter des Führers mitteilte – „im Interesse der NSDAP“ von der Beantragung eines Parteigerichtsverfahrens ab.148 Umgekehrt musste sich schließlich Traupel selbst dem erwähnten, von Sprenger beantragten Parteigerichtsverfahren stellen, in dem es jedoch letztlich offenbar nie zu einer Entscheidung zulasten Traupels kam.149 Um Sprenger zu schaden, regte Traupel immerhin gegenüber Himmler an, dieser möge seinen Einfluss geltend machen, damit Sprenger als Leiter eines künftigen Reichsgaus verhindert werde.150 Im Grunde blieb dem Landeshauptmann selbst aber nichts anderes mehr, als sich an den von ihm stets hoch gehaltenen Ehrbegriff zu klammern. Gegenüber der Partei bestand er darauf: „[...] ich bin Nationalsozialist und dulde nicht, daß meine Ehre besudelt wird, denn sie ist das Höchste, was der Führer in uns geweckt hat.“151 Um die verfahrene Konstellation aufzulösen, stand der August 1940 ganz im Zeichen von Vermittlungsbemühungen seitens Parteileitung und SS-Führung. Auf Veranlassung der Münchener Parteizentrale und nach persönlicher Vermittlung des einst Wiesbadener, jetzt Danziger SS-Gruppenführers Richard Hildebrandt erklärte Gauleiter Sprenger sich schließlich dazu bereit, das gegenüber Traupel verhängte Betretungsverbot für die Parteigebäude des Gaues Hessen-Nassau zurückzunehmen.152 Hildebrandt war von Himmler mit diesen diplomatischen Anstrengungen beauftragt worden, und auch Hildebrandts Wiesbadener Nachfolger, der Höhere SS- und Polizeiführer Erwin Rösener, bemühte sich Weinrich (1887–1973), seit 1928 Gauleiter in Kassel, wurde 1943 amtsenthoben wegen Versagens bei der Kriegsvorbereitung und -bewältigung: siehe u. a. Weiß, Lexikon (1998), S. 472 f., hier S. 473, bzw. S. 482 f., hier S. 482; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 219 f.; Moll, Steuerungsinstrument (2001), S. 236 f. – Zu Weinrich siehe auch biogr. Anhang. 148 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an StdF, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666544 f., hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 149 Das Oberste Parteigericht leitete die Untersuchungen auf Sprengers Antrag am 29.01.1942 ein, am 27.03.1942 wurde vom Oberkommando des Heeres Traupels Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst zwecks Durchführung des Parteigerichtsverfahrens verfügt, am 20.05.1942 wurden Bernotat u. Traupel im Rahmen des Verfahrens getrennt vernommen, im Juni 1942 wurde eine vom Obersten Parteigericht angeregte Verfahrenseinstellung von Traupel akzeptiert, jedoch von Sprenger abgelehnt, ab 20.07.1942 war Traupel nach Freigabe durch das Oberste Parteigericht wieder zur Wehrmacht (zunächst Reserve) einberufen, am 22./23.10.1943 in Kassel u. am 23.11.1943 in Berlin verbrannten die dortigen Verfahrensunterlagen nach Bombardierungen, jedoch blieben die Unterlagen in München bis dahin erhalten, bis 1944 war das Verfahren formell nicht zu einem Abschluss gebracht worden: BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Schreiben [wahrscheinlich des Obersten Parteigerichts] an W. Traupel, Feldpost-Nr. 24.097 (29.01.1942), hier Abschrift (o. D. [1944]); ebd., o. Bl.-Nr., Protokolle d. Zeugenvernehmungen Bernotat u. Traupel durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (beide 20.05.1942), hier Abschriften (o. D. [1944]); ebd., o. Bl.-Nr., Vm. ohne Urheberangabe [= RMdI], „Auszug aus den Akten des Obersten Parteigerichts über das Untersuchungsverfahren gegen Landeshauptmann Traupel“ (o. D. [Auszug ca. 1944]); ebd., Vfg. zum Schreiben RMdI, Az. IV b 4. 535/44, an Oberstes Parteigericht der NSDAP, München (28.07.1944, ab: 29.07.1944); BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., zwei Schreiben von W. Traupel, LH d. Prov. Hessen-Nassau, an SS-Obergruppenführer Richard Hildebrandt, General der Polizei, Danzig (20.06.1942 u. 23.07.1942); HStA Wi, Abt. 520 KZ Nr. 3217, Bl. 19, Oberkommando d. Heeres, Berlin, Az. Nr. 2267/42 PA 2 (IV/IVa), an Wehrmachtverkehrdirektion Paris, betr. Leutnant W. Traupel (27.03.1942), Abschr. 150 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666554, hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Traupel schrieb Himmler, er wäre ihm dankbar, „wenn Sie auch Ihrerseits die Angelegenheit im Auge behielten, sobald die Besetzung der neuen Reichsgaue in Frage kommt.“ 151 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an StdF, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666546, hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 152 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666538, LH Traupel, Kassel, an HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Persönlich“, „Vertraulich“ (06.08.1940); ebd., Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666532; ebd., Frame 2666478, RFSS, Persönlicher Stab, gez. i. A. SS-Sturmbannführer R. Brandt, an SS-Oberführer LH Traupel, Kassel (30.08.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666479 f., LH Traupel, Kassel, an RFSS, Persönlicher Stab, z. H. SS-Sturmbannführer Brandt, Berlin (02.09.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666481, LH Traupel, Kassel, an StdF, Rudolf Heß, durch Oberbefehlsleiter Sommer, München (02.09.1940), Abschr., alle 5 vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 361 um Ausgleich.153 Hildebrandt reiste nach Hessen, um die Kontrahenten zu sprechen, begab sich aber auch zur Münchener Parteikanzlei.154 Traupel selbst begleitete die Aktivitäten mit einem wahren Trommelfeuer aus – meist als „persönlich“ gekennzeichneten – Eingaben an die Parteikanzlei und die SSElite, wobei er zusätzlich Hildebrandt regelmäßig durch Übersendung von Abschriften und Anlagen seiner Korrespondenz auf dem Laufenden hielt.155 Letztlich ließ sich aber auch durch Hildebrandts Vermittlungsgespräche keine Verständigung zwischen den hessischen Kontrahenten mehr erzielen. Der Mediator konnte SS-Chef Himmler abschließend nur mitteilen: „Aus der ganzen Unterhaltung habe ich deutlich entnommen, daß Gauleiter Sprenger jede Art von Versöhnung oder Aussprache mit Traupel eindeutig ablehnt. Andererseits habe ich auch auf Grund meiner anschließenden Aussprache mit SSOberführer Traupel nicht den Eindruck, daß bei diesem der Wunsch hierzu heute noch vorhanden wäre. Die Gegensätze persönlicher und sachlicher Art zwischen beiden sind so tiefgreifend, daß eine Aussprache die Differenzen nicht mehr beseitigen könnte.“156 Als Ausweg aus allen Kalamitäten konnte allein noch Traupels Rückzug aus seinen Ämtern erscheinen; sowohl Hildebrandt als auch Rösener sahen hierzu keine Alternative.157 Bereits im Mai 1940 war Traupel völlig davon überzeugt, dass Sprenger – mangels einer direkteren Handhabe – alles daran setzte, ihn „persönlich so anzugreifen, daß ich auf mein Amt verzichte.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte Traupel es Himmler gegenüber aber noch abgelehnt, seine Ämter als Landeshauptmann aufzugeben, bevor über die Frage der Reichsreform endgültig entschieden sei. Immerhin aber zog er bereits in Erwägung, ob er nicht für die Dauer des Krieges die Verwaltungen „durch einen befähigten Landesrat führen“ lassen und sich selbst zum Kriegsdienst bei der Waffen-SS melden solle.158 Auch Ende Juli 1940 nannte er als Voraussetzung für einen „freiwilligen“ Verzicht auf sein Wiesbadener Amt, zunächst müssten „erinnerungsmäßige Zustände [...] hergestellt“ werden.159 Die Parteileitung war es schließlich, die Traupels Ausscheiden aus dem Amt „im Wege der Freiwilligkeit“ – quasi als Kompensation für die Rücknahme des Sprenger’schen Betretungsverbots – „verordnete“. Der Landeshauptmann erklärte sich nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Walther Sommer vom Stab Heß’ in München damit einverstanden, sofern eine Lösung gefunden werde, die nicht wie eine Rückstufung aussehe.160 153 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666484 f., HSSPF in Wiesbaden, Rösener, an HSSPF Danzig Westpreußen, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (28.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 154 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666539, handschriftl. Notizen ohne Urheberangabe [von R. Hildebrandt] (o. D.) auf der ersten Seite der Abschrift des Schreibens von LH Traupel, Kassel, an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940) (diese Abschrift hatte Traupel als Anlage seinem Schreiben an HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Persönlich“, „Vertraulich“ [06.08.1940] beigefügt, sie wurde von Hildebrandt anscheinend bei einer Besprechung in der Münchener Parteizentrale benutzt), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 155 Die Schreiben aus dem August 1940 richteten sich an Rudolf Heß, Walther Sommer, Heinrich Himmler, Rudolf Brandt, Richard Hildebrandt, Erwin Rösener und Werner Best: siehe die entsprechenden Quellenangaben in diesem Kap. IV. 1. b). 156 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666534, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 157 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666484 f., HSSPF in Wiesbaden, Rösener, an HSSPF Danzig-Westpreußen, SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (28.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 158 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier Frame 2666422, hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 159 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an StdF, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666544, hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 160 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666538, LH Traupel, Kassel, an HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Persönlich“, „Vertraulich“ (06.08.1940) (Zitat „[...] Freiwilligkeit“); ebd., Frame 2666539–2666542, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666539; ebd., Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666554 (Hinweis auf Traupel-Termin in München am 31.07.1940 bei W. Sommer, StdF), beide vorgenannten Dokumente hier als Anlage zum eingangs genannten Schreiben an Hildebrandt, alles hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. 362 IV. Zeit der Gasmorde Es war dies nicht der einzige Fall, in dem Sprenger versuchte, einen nationalsozialistischen Widersacher im eigenen Gaugebiet aus dem Amt zu drängen: nur ein Jahr später – 1941 – bemühte er sich, über Innenminister Frick die Amtsenthebung des Frankfurter Oberbürgermeisters Krebs zu erreichen, da er mit diesem „nicht mehr zusammenarbeiten wolle“ und dieser „nicht nationalsozialistisch“ sei. In diesem Fall jedoch blieb Sprenger bis Kriegsende ohne Erfolg.161 Dagegen gelang es Sprenger, nach einem lange schwelenden Konflikt 1943 die Ablösung des Wiesbadener Regierungspräsidenten Fritz von Pfeffer zu erreichen.162 Selbst nachdem grundsätzlich feststand, dass Traupel Sprengers Einflussbereichs zu verlassen habe und damit auch sein Kasseler Landeshauptmannsamt aufgeben müsse (denn der Bezirksverband Hessen reichte bis nach Hanau und damit weit in das NSDAP-Gaugebiet Hessen-Nassau hinein), ließ die tatsächliche Umsetzung dieses Vorhabens noch längere Zeit auf sich warten. Anfang Dezember 1940 schaltete sich SD-Chef Reinhard Heydrich in das Verfahren ein, als er sowohl Traupel als auch Bernotat zu sich vorlud. Vorbereitend hatte das Reichssicherheitshauptamt im November 1940 SS-interne Erkundigungen über Bernotat eingezogen.163 Eigentlicher Anlass für die Besprechung am 5. Dezember war die Kontroverse um den Verrat des „SD-Geheimnisses“ bezüglich des Oberpräsidenten Philipp Prinz von Hessen. Über die Unterredung liegt nur eine Darstellung aus Traupels Feder vor, die zudem erst nach Heydrichs Tod verfasst wurde, sodass eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts schon 1942 nicht mehr möglich war. Traupel jedenfalls gab an, Heydrich habe „klipp und klar erklärt“, wenn schon Traupel seinen „Posten aufgebe“, müsse Bernotat „ebenfalls von Wiesbaden verschwinden.“ Anders als Traupel habe jedoch Bernotat dies abgelehnt und geantwortet, „‚er sei auf 12 Jahre gewählt‘.“ Ebenfalls dieser Darstellung zufolge soll Heydrich geäußert haben, „B[ernotat] sei kein Mann für die SS, und er [Heydrich, P. S.] würde eine Entscheidung beim Reichsführer herbeiführen. Er [Bernotat, P. S.] träte [!] als Biedermann auf, dem man Bösartigkeiten nicht zutraue. Sein Verhalten aber in der Sache O. P. [Oberpräsident, P. S.] sei eines SS-Führers und eines Kameraden unwürdig.“ Was die Zukunft des Landeshauptmanns anbelangte, wollte Heydrich, in der SS-Hierarchie der direkte Vorgesetzte Traupels, bei der Stellensuche behilflich sein; „[i]ns Auge gefaßt war ein Posten im Ausland, und zwar für die SS bezw. den SD.“164 Nachdem feststand, dass Traupel als eindeutiger Verlierer aus der Auseinandersetzung mit Sprenger hervorgegangen war und sein Amt würde aufgeben müssen, wandten sich zunehmend bisherige Mentoren oder neutral Gebliebene von ihm ab. Dies galt beispielsweise für den stellvertretenden Frankfurter Gauleiter Karl Linder,165 der 1933 als letzter Landesausschussvorsitzender in Wiesbaden gemeinsam mit Traupel Verantwortung für den Bezirksverband Nassau getragen hatte. Linder, der einen „kameradschaftlichen Verkehr [...] so lange als möglich aufrecht zu erhalten bemüht war“, kündigte diesen Anfang 1941 mit der Begründung auf, Traupel habe in den vergangenen zwei Jahren „einseitig“ seine Politik verfolgt, „ohne im Geringsten auf die Wünsche und Intensionen [!] des Gauleiters Rücksicht zu nehmen.“166 Selbst der Kasseler Gauleiter Weinrich, der Traupels Initiativen wegen ihrer positiven Effekte zugunsten des Standorts Kassel lange favorisiert hatte, ging jetzt auf Distanz. Er warf Traupel nun vor, dieser scheine anzunehmen, es gebe „keine kulturelle Erscheinungsform [...], die nicht vom Landeshauptmann ausgeht, sei es im Musikleben, Theater, Schrifttum, Ausstellungen.“ Weinrich dagegen wollte dem Landeshauptmann und seiner Verwaltung lediglich eine dienende Funktion zugunsten der Partei zubilligen, während deren „Landeskulturwalter“ die Federführung innehaben sollte. So quit161 BA, R43 II/576a, Bl. 21–24, RMdI, gez. Frick, Az. V b 22. 124/41 – 3000, an Reichsminister u. Chef d. Reichskanzlei Dr. Lammers, persönlich (25.11.1941), hier Bl. 22; vgl. a. Noakes, Oberbürgermeister (1981), S. 225; zu den Konflikten Sprenger – Krebs insg. siehe auch Rebentisch, Frankfurt (1980), S. 248 f.; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 319–321; ders., Frankfurt (1991), S. 499–502. 162 Siehe dazu Kap. V. 4. b). 163 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Bernotat, Fritz, Empfangsbescheinigung RSHA über SS-Personalakte Bernotat (09.11.1940); ebd., SS-Personalhauptamt, Berlin, an RSHA, Amt III, Berlin (20.01.1941), Durchschr. 164 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Prov. Hessen-Nassau, W. Traupel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942). 165 Zu Karl Linder (1900–1979) siehe biogr. Anhang. 166 HStA Wi, Abt. 520 KZ Nr. 3217, Bl. 17, Karl Lindner [!, d. i. Linder], stv. Gauleiter, Preuß. Prov.-Rat, Bürgermeister a. D., MdR, Ffm, an LH Traupel, Kassel, „persönlich“ (25.02.1941), Abschr. 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 363 tierte es Weinrich mit Empörung, dass Traupel als Landeshauptmann Anfang 1941 eine neue Kulturzeitschrift (unter dem Titel „Hessen-Nassau“ – gewiss eine letzte Reminiszenz an Traupels gescheiterte Provinzialverbandspläne) hatte auflegen lassen, ohne den Kasseler Gauleiter hiervon zu informieren. Abschließend wertete Weinrich: „Sie wundern sich, wenn Ihnen auf allen Gebieten Schwierigkeiten bereitet werden und sehen nicht, dass Sie durch Ihre Haltung diese Schwierigkeiten hervorrufen. Ich muss erwarten, dass Sie sich endlich in den Rahmen der Gesamtheit einfügen und nicht mehr Wege gehen, die Sie mit der Partei in Konflikt bringen.“167 Sogar mit seinem langjährigen Unterstützter, dem Oberpräsidenten Philipp von Hessen, scheint es nun zu Differenzen gekommen zu sein.168 Allein der Traupel-Vertraute aus alten Tagen, Richard Hildebrandt, hielt den Kontakt weiterhin aufrecht, brachte aber doch deutlich zum Ausdruck, dass er mit Traupels Einschätzungen in dem gesamten Konflikt nicht d’accord ging; beispielsweise zeigte er sich noch zwei Jahre später, 1942, Traupel gegenüber (und im Widerspruch zu diesem) „nicht davon überzeugt, daß Bernotat ein Schwein ist.“169 Die folgende Zeit war gekennzeichnet von einer langwierigen und im Endeffekt fruchtlosen Suche nach neuen Verwendungsmöglichkeiten für Landeshauptmann Traupel.170 Nachdem anfangs die Position eines „zukünftigen Gauhauptmann[s] in Flandern“ im Gespräch gewesen war,171 ging Traupel dann fest davon aus, demnächst für das Ostministerium Rosenbergs mit einem Beratungsstab in den Kaukasus zu gehen, was jedoch ebenfalls nicht Wirklichkeit wurde.172 Immer ungeduldiger wartete Traupel auf eine neue Verwendung. Aus dem Innenministerium hieß es, man suche zwar entsprechend Himmlers Direktive nach einer passenden Position, diese aufzutun sei „allerdings nicht sehr leicht. Eine entsprechende Stelle als Landeshauptmann oder Oberbürgermeister ist nicht frei [...].“173 Im Gespräch waren unter anderem die – allerdings noch frei zu machende – Position des niederschlesischen Landeshauptmanns in Breslau, die des Oberbürgermeisters von Hannover oder des Gouverneurs des Distriktes Radom (im besetzten Polen).174 Traupel selbst lenkte den Blick auch auf andere Positionen: gegebenenfalls dürfte „die Hoheitsverwaltung (z. B. Regierungspräsident), oder aber auch die Reichsführung-SS die Möglichkeit für eine Verwendung bieten“. Interesse habe er ebenso für den auswärtigen Dienst. „Da ich ausgedehnte Reisen in ganz Europa, im Orient, in Nord- und Südamerika unternommen habe, so habe ich einen Blick für fremde Völker gewonnen und würde überall als Vertreter Grossdeutschlands meinen Mann stehen. Ein besonderes Interesse liegt bei mir vor z. B. für Ostasien und hier im besonderen für Mandschuko, wo ich mir zu allen politischen Kreisen, wie zum Kaiserhaus beste Beziehungen zu schaffen in der Lage bin.“175 167 Ebd., Bl. 18, NSDAP-Gauleitung Kurhessen, Kassel, gez. Gauleiter Weinrich, an LH Traupel, Kassel „persönlich“ (05.04. 1941), Abschr. – Bei der Zeitschrift handelte es sich um „Hessen-Nassau. Kulturzeitschrift der Provinz Hessen-Nassau“, hg. v. Landeshauptmann (laut Kartei der Stadt- u. Universitätsbibliothek Ffm gab es von dieser Publikation nur die Nr. 1 des 1. Jg. 1941, danach wurde das Erscheinen eingestellt, dieses einzige Heft, in der Bibliothek unter der Sign. Zsq 2992 geführt, ist dort in Verlust geraten). 168 HStA, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 54, LdsR a. D. Kranzbühler an Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Wiesbaden (27.01.1947). – Kranzbühler wertete diese Differenzen mit dem Oberpräsidenten als letztlich ausschlaggebend für Traupels Gang zur Wehrmacht im April 1941 (siehe dazu unten). 169 BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., Schreiben R. [= Richard Hildebrandt] an LH, SSOberführer Traupel, Kassel (10.07.1942), Durchschr. 170 Siehe dazu – außer den einzelnen Quellenangaben – auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 325 (Anm. 100); ders., Führerstaat (1989), S. 219 f. (Anm. 197), hier S. 220, u. S. 223 (Anm. 200). 171 NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666539–2666542, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen] (die von Sommer andiskutierte Position in Flandern wurde von Traupel sehr begrüßt). 172 Bereits im Juni 1942 schrieb Traupel: „Mit Rosenberg bin ich einig“, im Dezember wies er auf die „Kaukasus“-Planung hin: BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., zwei Schreiben von W. Traupel, Kassel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (20.06. bzw. 23.12.1942). 173 BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., [Leiter der Kommunalabteilung d. RMdI] Gauhauptmann Dr. Kreißl an Hauptmann Traupel (07.01.1944), Durchschr.; vgl. ebd., o. Bl.-Nr., W. Traupel an Kreißl (29.12.1943). 174 Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Schreiben Stuckart an Gauhauptmann Kreißl (16.12.1943) (betr. Gouverneur von Radom sowie die schon nicht mehr aktuelle Position LH in Breslau); ebd., o. Bl.-Nr., Vm. d. RMdI, gez. Dr. Hoffmann (12.01.1944) (Überlegungen betr. OB von Hannover, eventuell auch zum ersten Beigeordneten in Düsseldorf oder Leipzig). 175 Ebd., o. Bl.-Nr., W. Traupel, R[eims], an SS-Brigadeführer Gauhauptmann Dr. Kreißl, RMdI (17.01.1944). 364 IV. Zeit der Gasmorde Doch alle Pläne zerschlugen sich, sodass Traupel formal bis zum 30. Juni 1944 Landeshauptmann der beiden Bezirksverbände Hessen und Nassau sowie des übergeordneten Provinzialverbandes Hessen-Nassau blieb.176 Das bedeutete allerdings nicht, dass er in der Zwischenzeit weiter seine Amtsgeschäfte ausgeübt hätte. Bereits zum 29. April 1941 verließ Traupel Kassel und ging zur Wehrmacht, wo er in den folgenden Jahren überwiegend in Frankreich eingesetzt war.177 Indem Traupel von der Bildfläche verschwand, ermöglichte er im Bezirksverband Nassau ein vollständiges Reüssieren seines früheren Adjutanten Bernotat. Diese Wende machte sich fest an einem „Streit um das Dienstzimmer [...], der“, wie Philipp Prinz von Hessen später zutreffend resümierte, „an sich eine Geringfügigkeit darstellt, aber sozusagen symbolisch war für den Kampf um den Einfluss: denn wer in diesem umkämpften Zimmer saß, der war maßgebend im Landeshaus.“ Bei Traupels Weggang nämlich sah Bernotat endlich die Gelegenheit gekommen, in sein altes Dienstzimmer – das Vorzimmer zu den Räumlichkeiten des Landeshauptmanns – im ersten Obergeschoss des Landeshauses zurückzukehren, das er im Frühjahr 1940 nach seiner Entpflichtung als Adjutant mit einem Ersatzquartier im unteren Zwischenstock hatte austauschen müssen. Ohne die – weiter geltende – Traupel’sche Verfügung zur Raumverteilung noch zu beachten, zog Bernotat im Mai 1941 in sein altes Büro zurück. Erneut – wie schon in der Frage des „Schulungsabends“ der Partei, stellte Kranzbühler sich quer, pochte auf die Einhaltung der formalen Richtlinien und mochte allenfalls eine neue Entscheidung des Oberpräsidenten zur Raumverteilung akzeptieren. Längst hatte die jahrelang gepflegte Zweckallianz zwischen dem Verwaltungsfachmann Kranzbühler und dem Politstrategen Bernotat Risse bekommen. Erneut wusste Bernotat mithilfe des Gauleiters, seinen Willen unter Umgehung der Formalien durchzusetzen. Sprenger zitierte die beiden Landesräte zu sich und formulierte seine Erwartung, dass Kranzbühler Bernotats Wünschen nachkomme. Indem Kranzbühler dies jedoch nicht ohne Weiteres akzeptierte, setzte er sich neuerlichen Anfeindungen des Gauleiters aus. Sprenger aber, ebenfalls nicht ohne Verwaltungserfahrung, wusste Kranzbühler mit dessen eigenen Waffen zu schlagen: In seiner Eigenschaft als „Reichsverteidigungskommissar“ ernannte der Gauleiter Bernotat zu seinem Mitarbeiter und ordnete an, Letzterer habe sein früheres Dienstzimmer wieder zu beziehen, da er darin die Aufträge des Reichsverteidigungskommissars erledigen müsse. Bernotat ließ daraufhin ein Schild an seinem Dienstzimmer anbringen mit der Aufschrift „Der Reichsverteidigungskommissar [/] Bernotat [/] Landesrat“.178 Mit der Wahl dieser personalen Dienststellenbezeichnung konnte Bernotat – zumindest bei unkundigen Besuchern – den (vermutlich nicht unbeabsichtigten) Eindruck erwecken, er selbst sei Reichsverteidigungskommissar. Wohl nicht zufällig fiel diese autoritätssteigernde Maßnahme genau in die Zeit der ersten Phase der „Euthanasie“-Morde in Hadamar, als besorgte oder 176 Zur endgültigen Ablösung Traupels siehe Kap. V. 4. b). Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 325 (Anm. 100); ders., Führerstaat (1989), S. 219 f. (Anm. 197), hier S. 220, u. S. 223 (Anm. 200); HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 54, LdsR a. D. Kranzbühler an Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Wiesbaden (27.01.1947) („Er [Traupel] [...] reiste Ende April 1941 nach Paris zum Militär-Eisenbahndienst ab“). 178 Ebd. (HStA), Bl. 54, LdsR a. D. Kranzbühler an Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Wiesbaden (27.01.1947); ebd., Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden, schriftl. Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 94; ebd., Bl. 6–14, Max Kranzbühler, Anlage zum Meldebogen für die Spruchkammer Wiesbaden (o. D. [Meldbogen: 24.04.1946]), hier Bl. 7 f.; ebd., Bl. 31–34, I. LdsR a. D. Kranzbühler an RP Wiesbaden, betr. „Einspruch gegen meine Dienstentlassung“ (22.06.1945), hier Bl. 32; ebd., Bl. 53, Aussage („Eidesstattliche Versicherung“) Philipp Prinz von Hessen ggü. d. Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager (07.03.1947); ebd., Bl. 15, Bescheinigung von Martha M. für LdsR a. D. Kranzbühler (04.03.1946), Abschr.; ebd., Bl. 16, Bescheinigung von LdsR a. D. W. Schlüter für LdsR a. D. Kranzbühler (30.12.1945), Abschr.; ebd., Bl. 17, Erklärung von Karl B. [ehem. Verw.-Ang. d. BV Nassau] für LdsR a. D. Kranzbühler (01.03.1946), Abschr.; ebd., Bl. 18, Erklärung von Gustel Sch. [ehem. Stenotypistin d. BV Nassau] für LdsR a. D. Kranzbühler (02.04.1946), Abschr.; ebd., Bl. 76, Eidesstattliche Erklärung von Dr. jur. Ernst Beckmann [ehem. RP beim OP in Kassel], Bad Lippspringe, zugunsten von LdsR a. D. Kranzbühler (04.08.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 226, Zeugenaussage Max Kranzbühler ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Ffm (17.09.1946). – Kranzbühler gab an, er habe in Kassel mit OP Philipp von Hessen gesprochen, der eine Änderung der Raumverteilung abgelehnt habe (was dieser bestätigte), Kranzbühler selbst will wegen seines Verhaltens in dieser Sache aus der Liste der „Politischen Leiter“ gestrichen worden sein, außerdem habe Sprenger beim RMdI seine Entlassung beantragt (dies bestätigte Beckmann), was der RMdI jedoch abgelehnt habe, Philipp von Hessen formulierte immerhin, „dass die Position Kranzbühlers arg bedroht war“. – Zu Bernotats „Verbannung“ aus dem Vorzimmer im Zusammenhang mit seiner Ablösung als Traupels Adjutant siehe weiter oben in diesem Kap. IV. 1. b); zur langjährigen Allianz zwischen Kranzbühler und Bernotat siehe Kap. II. 1. a); zur Funktion des Reichsverteidigungskommissars siehe Kap. IV. 3. c). 177 1. Verschiebung der Machtverhältnisse 365 protestierende Angehörige, die von Verlegungen „auf Grund einer Anordnung des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars“ unterrichtet worden waren, von Bernotat im Landeshaus zum Gespräch empfangen wurden.179 * Der Bezirksverband Nassau wurde im Jahr 1940 von einem heftigen Machtkampf gekennzeichnet, dessen Hauptkontrahenten der Wiesbadener (und zugleich Kasseler) Landeshauptmann Traupel einerseits und der Frankfurter Gauleiter Sprenger andererseits waren. Zeitlich konzentrierte diese, auf persönlichster Ebene geführte Auseinandersetzung sich auf die Monate März bis August 1940. Nur vordergründig ging es den beiden Kontrahenten um sachliche Themen wie die Verwaltungsvereinfachung, die Zukunft der Selbstverwaltung oder die landschaftliche Identität. Tatsächlich spitzte der Kampf sich auf die Frage zu, ob Gauleiter Sprenger als uneingeschränkter Herrscher in seinem NS-Gau würde schalten und walten können, und das hieß insbesondere: ob er auch in der staatlichen und kommunalen Verwaltung im preußischen Teil seines Gaues seinen Willen uneingeschränkt würde zur Geltung bringen können. Indem Traupel sich mit seinem Konzept zur Auflösung der Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes und zu deren Zusammenlegung mit der entsprechenden Kasseler Verwaltung in Gegensatz zu den Bestrebungen des Frankfurter Gauleiters brachte, löste er dessen heftigste Abwehrreaktionen aus. Teils mit Macht, teils mit Geschick gelang es Sprenger innerhalb kürzester Zeit, die ursprünglichen Unterstützer Traupels entweder auf seine Seite zu ziehen (wie Innenminister Frick) oder zumindest zu einer indifferenten Position zu veranlassen (wie „Reichsmarschall“ Göring und „Reichsführer“ Himmler). Sprenger bediente sich parallel zu den Gesprächen und Verhandlungen auf höchster Ebene auch der Provokation und der persönlichen Intrige, um seinen Widersacher Traupel zu zermürben, einen Keil zwischen den Landeshauptmann und dessen Hauptunterstützer, den Kasseler Oberpräsidenten Philipp von Hessen, zu treiben und Traupel schließlich zur Kapitulation zu zwingen. Das Arsenal der Sprenger’schen Methoden umfasste persönliche Verbalattacken gegen Traupel, provokative Eingriffe der Partei in dessen Zuständigkeiten an der Spitze des Bezirksverbandes, die Verbreitung von Gerüchten und schließlich sogar ein Parteigerichtsverfahren gegen Traupel. Entgegen all seinen Hoffnungen gelang es dem Landeshauptmann nicht, seine relativ hochrangige Position in der SS zu einem machtpolitischen Pluspunkt umzumünzen. Der Autoritätsverlust Traupels im Zuge der Auseinandersetzung ging einher mit einer dramatischen Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau. Dieser Prozess, der als Fortsetzung von Tendenzen in den 1930er Jahren verstanden werden kann, erreichte seinen Endpunkt mit dem faktischen Ausscheiden Traupels aus dem Dienst im April 1941. Hatte Traupel in den ersten Jahren seiner Landeshauptmannschaft 1933 bis 1935 in Wiesbaden selbst amtiert und damit die höchste Präsenz im Bezirksverband Nassau an den Tag gelegt, so hatte er bereits in den ersten Jahren seit seinem Wechsel nach Kassel (1936 bis 1938) latent ein Vakuum entstehen lassen. Dadurch hatte sein Wiesbadener Adjutant Bernotat eine faktische Machtposition ausbauen können. Während Traupel 1939 und Anfang 1940 die Zusammenlegung der beiden Bezirksverbände betrieb, evozierte er den massiven Unwillen der Belegschaft der Wiesbadener Zentralverwaltung, die ihre angestammten Arbeitsplätze zu Recht in Gefahr sah. Der massive Widerspruch und die „Sabotage“ aus der eigenen Verwaltung, woran sich sogar sonst loyale leitende Beamte wie Landesrat Kranzbühler beteiligten, trug dazu bei, Traupels Stellung gegenüber seinen äußeren Widersachern, besonders gegenüber Gauleiter Sprenger, zusätzlich zu unterminieren. Parallel dazu wandelte sich das einst kameradschaftliche Verhältnis zwischen Traupel und Bernotat zu einer Feindschaft, weil der ehrgeizige Bernotat sich unter Traupel keine Perspektiven mehr versprach und weil er nicht mehr zur Unterordnung bereit war. Mit Machtgespür kooperierte Bernotat nun 179 Siehe dazu Kap. IV. 3. c). – Zitat „auf Grund [...]“ in: HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 4, LHA Weilmünster an Alexander B., Ffm (24.02.1941). 366 IV. Zeit der Gasmorde verstärkt mit Gauleiter Sprenger, der Bernotats Informationen in der Auseinandersetzung mit Traupel dankbar nutzte. Indem Sprenger Bernotat fortan in allen Lagen den Rücken stärkte, konnte dieser seit 1941 – seit Traupels Abgang – zu dem starken Mann im Bezirksverband Nassau werden, besonders da auch die Position des Oberpräsidenten Philipp Prinz von Hessen zunehmend geschwächt war. Im Zuge von Bernotats Aufstieg war auch dessen Verhältnis zu Landesrat Kranzbühler, der fortan formal den abwesenden Landeshauptmann vertrat, einem Wandel unterworfen. Während in den ersten Jahren der NS-Zeit eine Art Allianz zwischen Kranzbühler und Bernotat (mehr im Sinne eines unausgesprochenen Stillhalteabkommens) bestanden hatte, begehrte Kranzbühler 1940/41 nur vorübergehend und in Einzelfragen vorsichtig gegen Parteieingriffe in den geregelten Verwaltungsablauf auf. Nachdem aber Gauleiter Sprenger ihm machtvoll seinen Willen kundgetan hatte, fügte Kranzbühler sich schnell in die neue Konstellation und sah davon ab, Bernotat als faktische Nummer eins im Verband in Frage zu stellen. Ab spätestens Mai 1941 gab Landesrat Bernotat im Bezirksverband Nassau den Ton an, und zwar dem ersten Anschein nach als verlängerter Arm des NSDAP-Gaus Hessen-Nassau.180 Damit war zunächst Sprengers Absicht Genüge getan, eine spätere Integration des Verbandes in eine Selbstverwaltungskörperschaft des avisierten Reichsgaus Rhein-Main nicht zu verbauen (wenn auch weitere Schritte in diese Richtung bis 1944 auf sich warten ließen).181 Die neue Machtkonstellation im Wiesbadener Landeshaus hatte aber auch Auswirkungen auf die inhaltliche Orientierung des Bezirksverbandes. Ohnehin war dessen Status als Organ der kommunalen Selbstverwaltung auf regionaler Ebene seit 1933/34 ausgehöhlt, da die Träger, die Kreise und Städte, zwar noch Geldgeber waren, aber nicht mehr mitbestimmen konnten. Landeshauptmann Traupel hatte den Begriff der Selbstverwaltung immerhin noch inhaltlich mit Blick auf die Initiative des Landeshauptmanns und die Förderung einer – wie auch immer gearteten – landschaftlichen Identität der Provinz zu füllen versucht. Derartige Bestrebungen gingen Bernotat völlig ab; er nutzte den Bezirksverband in den folgenden Jahren in erster Linie als institutionelle Basis für die Durchführung der „Euthanasie“morde an kranken und behinderten Menschen. Der Bezirksverband spielte dabei eine weitaus tragendere Rolle als der Kasseler Bezirksverband Hessen, den nun vertretungsweise der Landesrat Dr. Otto Schellmann führte, „von dem man“ – so Traupels Einschätzung – „jedenfalls keine weltanschauliche Ausrichtung erwarten“ durfte.182 Aber auch das Land Hessen, wo Gauleiter Sprenger in seiner Funktion als Reichsstatthalter und Chef der Darmstädter Landesregierung wesentlich unmittelbarer die Macht ausübte, war in die Krankenmordpolitik zumindest vergleichsweise weniger involviert. Trotz der gestärkten Führerschaft der Partei und Sprengers und trotz aller Abhängigkeit Bernotats von diesem wäre es verfehlt, die Ausrichtung des Bezirksverbandes Nassau in den folgenden Jahren 1941 bis 1944 in erster Linie dem Gauleiter zuzuschreiben. 180 Siehe dazu Kap. IV. 2., IV. 3. u. V. Siehe dazu Kap. V. 4. b). BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., W. Traupel an [den Leiter der Kommunalabteilung d. RMdI] Kreißl (29.12.1943). – Zu Dr. jur. Otto Schellmann (1880–1953) siehe biogr. Anhang. 181 182 367 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde a) Einbindung der Regionen in die Vorbereitung Die zwischen Januar 1940 und August 1941 begangenen Gasmorde an über 70.000 kranken und behinderten Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten waren die erste systematische Massenmordaktion des „Dritten Reiches“.1 Diese erste Phase der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen wurde von der zentralen, in Berlin angesiedelten Parteidienststelle „T4“ geplant und gesteuert, die die Morde in sechs ebenfalls zentralen Gasmordanstalten im Deutschen Reich durch ihr Personal begehen ließ. Die verschiedenen Aspekte der zentralen Lenkung sind durch vorausgegangene Untersuchungen bereits weitgehend bearbeitet worden und sollen im Folgenden nicht im Vordergrund stehen. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht hier die Frage, an welchen Punkten und in welchem Maße sich regionale Stellen der staatlichen und kommunalen Verwaltung, in bestimmten Fällen auch der regionalen Parteigliederungen, in die Vorbereitung und die Umsetzung des zentralen Krankenmordprogramms 1940/41 einbinden ließen und welche Beiträge sie schließlich dazu leisteten. Vor diesem Hintergrund wird das Gewicht des „nassauischen“ Tatbeitrags im Verhältnis zur Verantwortung anderer Reichsteile zu wägen sein. Zu beantworten ist die Frage nach dem Maß an Initiative aus den Reihen des Bezirksverbandes Nassau zur Einleitung und Umsetzung der Krankenmordaktion. Zugleich sind aber auch Interpretationen kritisch zu überprüfen, die einen Widerspruch zwischen regionaler Initiative und zentraler Steuerung sehen – beispielsweise die These Zimmermanns, das Gewicht des Faktors Hitler „für die historische Forschung [nehme] in dem Maße ab, wie sich die radikalisierende Einflußnahme anderer, gerade auch regionaler Instanzen auf die Mordpolitik nachweisen“ lasse.2 Ausgangspunkt vieler Untersuchungen zur Krankenmordaktion war anfangs die Diskrepanz zwischen dem Anspruch ärztlichen Handelns einerseits und der Mitwirkung von Medizinern an den Morden andererseits. Klees grundlegende Darstellung ist von diesem Ansatz geprägt,3 und auch andere Forscher suchen medizin- oder psychiatrieimmanente Erklärungen. Aly interpretiert die Krankenmordaktion als das Phänomen einer reformorientierten Psychiatrie, die sich der Modernisierung verschrieb und dabei die „unheilbaren“ Kranken und Behinderten der Ermordung preisgab, während sie den „heilbaren“ mit therapeutischer Euphorie jede erdenkliche Hilfe habe zukommen lassen wollen.4 Lifton sieht in den Ärzten im „Dritten Reich“ teils verblendete „Idealisten“, teils brutale Sadisten – eine Zweiteilung, die Friedlander zu Recht kritisiert.5 Andere Untersuchungen stellen nicht das ärztliche Handeln ins Zentrum ihres Interesses. Schmuhl folgt letztlich einem strukturtheoretischen Ansatz und sieht in den Krankenmorden das Ergebnis von Radikalisierungsprozessen, die er unter anderem auf die polykratische Herrschaftsstruktur des „Dritten Reiches“ und dessen Eigendynamik zurückführt; dennoch lässt Schmuhl das ideologische Motiv des Rassismus nicht außer Acht.6 Auch Walter wendet in seiner Interpretation der ersten Phase der NS-Krankenmordaktion den Blick von den Medizinern ab und richtet ihn auf die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung: „Gemessen an den Opferzahlen erwies sich die T4-Organisation [...] als effektives System, in dem letztlich die Parteiideologen und Bürokraten die Arbeitsweise und Entscheidungsabläufe bestimmten. Diese Feststellung soll den Beitrag der Medizin/Psychiatrie am gesamten Geschehen nicht minimieren [...]. Hier ging es jedoch um Macht- und Einflußstrukturen.“ Walter sieht denn auch die rassenideologischen Beweggründe zunehmend von ökonomischen Kriterien überlagert.7 Einem dezidiert materialistischen Ansatz folgend, sehen Roer und Henkel die maßgebliche Erklärung für die Mordaktion in den ökonomischen Bedingungen 1 Zu berücksichtigen sind dabei jedoch auch die vorausgehenden Kranken- u. Behindertenmorde im Nordosten seit dem Herbst 1939: siehe dazu Kap. III. 3. c). 2 Zimmermann, Euthanasie (1997). 3 Klee, „Euthanasie“ (1983). 4 Aly, Fortschritt (1985), S. 48 f.; ders., Aktion (1989), S. 11–20, hier insb. S. 16; siehe dazu auch Kap. V. 1. b). 5 Friedlander, Weg (1997), S. 350–352, mit Hinweis auf Lifton, Doctors (1986), S. 17, S. 23, S. 114–119. 6 Schmuhl, Rassenhygiene (1987); ders., Rassismus (1993). – Noch eindeutiger lenkt Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 98 f. (Anm. 63), hier S. 98, den Blick auf „Eskalationen“ und „Radikalisierungsprozesse[...]“. 7 Walter, Psychiatrie (1996), S. 783 f. (Zitat auf S. 784). 368 IV. Zeit der Gasmorde der Psychiatrie schlechthin: In erster Linie die mangelnde Arbeitsfähigkeit sei ausschlaggebend für die Ermordung der kranken und behinderten Menschen gewesen.8 Bei aller Berechtigung der angeführten Aspekte darf jedoch nicht die grundsätzliche rassenideologische Zielrichtung aus den Augen verloren werden, die für all diese strukturellen, machtstrategischen und ökonomischen Antriebskräfte den Hintergrund bildete und die Friedlander folgendermaßen skizziert: „Diese Menschen [= die Behinderten, P. S.] wurden [...] nicht deshalb getötet, um Klinikbetten zu räumen oder Kosten zu sparen; der Beweggrund der Mörder war vielmehr die ideologische Zwangsvorstellung von einem rassisch homogenen und gesunden Volk.“9 Eine Reihe von Arbeiten der letzten Jahre und Jahrzehnte zum Komplex der NS-Kranken- und Behindertenmorde konstatiert im Ergebnis einen engen inhaltlich-logischen Zusammenhang zwischen der NS-„Euthanasie“ und den anderen rassenideologischen Mordaktionen, insbesondere der Ermordung der europäischen Juden. Der in den letzten Jahren exponierteste Vertreter dieser Position, Henry Friedlander, führt aus, „daß die Ideologie, der Entscheidungsprozeß, das Personal und die Tötungstechnik die Euthanasie mit der ‚Endlösung‘ verbanden.“10 Im Sinne einer von Friedlander dargestellten „Vernichtung des ‚biologischen Feindes‘“ – also sowohl der psychisch Kranken und geistig Behinderten als auch der Juden sowie der Sinti und Roma – wird mitunter inzwischen für den Massenmord an allen drei Gruppen der Begriff des Genozids benutzt, der, so Michael Zimmermann, „nach neueren wissenschaftlichen Definitionen durchaus auf die systematische Tötung der Behinderten angewandt werden kann“.11 Den Forschungsstand der letzten Jahre zusammenfassend, konstatiert Bernd Walter: „Insbesondere die Geschichte der Tarnorganisation der ‚Aktion T4‘ führt weit über das ursprüngliche Aufgabenspektrum in der Erwachsenen-‚Euthanasie‘ hinaus und liefert unmittelbare Verknüpfungspunkte zwischen den Maßnahmen gegen die psychisch Kranken und geistig Behinderten und den Vernichtungsaktionen in den Konzentrationslagern wie auch zur Judenvernichtung insgesamt.“12 Eine erste Verklammerung von Krankenmord und Ermordung der Juden stellte bereits im Rahmen der Gasmorde 1940/41 die ausnahmslose Ermordung der jüdischen Patientinnen und Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten dar – und zwar im Gegensatz zu den übrigen Opfern ohne Rücksicht auf den Grad der Krankheit oder Behinderung. Die seit spätestens Mitte der 1930er Jahre zunehmende Diskriminierung der jüdischen Patienten13 erreichte 1939 einen neuen, wenn auch nur vorläufigen Höhepunkt, als hilfsbedürftige jüdische „Geisteskranke“ generell aus der Fürsorge des Landesfürsorgeverbandes ausgeschlossen und die Kosten der Anstaltsunterbringung den Institutionen der Juden auferlegt wurden. Im Regierungsbezirk Wiesbaden bedeutete dies, dass bei den betreffenden Kranken aus Frankfurt nun die dortige Jüdische Gemeinde als Kostenträgerin aufzutreten hatte, während für die übrigen aus dem Wiesbadener Bezirk stammenden Juden in Anstalten des Bezirksverbandes fortan (wie auch ansonsten im Deutschen Reich) die neu geschaffene „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ die Kosten der Anstaltsunterbringung übernehmen musste. Dass in Frankfurt die Jüdische Gemeinde zuständig wurde, ging zurück auf eine Bestimmung, wonach die Reichsvereinigung „sich als örtlicher Zweigstellen der jüdischen Kultusvereinigungen“ zu bedienen hatte. Der Pflegesatz, den der Bezirksverband nun für jüdische Kranke verlangte, lag mit RM 5,00 mehr als doppelt so hoch wie der für Nichtjuden (RM 2,30). Zwar versuchte die Reichsvereinigung, diese Diskriminierungsmaßnahme durch Einspruch beim Reichsinnenminister rückgängig zu machen, das aber blieb nach einer ablehnenden Stellungnahme Adolf Eichmanns (im Namen des „Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei“) ohne Erfolg.14 8 Roer/Henkel, Funktion (1986), S. 13, S. 24. Friedlander, Weg (1997), S. 10. Ebd., S. 11. 11 Zimmermann, Euthanasie (1997). – Dort auch das Zitat „Vernichtung [...]“. 12 Walter, Psychiatrie (1996), S. 629–631, hier S. 631. 13 Zu den Maßnahmen gegen jüdische Patientinnen und Patienten in den LHAen des BV Nassau vor 1939 siehe Kap. III. 2. a). 14 Das zum 30.09.1939 wirksam werdende Ausscheiden aus der Fürsorge des LFV basierte auf RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 118 (06.07.1939), S. 1097–1099, „Zehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ (04.07.1939), hier S. 1098 (§ 12); ebd., S. 1097 (§ 1 Abs. 3), ist die Berücksichtigung „örtlicher Zweigstellen“ geregelt; vgl. Walter, Psychiatrie (1996), S. 706. Aufgrund des Einspruchs beim RMdI akzeptierten die LHAen des BV Nassau vorerst die Zahlung von RM 2,50 statt RM 5,00, zogen die Differenz jedoch nach der Entscheidung des RFSSuChdDtPol im Jahre Jan. 1941 noch nachträglich ein: HStA Wi, Abt. 430/1 9 10 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 369 Die Kostenangelegenheit wurde schon bald zu einer sekundären Frage, als – wahrscheinlich im März oder April 1940 – die Krankenmordorganisation „T4“ den grundsätzlichen, wohl von Hitler gebilligten Beschluss zur ausnahmslosen Ermordung sämtlicher jüdischer Anstaltspatienten fällte; parallel führte das Innenministerium eine gesonderte Meldepflicht für diesen Personenkreis ein. Zugleich versuchte man bei „T4“ mit ungeahnter Konsequenz, gerade die Ermordung der jüdischen Patienten zu vertuschen, vermutlich da deren Bekanntwerden den wissenschaftlichen Anstrich der gesamten Krankenmordaktion als Farce decouvriert hätte. Noch im Nürnberger Prozess beharrten die Hauptverantwortlichen der Krankenmorde auf der falschen Behauptung, es seien durch „T4“ keine psychisch kranken oder behinderten Juden ermordet worden.15 Tatsächlich begann die systematische Ermordung der jüdischen Kranken im Juni oder Juli 1940 in der von „T4“ eingerichteten Gasmordanstalt Brandenburg.16 Auch die jüdischen Patienten aus zwei Anstalten des Bezirksverbandes Nassau (Hadamar und Herborn) sowie aus allen drei Anstalten des Bezirksverbandes Hessen wurden bereits 1940 in Brandenburg ermordet, nachdem sie im September kurzzeitig in der hessischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gießen konzentriert worden waren.17 Die dem hessischen Reichsstatthalter, Gauleiter Jakob Sprenger unterstehende Anstalt Gießen fungierte als eine von mehreren „Sammelanstalten“ des Jahres 1940.18 Aus ungeklärten Gründen verblieben die jüdischen Patienten aus den „nassauischen“ Landesheilanstalten Eichberg und Weilmünster noch für einige Monate in diesen bisherigen Unterbringungsanstalten, bevor auch sie, im Februar 1941, ausnahmslos im Rahmen der Gasmordaktion der „T4“ ermordet wurden.19 Die Entscheidung für die „T4“-Krankenmordaktion insgesamt, die also den Mord an den jüdischen Patienten einschloss, war Mitte 1939 gefallen, wobei Vorüberlegungen und erste Initiativen20 zur TöNr. 12557, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 926, gez. i. A. LVR Dr. Steinhäuser, an LHA Eichberg (15.01.1940); ebd., o. Bl.Nr., Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Abt. Fürsorge, Berlin, an BV Nassau, betr. „Pflegegeld für jüdische Anstaltspfleglinge. Ihr Zeichen: B. 1. 64/A (IIa) 576[,] Ihr Schreiben vom 31. Dezember 1940“ (28.01.1941), hier als Abschr. von BV Nassau, Az. A (IIa) 45, gez. i. A. LdsR Johlen, an LHA Eichberg (04.02.1941); dto. an LHA Hadamar mit aufgeschr. Vfg. zum Schreiben LHA Hadamar, gez. Klein, an BV Nassau (10.02.1941) auch in LWV, Best. 12/ehem. VA 015 (Kopie), o. Bl.Nr. u. Bl. 62; ebd. (HStA Wi), RFSSuChdDtPol. im RMdI, Az. B-Nr. S-IV D 4 – 733/39 Rv., gez. i. A. Eichmann, an BV Nassau, betr. „Neufestsetzung der Pflegesätze für hilfsbedürftige jüdische Geisteskranke“ (25.01.1941), hier als Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (o. D. [Anschreiben: 02.07.1941]); BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 17. 15 Friedlander, Anstaltspatienten (1989), S. 42; ders., Weg (1997), S. 418, S. 429, S. 431, S. 575 f. (Anm. 1–5), S. 579 (Anm. 53), u. a. mit Hinweis auf Aussagen Viktor Brack (04.09.1946), Karl Brandt (o. D.), Hermann Pfannmüller (04.09.1946) u. Gerhard Simon (05.12.1962); zur Meldepflicht nach einem Erl. d. RMdI (15.04.1940) siehe Aly, Aktion (1989), S. 198– 205 („Zeittafel“), hier S. 199. 16 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 259; Bernhardt, Anstaltspsychiatrie (1994), S. 140, u. a. mit Hinweis auf Hühn, Schicksal (1989), S. 129; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 215 f.; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 99; Aly, Aktion (1989), S. 198– 205 („Zeittafel“), hier S. 199 (dort abweichend die Datierung Juli 1940). 17 Grundlage der Verlegung nach Gießen war ein Runderlass des RMdI (30.08.1940). Die Verlegung nach Gießen hatte bis zum 25.09.1940 zu geschehen, die Weiterverlegung (nach Brandenburg) erfolgte am 01.10.1940: Friedlander, Weg (1997), S. 435; HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., LHA Hadamar, gez. LS Klein, an LHA Eichberg (04.11.1940), mit Patientenliste als Anlage (2 Pat. aus Hadamar am 25.09.1940 nach Gießen verlegt); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 574, Lotte E. P., Ffm, an LG Ffm, OStAnw Dr. Wagner (29.10.1946) (jüdischer Patient aus Herborn, am 25.09.1940 von Herborn nach Gießen u. von dort am 01.10.1940 weiterverlegt); ebd., o. Bl.-Nr. (zwischen Bl. 575 u. Bl. 576), [Oberpfleger] Karl K., Gießen, an Lotte P. (15.09.1946); vgl. auch ebd., Bd. 7, Bl. 86, Aussage Wilhelm Lückoff als Angeklagter im HadamarProzess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947) (dort allerdings z. T. falsche Datierung für die von Herborn Verlegten); vgl. auch ebd., Bl. 203, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (unzutreffende Behauptung, von der LHA Herborn aus seien nicht zuerst jüdische Patienten abgeholt worden); LWV, Best. 17/138, RMdI, Schnellbrief „IV g 6662/40 – 5106“, an BV Hessen (30.08.1940), hier als Abschr. von BV Hessen an LHA Merxhausen, erste Seite als Faks. auch in Euthanasie (1991), S. 80 (Verlegung der jüd. Patienten der LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen in die „Sammelanstalt“ Gießen). 18 Zur „Sammelanstalt“ Gießen siehe George, Heil- und Pflegeanstalt (1997), S. 136 f.; siehe auch Walter, Psychiatrie (1996), S. 707–709; siehe insb. Kingreen, Patienten (2003). – Zur „Sammelanstalt“ Berlin-Buch siehe StA Potsdam, Schreiben PV Mark Brandenburg an Landesanstalt Neuruppin (12.07.1940), hier n. d. Faks. b. Friedlander, Anstaltspatienten (1989), S. 37; siehe auch Bernhardt, Anstaltspsychiatrie (1994), S. 140; siehe auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 99. – Zur „Sammelanstalt“ Wunstorf (Weiterverlegung am 27.09.1940), siehe z. B. Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; siehe auch ders., Psychiatrie (1996), S. 706–710; siehe auch Teppe, Massenmord (1989), S. 20/22; siehe auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 88, u. a. mit Hinweis auf Finzen, Dienstweg (1980). – Zu weiteren „Sammelanstalten“ für jüdische Patienten, auch des Jahres 1941, siehe z. B. Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 215 f.; Raphael, Euthanasie (1991), S. 81; Winter, Heil- und Pflegeanstalt (1993), S. 85. 19 Zur Ermordung der jüdischen Patienten im Februar 1941 in Hadamar und zur Anfang 1941 eingerichteten zweiten dem Reichsstatthalter Sprenger unterstehenden „Sammelanstalt“ in Heppenheim siehe Kap. IV. 3. b). 20 Zu ersten Initiativen siehe Kap. III. 3. c). 370 IV. Zeit der Gasmorde tung psychisch kranker Menschen weit in die 1930er Jahre zurückreichten. Der Entschluss Hitlers, das grundsätzlich bereits seit langem ins Auge gefasste Programm beginnen zu lassen, wird im Allgemeinen auf die Monate unmittelbar vor Kriegsbeginn datiert. Nachdem Hitler ursprünglich den neuen Reichsärzteführer und Staatssekretär im Reichministerium des Innern, Leonardo Conti,21 als federführend beauftragt hatte, zog er diesen Auftrag kurzfristig zurück und gab ihn nunmehr an seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt22 sowie an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler23. Mit der Einbeziehung dieser Parteibehörde, seiner Kanzlei als NSDAP-Parteiführer,24 sorgte Hitler dafür, dass die staatlichen Behörden des Reichs wie das Innenministerium zumindest nicht direkt mit der nach geltendem Recht illegalen „Aktion“ befasst wurden. Während Friedlander diesen Schwenk auf eine Intrige zwischen konkurrierenden Machtzentren des NS-Staats zurückführt, gibt Rebentisch schlüssig die von Lammers als Chef der Reichskanzlei geäußerten Bedenken wegen der Ungesetzlichkeit als ausschlaggebendes Moment an.25 Die Beauftragung der Kanzlei des Führers mag auch der Überzeugung geschuldet gewesen sein, bei der NS-„Euthanasie“ handele es sich um eine „Wohltat am deutschen Volk“ und nicht etwa um eine Maßnahme gegen Staatsfeinde. Die Kanzlei des Führers, die auch ein Hauptamt für Gnadensachen unterhielt, sah sich nämlich als „Mittler zwischen Volk und Führer“, als eine Institution, bei der „die Volksgenossen [...] dem Führer all ihre Not und ihre Sorgen zum Ausdruck bringen“, wie KdFHauptamtsleiter Heinrich Cnyrim 1941 zu Papier brachte.26 Offenbar hatten sich tatsächlich bereits vor Kriegsbeginn auch Angehörige an die Kanzlei des Führers gewandt und Gesuche „mit der Bitte um Einschläferung von schwerstkranken Neugeborenen“27 eingereicht. Mit der Organisation der Krankenund Behindertentötungen kam nun besonders die selbst gesteckte Maxime der Kanzlei des Führers zum Tragen, „fern von bürokratischen Hemmungen und formellen Bedenken in nationalsozialistischer Entschluß- und Verantwortungsfreudigkeit ihre Entscheidungen und Maßnahmen zu treffen“.28 21 Zu Dr. med. Leonardo Conti (1900–1945) siehe biogr. Anhang. Zu Prof. Dr. med. Karl Brandt (1904–1947) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Wistrich, Reich (1983), S. 30 f.; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 24 f.; NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-475, 3-seitiges Protokoll d. eidesstattlichen Vernehmung Karl Brandt (25.10.1946), hier n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. (S. 2); siehe auch den Nachweis der Rechtsgrundlagen für Brandts Ämter (1942–1944) in Kap. V. 3. b). 23 Zu Philipp Bouhler (1899–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Noakes, Bouhler (1986), S. 209–211; Wistrich, Reich (1983), S. 29. 24 Es ist zu unterscheiden zwischen den fünf verschiedenen Kanzleien im „Dritten Reich“: „Reichskanzlei“ (geleitet von Hans Heinrich Lammers, zuständig für Geschäfte des Reichskanzlers, zugleich dessen Dienstsitz, vergleichbar dem heutigen Bundeskanzleramt); „Parteikanzlei“ (Parteizentrale der NSDAP in München, bis 1941 geleitet von Rudolf Heß unter der Bezeichnung „Stellvertreter des Führers“, dann von Martin Bormann); „Kanzlei des Führers“ oder „Kanzlei des Führers der NSDAP“ (geleitet von Philipp Bouhler, hervorgegangen aus dem Stab des Parteiführers, räumlich angesiedelt im Gebäude der Reichskanzlei); „Privatkanzlei“ (Abteilung der „Kanzlei des Führers“, Funktion einer persönlichen Adjutantur Hitlers, geleitet von Albert Bormann, dem Bruder von Martin Bormann); „Präsidialkanzlei“ (zuständig für Geschäfte des „Führers“ des Deutschen Reiches anstelle des untergegangenen Amts des Reichspräsidenten, z. B. Ehrungen). – Zu den verschiedenen Kanzleien siehe z. B. Broszat, Staat (1979), S. 390 f.; Noakes, Bouhler (1986); Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 735 f.; ders., Führerstaat (1989), S. 449 f. 25 Zu diesem Absatz: Friedlander, Weg (1997), S. 119 f. (auch zur Datierung der Entscheidung auf Juli/August 1939); ebd., S. 119, S. 499 (Anm. 9 u. 10) (These einer Intrige zwischen Conti und Martin Bormann auf der einen Seite und Bouhler, Brack, unterstützt von Göring, Himmler und Frick, auf der anderen Seite); ebd., S. 308 f., S. 555 (Anm. 10 f.); Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 430 f., mit Hinweis auf Nachkriegsaussagen Lammers’ im Nürnberger Prozess und im Wilhelmstraßenprozess; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 52 (Datierung der Entscheidung auf 18.07.1939); Walter, Psychiatrie (1996), S. 651–655 (Datierung der Grundsatzentscheidung auf wahrscheinlich die erste Julihälfte, dagegen terminiert Walter den Zeitpunkt, zu welchem die Federführung Conti entzogen und der KdF übertragen wurde, anders als Kaul, Klee u. Schmuhl, die den Juli 1939 nennen, auf einen späteren Zeitpunkt, wohl den Oktober 1939). 26 Cnyrim, Kanzlei (1941), zit. n. Noakes, Bouhler (1986), S. 221. – Heinrich („Heinz“) Cnyrim war Leiter des Hauptamts IV der KdF (Sozial- u. Wirtschaftsangelegenheiten/„Sozialamt“), wurde 1942 wegen einer Korruptionsaffäre zunächst aus der NSDAP ausgeschlossen, jedoch durch Hitler begnadigt, und starb beim anschließenden Fronteinsatz in Russland: Noakes, Bouhler (1986), S. 221 f. – Zur Gliederung der KdF: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Erika H. (ab 1938 Verw.-Ang. d. KdF) ggü. d. LG Ffm in Homberg Bez. Kassel (18.06.1965), Kopie; ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Ilse L. (1938–1945 KdF-Schreibkraft) b. d. LG Ffm (28.05.1965), Kopie; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 22; Noakes, Bouhler (1986), S. 211; Friedlander, Weg (1997), S. 86. 27 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1–453, GenStAnw Ffm, Az. Ks 2/63 („Heyde-Verfahren“), Aussage Dr. Hans Hefelmann, hier zit. n. Noakes, Bouhler (1986), S. 225. 28 BA, R2/31096, Aussage eines KdF-Vertreters, zit. im Urteil d. Obersten Parteigerichts betr. Dr. Heinz Wittig u. Kurt Jainz (Hauptverhandlungen 02.–03.02. u. 22.–25.04.1942), hier zit. n. Noakes, Bouhler (1986), S. 208. 22 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 371 Der zunächst nur mündlich erteilte Auftrag des „Führers“ wurde noch im Herbst 1939 auf einem Briefbogen von dessen Privatkanzlei schriftlich fixiert und von Hitler unterschrieben, insbesondere um den beiden Beauftragten im Falle zweifelnder Einsprüche eine einwandfrei erscheinende Legitimation an die Hand zu geben. Notorisch ist etwa die Übergabe einer Kopie dieses so genannten „Euthanasieerlasses“ im August 1940 an Justizminister Franz Gürtner, der zunächst die fehlende gesetzliche Basis für die massenhaften Krankentötungen bemängelt hatte, sich jedoch dann durch die Bekanntgabe des Hitler’schen Willens zum Einlenken bewegen ließ.29 Daneben verfolgten „Experten“ des NS-Staats im Laufe des Jahres 1940 auch sehr konkrete Pläne zu einem so genannten „Gesetz über die Leidensbeendigung bei unheilbar Kranken und Lebensunfähigen“, welches jedoch auf Veranlassung Hitlers und im Sinne einer Geheimhaltung der Krankentötungen nie zur Verabschiedung und Veröffentlichung kam. Legt man die bisherigen Rechtsvorstellungen und auch die formal während des „Dritten Reichs“ gültigen Strafgesetze zugrunde, so blieb die NS-„Euthanasie“ also bis zum Schluss illegal, selbst wenn man die 1941 vorgenommene Änderung der „Mord“-Definition im Strafgesetzbuchparagrafen 211 in Betracht zieht. Während an den Beratungen zum „Gesetz über die Leidensbeendigung bei unheilbar Kranken und Lebensunfähigen“ auch einzelne Vertreter von Medizinalverwaltungen der Länder teilnahmen, wurden Vertreter der Bezirksverbände Hessen und Nassau (ebenso wie der übrigen preußischen Provinzialverbände), aber auch der Darmstädter Landesregierung hier nicht hinzugezogen.30 1939 stellten die Mordorganisatoren Überlegungen über die geeignetste Tötungsmethode an. Nachdem anfangs auch die Anwendung des Genickschusses erprobt worden war31 und Prof. Dr. Paul Nitsche vergeblich versucht hatte, die von ihm in Sachsen entwickelte medikamentöse Tötung („Luminalschema“) generell zu etablieren,32 fiel – wohl im letzten Quartal 1939 – die Entscheidung für die Erstickung durch industriell produziertes Kohlenmonoxyd in eigens eingerichteten Gaskammern.33 Zur Auswahl und Bestimmung der Mordopfer stellte die Mordorganisation „T4“ ab November 1939 ein „Gutachter“gremium aus zum Teil renommierten Ärzten – vielfach Ordinarien der Psychiatrie, aber auch ärztliche Direktoren von Heil- und Pflegeanstalten – zusammen, die fallbezogen über Leben oder Tod der in Anstalten untergebrachten Menschen entscheiden sollten; nur einer der angesprochenen Professoren, Prof. Dr. Ewald (Göttingen), ließ seine Ablehnung in Fachkreisen bekannt werden.34 29 BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 1, sog. „Euthanasieerlass“ Hitlers (rückdatiert 01.09.1939), hier als Kopie für Reichsjustizminister Gürtner mit dessen Eingangsnotiz (27.08.1940), als Faks. auch in Euthanasie (1991), S. 27 (Dok. I. 2); vgl. auch ebd. (BA), Schreiben Bouhler an Gürtner (05.09.1940) („[...] erscheint mir der Erlaß besonderer, schriftlich zu fixierender Ausführungsbestimmungen nicht mehr erforderlich“), auch vorhanden als Nürnberger Dokument NO-834, hier zit. n. Friedlander, Weg (1997), S. 206; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, QR, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard R. ggü. d. LG Ffm in Berlin (05.11.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im EichbergProzess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 241–243 (= S. 47–51) (zur Wertung des „Euthanasie“erlasses als nicht gesetzliche Grundlage der „Euthanasie“aktion); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 241; Friedlander, Weg (1997), S. 450; Walter, Psychiatrie (1996), S. 644 f. 30 NARA, T-1021, Roll 11, Frame 64–96, „T4“-Protokoll zur Diskussion über ein „Euthanasiegesetz“ (o. D. [wahrscheinlich Herbst 1940]), Kopien auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1806) sowie in BA, R96 I/2, Bl. 126659–126690 (bei den erwähnten Dezernenten handelt es sich um Prof. Dr. Walter Schultze für Bayern, Dr. Eugen Stähle für Württemberg u. Dr. Ludwig Sprauer für Baden, siehe dazu auch unten in diesem Kap. IV. 2. a). – Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 248–251; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 121 f.; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 241 f.; Aly, Fortschritt (1985), S. 15–17; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 294–298; Aly, Aktion (1989), S. 15 f.; ebd., S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 200; Friedlander, Weg (1997), S. 254. – Siehe auch die Zeugenaussagen zur Genese des Gesetzes(entwurfs): HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332– 364 bzw. Bl. 410–415, Protokolle d. Zeugenvernehmungen Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. bzw. 10. Hv-Tag (11.03.1947 bzw. 14.03.1947), hier Bl. 338–340 u. Bl. 342 bzw. Bl. 411 f.; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, QR, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Irmgard R. ggü. d. LG Ffm in Berlin (05.11.1963), Kopie. – Zur Änderung von § 211 StGB vgl. Hoffmann, Verfolgung (2001), S. 230. 31 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gerhard Simon ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965), Kopie. 32 Schröter, Heil- und Pflegeanstalt (1994). – Zur Entwicklung des „Luminalschemas“ siehe auch Kap. III. 3. c). 33 Zur Mordmethode siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 84 f., S. 102; Kogon/Langbein/Rückerl, Massentötungen (1983), S. 52 f. – Verschiedene Autoren datieren die Entscheidung für das Kohlenmonoxyd bereits auf Ende 1939: Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 195; Friedlander, Weg (1997), S. 152 f.; auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 78, der darlegt, die so genannte „Probevergasung“ in Brandenburg Mitte Januar 1940 könne nicht mehr der Entscheidung über die Mordmethode gedient haben, sondern lediglich noch der Einweisung der Mordärzte; vgl. ebd., S. 159; zur sog. „Probevergasung“ siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 109–112. – Dagegen nimmt Walter, Psychiatrie (1996), S. 664 f., Mitte Januar 1940 als Zeitpunkt der Entscheidung für das Gas an. 34 Zu den mitwirkenden Professoren zählten u. a. Prof. Dr. Werner Heyde (Würzburg), Prof. Dr. Berthold Kihn (Jena), Prof. Dr. Friedrich Mauz (Königsberg), Prof. Dr. Friedrich Panse (Bonn), Prof. Dr. Kurt Pohlisch (Bonn) sowie Prof. Dr. Carl 372 IV. Zeit der Gasmorde Nach der Entscheidung Hitlers, die Krankenmordaktion bei der „Kanzlei des Führers“ (KdF35) anzusiedeln, begann dort der Aufbau der heute „T4“ genannten Sonderorganisation. Als eigenständiges institutionelles Gebilde musste „T4“ sich erst entwickeln, nachdem die Mordaktion aus verwaltungstechnischer Sicht zunächst eher wie ein zusätzliches Sachgebiet, ein Aufgabenbereich der Kanzlei des Führers erschien. Auf die Dauer aber waren nur einzelne der zentralen Figuren auf der „T4“-Leitungsebene zugleich führende Angestellte der Kanzlei des Führers;36 diese benutzten – dieser Doppelfunktion entsprechend – Aliasnamen,37 sofern sie für „T4“ auftraten. Dagegen wurden die neuen, gezielt für „T4“ angeworbenen Mitarbeiter formal nicht zugleich KdF-Angestellte und personifizierten somit auch die institutionelle Verselbstständigung der Organisation.38 Eine gewisse Abtrennung ergab sich auch durch die räumlich separate Unterbringung der Krankenmordorganisation in einem eigenen Gebäude außerhalb der Kanzlei des Führers. Anstelle des ursprünglichen Quartiers im „Columbushaus“ am Potsdamer Platz in Berlin wurde ab Frühjahr 1940 das Gebäude in der Tiergartenstraße 4 zum Sitz. Die heute (mit Bezug auf diese Adresse) angewandte Bezeichnung „T4“ für das Konglomerat, das den Kranken- und Behindertenmord organisierte, ist neueren Datums und war in den Jahren 1940/41 noch nicht geläufig, auch nicht etwa als Tarnbezeichnung, wie mitunter angenommen wird.39 Seltene Einzelbelege für den Ausdruck „T4“ während der NS-Zeit datieren von Ende 1943, bezeichnen jedoch nicht die Mordaktion oder -organisation insgesamt, sondern lediglich deren Gebäude in der Tiergartenstraße und den dort noch vorübergehend verbliebenen Teil der Dienststelle (während der andere Teil aus Gründen des Kriegsverlaufs bereits nach Hartheim bei Linz im Reichsgau Oberdonau verlegt worden war).40 Nachdem die Bezeichnung „T4“ in den „Euthanasie“-Prozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit nirgends Erwähnung gefunden hatte, gewann sie erst im Rahmen der zweiten Prozesswelle Anfang der 1960er Jahre ihre heutige Bedeutung als Sigle der Mordorganisation.41 Zum Cheforganisator der „Euthanasie“-Morde wurde für die Kanzlei des Führers in der Praxis nicht deren Leiter Philipp Bouhler, sondern der Abteilungsleiter Viktor Brack. Der während der zwanziger Jahre in München lebende Brack hatte sich vom Chauffeur Himmlers zum Adjutanten Bouhlers emSchneider (Heidelberg): BA, R96 I/1, Bl. 127892 f., „T4“, „Aufstellung der bisher jemals zugelassenen Gutachter“ (o. D.), Kopie. – Zu Ewalds Ablehnung, der keinerlei negative Sanktionen folgten: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 223–226; siehe auch Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Niederschrift Prof. Ewald über die Besprechung v. 15.08.1940 über die Beteiligung an „Euthanasie“, hier n. d. Abdr. b. Aly, Aktion (1989), S. 60–64; Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 100– 105. – Laut Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 57, sollen die Gutachter 1939 sogar bereits „[u]m den 10. August herum“ erstmals getagt haben. – Zur „Begutachtung“ der Meldebogen siehe auch weiter unten in diesem Kap. IV. 2. a). 35 Nicht zu verwechseln mit der ebenso abgekürzten NS-Organisation „Kraft durch Freude“, die Urlaubsreisen organisierte. 36 Friedlander, Weg (1997), S. 309, nennt mit Hinweis auf BA, BDC-Unterlagen, sowie auf Nachkriegsprozessunterlagen 5 KdF-Mitarbeiter, die zugleich – quasi nebenamtlich – bei „T4“ mitwirkten: Viktor Brack, Werner Blankenburg, Dr. Hans Hefelmann, Richard von Hegener und Reinhold Vorberg. 37 Zu den Decknamen siehe u. a. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 168 f.; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 193. 38 So bestätigte der stv. (dann amtierende) „T4“-Personalchef Arnold Oels, dass hinsichtlich des Personals der Krankenmordorganisation zwei Personalverwaltungen nebeneinander existierten: die herkömmliche bei der Kanzlei des Führers für die Leitungskräfte und die der sog. „Stiftung“ für die zusätzlichen, gewöhnlichen Angestellten: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, O, o. Bl.-Nr., Aussage Oels in Hannover (29.08.1962), Kopie d. Durchschr. – Zur „Stiftung“ („Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“) siehe unten. 39 Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 244, nennt „‚Aktion T 4‘ [...] die damals gebräuchliche inoffizielle Tarnbezeichnung“; von den Begriffen „Organisation T4“ u. „Zentraldienststelle T4“ als „Tarnbezeichnungen“ ist auch die Rede bei Aly, Medizin (1985), S. 22, sowie bei dems., Aktion (1989), S. 12; siehe auch ebd., S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 199; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 62, meint fälschlich, seit dem Umzug in die Tiergartenstraße habe man „die Aktion ‚T4‘“ genannt; ebenso Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 194; auch Friedlander, Weg (1997), S. 126, schreibt: „Diese Adresse gab dem Euthanasieprogramm bald den Namen Aktion T4 oder einfach T4.“ – Dagegen differenzieren Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 49, zutreffend: „Der Name ‚Organisation T4‘ [...] ist die heute gebräuchlichste Bezeichnung für die Verwaltungsorganisation im Hauptamt II der Kanzlei des Führers.“ 40 BA, R96 I/15–17 (ehem. BA-MA), zwei Schreiben von Prof. Dr. Nitsche, Weißenbach, an Dr. F. Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad Schwalbach (29.11.1943) bzw. an Dietrich Allers (02.12.1943), beide hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 946 f. (Dok. 250), hier S. 946, bzw. S. 948–950 (Dok. 251), hier S. 949 (Nitsche über die Bombenschäden an der „T4“ und die daher anstehende Verlegung der „T4“, d. h. der bis dahin in der Berliner Tiergartenstraße verbliebenen Abteilungen, nach Steineck bei Bad Schönfließ/Neumark [zw. Schwedt u. Landsberg/W.). – Zum vorausgehenden Teilumzug nach Hartheim siehe auch NARA, T-1021, Roll 10, Frame 979–983, [T4,] „Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und für die Anstalt ‚C‘“ (o. D., gültig ab 08.08.1943), als Kopie auch in BA, R96 I/1, Bl. 126498–126502, sowie in BA, All. Proz. 7/110 (FC 1805) Frame 979–983. 41 Siehe dazu die diversen Unterlagen in HStA Wi, Abt. 461 (Staatsanwaltschaft b. d. LG Ffm) u. Abt. 631a (Generalstaatsanwalt Ffm). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 373 porgearbeitet und leitete seit 1936 das für Partei- und Staatsangelegenheiten zuständige Hauptamt II der KdF.42 Obwohl die bei den Krankenmorden federführende KdF fraglos eine Parteidienststelle war, so ist angesichts der vielfältigen Verschränkungen von NSDAP und Staat im „Dritten Reich“ doch durchaus Alys Charakterisierung zutreffend, bei „T4“ habe es sich um ein „Konglomerat staatlicher und quasistaatlicher Institutionen“ gehandelt.43 Rein formal aber kam die staatliche Beteiligung durch die umfassende Mitwirkung des Reichsministeriums des Innern an der Organisierung der Mordaktion zum Ausdruck. In den Jahren 1939 bis 1941 fungierte das Ministerium quasi als „Hilfsbehörde [...] der [...] Kanzlei des Führers“.44 Eine zentrale Rolle übernahm hierbei Ministerialrat Dr. Herbert Linden,45 der innerhalb der Gesundheitsabteilung des Staatssekretärs Conti zunächst das Sachgebiet „Heil- und Pflegeanstalten“ bearbeitete, dann zum Leiter der Unterabteilung „Erb- und Rassenpflege“ aufrückte und – anders als das Gros der Belegschaft des Ministeriums – von Anfang an in die Mordpläne eingeweiht war.46 Linden unterstützte die „T4“-Organisatoren bei der Anwerbung geeigneten Personals.47 Entscheidend für die Einleitung der Mordaktion waren die ab Oktober 1939 versandten, von Linden vorbereiteten und von Conti unterzeichneten Erlasse des RMdI an die Anstalten im Deutschen Reich, in denen die jeweiligen Leiter zur Ausfüllung von Meldebogen für die jeweiligen Patientinnen und Patienten aufgefordert wurden.48 Linden empfing in Berlin auch Menschen, die gegen die NS-„Euthanasie“-Verbrechen protestierten. In diesem Zusammenhang suchte ihn unter anderen eine Wiener Krankenschwester auf, die ihn als „kleine[n] unscheinbare[n] Mann“ beschrieb, der ihr zwar „[u]ngeheuer liebenswürdig“ begegnet sei, der jedoch alle Einwände gegen die Krankentötungen abprallen ließ: „Aber es ist doch nicht schade um sie, lassen Sie doch die Leute sterben. Die Angehörigen haben in zwei Wochen alles vergessen und die Kranken haben ja nichts mehr vom Leben.“49 Friedlander zählt Linden zutreffend „zum inneren Kreis der Organisatoren der Morde“ und führt weiter aus: „Seine Persönlichkeit und seine ideologische Überzeugung entsprachen derjenigen von Männern wie Brack. Linden hatte die militärischen Tugenden verinnerlicht, an denen sich die jungen Nationalsozialisten orientierten, die dem Tod ins Gesicht lachten, wenn es darum ging, die Welt zu erobern.“50 Auch an verschiedenen „T4“-Sitzungen nahm Linden teil,51 und selbst auf der persönlichen Ebene integrierte Linden sich in die „T4“-Strukturen, beispielsweise indem er gemeinsam mit anderen Mitarbeitern der Mordorganisation Urlaub im „T4“eigenen Erholungsheim am Attersee im Gau Oberdonau machte.52 42 Zu Viktor Brack (1904–1948) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Klee, Dokumente (1985), S. 20; Aly, Aktion (1989), S. 15; Noakes, Bouhler (1986), S. 222 f.; Wistrich, Reich (1983), S. 30. – Zur Dominanz Bracks bei „T4“ vgl. u. a. die – wenn auch interessegeleitet überzeichnende – Aussage Heydes: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Protokoll d. Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1019 (19.02.1947); siehe dazu auch eine Vielzahl weiterer Aussagen in HStA Wi, Abt. 631a (Generalstaatsanwalt Ffm); siehe auch das aufgrund dieser Quellen erstellte Organigramm bei Friedlander, Weg (1997), S. 129, dieses insb. mit Hinweis auf GenStAnw Ffm, Anklageschrift gegen Vorberg u. Allers, Js 20/61 (GStA) (15.02.1966), S. 36–46. 43 Aly, Medizin (1985), S. 22; ders., Aktion (1989), S. 12. 44 Aly, Fortschritt (1985), S. 16 f. 45 Zu Dr. med. Herbert Linden (1899–1945) siehe biogr. Anhang. 46 BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 28727/47390, S. 2411 f., Zeugenaussage Prof. Dr. Karl Brandt im Nürnberger Ärzteprozess (04.02.1947); Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 242; Friedlander, Weg (1997), S. 121 u. S. 499 (Anm. 18), zur Unterabteilung mit Hinweis auf BA, R1501/alt R18/3672. 47 Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 57. 48 Siehe dazu unten in diesem Kap. IV. 2. a); Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 198; vgl. auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 63 f. 49 Zeugenaussage der österreichischen Krankenschwester Anny Wödl (01.03.1946) im Verfahren gegen den Arzt Dr. Ernst Illing, aus Unterlagen d. StAnw Bonn zit. b. Aly, Aktion (1989), S. 69–72, hier S. 71. 50 Friedlander, Weg (1997), S. 324 f. u. S. 557 (Anm. 45–47), u. a. mit Hinweis auf NARA, Record Group 238, MicrofilmPublication M-1019, Roll 8, Vernehmung Viktor Brack (04.09.1946), u. auf BA, BDC-Unterlagen zu Linden, Herbert, Dr. 51 So z. B. an einer Sitzung im Herbst 1940, als die Auswahl der Anstalt Hadamar als Mordanstalt und der „nassauischen“ Zwischenanstalten besprochen wurde: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 20 f., Protokoll d. Vernehmung Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946), hier Bl. 20. – Zu der Besprechung siehe Kap. IV. 3. a). – Zur Teilnahme Lindens an Sitzungen siehe auch BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 28726/47389, S. 1875 f., Zeugenaussage Dr. Friedrich Mennecke im Nürnberger Ärzteprozess (17.01.1947). 52 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, O, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Arnold Oels ggü. d. LG Limburg in Hannover (21.06.1961), Kopie. 374 IV. Zeit der Gasmorde Die Organisation „T4“ verleugnete ihre Herkunft aus einem Verwaltungsapparat, der KdF, nicht und gab sich selbst auch eine Struktur mit Abteilungen, die im Kleinen einem Behörden- (oder auch Firmen-) Aufbau entsprach.53 Gleichwohl war die Binnengliederung gerade zu Anfang offenbar nicht sehr fest gefügt; mehr als eine formale Struktur zählten Persönlichkeit und Initiative der Akteure. Demzufolge scheint die „Geschäftsverteilung“ von „T4“ in der Zeit der Gasmorde 1940/41 hauptsächlich auf einem konspirativen Konsens der Organisatoren – von Friedlander als „T4-Manager“ bezeichnet – beruht zu haben, die „insofern ‚Pioniere‘ [waren,] als sie die erste technische Mordaktion der Geschichte durchführten.“54 Friedlander weist darauf hin, dass – abgesehen von den Ärzten – die „Leitung von T4 in den Händen einer außerordentlich kleinen Zahl von Männern“ lag, die bei Beginn der Morde allesamt zwischen dreißig und vierzig Jahren alt waren und die sich überwiegend bereits im Alter von Anfang bis Mitte zwanzig vor der „Machtübernahme“ der NS-Bewegung angeschlossen hatten – sie zählten zu den „überzeugten Nationalsozialisten, und ihr Glaube an rassische Reinheit erleichterte es ihnen zweifellos, ihre Aufgabe bei T4 zu erfüllen.“55 In ihre Stellungen bei der Mordorganisation waren sie entweder über familiäre Bindungen, über Freundschaften oder Empfehlungen gekommen.56 Zusätzlich zur tatsächlichen internen Abteilungsstruktur baute „T4“ nach außen hin die Fiktion von vier Organisationen auf, die (gegenüber nicht Eingeweihten) der Tarnung der Mordorganisation dienen sollten. In zunehmendem Maße gewann diese fiktive Struktur jedoch an Realität, je häufiger die entsprechenden Tarnbezeichnungen auch im Innenverhältnis verwandt wurden. So war die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, die unter anderem als Arbeitgeber für das T4-Personal auftrat, zumindest teilweise eine Aliasbezeichnung der „T4“-Personalabteilung, doch auch für das bei „T4“ angestellte Personal selbst verschränkten sich reale und fiktive Struktur, sodass die Betreffenden meist davon sprachen, sie seien bei der „Stiftung“ angestellt. Gleichwohl war die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ mit der „T4“-Personalabteilung nicht deckungsgleich: Der Tarnname wurde beispielsweise auch dann verwendet, wenn Liegenschaften – etwa die künftigen Mordanstalten – anzumieten waren. Als eine zweite Tarnorganisation fungierte die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ („RAG“), die insbesondere dann in Erscheinung trat, wenn es um die Auswahl der Mordopfer im Rahmen der Meldebogenerfassung ging. Sie wurde repräsentiert vom jeweiligen ärztlichen Leiter der „T4“, anfangs von dem Würzburger Ordinarius Prof. Dr. Werner Heyde, ab 1941 vom ehemaligen Direktor der Anstalt Sonnenstein (Pirna), Prof. Dr. Paul Nitsche. Das Ressort der „RAG“ entsprach teilweise dem Tätigkeitsfeld der „ärztlichen Abteilung“ von „T4“, deckte aber auch die Aufgaben der Büroabteilung mit ab. Die dritte „T4“-Tarnorganisation war die „Gemeinnützige KrankenTransport-G. m. b. H.“ („Gekrat“), die als Trägerin der Massenverlegung der Patienten diente und unter deren Namen sich weitgehend die „T4“-Transportabteilung verbarg. Schließlich gründete „T4“ mit zeitlicher Verzögerung im April 1941 als vierte Tarnorganisation die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ („ZVSt“ oder „Zentralverrechnungsstelle“), welche insbesondere bei der Abrechnung von Pflegekosten in Erscheinung trat.57 53 Zu einer Gliederung mit 6 Abteilungen u. Abteilungsleitern siehe z. B. ebd., Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966) [im Folgenden: „Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O.“], hier S. 11 f. (Med. Abt.: Prof. Dr. Werner Heyde, Prof. Dr. Paul Nitsche; Büroabt.: Dr. Gerhard Bohne, ab 1940 Friedrich Tillmann; Hauptwirtschaftsabt.: Willy Schneider, ab 1941 Fritz Schmiedel, ab 1942 Friedrich Lorent; Transportabt.: Reinhold Vorberg, Stellv. Gerhard Siebert; Personalabt.: Friedrich Haus, Stellv. Arnold Oels; Inspektionsabt.: Adolf Kaufmann); entsprechend (mit zusätzlichem Hinweis auf die „T4“-Geschäftsführung insg. durch Dr. Gerhard Bohne, ab 1940 Dietrich Allers) auch die Zusammenfassung bei Friedlander, Weg (1997), S. 129, mit Hinweis auf GenStAnw Ffm, Anklageschrift gegen Vorberg u. Allers, Js 20/61 (GStA) (15.02.1966), S. 36–46; zu einer anderen Gliederung mit 3 Abteilungen kommt Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 118 f. 54 Friedlander, Weg (1997), S. 309. 55 Ebd., S. 309–311 (Zitat „Leitung von [...]“ auf S. 309 f.), S. 320 (Zitat „überzeugten Nationalsozialisten [...]“). – Friedlander kommt zu einer Zahl von 16 Personen. 56 Ebd., S. 313, wird detailliert aufgeführt, auf welche Weise die „T4-Manager“ angeworben wurden, wer mit wem verwandt oder schon vorher befreundet war. 57 Zu den 4 Tarnorganisationen insgesamt und im Einzelnen: Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 12 f.; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 168 f.; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 194 f.; Aly, Aktion (1989), S. 12 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 133, S. 135. – Speziell zur Leitung der „RAG“ u. der ärztlichen Abt. von „T4“ siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1017 (17.02.1947), Bl. 1017 f., Bl. 1020, Bl. 1026 (19.02.1947); die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 42. Jg. (1940), 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 375 Bereits von ihrer Konzeption her war die Organisation „T4“ eine Zentralstelle, die nicht alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Kranken- und Behindertenmord allein mit ihrem Personal selbst erledigen konnte, sondern die in vielfältiger Weise auf Beiträge von Kooperationspartnern in den jeweiligen Regionen angewiesen war. Eine wesentliche Aufgabe, die durch eine Riege von freien Mitarbeitern der „T4“ erledigt wurde, zählte die Tätigkeit der so genannten „Gutachter“, durchweg Ärzte, die anhand von Angaben in Meldebogen im Einzelfall entschieden, ob die jeweiligen Insassen von Heil- und Pflegeanstalten in den Gaskammern der „T4“-Anstalten getötet werden sollten oder nicht. Bei der Anwerbung dieser „Gutachter“ stützten „T4“ und deren ärztliche Abteilung sich – ebenso wie bei der sonstigen Personalbeschaffung – weitgehend auf Empfehlungen und persönliche Bekanntschaft. So ist es zu erklären, dass der Direktor der „nassauischen“ Landesheilanstalt Eichberg, Dr. Friedrich Mennecke,58 bereits Ende 1939 von „T4“ als „Gutachter“ ausgewählt und kurz darauf u. k. gestellt wurde. Zu Anfang desselben Jahres nämlich dürfte Mennecke zwei wenig später bei „T4“ Mitwirkenden – dem erwähnten Ministerialrat Dr. med. Herbert Linden (Reichsministerium des Innern) sowie Prof. Dr. med. Carl Schneider (Universität Heidelberg) – aufgefallen sein, als diese im Februar zur Unterstützung des Landeshauptmanns Traupel die Einrichtungen im Gebiet des Regierungsbezirks Wiesbaden einer Inspektion unterzogen.59 Mennecke bekannte sich selbst 1946 noch dazu, dass seiner Auffassung nach unter Umständen „geisteskranke Personen wohler dran sind, wenn sie tot sind als wenn sie dieses Leben, was doch eigentlich kein Leben mehr ist, weiterführen.“60 Insofern dürfte er, zumal als SS-Mitglied, als geeigneter Kandidat für die Krankenmordorganisation gegolten haben. Kurz vor Kriegsbeginn, Ende August 1939, war Mennecke noch zur Wehrmacht eingezogen und im Saargebiet am Westwall stationiert worden. Seine Vertretung als Leiter der Anstalt Eichberg übernahm bis Ende Januar 1940 der in Wiesbaden lebende pensionierte ehemalige Direktor der Landesheilanstalt Hadamar, der 63-jährige Dr. Otto Henkel.61 Im November und Dezember 1939 entspannen sich dann umfassende Bemühungen zur U.-k.-Stellung Menneckes, in die sowohl das IG-Farben-Werk FrankfurtHöchst, der Höhere SS- und Polizeiführer des Oberabschnitts Rhein sowie die Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes und Landeshauptmann Traupel eingebunden waren. Auf den ersten Blick schien es sich um eine durch Dr. Julius Weber von den Höchster Farbwerken gestartete Initiative zur U.-k.-Stellung Menneckes zwecks Fortsetzung von Medikamentenversuchen zu handeln, welche Mennecke im Sommer 1939 mit einem Arsenbenzolpräparat des Höchster IG-Farben-Werkes an Patienten der Landesheilanstalt Eichberg begonnen habe.62 Doch es ist unverkennbar, dass die eigentliche InitiaNr. 6, S. 58, vermeldete im Februar 1940 die Ernennung Heydes zum Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde in Würzburg und ergänzte, Heyde sei „seit einer Reihe von Jahren als SS.-Hauptsturmführer mit der Durchführung organisatorischer und anderer allgemeinmedizinischer Aufgaben bei zentralen Stellen in Berlin beauftragt.“ – Die Ablösung Heydes durch Nitsche wurde von KdF-Abteilungsleiter Hefelmann darauf zurückgeführt, „daß Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, die Ablösung Heydes verlangt habe, da Heyde homosexuell sei“: HStA Wi, Aussage Dr. Hans Hefelmann (06.– 15.09.1960), zit. n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 178. – Zur „Zentralverrechnungsstelle“ siehe auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), hier S. 1–3, Kopie; Aly, Fortschritt (1985), S. 26 f.; Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201; siehe auch Kap. V. 3. b). 58 Zu Dr. med. Friedrich (Fritz) Mennecke (1904–1947) siehe biogr. Anhang; siehe auch Mennecke (1988); siehe auch Mennecke (1989); siehe auch Chroust, Ärzteschaft (1991). 59 Zu diesem Visitationsauftrag im Feb. 1939, der Vorwürfe gegen den BV Nassau wegen katastrophaler Verhältnisse in seinen Anstalten entkräften sollte, siehe ausführlich Kap. III. 3. b). – Mennecke hatte auch während seine Einberufung zur Wehrmacht mit Schneider und dessen Heidelberger Klinik kooperiert: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, Fritz Mennecke, „im Felde“ [= Westwall, Saargebiet], an Eva Mennecke, Eichberg (12.–13.01.1940), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 123– 129 (Dok. 41), hier S. 128 (13.01.1940); Sandner, Eichberg (1999), S. 186. – Zur Bedeutung persönlicher Kontakte und Bekanntschaften bei der „Gutachter“-Anwerbung siehe Friedlander, Weg (1997), S. 139, S. 505 (Anm. 100 f.), dort auch ein Hinweis auf die früheren Kontakte zwischen Dr. Herbert Linden und Dr. Hermann Pfannmüller, die der Anwerbung des Letzteren als „Gutachter“ vorausgingen. 60 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 2, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. HvTag (02.12.1946). 61 Zu Dr. med. Otto Henkel (1876–1956) siehe biogr. Anhang. – Zur Dauer von Menneckes Einberufung (26.08.1939– 29.01.1940) siehe HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12825, o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LHA Eichberg, gez. LOI W., an Reichsärztekammer, Ärztl. Bezirksvereinigung Wiesbaden (05.02.1940, ab: 06.02.1940). – Zur Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte durch Mennecke am 30.01.1940 und zur Rückkehr Henkels in den Ruhestand am 31.01.1940 siehe LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Henkel, Otto, Dr., Bl. 42, Vm. d. BV Nassau, Abt. Ia (29.01.1940). 62 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, o. Bl.-Nr. (vor Bl. 155), IG-Farbenindustrie AG, Frankfurt a. M.-Höchst, an BV Nassau (13.12.1939), hier als vom BV Nassau begl. Abschr. (15.12.1939), weitere Abschriften auch in ebd., Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 501 (Abschr. v. Abschr.), und in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652 (Abschr. Mennecke); zur vorausgehenden Korrespondenz 376 IV. Zeit der Gasmorde tive für die U.-k.-Stellung bei der SS (im Auftrag von „T4“) und bei Landeshauptmann Traupel lag. Den Beteiligten, auch Mennecke selbst, war von Anfang an klar, dass die Militärdienstbefreiung allein seinen Einsatz für die Krankenmordaktion zum Ziel hatte, über die er bereits unterrichtet war. Die IG Farben schaltete man lediglich ein, um die Erfolgsaussichten des Antrags zu erhöhen. An seinem Wehrmachtseinsatzort erwähnte Mennecke seine künftigen „Sonderaufgaben“ gegenüber dem Divisionsarzt, der die Einschätzung abgab, „daß mit der Begründung seitens der I. G. der Antrag todsicher genehmigt werden würde“, und mit einem Hauptmann an seinem Standort verständigte sich Mennecke (im Hinblick auf die NS-„Euthanasie“-Pläne) darüber, dass „derartige Aktionen durchgeführt werden sollten“ und dass „man auch schon an der Durchführung dieser Dinge“ sei.63 Der durch Landeshauptmann Traupel am 14. Dezember 1939 unterzeichnete Antrag an das zuständige Wehrbezirkskommando, den die von Landesrat Kranzbühler geführte Personalabteilung des Bezirksverbandes Nassau in Wiesbaden vorbereitet hatte, belegt, dass die Verbandsspitze von Anfang an über den eigentlichen Zweck der Befreiung Menneckes vom Militärdienst informiert war. Traupel führte im Antrag zwar einerseits die unzureichende ärztliche Versorgung der Anstalt Eichberg und die Medikamentenversuche als Gründe an, ließ aber andererseits auch die „dringenden politischen Belange“ und damit den eigentlichen Zweck des Antrags nicht unerwähnt, dass nämlich „Dr. Mennecke von dem Höheren SSund Polizeiführer Rhein (SS-Oberabschnitt Rhein) für staatspolitisch wichtige Belange, die die Erbbiologie betreffen [...,] benötigt wird“.64 Offensichtlich hatte „T4“ – wie in anderen Fällen auch – die SS eingeschaltet, um die Befreiung Menneckes vom Militär in die Wege zu leiten; als „sehr wahrscheinlich“ bezeichnete Mennecke selbst später diesen Zusammenhang und bekundete die Annahme, „daß das über die SS gegangen ist.“65 Wie den überlieferten Briefen Menneckes an seine Ehefrau zu entnehmen ist, war der Eichberger Direktor dann jedoch ehrlich überrascht darüber, dass die Kanzlei des Führers im Januar 1940 nach ihm fragte: „Was, – die ‚Kanzlei des Führers‘ hat telephonisch nach meiner Feldpost-Nr. gefragt? Das finde ich tatsächlich etwas komisch. [...] Na, da bin ich ja gespannt, ob es sich wirklich wieder um eine banale dienstliche Sache handelt – oder was das sonst zu bedeuten hat.“ Offenbar war ihm – trotz seiner grundsätzlichen Orientierung – der Zusammenhang zwischen der KdF und der Krankenmordaktion bis dahin verborgen geblieben.66 Als Mennecke drei Tage später auf dem Eichberg eintraf und sich wie beauftragt telefonisch mit der Kanzlei des Führers in Verbindung setzte, erhielt er eine Einladung zu einer Konferenz, die um den 8. Februar 1940 in Berlin stattfand. Mennecke unterrichtete seinen Mentor, den Anstaltsdezernenten des Bezirksverbandes Fritz Bernotat, der in diesen Wochen in Wiesbaden im Krankenhaus lag. Es war dies ein Zeitpunkt, zu dem Bernotats Stand innerhalb des Bezirksverbandes gegenüber Landeshauptmann Traupel, der gerade mit Hochdruck die Verlegung der Wiesbadener Verwaltung nach Kassel betrieb, zwischen F. Mennecke u. d. IG Farbenindustrie (07./22.11./09./13.12.1939), als Abschr. vorhanden in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 321–324, siehe den Abdr. b. Mennecke (1988), S. 70–74 (Dok. 27–30); Klee, Ärzte (1986), S. 194 u. S. 327 (Anm. 23); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 44 f., Protokoll d. gemeinsamen Vernehmung von Dr. Friedrich Mennecke u. Dr. Walter Schmidt als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946) (Mennecke gab an, sich an derartige Versuche nicht erinnern zu können, wohingegen sein Stv. Dr. Walter Schmidt diese bestätigte); vgl. auch ebd., Bd. 3, Bl. 320, Dr. med. et phil. Julius Weber, Farbwerke Höchst, Ffm-Höchst, an StAnw b. d. LG Ffm (10.12.1946); vgl. auch ebd., Bl. 149, LHA Eichberg, Dir. Dr. Hinsen, an OStAnw Ffm (02.11.1946). 63 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, „im Felde“ [= Westwall, Saarland], an Eva Mennecke (16.–18.12.1939), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 85–98 (Dok. 37), hier S. 86 f. (16.12.1939). – Vgl. auch entsprechende Darstellung zu der frühen Unterrichtung in Kap. III. 3. c). 64 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, o. Bl.-Nr. (vor Bl. 155), BV Nassau, Wiesbaden, Az. B (Ia) M. 10, i. V. gez. LH Traupel, an Wehrbezirkskommando Wiesbaden, betr. „Antrag auf Sicherstellung des Ass. Arztes Dr. Mennecke“ (14.12. 1939), hier als Abschr., gesandt von BV Nassau, Wiesbaden, gez. LH Traupel, an Dr. Mennecke, Feldpost-Nr. 09656 (14.12.1939), weitere Abschr. von Mennecke auch in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 77 f. (Dok. 32); siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 185. – Mit einer ähnlichen Formulierung umschrieb Mennecke später seine Mitwirkung an der Krankenmordaktion, er sei „zur Erfüllung staatspolitisch wichtiger Sonderaufgaben herangezogen worden“: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 16, Fritz Mennecke, Feldpost-Nr. 12928A [Kanalküste], an Werner Blankenburg [„T4“] (31.03.1943), Entwurf, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 546 f. (Dok. 171) 65 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 55, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 4. HvTag (06.12.1946). 66 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, „im Felde“ [= Westwall, Saargebiet], an Eva Mennecke, Eichberg (25.– 26.01.1940), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 149–152 (Dok. 46), hier S. 151 f. (26.01.1940). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 377 äußerst geschwächt war; möglicherweise hatte Traupel sogar darauf verzichtet, Bernotat von der geplanten Verwendung Menneckes zu informieren. Im Einvernehmen mit Bernotat nahm Mennecke an der Berliner Sitzung in den „T4“-Räumlichkeiten im Columbushaus teil. Sie fand statt unter Leitung von Brack, welcher Mennecke und einige von dessen ebenfalls teilnehmenden Arztkollegen als „Untergutachter“ für „T4“ anwarb. Diese Konferenz im Februar war bereits die zweite Anwerbungsaktion von „T4“ zur Gewinnung von „Gutachtern“ – nach Einschätzung Walters nahm man diese zusätzliche Akquise vor, „um Stockungen [...] zu vermeiden“. Laut Mennecke erhob keiner der bereits im Vorfeld sorgfältig ausgewählten Anwesenden Bedenken gegen eine Mitwirkung, nachdem mitgeteilt worden war, dass Hitler das Vorgehen und die Tötungen genehmigt habe. Auch er, Mennecke, selbst habe nicht gezweifelt: „[...] Bedenken bezw. Hemmungen [...] hatte ich nicht, nachdem ich in Berlin ja mit vollen Segeln gehört hatte [...], dass die Sache in Ordnung sei. [...] Und diese Gesichtspunkte gaben mir innere Befriedigung und innere Beruhigung.“ Nach Wiesbaden zurückgekehrt, unterrichtete Mennecke unverzüglich Bernotat. Dieser habe spontan die Befürchtung geäußert: „Wir werden da die Patienten in den Anstalten los“ – ein Gesichtspunkt, der ihm trotz all seiner Kranken- und Behindertenfeindlichkeit nicht nur positiv erschien, da doch die Zahl der Patienten auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Anstalt (und letztlich auch die Bedeutung des von Bernotat geführten Anstaltswesens des Bezirksverbandes) bedingte. Mennecke will Bernotat beruhigt haben, „dass so schnell sicherlich nicht die Anstalt leer werden würde“.67 Nach seiner Befreiung vom Militärdienst konnte Mennecke auch seinen Dienst in der Landesheilanstalt Eichberg wieder ausüben. Nebenamtlich wurde er für „T4“ tätig, größtenteils am heimischen Schreibtisch als „Begutachter“ von Meldebogen, von Zeit zu Zeit aber auch bei auswärtigen „Begutachtungen“, wozu er andere Anstalten bereiste.68 Als im Mai 1940 angesichts des Frankreichfeldzugs sämtliche U.-k.-Stellungen auf den Prüfstand gestellt oder aufgehoben wurden, drohte auch Mennecke die erneute Einberufung. Der Bezirksverband erwog, Dr. Henkel abermals als Ersatz zu reaktivieren.69 Die „Adjutantur der Wehrmacht beim Führer und Reichskanzler[,] Führerhauptquartier“, genehmigte dann aber Menneckes erneute U.-k.-Stellung „für eine Sonderverwendung bis auf weiteres“.70 Die Tätigkeit Menneckes für „T4“ blieb den Verantwortlichen in den Verwaltungen im Wiesbadener Bezirk (auch außerhalb des Bezirksverbandes Nassau) keinesfalls verborgen. Sowohl der oberste Medizinalbeamte beim Wiesbadener Regierungspräsidenten als auch der Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Wiesbaden wussten beispielsweise zumindest in Grundzügen von Menneckes Tätigkeit „im Auftrage der zuständigen Reichsstelle“ und hielten ihn für einen der Ärzte, „deren Bereitschaft man sich versichert hat“. Diese Einschätzung beruhte nicht zuletzt auf den ihm zugeschriebenen Propa67 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 4–8, S. 10, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946) (dort auf S. 10 die Zitate; danach nahmen an der Berliner Sitzung ebenfalls teil als Ärzte Prof. Dr. Paul Nitsche/ehem. Sonnenstein, Dr. Steinmeyer/Niedermarsberg, Dr. Valentin Faltlhauser/Kaufbeuren, möglicherweise auch Dr. Hermann Pfannmüller/Eglfing u. Prof. Dr. Max de Crinis/Berlin, außerdem von der KdF- bzw. „T4“-Verwaltung Dr. Hans Hefelmann u. Dr. Gerhard Bohne); ebd., Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 140 (dort auch Hinweis auf Bernotats „Befürchtung“); vgl. auch ebd., Bd. 2, Bl. 31–33, Dr. Friedrich Mennecke, Text „Mein Verhältnis zu Bernotat“, hier Bl. 32, Anlage zur Aussage Mennecke als Beschuldigter b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (02.–13.05.1946) (dieser Text enthält allerdings unrichtige Angaben, die Mennecke später nicht aufrechterhielt); HStA Wi, Abt. 631a, GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611–1733], „Heidelberger Dokumente“, hier Bl. 127890 f., chronologische u. systematische „Gutachterliste“, hier nach dem Faks. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 228 f. (danach wurde Mennecke – gemeinsam mit den Ärzten Dr. Kaldewey, Dr. Rodenberg, Dr. Schreck, Dr. Steinmeyer u. Prof. Dr. Nitsche ab 28.02.1940 als „Gutachter“ geführt, möglicherweise nach dem Datum der ersten „Begutachtungen“ in der Provinzialheilanstalt Bedburg-Hau). – Zur Situation innerhalb des BV Nassau zu diesem Zeitpunkt und zu den Traupel’schen Fusionsbestrebungen siehe Kap. IV. 1. a). – Walter, Psychiatrie (1996), S. 671; zur Anwerbung Menneckes auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 70. 68 Siehe dazu unten in diesem Kap. IV. 2. a). 69 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 45, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 3. HvTag (05.12.1946); vgl. auch ebd., Bd. 12, Bl. 11 (Abschr.), sowie HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an Dr. Walter Schmidt (29.06.1940), Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 158–160 (Dok. 51), hier S. 159; zur geplanten zweiten Reaktivierung Henkels siehe LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Henkel, Otto, Dr., Bl. 46, Vm./Vfg. d. BV Nassau (21.05.1940) (Plan der Reaktivierung) bzw. Vm. d. BV Nassau (27.05.1940) (von Reaktivierung wird vorerst abgesehen wegen Ungewissheit, „ob Direktor Dr. Mennecke überhaupt einberufen wird“). 70 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, LHA Eichberg, Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, betr. „Uk.-Stellung Direktor Dr. Mennecke“ (31.05.1940), darin enthalten Abschr. d. Schreibens Wehrbezirkskommando Wiesbaden an Dr. Mennecke, Eichberg (29.05. 1940), alles hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 157 f. (Dok. 50) (Zitat auf S. 158); Sandner, Eichberg (1999), S. 186. 378 IV. Zeit der Gasmorde gandaaktivitäten: Mennecke habe „auch Vorträge gehalten [...] in kleinstem Kreise, den man für aufnahmefähig hielt.“71 All seinen Äußerungen, insbesondere seiner umfangreichen Briefproduktion, ist zu entnehmen, „wie sehr gerade“ Mennecke an den NS-„Euthanasie“-Verbrechen „mit Leib und Seele [...] mitgearbeitet“ hat.72 Zudem ist nicht zu verkennen, dass Mennecke die bevorzugte Stellung bei „T4“ auch dazu nutzte, seine eigene Karriere zu fördern. Bereits wenige Wochen nach seiner Anwerbung als „T4“-„Gutachter“ wandte er sich an verschiedene Verantwortungsträger innerhalb der Krankenmordorganisation (Viktor Brack von der KdF, den ärztlichen „T4“-Leiter Prof. Werner Heyde sowie schließlich Dr. Herbert Linden vom Reichsinnenministerium), um mit deren Hilfe seine noch ausstehende Facharztanerkennung als Psychiater zu erlangen, ein Ansinnen, das Anfang 1941 schließlich von Erfolg gekrönt war.73 Parallel dazu bemühte er sich – 1941 ebenfalls erfolgreich – um seine (zivile) Beförderung zum Obermedizinalrat;74 1943 betrieb er mit Unterstützung der Kanzlei des Führers seinen (militärischen) Aufstieg zum Stabsarzt.75 Ausdrücklich leitete Mennecke die eigene Reputation aus seiner „wichtigen“ Mitarbeit bei der Krankenmordaktion ab; noch 1944 stellte er selbstgewiss heraus, „daß ich als einer der ersten Anstaltsdirektoren ab Februar 1940 meine Mitarbeit in den Dienst der ‚Aktion‘ gestellt und mit Eifer an den Zielen unserer Sonderaufgaben mitgewirkt habe.“76 Nicht unzutreffend sah das Landgericht Frankfurt als wichtige Beweggründe für Menneckes Mitwirkung an den Verbrechen der „T4“ seine „Eitelkeit, zum Kreis namhafter Männer zu gehören“, einen „[h]emmungslose[n] Ehrgeiz und grenzenloses Geltungsbedürfnis“.77 Seit seiner Anwerbung war Mennecke über viele Monate des Jahres 1940 die einzige Person innerhalb des Bezirksverbandes Nassau, die in einem engen Kontakt zu „T4“ stand. Ohne seinen Stolz darüber zu verhehlen, wies er darauf hin, dass dagegen Bernotat, da „es sich um rein aerztliche Aufgaben handelte“, zu diesem Zeitpunkt „noch nicht offiziell von Berlin aus in die Art der Arbeiten eingeweiht“ gewesen sei.78 Gerade da Bernotat zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt zu „T4“ hatte, ist Friedlanders Hypothese, es sei „wahrscheinlich, daß [... Mennecke] von Bernotat empfohlen wur71 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. HvTag (13.03.1947), hier Bl. 375 (OStAnw Quambusch berichtet über eine Unterredung mit Ober-Reg.- u. -Med.-Rat Erich Schrader); ähnlich auch bereits ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946). 72 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 231 (= S. 27). 73 Mennecke (1988), S. 157 (Dok. 49), unvollendeter Briefentwurf Dr. Mennecke an Ministerialrat Dr. Linden, RMdI (o. D. [nach 22.02.1940]); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld (zeitweise Bad Oeynhausen), an Eva Mennecke (21.–24.02.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 176–183 (Dok. 63), hier S. 177 (21.02.1941). – Mennecke erwähnt eine diesbezügliche Unterredung mit Brack u. Heyde am 22.02.1940 in Essen sowie die erfolgte Facharztanerkennung ab 01.02.1941 aufgrund der Hilfe Heydes. – Siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 368 f.; Sandner, Eichberg (1999), S. 188. 74 Provinzialobermedizinalrat ab Juli 1941: BA, R96 I/1, Bl. 127954 f., Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an SA-Oberführer Blankenburg, Berlin (11.02.1944), Kopie, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 962–964 (Dok. 259), hier S. 963; siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 188. – In HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), gibt Quambusch die Annahme wieder, Mennecke sei „[z]ur Belohnung für [...] seine Brauchbarkeit und seine Vorarbeiten [im Rahmen der Tötungsaktion, P. S.] [...] vorzeitig zum Obermedizinalrat befördert worden, obwohl er keinerlei besondere Fähigkeiten als Psychiater besitze.“ 75 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 16, Fritz Mennecke, Feldpost-Nr. 12928A [Kanalküste], an Werner Blankenburg [Kanzlei des Führers] (31.03.1943), Entwurf, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 546 f. (Dok. 171); ebd., Kanzlei des Führers der NSDAP, Berlin, „Bescheinigung zur Vorlage beim Truppenteil“ für Fritz Mennecke (07.04.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 546 (Dok. 178). – Werner Blankenburg, in der KdF Vertreter Bracks, unterstützte Menneckes Beförderungsantrag mit der Argumentation, dieser habe „in einem Sonderauftrag der Kanzlei des Führers kriegswichtige Arbeiten geleistet. [...] Dr. Mennecke ist dadurch gegen seinen Willen von der Ableistung des aktiven Wehrdienstes abgehalten worden.“ 76 BA, R96 I/1, Bl. 127954 f., Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an SA-Oberführer Blankenburg, Berlin (11.02.1944), Kopie, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 962–964 (Dok. 259), hier S. 963. 77 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 247 (= S. 60 f.). – Mennecke war nach 1945 bemüht, die Behauptung von Eitelkeit und Titelsucht zu entkräften: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 45, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946). – Friedlander, Weg (1997), S. 369, fasst Menneckes Motivation als „eine Mischung aus Ideologie, Karrierismus und Habgier“ zusammen. 78 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Heft mit Aufzeichnungen von Fritz Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad Schwalbach, über die Entwicklung auf dem Eichberg (15.10.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 917–938 (Dok. 246), hier S. 923, auszugsweise auch zit. in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 45. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 379 de“,79 kaum stichhaltig. Anders als bisher liefen mit der Bevorzugung Menneckes die Fäden der Information nicht mehr beim Anstaltsdezernenten zusammen. Es mag der Ausgangspunkt für das sich allmählich entwickelnde Konkurrenzverhältnis zwischen Mennecke und Bernotat gewesen sein, dass der Anstaltsdezernent mit seinem ausgeprägtem Machtbewusstsein sich nun mitunter von seinem bisherigen Günstling über die Entwicklungen im Anstaltswesen auf Reichsebene unterrichten lassen musste.80 Diese für Bernotat unbefriedigende Situation hatte allerdings nur Bestand, bis der Anstaltsdezernent selbst zum regionalen Ansprechpartner der „T4“ für den Bezirk Wiesbaden wurde.81 Nach seinem – von Mennecke behaupteten – anfänglichen Zögern wegen der „Entleerung der Anstalten“82 erwies Bernotat sich bald als „begeisterter Verfechter der Euthanasie“.83 Als das Gebiet des Bezirksverbandes Nassau – mit einer Verzögerung von etwa acht bis zwölf Monaten84 gegenüber den ersten Regionen im Deutschen Reich – ebenfalls in die Mordaktion der „T4“ einbezogen wurde, begann auch die Bernotat’sche Sonderrolle. Mennecke führte später aus: „Nun beteiligte sich auch L[andes-] R[at] Bernotat aus seiner Sparte des Verwaltungsdienstes heraus – offiziell eingeweiht – an den Arbeiten der Berliner Dienststelle, und zwar ‚mit vollen Segeln‘, d. h. er ging den Wünschen der Berliner Dienststelle in allen Teilen sehr weitgehend an die Hand. Dies war gewiß – von B[er]l[i]n aus gesehen – anerkennenswert und wurde auch anerkannt.“85 Wie Mennecke bekundete, wurde sein eigenes „Zusammenwirken“ mit Bernotat „im Rahmen der Berliner Arbeiten [...] getragen von den Merkmalen SSkameradschaftlicher Verbundenheit“.86 Das hohe Maß an Schuld, das Bernotat für die umfassende Einbeziehung des Bezirksverbandes Nassau und seiner Anstalten in die Krankenmordaktion trug, stellte das Landgericht Frankfurt 1947 in seinem Urteil im Hadamar-Prozess heraus.87 Für die Organisation „T4“, die die Tötungsaktion auftragsgemäß nicht öffentlich, sondern geheim durchführen sollte, war es ein prinzipielles Dilemma, dass einerseits Mitwirkende in allen Regionen erforderlich waren, dass sich damit zugleich aber auch die Zahl der Mitwisser ständig ausweitete, was die Geheimhaltung in zunehmendem Maße in Frage stellte.88 Das Gebot der Geheimhaltung war „T4“intern durchaus nicht unumstritten. Nach Angaben des ärztlichen „T4“-Leiters Heyde wurde es „überhaupt [...] sehr bedauert, daß die Angelegenheit eben durch die Geheimhaltung so unendlich kompliziert geworden sei“.89 Zum Teil mussten die Organisatoren zu Hilfskonstruktionen greifen: Obwohl doch hauptsächlich die eigene Bevölkerung über die Kranken- und Behindertentötungen im Unklaren gelassen werden sollte, definierte das (mit der in Berlin entstehenden Mordzentrale zusammenarbeitende) Landesinnenministerium in Karlsruhe die Weitergabe von Kenntnissen über Patientenverlegungen in Baden in der Anfangszeit, Ende November 1939, als einen Verstoß gegen den „Landesverrat“Paragrafen 88 des Strafgesetzbuches – dieser aber hatte eigentlich die Aufgabe, „Staatsgeheimnisse“ zu schützen, „deren Geheimhaltung vor einer ausländischen Regierung für das Wohl des Reichs, insbesondere im Interesse der Landesverteidigung, erforderlich ist.“90 79 Friedlander, Weg (1997), S. 368. Zum Ausbruch des virulenten Konflikts zwischen Bernotat und Mennecke siehe Kap. V. 1. b). 81 Siehe zu dieser Funktion, die es für jedes Land und für jeden preußischen Provinzial- oder Bezirksverband gab, weiter unten in diesem Kap. IV. 2. a). 82 Siehe oben. 83 Friedlander, Weg (1997), S. 101. 84 Die Meldebogenzusendung erfolgte z. B. 8 Monate später als in Württemberg, der Beginn der Gasmorde fand in Hadamar 12 Monate später statt als in Grafeneck/Württemberg: Siehe dazu u. zur Reihenfolge der Regionen unten in diesem Kap. IV. 2. a). 85 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Heft mit Aufzeichnungen von Fritz Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad Schwalbach, über die Entwicklung auf dem Eichberg (15.10.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 917–938 (Dok. 246), hier S. 923 (Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung). 86 Ebd., hier S. 923, auch zit. in ebd. HStA, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 46. 87 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [ca. 26.03.1947]), hier Bl. 1304 f. (= S. 30 f.); entsprechend bewertet auch Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 27: „Daß gerade die nassauischen Anstalten so stark in das Euthanasie-Programm einbezogen waren, ist mit auf das besondere Engagement des Landesrates Bernotat zurückzuführen.“ 88 Zum weitgehenden Scheitern der Geheimhaltung siehe Kap. IV. 3. c). 89 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 337. 90 RGBl. I, Jg. 1934, Nr. 47 (30.04.1934), S. 341 – 348, „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens“ (24.04.1934), hier Artikel III Abschnitt 1a (S. 342); MdI Baden, Karlsruhe, Erlass No 80 380 IV. Zeit der Gasmorde Auf vielfältige Weise versuchten die Organisatoren, die wahren Absichten zu verschleiern, notorisch sind auch die dabei angewandten Euphemismen.91 Intern beschrieb man die Morde (um nur einzelne Beispiele herauszugreifen) als „die Aktion“,92 in der Kommunikation mit Dritten und unter einem anderen Blickwinkel auch als „planwirtschaftliche Maßnahmen“.93 Um die exakte Aufgabenbestimmung etwa der Gasmordanstalten nicht offenbar werden zu lassen, sprach „T4“ statt von der Anstalt Hadamar in einem Beschäftigungszeugnis von „unserer auswärtigen Dienststelle“ oder von der „Zweigstelle“, jeweils ohne Ortsangabe.94 Dass die Taten mit „Euthanasie“ im herkömmlichen Verständnis und mit einem guten Tod, wie die wörtliche Bedeutung nahe legte, nichts zu tun hatten, stellte bereits das Landgericht Frankfurt in seinem Urteil im Eichberg-Prozess 1946 heraus;95 die intern benutzten Abkürzungen „Eu-Anstalt“ oder „E.-Anstalt“ hätten kaum einen größeren Verschleierungseffekt gehabt, wären sie öffentlich geworden.96 Betrachtet man im Einzelnen die in die Mordaktion Eingeweihten in den verschiedenen Regionen, so zeigt sich, wie umfangreich die „geheime“ Aktion letztlich doch bekannt gemacht worden ist. Am wenigsten verwundert dabei die Weitergabe von Interna an die NSDAP-Gauleiter. Es liegt nahe, dass alle Gauleiter bereits in der Anfangsphase grundsätzliche Kenntnis von der „T4“-Aktion erhielten. Zu allererst galt dies für jene 16 Gauleiter, die seit 1939 zugleich das Amt eines Reichsverteidigungskommissars innehatten: Die Reichsverteidigungskommissare nämlich gaben in den Jahren 1939 bis 1941 die Legitimation für sämtliche Krankenverlegungen ab, die „T4“ im Zusammenhang mit der Mordaktion veranlasste.97 In den Fällen, in denen die Gauleiter zugleich als Behördenleiter (beispielsweise als Oberpräsidenten oder Leiter einer Landesregierung) fungierten, erreichten auch detailliertere Geheiminformationen sie spätestens dann, wenn das jeweilige Anstaltswesen in die Mordaktion einbezogen wurde. Dies traf auch zu auf den Frankfurter Gauleiter Jakob Sprenger, der beispielsweise in seiner Eigenschaft als Leiter der Darmstädter Landesregierung vom dortigen Sachbearbeiter für das Medizinalwesen in Kenntnis gesetzt wurde, als die Ausfüllung von „T4“-Meldebogen im Land Hessen bevor87 431 9 (29.11.1939), Abdruck auch bei Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 218; vgl. auch Stöckle, Aktion (1996), S. 21. 91 Zu den Tarnwörtern und Euphemismen im Zusammenhang mit den Krankenmorden siehe die Überblicksdarstellung: Reiter, Geheimsprache (1995). 92 Vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 219. 93 Zu diesem Tarnbegriff siehe z. B. BA, R96 I/3, Bl. 127867 f., RMdI, RdErl., IV g 6492/40 – 5100, gez. L. Conti, betr. „Planwirtschaftliche Massnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten“, Kopie, als Faks. b. Harms, Hungertod (1996), S. 214 f.; siehe auch Kap. V. 1. a); Beispiele für dessen Verwendung auch in Kap. IV. 3. c). 94 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, o. Bl.-Nr. (als Anlage zu Bl. 369), Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege, Der Personalchef, Zeugnis für Hanne M. (31.07.1942), von RA Dr. L., Ffm, am 11.03.1947 eingereicht als Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947). 95 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 243. – Die Angeklagten hatten mit Hinweis auf den Begriff „Euthanasie“ versucht, ein angeblich mangelndes Bewusstsein der Rechtswidrigkeit zu begründen. 96 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 505 f., Eva Mennecke, Eichberg, an Fritz Mennecke [z. Zt. Heidelberg] (29.06.– 01.07.1942), hier Bl. 505 (30.06.1942), auch in ebd., Abt. 631a Nr. 1653, Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 401–404 (Dok. 130), hier S. 402 („H. [...] als Eu-Anstalt“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt. Heidelberg, an Eva Mennecke, Eichberg (01.–02.07.1942), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 408–413 (Dok. 132), hier S. 411 (02.07.1942) („H. als E.-Anstalt“); vgl. auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 418 f. – Der Begriff „Eu-Anstalten“ wird auch verwendet in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 5, Kopie; vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 18, Fritz Mennecke, z. Zt. Bühl, an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden (25.–27.04.1944), Abschr., hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1026–1034 (Dok. 281), hier S. 1033 (27.04.1944), über ein Gespräch mit einem Kollegen: „Wir streiften auch die Eu..., der er sehr positiv gegenübersteht [...]“. 97 Zur Einrichtung des Amts ab 01.09.1939, zu dessen personeller Besetzung u. zur Funktion, insb. der Legitimationsfunktion im Rahmen der „T4“-Verlegungen, siehe Kap. IV. 3. c). – Zur Einweihung z. B. von Rudolf Jordan, Gauleiter in Dessau (Gau Magdeburg-Anhalt), zugleich Reichsstatthalter in Braunschweig und Anhalt sowie Führer der Anhaltischen Landesregierung in Dessau, ab 1939 Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis XI (Hannover), siehe HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 7, o. Bl.-Nr., 310-seitige Anklageschrift d. GenStAnw in Ffm gegen Dr. Aquilin Ullrich, Dr. Heinrich Bunke, Dr. Kurt Borm u. Klaus Endruweit wegen Mordes, Az. Js 15/61 (GStA) (15.01.1965), darin zit. auf S. 189–197: Organisationsplan d. „Abteilung Dr. Eberl“ [= „T4“-Anstalt Bernburg], erstellt von Dr. Irmfried Eberl (o. D. [ca. Dez. 1941/Jan. 1942]), hier S. 191 [im Folgenden zit.: „Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O.“], als Dokument 50 auch abgedr. b. Klee, Ärzte (1985), S. 129–135; zu Rudolf Jordan (1902–1988) siehe auch biogr. Anhang. – Zur Einweihung von Adolf Wagner, Gauleiter in München (Gau Oberbayern), zugleich bayerischer Innenminister u. ab 1939 Reichsverteidigungskommissar in den Wehrkreisen VII (München) und XIII (Nürnberg), vgl. Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 434. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 381 stand.98 Sprenger, der auch durch seine engen Kontakte zu Bernotat mit Sicherheit bald genauer im Bilde war, stattete 1941 der Landesheilanstalt Eichberg persönlich einen Besuch ab,99 also in jenem Jahr, in dem von dort aus mehr als 2.200 Patienten zur Ermordung nach Hadamar verlegt wurden. Bei einer Reihe von Gauleitern gingen deren Berührungspunkte zur Krankenmordaktion über die reine Fakteninformation hinaus – und zwar in ganz unterschiedlicher Hinsicht. Der Linzer Gauleiter August Eigruber100 etwa stellte „T4“ sein Gauleitungsbüro für Einstellungsgespräche mit neuen „T4“-Mitarbeitern zur Verfügung;101 während der Morde besichtigte Eigruber die Mordanstalt Hartheim mit ihrer Gaskammer.102 Sein Kollege Dr. Alfred Meyer103 in Münster (zugleich Oberpräsident der Provinz Westfalen und damit auch Leiter des Provinzialverbandes) nahm Kontakt zur Kanzlei des Führers auf und sprach in Berlin wegen der Proteste des Münsteraner Bischofs von Galen mit Viktor Brack.104 Gerade in der Anfangszeit waren einzelne Gauleiter sogar auch als Mitinitiatoren von Krankenmorden in Erscheinung getreten.105 Nachgeordnete Stellen der NSDAP, etwa die Kreisleitungen oder gar örtliche Dienststellen, wurden nur dann in das Informationsnetz der „T4“ eingebunden, wenn es einen konkreten Anlass dafür gab, etwa wenn eine der „T4“-Gasmordanstalten in ihrem Zuständigkeitsgebiet lag.106 Ebenso wurden auch die Kommunen (Kreise, Städte und Gemeinden) in den ersten Monaten nicht allgemein informiert, sondern nur von Fall zu Fall in Kenntnis gesetzt, wenn dies den „T4“-Verantwortlichen zur Erreichung konkreter Ziele erforderlich erschien. Auch hier betrafen diese Ausnahmen vor allem die Orte, in denen Mordanstalten eingerichtet und betrieben wurden. So griff „T4“ bei der Gasmordanstalt Grafeneck in Württemberg auf Hilfsdienste des informierten Landrates von Münsingen zurück;107 entsprechend wurden in Bernburg der Landrat und der Oberbürgermeister ins Vertrauen gezogen, als in der Kreisstadt Ende 1940 eine Gasmordanstalt entstand. Ein vom ärztlichen Leiter der Mordanstalt Bernburg, Dr. Irmfried Eberl, 1941/42 erstellter Organisationsplan legt exemplarisch dar, wie weit die Einweihung und die Kooperation der kommunalen Stellen – aber auch der lokalen Parteigliederungen – ging: „Mit dem Landrat des Kreises Bernburg haben wir fast nichts zu tun [...]. Der Oberbürgermeister und besonders der Kreisleiter unterstützen uns, wo sie können. Von den städtischen Stellen sind ausserdem von unserer Existenz noch informiert, ohne näheres [!] zu wissen: Der Leiter der Bernburger Polizei [...], der Vertreter des Oberbürgermeisters [...], der erste Standesbeamte und der Friedhofsverwalter. Alle diese sind im Beisein des Oberbürgermeisters mit unserer Existenz vertraut gemacht worden, näheres [!] über unsere Tätigkeit wurde ihnen jedoch nicht mitgeteilt. Z. B. wurde dem Leiter der Bernburger Polizei lediglich mitgeteilt, dass eine Ortspolizeibehörde Bernburg-Gröna besteht, oder dem Standesbeamten, dass ein Standesamt Bernburg II eingerichtet wurde usw.“108 Schon wenige Monate nach Beginn der Gasmorde gab „T4“ jedoch – mutmaßlich im Rahmen einer Schadensbegrenzung – die weitgehende Geheimhaltung gegenüber den Kommunen auf. Denn gerade in den 98 StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 102. – Zur Person des Sachbearbeiters Dr. Jakob Schmitt (1890–1949) siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 2. a) sowie biogr. Anhang. 99 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 19, Fritz Mennecke, z. Zt. St. Blasien, an Eva Mennecke [z. Zt. Wiesbaden] (12.– 14.08.1944), hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1246–1258 (Dok. 333), hier S. 1253 (13.08.1944). 100 Zu August Eigruber (1907–1947) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Weiß, Lexikon (1998), S. 108. 101 Friedlander, Weg (1997), S. 374, S. 568 (Anm. 103), mit Hinweis auf Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Akte E18370/1 u. 2, Aussagen des Gauinspektors (Verw.-Mitarbeiters) Stefan Schachermeyer (02./03.07.1948, 11.03.1964). – Zur Personalbeschaffung für „T4“ unter Einbeziehung einzelner Gauleiter siehe Kap. IV. 2. c). 102 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 85, Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeklagter im Hadamar-Prozess Ffm, 3. HvTag (27.02.1947); auch Friedlander, Weg (1997), S. 315 u. S. 556 (Anm. 28), mit Hinweis auf Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Akte E18370/1, StAnw Ffm, Js 18/61 (GStA), Vernehmung Georg Renno (01.02.1965), S. 8. 103 Zu Dr. Alfred Meyer (1891–1945) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Weiß, Lexikon (1998), S. 318 f. 104 LH Kolbow (PV Westfalen), „Vermerk über ein Telefongespräch mit Frl. B[...] – Berlin – am Donnerstag, dem 31. 7. 41 um 17 Uhr“ (o. D. [zwischen 31.07. u. 04.08.1941]), hier n. d. Faks. b. Teppe, Massenmord (1989), S. 21. 105 Siehe dazu die Ausführungen in Kap. III. 3. c) zu den frühen Krankenmordaktionen im Nordosten (1939/40). 106 Zu den Eingeweihten bezüglich der „T4“-Mordanstalt Bernburg zählte z. B. der zuständige NSDAP-Kreisleiter: siehe Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 192; zur Datierung siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 71. – Die „örtlichen Parteidienststellen“ bei den „T4“-Mordanstalten wurden informiert: Vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr. [= Bl. 8–20], Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 11. 107 Vgl. Zeugenaussage Pauline Eisenschmidt vor dem Schwurgericht Tübingen (22.09.1947), hier n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 65 f., hier S. 65. 108 Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 191 f. (Zitat auf S. 192). 382 IV. Zeit der Gasmorde Kommunen als Trägern des Standesamts- und Bestattungswesens einerseits und als Fürsorgeträgern für die Anstaltsunterbringung andererseits mussten die gehäuften Sterbeziffern unter den in Anstalten und Heimen untergebrachten psychisch kranken und geistig behinderten Menschen bald auffallen. Auch gegenüber den Nachfragen zweifelnder Angehörigen sollten die Bürgermeister und Landräte gewappnet sein, sodass Viktor Brack als organisatorischer Kopf der „T4“ am 3. April 1940 bei einer Sitzung des Deutschen Gemeindetages in Berlin die geladenen Vertreter der Kommunen unterrichtete, denen der Besprechungsgegenstand vorher nicht bekannt gegeben worden war.109 Als wichtigste Ansprechpartner von „T4“ in den Regionen dienten aber weder die Parteistellen noch die Kommunen, sondern jene öffentlichen Gesundheitsverwaltungen, die für die Heil- und Pflegeanstalten verantwortlich zeichneten – also die entsprechenden Abteilungen in den Innenministerien und -verwaltungen der Länder sowie die Anstalts- oder Medizinaldezernate der preußischen Provinzialund Bezirksverbände. Auf deren Kooperation war „T4“ regelrecht angewiesen, da – wie Friedlander zusammenfasst – „die KdF nicht offen die Morde überwachen konnte und da die Tarnorganisation, die sie nach außen hin vertrat, nicht die Autorität besaß, die behinderten Patienten zu selektieren und zu transportieren“.110 Die regelmäßigen Absprachen der Provinzial- und Bezirksverbände untereinander führten dazu, dass die Krankenmorde auch bei mindestens einer Konferenz der Landeshauptleute in Berlin zur Debatte standen; der seinerzeitige Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz, der Düsseldorfer Landeshauptmann Heinz Haake, soll dabei seinen Amtskollegen übermittelt haben, sie seien „von der Verantwortung in der Frage der Verlegungsaktion freigestellt und die Aktion sei unausweichbar“.111 Im Zusammenhang mit der Gasmordaktion kamen – wie Heyde aussagte, „sehr viele Leute der Provinzialverwaltungen nach Berlin zu irgendwelchen Besprechungen gelegentlich zu Brack“ in die Kanzlei des Führers.112 Wie sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit bei den Ermittlungen der Justiz herausstellte, war „[j]eweils bei dem Landeshauptmann einer Provinz eine Stelle eingerichtet [worden], die die Euthanasie-Aktionen in der Provinz durchzuführen hatte.“113 Im Allgemeinen handelte es sich bei dieser „Stelle“ um eine einzige Person, die gleichsam als „Sonderbeauftragter“ zwischen „T4“ und den Anstalten der Region vermittelte, die aber ihrerseits durchaus einzelne Mitarbeiter heranziehen konnte. Durchweg (sowohl bei den preußischen Provinzial- und Bezirksverbänden als auch in den Innenverwaltungen der Länder) übernahm der jeweilige Beamte (meist Dezernent oder Referent) diese Rolle, der ansonsten entweder für das Medizinal- und Gesundheitswesen insgesamt oder speziell für das Anstaltswesen oder die Psychiatrie zuständig war. Zur Verantwortlichkeit dieser „Sonderbeauftragten“ vertrat der Koblenzer Oberstaatsanwalt 1947 die Position, „dass das Verschulden derjenigen Personen[,] die die Befehle von Berlin aus an die einzelnen Anstalten weitergaben, entschieden höher zu bewerten ist, als das Verschulden derjenigen Ärzte und Anstaltsleiter in den örtlichen Anstalten.“114 Neben den Medizinal- oder Anstaltsdezernenten der preußischen Provinzialverbände zählten aber auch die Landeshauptleute allesamt zu den Geheimnisträgern der „T4“-Mordaktion. Während einige von ihnen als bedingungslose Befürworter der Kranken- und Behindertentötungen galten (beispielsweise der provinzialsächsische Landeshauptmann Kurt Otto in Merseburg), wurden andere Landeshauptleute „T4“-intern als zurückhaltender eingestuft (wie etwa der Brandenburger Landeshauptmann Diet109 Klee, Ärzte (1986), S. 89 f., S. 299 (Anm. 161), mit Hinweis auf Registratur des Bremer Senats, Sign. 3 D.4.b Nr. 5 „13“, Vm. von Senator Erich Vagts (Kommissar für das Gesundheitswesen u. Vertreter b. d. Reichsregierung) über die Sitzung vom 03.04.1940; Stadtarchiv Plauen, DGT, Einladung an OB Plauen (21.03.1940) bzw. Vm. d. OB Plauen (04.04.1940), hier n. d. Faks. bzw. Abdruck b. Aly, Medizin (1985), S. 32 f., u. b. Aly, Aktion (1989), S. 50 bzw. 50–52; siehe auch Aly, Endlösung (1995), S. 54 f.; Stöckle, Aktion (1996), S. 16; Walter, Psychiatrie (1996), S. 671. 110 Friedlander, Weg (1997), S. 324. – Ebenfalls auf die Punkte Erfassung und Verlegung in der Zusammenarbeit zwischen der „T4“ und den Provinzialverbänden (z. B. dem PV Sachsen) verweist Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 76–78. 111 So die Aussage des hannoverschen LHs Dr. Ludwig Gessner in HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I, Bl. 31, hier zit. n. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 64. 112 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 358. 113 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 182, OStAnw Koblenz an Landesregierung Rheinland-Pfalz, Min. d. Justiz (26.09. 1947), Durchschr. 114 Ebd. – Dies war allerdings eine Rechtsmeinung, die in den folgenden Urteilen der Gerichte kaum ihren Niederschlag fand. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 383 loff von Arnim in Potsdam).115 Blickt man in die Nachbarprovinzen Hessen-Nassaus – Hannover, Westfalen und die Rheinprovinz –, so erweckt die bisher erschienene Literatur mitunter den Eindruck, als sei die Mordaktion zumindest bei den Landeshauptleuten in Düsseldorf und Hannover und bei ihren Medizinal- bzw. Anstaltsdezernenten anfangs eher reserviert aufgenommen worden. Allzu unkritische historiografische Bewertungen aus den 1980er Jahren116 über das Handeln verschiedener Verantwortlicher in den Provinzialverwaltungen müssen allerdings heute durch differenziertere Einschätzungen abgelöst werden. So scheinen Nachkriegsaussagen von Verantwortlichen aus diesen Provinzialverbänden über eine so genannte „Abwehrfront“ der Rheinprovinz, Westfalens und Hannovers, die der rheinische Psychiatriedezernent Prof. Dr. med. Walter Creutz nach eigenen Angaben konspirativ zu organisieren versucht habe, die tatsächlichen Verhältnisse insgesamt zu positiv gefärbt dargestellt (und damit auch die Geschichtsschreibung zu ihren Gunsten beeinflusst) zu haben.117 Immerhin aber scheint zumindest der Düsseldorfer Landeshauptmann Heinz Haake,118 ein Nationalsozialist der ersten Stunde, dann zunächst Bedenken wegen der Mordaktion geäußert zu haben – wie vermutet wird, auf Veranlassung seines Dezernenten Creutz. „T4“-intern hieß es, „dass von Düsseldorf aus Schwierigkeiten gemacht wurden. [...] Haake habe sich gegen die Erfassung und den Abtransport von Kranken aus den Heil- und Pflegeanstalten der Rheinprovinz gewehrt.“ Jedoch konnte „T4“ – noch vor den ersten geplanten Verlegungen rheinischer Patienten zur Ermordung in Hadamar – die Differenzen mit Haake bei einer hochrangig besetzten Konferenz im Düsseldorfer Landeshaus aus dem Weg räumen, bei welcher sich Haake offensichtlich nach der Präsentation des Hitler’schen Genehmigungsschreiben umstimmen ließ.119 Auch der Hannoveraner Landeshauptmann Dr. Ludwig Gessner, der bei Besprechungen in Hannover und Berlin über die „T4“-Aktion aufgeklärt wurde, will mit Unterstützung seines Anstaltsdezernenten, des Juristen Landesrat Dr. Georg Andreae, einen Protest vorbereitet und eine „Denkschrift“ gegen die Mordaktion verfasst haben, was allerdings bereits das Schwurgericht Hannover in der Nachkriegszeit für unglaubwürdig hielt. Unglaubwürdig erscheinen die Angaben Gessners vom Dezember 1946 nicht zuletzt deshalb, weil dieser ausgerechnet die ansonsten keineswegs als NS-„Euthanasie“-Gegner exponierten Landeshauptleute Wilhelm Traupel in Kassel und Karl Friedrich Kolbow in Münster als Mitwisser nannte, die im Übrigen beide zum Zeitpunkt der Gessner’schen Aussage nicht mehr befragt werden konnten, da sie bereits verstorben waren. Traupel habe ihm „rückhaltlos“ zugestimmt und ihm gegenüber von einer eigenen, dem Innenminister Frick zugeleiteten Denkschrift gesprochen. Unabhängig davon, ob man die behaupteten Widerstandshandlungen oder -absichten als Legenden bewertet oder 115 Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 190 f. – Danach stand Otto den Tötungen „uneingeschränkt positiv“ gegenüber, während v. Arnim (eigentlich v. Arnim-Rittgarten) „mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln“ sei. – Kurt Otto (* 09.06.1887 in Proskau) war ab Apr. 1933 LH d. PV Sachsen in Merseburg: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 315. 116 So vertrauen Sueße/Meyer, Abtransport (1988), in ihrer Studie über die „Konfrontation niedersächsischer Anstalten mit der NS-‚Euthanasie‘“ allzu sehr den Nachkriegsaussagen mancher Betroffener, z. B. auf S. 45: „Obwohl Gessner ‚ausweichend‘ geantwortet hatte, wurde er am 24. Dezember 1933 zum Landeshauptmann der Provinz Hannover berufen – wie er betont, ohne seine vorherige Zustimmung.“ 117 Leipert, Beteiligung (1987), S. 30, kommt zu dem Schluss: „Offenkundig nahm sich Creutz [...] die Etablierung einer Abwehrfront [...] vor [...]“, es wird verwiesen auf eine von Creutz verfasste „Denkschrift“; siehe auch Werner, Rheinprovinz (1991), 137, S. 142 (Anm. 23), der die Denkschrift, von der nur eine undatierte Durchschrift vorliegt, für authentisch hält; Creutz’ Haltung wird diskutiert bei Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 340 f.; Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 53 f., übernehmen die These der „Abwehrfront“ ungeprüft mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I, Bl. 106, Aussage Prof. Dr. Walter Creutz (05.07.1948); auch Seidel/Sueße, Werkzeuge (1991), S. 255, stellen die angebliche „Abwehrfront“ nicht in Frage; dagegen stellt Zimmermann, „Entnazifizierung“ (2001), S. 348, dar, dass die genauen Hintergründe des Creutz’schen „Verhaltens als Dezernent nicht in jedem Fall einwandfrei zu klären“ seien und dass die „Authentizität [der Denkschrift, P. S.] [...] nicht über jeden Zweifel erhaben“ sei. – Zu Prof. Dr. med. Walter Creutz (1889–1971) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Leipert, Beteiligung (1987), S. 28; Zimmermann, „Entnazifizierung“ (2001), S. 347–350. 118 Zu Heinrich („Heinz“) Haake (1892–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 169; Klee, Ärzte (1986), S. 85; Leipert, Beteiligung (1987), S. 29. 119 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, T, o. Bl.-Nr., Aussage Friedrich Tillmann als Beschuldigter b. d. LG Dortmund (21.03.1961), S. 20, Kopie aus dem Verfahren Az. 10 Js 38/60. – An dieser Besprechung am 12.02.1941 sollen nach dieser Aussage teilgenommen haben: für „T4“ Brack, Heyde, „Gekrat“-Leiter Reinhold Vorberg, Leiter der „T4“-Büroabteilung Friedrich Tillmann, und für den PV d. Rheinprovinz LH Haake, Erster LdsR u. Stv. d. LH Dr. Wilhelm Kitz, Psychiatriedezernent Prof. Dr. Walter Creutz sowie Dr. Landsberg. – Vgl. auch ebd., V, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Vernehmung Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964, hier: 04.12.1964), S. 23, Kopie aus der Voruntersuchungssache gegen Vorberg, Az. Js 20/61 (GStA); Leipert, Beteiligung (1987), S. 31; Schulte, Euthanasie (1989), S. 100; Werner, Rheinprovinz (1991), S. 137. 384 IV. Zeit der Gasmorde nicht, bleibt festzustellen, dass auch Landeshauptmann Gessner, spätestens nachdem ihm die „Euthanasie“-Ermächtigung Hitlers vorgelegt worden war, gemeinsam mit seiner Verwaltung die Aufgaben übernahm, die im Rahmen der Krankenmordaktion von ihnen erwartet wurden.120 Viel unvermittelter als in den Nachkriegsaussagen konnte die Einstellung zu den Krankentötungen in – allerdings nur selten schriftlich fixierten – zeitgenössischen Formulierungen zum Ausdruck kommen. So äußerte der westfälische Landeshauptmann Kolbow (also einer der angeblich an der geplanten „Abwehrfront“ Beteiligten) in Bezug auf ein Protestschreiben des katholischen Bischofs von Münster, Clemens Graf von Galen, er, Kolbow, habe nicht die Absicht, sich „durch den Brief des Bischofs [...] irgendwie beirren zu lassen; die Aktion sei in Westfalen in flottem Fortschreiten und in etwa 2 bis 3 Wochen beendet.“121 In einem Fall gelang es „T4“ sogar, einen der preußischen Anstaltsdezernenten als „Gutachter“ in das System der Selektion der kranken und behinderten Menschen einzubinden, nämlich den im Kieler Landeshaus amtierenden Landesrat Doz. Dr. med. Erich Straub, dem die öffentlichen Anstalten der Provinz Schleswig-Holstein unterstanden.122 Einige der „T4“-Sonderbeauftragten in den Provinzialund Bezirksbänden scheinen nicht unbedingt als Fanatiker im Sinne des Krankenmordes in Erscheinung getreten zu sein. Dies gilt auch für den Kasseler Anstaltsreferenten Karl Rücker, in dem man insofern einen Gegenpart zu dem Wiesbadener Bernotat sehen könnte. Rücker war ebenfalls ein altgedienter, in der Weimarer Zeit eingestellter Verwaltungsbeamter, der zunächst im Bezirksverband Nassau jahrelang das Anstaltswesen betreut hatte, bevor Bernotat dieses 1937 übernahm. Im selben Jahr trat Rücker der NSDAP bei, und zwei Jahre später, im August 1939, wechselte er, 50-jährig, als Anstaltsreferent nach Kassel zum Bezirksverband Hessen.123 Wie Rückers Vorgesetzter dort, der stellvertretende Landeshauptmann Dr. jur. Otto Schellmann, sich erinnerte, beauftragte „T4“ Rücker anscheinend direkt, unter Umgehung des Dienstweges, was Schellmann jedoch nicht hinnehmen wollte: „[...] zu mir kam einmal Rücker und sagte mir, er oder die Behörde hätten ein Schreiben bekommen, worin er gewissermaßen zum Sonderbeauftragten bestellt worden wäre in diesen Angelegenheiten. [...] Rücker gab mir damals ein Schreiben.“ Man habe sich dann intern jedoch einvernehmlich darüber verständigt, dass Rücker nichts ohne Schellmanns Zustimmung unternehmen solle; Schellmann habe ihm gesagt: „das ist ja ganz gut und schön, aber wissen Sie, das existiert für mich nicht, ich bleibe der Verantwortliche in dieser Angelegenheit, die Verantwortung kann mir keiner nehmen; wir werden schon gut zusammenarbeiten.“ Dies sei dann auch praktiziert worden.124 Dies bedeutete allerdings keineswegs eine prinzipielle Ablehnung von Krankentötungen, insbesondere da auch Schellmann keineswegs als „Euthanasie“-Gegner gelten konnte.125 Letztlich scheint Rücker sich zwar nicht als begeis120 Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 46–56, mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I, Bl. 13–15, Eingabe Dr. Ludwig Gessner an Entnazifizierungsausschuss (01.12.1946), auf Bl. 19–21 u. 168, Aussagen Dr. Georg Andreae (11.05. u. 27.08.1948), u. auf Bl. 29 f., Aussage Dr. Ludwig Gessner (24.05.1948). – Der ehem. LH Wilhelm Traupel verstarb am 07.02.1946, der ehem. westfälische LH Karl Friedrich Kolbow am 24.09.1945. 121 LH Kolbow (PV Westfalen), „Vermerk über ein Telefongespräch mit Frl. B[...] – Berlin – am Donnerstag, dem 31. 7. 41 um 17 Uhr“ (o. D. [zwischen 31.07.1941 u. 04.08.1941]), zit. n. d. Faks. b. Teppe, Massenmord (1989), S. 21. – Auf den Kontrast zwischen der angeblichen u. tatsächlichen Haltung Kolbows verweist auch Werner, Rheinprovinz (1991), S. 142 (Anm. 22). 122 BA, R96 I/1, Bl. 127892 f., „T4“, „Aufstellung der bisher jemals zugelassenen Gutachter“ (o. D.), Kopie, hier Bl. 127893. – Zu Dr. med. Erich Straub siehe auch biogr. Anhang. – In HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld (zeitweise Bad Oeynhausen), an Eva Mennecke (21.–24.02.1941), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 176– 183 (Dok. 63), hier S. 176 (21.02.1941), berichtet Mennecke seiner Frau über ein Gespräch mit Straub ca. am 20.02.1941 in Bielefeld (im Rahmen eines „Gutachter“einsatzes in Bethel): „[...] ich saß [beim Abendessen, P. S.] zusammen mit Herrn Prof. Dr. Kihn (Jena) und Doz. Dr. Straub (Anstaltsdezernent von Holstein aus Kiel) [...]. In unserer Unterhaltung gab es sehr anregende Motive, die mir bewiesen, daß ich mit meiner Antisozialen-Denkschrift den Nagel auf den Kopf getroffen habe.“ 123 Zu Karl Rücker (1889–1948) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 806 f., Aussage Karl Rücker b. d. Kriminalpolizei Kassel (19.12.1946), Abschr.; ebd., Bl. 174–184, Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947), hier insb. Bl. 174; StA Mr, Best. 220 Nr. 712, Geschäftsverteilungsplan d. BV Hessen (o. D. [vor u. nach dem 29.08.1939]), auch vorhanden als Kopie in LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 13; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1985, Rücker, Karl. – Zum Anstaltsdezernat des BV Nassau u. dessen Übernahme durch Bernotat siehe Kap. III. 3. a). 124 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 173 f., Zeugenaussage Otto Schellmann im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (Zitate auf Bl. 173); im gleichen Sinne auch ebd., Bd. 3, Bl. 115 f., Aussage Otto Schellmann b. d. StAnw in Kassel (04.07.1946), hier Bl. 116. – Dr. jur. Otto Schellmann (1880–1953) war Fürsorge- (auch Anstalts-)dezernent u. stv. LH d. BV Hessen; siehe zu diesem auch biogr. Anhang. 125 Siehe dazu die in Kap. III. 3. c). angeführte Stellungnahme aus HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 170, Zeugenaussage Schellmann im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 385 terter Anhänger der Krankentötungen erwiesen zu haben (und dies trug wohl dazu bei, dass die Mordaktion im Bezirksverband Hessen weniger intensiv durchgeführt wurde als im Bezirksverband Nassau), doch auch er kann trotz möglicher moralischer Bedenken nicht als grundsätzlicher Gegner angesehen werden, wie er auch selbst in einer Zeugenaussage 1947 erläuterte: „Ich könnte als gesetzlich legal empfinden, daß durch ein Gesetz, das bis ins Kleinste die Voraussetzungen schafft, daß ein ganz kleiner Kreis einzelner Kranker, durch die Ärztekommission ausgewählt in wiederholter Auswahl –, das könnte ich mir denken. Dies unabhängig von meiner eigenen inneren Anschauung.“126 In den außerpreußischen Ländern übernahm die jeweils zuständige Abteilung im Innenministerium die Rolle der regionalen Zentralstelle für die „T4“-Aktion; die dort für die Anstalten zuständigen Ministerialbeamten waren vielfach Ärzte – und nicht Juristen oder Verwaltungsbeamte des gehobenen Dienstes wie oft in den Provinzial- und Bezirksverbänden. Die Erstinformation über die bevorstehenden Krankentötungen erhielten diese Landesmedizinalbeamten in Berlin, häufig im Rahmen von routinemäßigen Besprechungen im Reichsinnenministerium. In mehreren Fällen fungierte hierbei Herbert Linden als Übermittler,127 aber auch Philipp Bouhler als Chef der Kanzlei des Führers empfing in der Anfangsphase führende Personen aus den Regionen, um sie über die bevorstehende „Aktion“ ins Bild zu setzen.128 Auch in diesen Fällen konnten das Engagement und die Bereitschaft der verantwortlichen Personen von Land zu Land durchaus unterschiedlich sein. Im Allgemeinen aber waren die Stellen in den Ministerien, wie beispielsweise in Württemberg und Baden „seit langem mit politisch zuverlässigen Leuten besetzt“129 – dies scheint für die Länder sogar in größerem Umfang zuzutreffen als für die preußischen Verbände. In Stuttgart etwa leistete der „alte Kämpfer“ Dr. med. Egon Stähle, Leiter der ministeriellen Gesundheitsabteilung und in Personalunion Gauamtsleiter für Volksgesundheit, gemeinsam mit mehreren Mitarbeitern seiner Abteilung offenbar ohne Bedenken und in umfassender Weise Beiträge zur Krankenmordaktion. Auch sein Karlsruher Amtskollege Dr. med. Ludwig Sprauer wird, obwohl erst 1933 in die NSDAP eingetreten, als „zuverlässig“ oder zumindest „willfährig“ im Sinne des NS-Staats beschrieben; er beteiligte sich beispielsweise aktiv an der Anwerbung neuer ärztlicher „Gutachter“ für „T4“ und wurde wie Stähle zu den Beratungen für das geplante „Gesetz über die Leidensbeendigung bei unheilbar Kranken und Lebensunfähigen“ hinzugezogen.130 Letzteres galt auch für den in Bayern verantwortlichen Leiter der Gesundheitsabteilung im Münchener Staatsministerium des Innern, Prof. Dr. med. Walter Schultze, einen „Aktivist[en] der ersten Stunde“, der sich in der „Kampfzeit“ den Spitznamen „Bubi“ erworben hatte und ein Duzfreund des „T4“-Organisators Brack war.131 In Schultze kann man ebenso einen uneingeschränkten Befürworter der Mordaktion sehen wie in dem 126 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 181 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947), hier Bl. 182 (grammatikalisch unvollständiger Satz im Protokoll). – Diese Aussage zielt allerdings – ebenso wie die vorstehende Aussage Schellmanns – auch darauf ab, sich nicht selbst zu belasten (sie soll implizieren, der Zeuge hätte die Strafbarkeit der „Euthanasie“aktion nicht erkannt). 127 So z. B. für Dr. Ludwig Sprauer (Baden) u. Dr. Jakob Schmitt (Land Hessen): HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 522–524, Eidesstattliche Erklärung Dr. Ludwig Sprauer in Nürnberg ggü. Dr. Robert M. W. Kempner, Office of the U.S. Chief of Counsel (23.04.1946), Abschr., hier Bl. 523; StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Protokoll d. Vernehmung Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 16; ebd., Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 101. 128 So z. B. der in Bayern für das Anstaltswesen zuständige Prof. Dr. Walter Schultze (Innenverwaltung in München), welchen Bouhler Ende 1939/Anfang im Beisein des Münchener Gauleiters u. Bayerischen Innenministers Adolf Wagner informierte: Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 434. – Zu Prof. Dr. med. Walter Schultze (* 1894) siehe weiter unten in diesem Abschnitt über die Landesmedizinalbeamten sowie im biogr. Anhang. 129 Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 217. 130 Klee, „Euthanasie“, S. 90; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 216 f., S. 269, S. 353; Stöckle, Aktion (1996), S. 18; Lang, Grafeneck-Prozeß (1996), S. 144; Friedlander, Weg (1997), S. 326 f., S. 557 f. (Anm. 52–56); Stockhorst, Köpfe (1967), S. 408 (Stähle); Schwarz, MdR (1965), S. 766 (Stähle); Klee, Ärzte (1986), S. 85 (Stähle), S. 90 (Sprauer); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 522–524, Eidesstattliche Erklärung Dr. Ludwig Sprauer in Nürnberg ggü. Dr. Robert M. W. Kempner, Office of the U.S. Chief of Counsel (23.04.1946), Abschr., hier Bl. 522 f.; NARA, T-1021, Roll 11, Frame 64–96, „T4“Protokoll zur Diskussion über ein „Euthanasiegesetz“ (o. D. [wahrscheinlich Herbst 1940]), Kopien auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1806) sowie in BA, R96 I/2, Bl. 126659–126690, hier Bl. 126664, Bl. 126672. – Zu Dr. med. Eugen Stähle (1890– 1948) und zu Dr. med. Ludwig Sprauer (* 1884) siehe auch biogr. Anhang. 131 HStA Wi, Aussage Dr. Hans Hefelmann (06.–15.09.1960), hier zit. n. Aly, Aktion (1989), S. 127–129, hier S. 128 (zu Spitzname u. Verhältnis zu Brack); siehe auch ebd. (Aly), S. 200; ders., Fortschritt (1985), S. 51 (Zitat „Aktivist [...]“); Stockhorst, Köpfe (1967), S. 401; Klee, Ärzte (1986), S. 85–87; Schilter, Ermessen (1999), S. 90, S. 110; Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 434. – Zu Prof. Dr. med. Walter Schultze (* 1894) siehe auch biogr. Anhang. 386 IV. Zeit der Gasmorde Thüringer Ministerialbeamten Dr. med. Karl Astel.132 Schließlich ist der Psychiater Dr. med. Alfred Fernholz, der für die Abteilung „Volkspflege“ zuständige Ministerialdirektor im sächsischen Innenministerium (wie Stähle auch er zugleich Gauamtsleiter für Volksgesundheit) der Riege der überzeugten NS-„Euthanasie“-Befürworter zuzurechnen. Wie Schilter feststellt, waren sowohl Fernholz als auch einige der ihm untergebenen Ministerialbeamten in Dresden „von Anfang an über Zweck und Ziel der ‚Aktion T4‘ informiert und traten rückhaltlos für deren Umsetzung ein.“133 Andere Sonderbeauftragte in den Ländern wie der Darmstädter Medizinalreferent Dr. med. Jakob Schmitt scheinen die Meldebogenerfassung und die Verlegungen reibungslos organisiert zu haben, dabei aber zunächst nicht als überzeugte Propagandisten der Mordaktion aufgetreten zu sein.134 Der im Jahr 1890 geborene Schmitt hatte die Funktion als Oberregierungs- und -medizinalrat (später Regierungs- und Medizinaldirektor) im Innenministerium des Volksstaats Hessen noch zu Weimarer Zeiten, im Jahr 1931, angetreten. Mit dem Parteibeitritt 1937 kam er den Forderungen des neuen Staatswesens vergleichsweise spät nach; dagegen ging er, indem er der Kirche den Rücken zukehrte, sogar über das vielfach Übliche hinaus.135 Wie Rücker in Kassel zählte auch Schmitt in Darmstadt zu jenen, die durch eine indifferente Haltung zur Krankenmordaktion dazu beitrugen, dass ihr Zuständigkeitsgebiet 1941 nicht zu einer zentralen Region im Rahmen der Mordaktion wurde. Dies verschonte jedoch keineswegs die dortigen Patienten, die, nach Verlegungen, anderswo ermordet wurden, beispielsweise in Anstalten des Bezirksverbandes Nassau. „T4“ registrierte durchaus die Haltung der einzelnen Verantwortlichen in den Regionen und richtete die Strategie flexibel danach aus. Auch beispielsweise der im Braunschweiger Innenministerium zuständige Medizinalrat Marquordt zählte nach einer „T4“-internen Bewertung nicht zu jenen, die „unserer Aktion unbedingt positiv gegenüber[stehen]“, sondern galt als einer der Eingeweihten, die „mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln“ seien.136 Trotz derartiger Einschränkungen und möglicher Bedenken scheint „T4“ nach bisherigen Erkenntnissen jedoch nirgends von dem Grundsatz abgegangen zu sein, den jeweils für die Heil- und Pflegeanstalten zuständigen Beamten – sei es in den Landesverwaltungen oder in den Provinzialverbänden – als Mittelsmann zwischen der „T4“-Zentrale und den einzelnen Anstalten in das Mordsystem einzubinden, und auch keiner scheint sich letztlich der Mitarbeit verweigert zu haben.137 Erstmals nahm „T4“ die Mittlerdienste der Sonderbeauftragten bei der Erfassung der Anstaltspatientinnen und -patienten durch Meldebogen in Anspruch. Um der Aufforderung an die Anstalten zur Ausfüllung der Meldebogen amtliches Gewicht zu verleihen, ergingen diese jeweils durch das Reichsinnenministerium. Der erste entsprechende Erlass des Staatssekretärs Leonardo Conti datiert vom Oktober 1939, die Organisation im Einzelnen übernahm für das RMdI erneut der Conti-Mitarbeiter Herbert Linden. Nach dem Erlass hatten die Anstaltsleiter für alle in ihrer Anstalt nicht nur vorübergehend untergebrachten Patienten einen DIN-A4-großen Meldebogen auszufüllen, in dem unter anderem über Personalien des oder der Kranken, über Diagnose, Arbeitsfähigkeit, Dauer der Anstaltsunterbrin132 Zu Prof. Dr. med. Karl Astel (1895 oder 1898–1945) siehe die Angaben in Kap. III. 3. a) sowie im biogr. Anhang. Schilter, Ermessen (1999), S. 84; zu Fernholz’ späterer organisatorischer Einbindung in die Kindermordaktion des sog. „Reichsausschusses zur Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ siehe auch Kap. V. 1. b); vgl. dazu auch ebd. (Schilter), S. 89. – Zu Dr. med. Alfred Fernholz (* 1904) siehe biogr. Anhang. – Quelle: ebd. (Schilter), S. 84–89, S. 313. 134 So die Einschätzung über Schmitt in StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfr. Otto Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 76. – Dieser Eindruck entspricht zumindest in der Tendenz den ansonsten von Schmitt bekannt gewordenen Verhaltensweisen, allerdings betraf eine gerichtliche Voruntersuchung ab 1948 gegen ihn (außer den Verlegungen im Rahmen der „T4“-Aktion) zeitweise auch eine angeblichen Todesspritze, die er angeordnet habe, dagegen ließ das LG Darmstadt ohne Begründung den Vorwurf fallen, auf Schmitts Veranlassung seien an „Alte und Sieche“ nur unzureichend Herz- und Stärkungsmittel verabreicht worden: StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 71, Beschluss d. LG Darmstadt, Strafkammer II (20.02.1948); ebd., Bl. 75, Vm. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter (20.11.1948); Sandner, Anstaltspolitik (2003). 135 Zu Dr. med. Jakob Schmitt (1890–1949) siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Protokoll d. Vernehmung Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 14 f.; ZSP Mittlere Lahn (Standort Gießen), Registratur, Pers.-Akten, Schmitt, Jakob, Dr.; Gunkel, Geschichte (1996), S. 184. 136 Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 191. – Zur Einstellung eines Nachkriegsverfahrens gegen Marquordt siehe auch Klee, Ärzte (1986), S. 87. 137 Zur durchgehenden Mitarbeit der Betreffenden siehe auch Klee, Ärzte (1986), S. 89: „Die Verwaltung hat ihren Apparat der Vernichtung der ‚Ballastexistenzen‘ zur Verfügung gestellt. Keiner ist zurückgetreten, weil er die Vernichtungsaktion mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte.“ 133 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 387 gung und Heilungsaussichten Auskunft gegeben werden musste; in einem weiteren Meldebogen pro Anstalt waren Angaben über die Einrichtung insgesamt festzuhalten.138 Das Ministerium versandte die Meldebogen nicht gleichzeitig für alle Anstalten im Deutschen Reich, sondern zeitlich gestaffelt für die einzelnen Länder und preußischen Provinzen. Die Reihenfolge korrespondierte dabei grob mit der Reihenfolge der Einrichtung der sechs Mordanstalten, von denen die ersten drei (Grafeneck/Württemberg, Hartheim/Oberdonau und Brandenburg) im Januar 1940 mit den Gasmorden begannen, während die letzte (Hadamar) genau ein Jahr später, im Januar 1941, folgte. Dementsprechend erreichten die Meldebogen zuerst die Regionen im Süden und Südwesten und in Mittel- und Ostdeutschland, während Nord- und Nordwestdeutschland erst zum Schluss berücksichtigt wurde. Die Staffelung dürfte darauf zurückzuführen sein, dass „T4“ nicht über die personellen und logistischen Kapazitäten verfügte, um die Mordaktion überall im Deutschen Reich gleichzeitig in Gang zu setzen. Diese Ungleichzeitigkeit hatte auch zur Folge, dass durch den Stopp der Gasmorde an Anstaltspatienten im August 1941 aus den Territorien Schleswig-Holstein und Hamburg nur vergleichsweise wenige, aus Bremen und Oldenburg keine Menschen mehr in den Gaskammern ermordet wurden (sie fielen aber überwiegend den späteren Mordaktionen zum Opfer).139 Die ersten Meldebogen erreichten ihr Ziel, unter anderem die Länder Württemberg und Baden sowie die südlichen Bezirke Bayerns, noch im Oktober 1939.140 Wie etwa für Baden dokumentiert, gelang aufgrund dieses frühen Termins, zu dem sich noch kaum Gerüchte und Kenntnisse über die bevorstehenden Morde in der Bevölkerung ausgebreitet haben konnten, „[d]ie beabsichtigte Irreführung der Anstaltsärzte [...] vollständig“.141 Auch im Land Sachsen waren im Oktober/November 1939 die Aufforderungen zur Erfassung eingegangen. Den sächsischen Anstalten wurden die Bogen nicht vom Reichsinnenministerium direkt übersandt, sondern die Weitergabe erfolgte über Fernholz’ Volkspflegeabteilung im Dresdener Innenministeriums.142 Auf diese Weise konnte der Sonderbeauftragte Fernholz die rechtzeitige Ausfüllung der Bogen besser überwachen. Anders, aber ebenso wirkungsvoll war das Prozedere in Thüringen, wo die Meldebogen in einer nächsten Staffel im Februar 1940 ankamen. Hier sandte das Reichsministerium des Innern die Bogen direkt an die einzelnen Anstalten; wie auch sonst setzte man den Direktoren eine Frist zwischen einem und zwei Monaten zur Ausfüllung und Rücksendung nach Berlin. Nachdem drei Wochen verstrichen waren, schaltete sich das Weimarer Innenministerium ein: Es ließ die Anstaltsleiter wissen, dass es durch das Reichsinnenministerium parallel verständigt worden sei, und mahnte bei ihnen die Einhaltung der Frist zur Ausfüllung (1. April) 138 RMdI, RdErl. „IV g 3697/39 – 5100“ (09.10.1939), zit. in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 14 f.; dort auf S. 17 auch eine Kopie des weißen „Meldebogens 1“ zur Erfassung eines jeden Patienten, auf S. 16 eine Kopie des gelben „Meldebogens 2“ zur Erfassung der Anstalt (Größe, Personal, Lage usw.), u. auf S. 18 eine Kopie des jeweils beigefügten grünen „Merkblatts“; siehe auch Faks. des Erlasses vom 09.10.1939, hier an die Anstalt Konstanz, bei Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 213. – Vor Versendung der Meldebogen hatte das RMdI im September 1939 sich zunächst einen Überblick verschaffen müssen, welche Anstalten im Deutschen Reich beim Meldebogenversand überhaupt zu berücksichtigen wären, dies geschah durch RdErl. d. RMdI, gez. Conti, an die außerpreuß. Landesregierungen, den Reichskommissar für das Saarland, die RPen einschließlich Karlsbad, Aussig u. Troppau, den Polizeipräsidenten in Berlin, die Landeshauptleute in der Ostmark, den Bürgermeister in Wien, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (21.09.1939), hier nach dem Abdr. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 87 f., dort mit Quellenhinweis auf das Verfahren Az. „Js 147 Js 58/67“ d. StAnw Hamburg; auch zit. b. Friedlander, Weg (1997), S. 135 f. u. S. 504 (Anm. 87), dort mit Quellenhinweis auf GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611– 1733]; vgl. auch Walter, Psychiatrie (1996), S. 659. 139 Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 53; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209 ff.; ders., Hungersterben (1998), S. 260–264 (dort erstmals ein Überblick über den „zeitliche[n] und räumliche[n] Ablauf der ‚Aktion T4‘“); Stöckle, Aktion (1996), S. 15 f.; Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 334; Walter, Psychiatrie (1996), S. 660–662; Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 95; Schilter, Ermessen (1999), S. 90. – Mehrfach ist als Grund für die zeitliche Staffelung die Kriegsplanung genannt worden (z. B. Stöckle), was zunächst plausibel erscheint, aber letztlich nie weiter belegt werden konnte, zumal die späte Einbeziehung der Rheinprovinz an der Westgrenze als Gegenargument anzuführen wäre (Kaminsky), allerdings führt Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 338, selbst die vergleichsweise frühe Zusendung von Meldebogen an die westlich gelegene Anstalt Düren an; auch die frühen „T4“-Verlegungen aus Bedburg-Hau zeigen eine Berücksichtigung der Kriegsplanung an. – Zur Einrichtung der sechs „T4“-Gasmordanstalten siehe Kap. IV. 2. b). 140 Stöckle, Aktion (1996), S. 17; Schilter, Ermessen (1999), S. 111 (in Bayern waren dies die Bezirke Schwaben, Oberbayern u. Niederbayern); Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209 (Eintreffen in Illenau am 15.10.1939, in Stetten am 16.10.1939, in Konstanz am 18.10.1939, in Weißenau am 21.10.1939). 141 Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 212. 142 Schilter, Ermessen (1999), S. 87, S. 90. 388 IV. Zeit der Gasmorde an.143 Eventuellen Eigenmächtigkeiten oder „Nachlässigkeiten“ seitens der Direktoren wurde so nach Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben. Auch der Darmstädter Medizinalreferent Schmitt – bereits in die wahren Ziele der Meldebogenaktion eingeweiht – wurde durch „T4“ beauftragt, „die Anstaltsdirektoren zu informieren, dass in den Anstalten, die von Berlin aus zugesandten Karteikarten [= Meldebogen, P. S.] sorgfältig auszufüllen seien und die wieder nach Berlin zurückgesandt werden müssen.“144 Die Methode der direkten Kontaktaufnahme zu den Anstalten – verbunden mit einer Information an die Trägerbehörde – setzte sich offenbar als allgemeines Verfahren durch.145 Während die Anstalten verschiedener Gebiete in der Mitte Deutschlands (wie etwa der preußischen Provinz Sachsen) im Frühjahr 1940 Meldebogen erhalten hatten,146 trafen solche im westlichen Teil des Deutschen Reichs durchgehend im Juni/Juli 1940 ein, begleitet von jeweils neuen Conti-Erlassen, die sich in ihren Kernaussagen mit dem entsprechenden Dokument vom Oktober 1939 deckten. Im Einzelnen betraf diese Tranche die preußischen Provinzen Hessen-Nassau, Rheinprovinz, Westfalen und Hannover sowie das Land Hessen, kurz darauf folgten die nördlichen (fränkischen) Bezirke Bayerns.147 Erst im August 1940 erfolgte dann die Erfassung im Norden und Nordwesten, etwa in Hamburg und in Oldenburg.148 Es kam durchaus vor, dass Anstalten die Meldebogen gar nicht, nicht umfassend oder erst mit Verzögerung ausfüllten. Je mehr sich der wahre Zweck der Bogen herumsprach, kam es zur Ablehnung der Ausfüllung durch konfessionelle Anstalten. Belegt ist dies etwa für die von Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel, für die Nieder-Ramstädter Anstalten bei Darmstadt und schließlich auch für die Anstalten der Inneren Mission im Rheinland, wenn die Verweigerungshaltung auch in der Folge zum Teil durch verschiedene Kompromisse gebrochen wurde.149 In den staatlichen oder kommunalen Einrichtungen waren derartige Ablehnungen kaum anzutreffen, allenfalls in Einzelfällen ist ein vergleichsweise restriktives Vorgehen bei der Meldebogenausfüllung zu konstatieren. So meldete die Provinzialheilanstalt Münster 1940 nicht mehr als 45 % ihrer Patientinnen und Patienten, während die 143 Ebd., S. 105, mit Hinweis auf HStA Weimar, Best. MdI, E950, Bl. 238, Schreiben d. MdI Weimar (28.02.1940). StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Aussage Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 16 (dieser „T4“-Auftrag wurde Schmidt durch Linden übermittelt); entsprechend auch ebd., Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 101 f. (Schmitt habe sich bei Gauleiter Jakob Sprenger und Staatssekretär Heinrich Reiner rückversichert, die ihm die Information an die Anstaltsleiter auftrugen). – Jedoch konnte der Nieder-Ramstädter Anstaltsleiter sich in ebd., Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfarrer Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 76, „nicht erinnern, daß er [= Schmitt] auf Ausfüllen der Fragebogen gedrängt hat.“ 145 Walter, Psychiatrie (1996), S. 713 f., stellt ein entsprechendes Vorgehen für den PV Westfalen fest; siehe auch die Angaben zu den übrigen Regionen. – Die dem entgegenstehende Nachkriegsaussage des Anstaltsdezernenten des PV Hannover, er sei im Sommer 1940 erst durch die Anstaltsleiter über die Meldebogen informiert worden und deren Zweck sei ihm nicht bekannt gewesen, ist insofern kritisch zu hinterfragen: vgl. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 47, mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I, Bl. 19, Aussage Dr. Georg Andreae (11.05.1948). 146 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 76. 147 Zur Rheinprovinz siehe Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 338 f., S. 345 f. (Erlass datiert 11.06.1940, Eintreffen teilweise erst 07./08.07.1940, Abgabefrist 01.08.1940). – Zu Westfalen siehe Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; ders., Psychiatrie (1996), S. 713 (Erlass datiert 14.06.1940). – Zu Hannover siehe Finzen, Dienstweg (1983), S. 62–68 (Erlass datiert 14.06.1940, Eintreffen z. B. in Wunstorf am 04.07.1940, in Hildesheim am 08.07.1941, Abgabefrist 01.08.1940, z. T. verlängert bis 01./15.09.1940); siehe auch Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 74–77; siehe auch Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209. – Zu den bayerischen Bezirken Mainfranken sowie Ober- und Mittelfranken siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 110– 112 (Erlass datiert auf den 21.06.1940, Eingang der Meldebogen jedoch z. T. erst Wochen später, Abgabefrist 01.09.1940); siehe auch Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209 (Eintreffen in Erlangen im Okt. 1940). 148 Zur vergleichsweise späten Zusendung von Meldebogen beispielsweise in Hamburg vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 82 f.; zu Oldenburg vgl. Harms, Hungertod (1996), S. 85. 149 Zu Bethel siehe Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 353 f.; zu den evangelischen Anstalten im Rheinland siehe ebd., S. 348–350; Orth, Transportkinder (1989), S. 83; zum Tannenhof in Remscheid-Lüttringhausen (ebenfalls eine Anstalt der Inneren Mission im Rheinland) siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 120, Zeugenaussage Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); zur Weigerung der konfessionellen Anstalten siehe auch ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 410–415, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 10. Hv-Tag (14.03.1947), hier Bl. 414; zu Nieder-Ramstadt, wo nach der verweigerten Ausfüllung schließlich erst im Sept. 1941 eine „Gutachter“kommission unter Leitung von „T4“-Arzt Dr. Otto Hebold die Meldebogenerfassung vornahm, siehe StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 19 f., Bericht Dr. med. Ernst Georgi, Nieder-Ramstadt, erstattet auf Veranlassung des Landrates des Landkreises Darmstadt (16.06.1945); ebd., Bl. 27–32, Zeugenaussage Dr. Ernst Georgi in Nieder-Ramstadt ggü. d. StAnw Darmstadt (21.06.1945), Leseabschr., hier Bl. 29 f.; ebd., Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfarrer Otto Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 77; ebd., Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 103. 144 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 389 entsprechenden Quoten in den Provinzialheilanstalten Marsberg und Eickelborn (die zum selben Trägerverband, dem Provinzialverband Westfalen gehörten) bei 98 bzw. 99 % rangierten.150 Durch eine zurückhaltendere oder ganz verweigerte Meldebogenausfüllung konnten zwar Morde an den nicht gemeldeten Personen nicht grundsätzlich verhindert werden, weil „T4“ in den entsprechend „verdächtigten“ Anstalten daraufhin seine eigenen „Gutachter“kommissionen einsetzte, die die Erfassung vor Ort vornahmen. In den genannten Fällen führte das Verhalten der Anstalten aber teilweise zu Verzögerungen im Ablauf der „T4“-Mordaktion, was (in Verbindung mit dem Gasmordstopp vom August 1941) zumindest einer gewissen Anzahl von Menschen das Leben gerettet hat. Die Landesheilanstalten der beiden hessisch-nassauischen Bezirksverbände erhielten die Meldebogen Ende Juni 1940, zusammen mit einem Conti-Erlass vom 14. Juni dieses Jahres. Bei den Leitern der Anstalten des (nordhessischen) Bezirksverbandes Hessen – Haina, Marburg und Merxhausen – gingen die Bogen am Freitag, dem 28. Juni ein. Alle drei Direktoren wandten sich daraufhin in separaten Schreiben an die Kasseler Hauptverwaltung ihrer Trägerbehörde, um eine Verschiebung der Ausfüllung zu erwirken: Man möge „sie verschonen mit diesen Statistiken; wegen des Personalmangels“, wie es Anstaltsreferent Rücker vom Bezirksverband Hessen zusammenfasste. Dieses Ansinnen zerstreute allerdings Landeshauptmann Traupel binnen weniger Tage im Wissen um die „T4“-Aktion. Mit dem Hinweis, er habe sich beim Reichsministerium des Innern über den Zweck der Bogen informieren lassen, teilte er den Direktoren bereits Anfang Juli mit, es handele sich „um eine äußerst wichtige Angelegenheit in Hinsicht auf die künftige Gesundheitsführung des deutschen Volkes“. Die drei Landesheilanstalten füllten die Meldebogen daraufhin wie vorgesehen aus, insbesondere nachdem Landeshauptmann Traupel „dringend“ darum gebeten hatte, „mit allem Nachdruck an die Bearbeitung [...] heranzugehen“. Andere Arbeiten sollten zurückgestellt werden, um die Abgabefrist (1. September) möglichst einzuhalten.151 Anstaltsreferent Rücker tat darüber hinaus das Seine, um die Anstalten während der Zeit der Meldebogenerstellung nach Möglichkeit zu entlasten. Zu diesem Zweck bat Rücker etwa im Juli 1940 „ohne Vorgang“ den Oberstaatsanwalt in Kassel, dieser möge auf seine turnusmäßigen Anfragen wegen des Geisteszustandes einzelner, gerichtlich untergebrachter Kranker verzichten; die Staatsanwaltschaft sicherte dies postwendend zu.152 Offenbar war man bei „T4“ mit Art und Umfang der Meldungen durch die nordhessischen Anstaltsleiter zufrieden, denn eine Nacherhebung, die (wie üblich) bei der Meldebogenzusendung als potenzielle Maßnahme in Aussicht gestellt worden war, blieb in Haina, Marburg und Merxhausen aus.153 Die Meldebogenerfassung im Bezirksverband Nassau, also in den Landesheilanstalten Eichberg, Hadamar, Herborn und Weilmünster, unterschied sich nicht grundsätzlich von dem Prozedere in den 150 Walter, Psychiatrie (1996), S. 716. LWV, Best. 17/137, RMdI, Az. IVg 6156/40 – 5100, gez. i. V. Dr. Conti, an LHA Merxhausen (14.06.1940, Eingangsstempel 28.06.1940), als Faks. auch in Hadamar (1991), S. 72; LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 115, RMdI, Az. IVg 6157/40 – 5100, gez. i. V. Dr. Conti, an LHA Hadamar (14.06.1940), mit den Anlagen „Merkblatt. Bei Ausfüllung der Meldebogen zu beachten!“ (= Bl. 119) u. „Ergänzungsblatt zum grünen Merkblatt“ (= Bl. 120); ebd., Bl. 118 f., PV HessenNassau u. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an die LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (05.07.1940), hier als Abschr. vom selben Absender, gez. i. V. Traupel, an LHAen Eichberg, Hadamar, Herborn u. Weilmünster, hier Hadamar (o. D. [05.07.1940], Eingang: 06.07.1940]) (Bezugnahme auf schriftliche Reaktionen vom 02.07.1940 aus Haina, vom 01.07.1940 aus Marburg u. vom 29.06.1940 aus Merxhausen, Zitate „um eine [...]“, „mit allem Nachdruck [...]“); das Schreiben vom 05.07.1940 wird auch indirekt zit. in LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 77–82, Bericht von Prof. Dr. Langelüddeke, Marburg, für Spruchkammer II Marburg-Stadt (05.09.1947), Abschr., hier Bl. 77, auch vorhanden in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1449– 1454, hier Bl. 1449 (danach Eingang der Meldebogen in Marburg am 28.06.1940, Fertigstellung bis 03.08.1940); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 174 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (dort Zitat „sie verschonen [...]“, Hinweis auf Weitersendung an die Anstalten durch die Hauptverwaltung Kassel u. auf separate Reaktion der 3 Direktoren); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Zeiß, Erich, Dr., Bl. 56–58, nicht unterzeichneter „Bericht des Dr[.] med. E[.] Zeiss über die Verlegung von geisteskranken Männern aus der Landesheilanstalt Haina in die Heil- und Erziehungsanstalt Calmenhof und in die Landesheilanstalt Weilmünster“ (o. D. [Eingangsstempel d. LH in Kassel: 08.02.1947]). – Zur Meldebogenausfüllung in Marburg siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 295 f. – Ein von der LHA Haina ausgefüllter Meldebogen befindet sich in LWV, Best. 13/Pat. 166 u. ist als Faks. abgebildet in Hadamar (1991), S. 73. 152 LWV, Best. 17/132, Bl. 22, BV Hessen an OStAnw in Kassel (24.07.1940), Abschr.; ebd., Bl. 21, OStAnw in Kassel an BV Hessen (31.07.1940), Abschr. 153 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 178, Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). 151 390 IV. Zeit der Gasmorde übrigen Provinzen oder Ländern. Wie inzwischen Usus, sandte das Innenministerium die Meldebogen direkt an die Anstaltsdirektoren und informierte parallel die Zentralverwaltung.154 Bernotats Anstaltsdezernat ließ den Direktoren unmittelbar darauf, Ende Juni 1940, die Aufforderung zugehen, „die Ausfertigung der Meldebogen mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen und fristgerecht [...] einzusenden.“ Sechs Tage später stellte zusätzlich Landeshauptmann Traupel gegenüber den Anstaltsleitern auch seines Wiesbadener Bezirksverbands die Bedeutung, die er der Angelegenheit beigemessen sehen wollte, schriftlich heraus. Der Einfachheit halber schickte er ihnen kurzerhand jeweils eine Abschrift seines Briefes an die nordhessischen Direktoren „zur Kenntnis und entsprechenden weiteren Veranlassung“. Diese Zweigleisigkeit brachte es mit sich, dass die „nassauischen“ Anstalten in dieser Sache nun sowohl nach Kassel als auch nach Wiesbaden zu berichten hatten.155 Dass Traupel es für nötig hielt, Bernotats Aufforderung durch ein „Machtwort“ zu bekräftigen, dürfte mit Problemen in Verbindung zu bringen sein, die sich bezüglich der Meldebogenerfassung zwei Tage zuvor in der Anstalt Weilmünster offenbart hatten. Dass deren Leiter Dr. Ernst Schneider die Ausfüllung der Bogen für die Kranken seiner Einrichtung zunächst ablehnte, scheint allerdings kaum als Widerstandshandlung aufzufassen sein.156 Vielmehr reihte seine Kritik sich (wie es auch bei der erwähnten Reaktion der nordhessischen Anstaltsdirektoren angeklungen war) in die bereits in den Vorjahren vermehrt erhobenen Klagen über die Flut von statistischen Erhebungen ein,157 welche ihre Entsprechung auch in der Einführung neuer statistischer Ämter (z. B. bei Provinzial- und Bezirksverbänden) gefunden hatte.158 Auch die westfälische Provinzialheilanstalt Warstein protestierte bei ihrer vorgesetzten Behörde in Münster gegen die ihrer Einschätzung nach „wohl nicht als kriegsnotwendig“ anzusehende Tätigkeit.159 Nachdem die 1.500 Meldebogen in Weilmünster eingetroffen waren, regte Direktor Schneider nämlich bei Bernotat an, „dafür einzutreten, dass die Rückkehr der eingezogenen Ärzte und Beamten abgewartet werden muss, ehe eine derartig umfangreiche und zeitraubende Arbeit unternommen werden kann.“160 Auch als Bernotat Schneider telefonisch auf die Bedeutung der Erfassung hingewiesen hatte, soll dieser geklagt haben, „dass die Anforderungen [...] sehr gross seien, ob er es schaffen würde, sei fraglich.“161 Anscheinend informell – vermutlich durch Bernotat – unterrichtet, schaltete sich daraufhin Ministerialrat Linden vom Innenministerium ein und wandte sich offiziell an den Bezirksverband: Wie ihm mitgeteilt werde, „soll sich der Direktor der Landesheilanstalt Weilmünster geweigert haben, diese 154 Vgl. LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80, RMdI, Ministerialrat Dr. Linden, an den „Landeshauptmann des Bezirksverbandes Hessen-Nassau“ [= gemeint ist der BV Nassau], Wiesbaden (12.07.1940). – Unzutreffend ist die Erinnerung des Direktors, die Bogen seien „vom Landeshaus in Wiesbaden zugestellt“ worden: HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 111. 155 Schreiben BV Nassau [vermutlich gez. Bernotat], an die Anstalten d. BV Nassau (29.06.1940), zit. in LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II), gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940), hier Bl. 80; LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 118 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an die LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (05.07.1940), hier als Abschr. vom selben Absender, gez. i. V. Traupel, an LHAen Eichberg, Hadamar, Herborn u. Weilmünster, hier Hadamar (o. D. [05.07.1940], Eingang: 06.07.1940]) (im Schreiben an die Anstalten des BV Nassau Bezugnahme „auf mein Schreiben vom 29. Juni 1940 – A (IB) 13/06“, an die Anstalten des BV Hessen unter Bezugnahme auf dasselbe [Kasseler] Az., jedoch o. D.); ebd., Bl. 123, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Oberpräsident „(Verw. des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, Kassel, sowie abschriftl. an BV Nassau, Abt. A (SII), Wiesbaden, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten zum Erlass des Herrn Reichsminister des Innern vom 14. 6. 1940. Aktz. IVg 6157/40 – 5100“ (18.07.1940), Durchschr. 156 Selbst der nach 1945 in vielfältiger Weise um seine Entlastung bemühte Dr. Ernst Schneider behauptete dies an keiner Stelle: siehe die diversen (in anderen Anmerkungen aufgeführten) Aussagen in HStA Wi, Abt. 461 u. 463. 157 Die LHA Hadamar legte den Erlass zur Ausfüllung der Meldebogen vom 14.06.1940 und den zugehörigen Schriftverkehr z. B. in ihrer Verwaltungsakte mit dem Titel „Sonstige Statistiken“ ab: LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 115 ff. – Allgemein zur „Kritik an [...] der Arbeitsüberlastung der Behörden durch Berichte und statistische Erhebungen“ (ab 1939) vgl. auch Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 767. 158 Zur Einrichtung eines „Statistischen Amtes“ des BV Nassau ab April/Mai 1938 siehe Kap. III. 3. a). 159 Walter, Psychiatrie (1996), S. 715. 160 Schreiben LHA Weilmünster, gez. Schneider, an BV Nassau, Bernotat (02.07.1940), zit. in LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II), gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940), hier Bl. 81. 161 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II), gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940), hier Bl. 81. – Bernotat datiert dieses Telefonat auf den 04.07.1940. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 391 Meldebogen auszufüllen.“ Linden fragte, „ob dies richtig ist und ob sichergestellt ist, dass die Ausfüllung der Fragebogen auf alle Fälle erfolgt.“162 Der zunächst damit als Stellvertreter des Landeshauptmanns befasste Landesrat Kranzbühler leitete die Angelegenheit gleich an seinen Kollegen Bernotat weiter und fragte, „ob und was Ihnen in der Angelegenheit bekannt ist.“163 Damit handelte Kranzbühler – wenn auch offenbar zumindest in Einzelheiten der Meldebogenerfassung noch nicht eingeweiht – ganz im Sinne eines reibungslosen Verwaltungsablaufes. Nach einer internen Erläuterung durch Bernotat wurde Lindens Anfrage beschwichtigend beantwortet.164 Nachdem Anstaltsdezernent Bernotat mithilfe Lindens zunächst auf Konfrontationskurs zu Direktor Schneider gegangen war, schwenkte der Bezirksverband jetzt um und ließ sich nicht auf eine weitere Grundsatzauseinandersetzung mit Schneider ein. Vielmehr reagierte man im Sinne einer raschen Erfassung der Patienten nun flexibel: Erneut reaktivierte der Verband den Ruhestandsbeamten Dr. Otto Henkel, der als ärztlicher Direktor wenige Monate zuvor Mennecke auf dem Eichberg vertreten hatte. Personaldezernent Kranzbühler bestellte ihn ins Landeshaus ein und entsandte ihn ab Mitte Juli 1940 (gemeinsam mit einer Stenotypistin) „zur Erledigung eines Sonderauftrages“ für zweieinhalb Wochen nach Weilmünster, da die dortigen Ärzte „die Arbeit nicht bewältigen könnten“. Zur informatorischen Vorbereitung in ärztlichen Fragen seines „Sonderauftrages“ setzte Henkel sich (auf Anraten Kranzbühlers) mit dem Eichberger Direktor Mennecke in Verbindung – ein Hinweis darauf, dass auch Kranzbühler spätestens jetzt die Hintergründe der Meldebogenerfassung einordnen konnte und wusste, wer über die einschlägigen Spezialkenntnisse verfügte. Henkel absolvierte die Meldebogenerfassung als „rein mechanische schriftliche Arbeit [...] anhand der Krankengeschichten“, ohne eine „nochmalige aerztliche Untersuchung oder Vorstellung der Kranken“ vorzunehmen.165 Im Anschluss an Henkels Erfassungsarbeit sandte die Anstalt Weilmünster die Meldebogen – wahrscheinlich über die Wiesbadener Zentralverwaltung – beinahe fristgerecht ein.166 Bei Vorfällen wie dem in Weilmünster erwies sich, welch essenzielle Voraussetzung die Einbindung der Provinzial- und Bezirksverbände oder der Landesverwaltungen durch „T4“ „für eine kontrollierte Durchführung der Erfassung“ war. Wie Walter auch für Westfalen feststellt, sollte die Trägerverwaltung „die Anstaltsleiter anweisen, die Ausfertigung der Meldebogen mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen und fristgerecht nach Berlin einzusenden, und bei auftretenden Schwierigkeiten Hilfestellung leisten.“ Der Träger musste auch informiert sein, „da sich [...] einzelne Anstalten zunächst bei ihrer vorgesetzten Behörde rückversicherten, bevor sie mit der ‚sehr weitgreifenden Arbeit‘ begannen“.167 Dass die vorgesetzte Behörde ihren Anstalten bei der Meldebogenerfassung erforderlichenfalls Verstärkung zuwies, wie in Weilmünster geschehen, war kein singulärer Vorgang. Auch in Württemberg beispielsweise nahm der stellvertretende Leiter der Medizinalabteilung des Innenministeriums, Dr. 162 Ebd., Bl. 80, RMdI, Ministerialrat Dr. Linden, an den „Landeshauptmann des Bezirksverbandes Hessen-Nassau“ [= gemeint ist der BV Nassau], Wiesbaden (12.07.1940). – Bezeichnenderweise schrieb Linden zwar auf einem Briefbogen des Ministeriums, unterzeichnete aber nicht „im Auftrag“, sondern nur mit seinem Namen. 163 Ebd., Bl. 81, BV Nassau, internes Schreiben von LdsR Kranzbühler i. V. d. LH an LdsR Bernotat (15.07.1940). 164 Ebd., Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II), gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940); ebd., Bl. 82, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Min.-Rat Dr. Linden, RMdI (18.07.1940, ab: 18.07.1940). – Zur Rolle von LdsR Max Kranzbühler im Kontext der „T4“-Krankenmorde siehe auch Kap. IV. 3. b). 165 Ebd., Akte Henkel, Otto, Dr., Bl. 48, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Dir. a. D. Dr. Henkel, Wiesbaden (16.07.1940, ab: 16.07.1940) (Zitat „zur Erledigung [...]“); ebd., 52, LHA Weilmünster, gez. F., an BV Nassau (03.08.1940) (Einsatz 17.07.–03.08.1940); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 178, Aussage Dr. Otto Henkel ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (22.08.1946) (Zitate „rein mechanische [...]“ u. „nochmalige ärztliche [...]“); ebd., Bd. 4, Bl. 115 f., Zeugenaussage Dr. Otto Henkel im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 190 f., Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bd. 6, Bl. 882–886, Aussage Dr. Adolf Wahlmann ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (10./13./16.01.1947), hier Bl. 882 (10.01.1947); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Bl. 82, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Min.-Rat Dr. Linden, RMdI (18.07.1940, ab: 18.07.1940); vgl. ebd., Bd. III, o. Bl.-Nr., Dr. E. Schneider an PV Nassau in Wiesbaden (05.08.1945); vgl. auch HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 26–29, Aussage Jakob J. als Beschuldigter in Weilmünster (18.02.1946), hier Bl. 28; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 133 f. 166 An eine Rücksendung über Bernotats Anstaltsabteilung erinnerte sich der Direktor: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 24 f., Aussage Dr. Ernst Schneider ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), Abschr., hier Bl. 25, auszugsweise Abschr. auch vorhanden in LWV, Best. 19/15, o. Bl.-Nr.; vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 126, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946). 167 Walter, Psychiatrie (1996), S. 714. 392 IV. Zeit der Gasmorde med. Otto Mauthe, selbst Begutachtungen in Anstalten vor, wenn diese ihre Meldebogen nicht rechtzeitig abliefern konnten.168 Und in Westfalen wies der Münsteraner Landeshauptmann Kolbow der Provinzialheilanstalt Warstein, die die Meldebogenerfassung für zu zeitaufwändig hielt, als Verstärkung den Direktor der benachbarten Anstalt Marsberg, Dr. Theodor Steinmeyer zu,169 der zugleich „T4“-„Gutachter“ war – nach Teppe „ein ärztlicher Schreibtischmörder, der die Rassenideologie beim Wort nahm und zur Tat schritt“.170 Während es also in Weilmünster zu temporären Problemen kam, die die Zentralverwaltung des Bezirksverbandes Nassau jedoch durch ihr Eingreifen löste, verlief die Meldebogenerfassung in den anderen Anstalten des Verbandes mehr oder weniger reibungslos. In der überbelegten Landesheilanstalt Herborn, wo 1940 mehr als 1.600 Patientinnen und Patienten untergebracht waren,171 übernahmen die Abteilungsärzte die Ausfüllung der Meldebogen anhand der vorliegenden Krankenakten.172 Die Bogen sandte man anschließend an die Zentralverwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden.173 Wie der ärztliche Direktor Dr. Paul Schiese später aussagte, habe man – da in den Meldebogen ausdrücklich nach der Arbeitsfähigkeit gefragt wurde – den Eindruck gehabt, es sollte im Deutschen Reich ein System aus separaten Heilanstalten für Arbeitsfähige einerseits und Pflegeanstalten für Arbeitsunfähige andererseits eingeführt werden.174 Für die Landesheilanstalt Eichberg mit ihrem von „T4“ angeworbenen Direktor Dr. Fritz Mennecke stellte sich die Meldebogenerfassung nochmals anders dar als für die Anstalten Weilmünster und Herborn. Besonders da Mennecke in den wahren Zweck der Erhebung schon vorab eingeweiht war, erhielt die Ausfüllung der Bogen eine andere Wertigkeit – und dies insbesondere deshalb, weil Mennecke dazu neigte, mit seinem Wissen zu prahlen (und damit auch die Geheimhaltung aufs Spiel zu setzen). Bereits nach seiner ersten Unterrichtung durch „T4“ kündigte er in der Eichberger „Konferenz“ (an der neben den Ärzten auch Oberpfleger und -schwester teilnahmen) die kommende „planwirtschaftliche Erfassung der Anstaltsinsassen“ an, und nach Erinnerung einer Teilnehmerin deutete er dabei bereits an, dass die nicht arbeitsfähigen Patientinnen und Patienten nicht überleben sollten.175 Viel sagend schrieb Mennecke in diesen Monaten auch seinem künftigen Stellvertreter, dem mit der Waffen-SS nach Norwegen eingezogenen Dr. Walter Schmidt: Im Rahmen einer „wichtigen Sonderaufgabe“ sei er, Mennecke, mit einer „Kommission aus der Kanzlei des Führers“ in „der Ostmark“ gewesen. „Unsere Aktion umfasste fast alle ostmärkischen Anstalten [...]. Den Sinn der Sonderaufgabe erfahren Sie später, da es sich vorläufig noch um eine ‚geheime Reichssache‘ handelt.“176 Den Nachsatz darf man wohl allenfalls als Alibibemerkung betrachten, denn in Wirklichkeit konnte die Gedankenkette „Sonderaufgabe“ – „Anstalten“ – „geheime Reichssache“ jedem halbwegs Informierten vermitteln, dass die schon vor 1939 diskutierten Krankentötungen begonnen hatten.177 In der Anstalt Eichberg wurden – ebenso wie in Herborn – die übrigen Ärzte in die Ausfüllung der Meldebogen eingebunden, doch auch 168 Stöckle, Aktion (1996), S. 18. Walter, Psychiatrie (1996), S. 715 f. 170 Teppe, Massenmord (1989), S. 15. – Steinmeyer war seit 01.05.1929 NSDAP-Mitglied u. wurde im Dez. 1939 zum Dir. in Marsberg ernannt: ebd. 171 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 22 (am 01.04.1940: 831 Männer und 834 Frauen); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1993, Ho., Wi., Teil 1, Bl. 71, BV Nassau an Wehrbezirkskommando Wetzlar (03.05. 1940), Abschr. (darin angegeben „z. Zt. 1600 Geisteskranke“). 172 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 202, Protokoll d. Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). 173 Ebd., Bd. 2, Bl. 84 f., Aussage Dr. Ernst B. ggü. der Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), hier Bl. 84; ebd., Bl. 190 f., Aussage Dr. Paul Schiese ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (28.02.1946), Durchschr., hier Bl. 190; als Abschr. auch in LWV, Best. 19/15. 174 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 152, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12. 1946). 175 Ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg (ehem. Oberschwester) als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.1946), hier Bl. 13. – Mennecke selbst wusste 1946 „nicht mehr genau“, ob er „den wahren Grund der Erfassung bei dieser ersten Konferenz etwa schon angedeutet“ habe: ebd., Bd. 4, Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). 176 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an Dr. Walter Schmidt (29.06.1940), als Abschr. auch in ebd., Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 12, Bl. 11, Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 158–160 (Dok. 51), hier S. 159. – Zu Dr. med. Walter Schmidt (1911–1970) siehe biogr. Anhang. 177 Zu dieser Diskussion siehe Kap. III. 3. c). 169 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 393 Direktor Mennecke selbst beteiligte sich daran;178 ja sogar erwähnter Dr. Steinmeyer aus Warstein füllte auf dem Eichberg Meldebogen aus.179 Die Art der Meldebogenerfassung durch die Anstalt Hadamar bietet einen klaren Beleg dafür, dass dieses Erhebungsverfahren von manchen Beteiligten nur als ein Alibi verstanden wurde, um der Tötungsaktion den Anschein einer wissenschaftlichen Fundierung zu geben. In der dortigen Anstalt, die Mitte 1940 größtenteils als Wehrmachtslazarett genutzt wurde, wo unterdessen kein Arzt des Bezirksverbandes mehr für die verbliebenen rund 150 Heilanstaltspatienten vor Ort war, füllte nämlich der oberste Verwaltungsbeamte, der Landessekretär Alfons Klein, die Bogen aus und übersandte sie an die Landesheilanstalt Eichberg. Dort brauchte Mennecke, der in dieser Zeit Hadamar ärztlich mitbetreute, lediglich noch seine Unterschrift darunter zu setzen, um den Bogen den Anschein von ärztlichen Gutachten zu geben.180 In gleicher Weise wie die eigentlich verbandsangehörigen Landesheilanstalten beteiligten sich auch die „angeschlossenen“, von Bernotat persönlich als Vorstand geführten181 Anstalten Kalmenhof (in Idstein) und Scheuern (bei Nassau/Lahn) an der Meldebogenaktion. In der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof füllte die Assistenzärztin Dr. Mathilde Weber, die seit der Einberufung ihres Chefs Hans Bodo Gorgaß Ende 1939 das Krankenhaus der Behinderteneinrichtung leitete, innerhalb von vier Wochen über 1.000 Meldebogen aus, welche dann über das Wiesbadener Landeshaus an „T4“ gesandt wurden.182 Und in der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern bearbeiteten die Anstaltsärzte Dr. Adolf T. und Dr. Eugen A. die 500 eingegangenen Formulare, wie es heißt, zunächst ohne Wissen um deren Bedeutung. Doch auch hier offenbarte Mennecke seine Kenntnisse in einer Besprechung mit den beiden Ärzten und dem Anstaltsleiter Karl Todt, Monate bevor die Gasmorde in Hessen-Nassau begannen. Er erklärte, „daß es der Wunsch des Führers sei, unglückliche, unheilbare Kranke zu erlösen“ und dass „späterhin noch Verlegungen von Kranken aus dieser Anstalt in andere Anstalten erfolgen würden“. Wie Anstaltsarzt A. bekundete, sei man sich in Scheuern wohl bewusst gewesen, „daß es sich um Tötung von Menschen handeln sollte“, man sei aber in dem Glauben gewesen, „daß nicht die Grenzen überschritten werden sollten, die in der Schrift von Hoche und Binding von 1920 über die ‚Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ niedergelegt sind“.183 Die Einzelhinweise über die Informationen, die Mennecke unter dem Siegel der Verschwiegenheit bereits vor oder noch während der Meldebogenerfassung an verschiedene Führungskräfte in den Anstalten im Regierungsbezirk Wiesbaden weitergab, lassen vermuten, dass die Kenntnis über den tatsächlichen Zweck der Meldebogen sich innerhalb des Bezirksverbandes Nassau schon verhältnismäßig 178 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. HvTag (03.12.1946); ebd., Bl. 93, Zeugenaussage Dr. Leopold C. im Eichberg-Prozess, 5. Hv-Tag (09.12.1946); ebd., Bl. 110, Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946). 179 Ebd., Bd. 4, Bl. 11, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946). 180 LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 123, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Oberpräsident „(Verw. des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, Kassel, sowie abschriftl. an BV Nassau, Abt. A (SII), Wiesbaden, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten zum Erlass des Herrn Reichsminister des Innern vom 14. 6. 1940. Aktz. IVg 6157/40 – 5100“ (18.07.1940), Durchschr. – Zur seinerzeitigen Nutzung der Anstalt siehe LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 121, „Meldebogen 2“, ausgefüllt von der LHA Hadamar (o. D. [ca. Juli 1940]), Abschr. (danach Patientenzahl am „Stichtag“ [= 01.07.1940]: 158); siehe dazu auch Kap. IV. 2. b). 181 Zur Gleichschaltung der beiden Anstalten und zur Einführung des Führerprinzips siehe Kap. III. 1. a). 182 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage Mathilde Weber in Idstein (28.04.1945); Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 35; Frankfurter Rundschau (21.01.1947), „Der Kalmenhof-Prozeß begann. ‚Sie haben sich kein Gewissen gemacht‘. Das Gift im Abendessen. 232 Jugendliche in die Gaskammern geschickt“, als Faks. auch ebd. (Sick), S. 117 f. – Dr. Mathilde Weber (* 1909) war seit Juli 1939 Ärztin im Kalmenhof: ebd. (Sick), S. 34; siehe auch Kap. V. 1. b) und biogr. Anhang. – Hans Bodo Gorgaß war seit 01.12.1939 einberufen: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Gorgaß, Hans Bodo, Teil 2, Bl. 62/66, Melde- und Personalbogen I zu § 81 des Bundesgesetzes zu Art. 131 GG (o. D. [ca. 1953/54]); zu Gorgaß (1909– 1990er Jahre) siehe auch Kap. IV. 2. c) u. biogr. Anhang. 183 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 21 f., Protokoll d. Vernehmung Dr. A. b. d. StAnw Koblenz (03.04.1946), hier Bl. 21 (betr. Unterrichtung durch Mennecke); Urteilsbegründung im Verfahren gegen den Leiter der Anstalt Scheuern, Karl Todt, und gegen den Anstaltsarzt Dr. T., hier nach dem auszugsw. Abdr. in Skizzen (1990), S. 31/33/35/37, hier S. 31 (dort Angabe über angebliches Unwissen). – In Scheuern traf die Meldebogensendung nicht – wie für den BV Hessen belegt, am Freitag, 28.06.1940 ein, sondern erst am darauf folgenden Montag, 01.07.1940: AHS, RMdI, Az. IV g 6157/40 – 5100, gez. i. V. Conti, an HEPA Scheuern, Bergnassau (14.06.1940, Eingangsstempel: 01.07.1940), mit den Anlagen 500 „Meldebogen 1“, „Merkblatt“, „Ergänzungsblatt zum grünen Merkblatt“ u. „Meldebogen 2“. – Zur erwähnten Schrift Binding/Hoche, Freigabe (1920) siehe die Ausführungen in Kap. III. 3. c). 394 IV. Zeit der Gasmorde früh relativ weit verbreitet hatte. Ein paralleles Verhalten zu dem Menneckes legten auch andere „T4“„Gutachter“ an den Tag, wie beispielsweise die beiden Mitwirkenden aus Bonn, Prof. Dr. Kurt Pohlisch und Dr. Friedrich Panse, welche verschiedene Stellen – Anstaltsärzte, aber auch kirchliche Stellen – über die Bedeutung der „T4“-Meldebogen informierten.184 Wie für Weilmünster, Herborn und den Kalmenhof bereits gezeigt, geschah die Meldebogenrücksendung nach Berlin dem Grundsatz nach über die Zwischenstation der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden; für diese interne Rückgabe hatte Landeshauptmann Traupel den Anstalten ursprünglich den 25. Juli 1940 als Frist gesetzt.185 Dieser Rücksendemodus scheint aber nicht durchgehend so praktiziert worden zu sein. Insbesondere in den Fällen, in denen Mennecke persönlich involviert und seine übergeordnete Funktion zur Sprache gekommen war, fungierte auch er möglicherweise als Empfänger oder Übermittler der ausgefüllten Bogen.186 Für die Anstalt Scheuern führte Bernotat erst ein Jahr später – im August 1941 – die Regel ein, dass die Meldebogen (welche für neue Patienten weiterhin im halbjährlichen Turnus abzugeben waren) „zukünftig termingemäss zunächst mir vorzulegen“ seien. Er, Bernotat, werde „sie dann von hier aus dem Herrn Reichsminister des Innern übersenden.“187 Die Befunde aus dem Bereich des Bezirksverbandes Nassau führen zu dem Schluss, dass dem Modus der Meldebogenrücksendung keine prinzipielle, starre Regelung durch „T4“ zugrunde lag. Vielmehr wurde flexibel jeweils die Variante gewählt, die – nach Einschätzung der Eingeweihten – zugleich ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit bei der Ausfüllung und ein Maximum an Geschwindigkeit erwarten ließ. Dieses flexible Eingehen auf die jeweiligen Verhältnisse ohne eine Beachtung starrer Verwaltungsvorschriften war bereits im allerersten Erlass des Reichsministeriums des Innern im Zusammenhang mit der „T4“-Mordaktion angelegt, in dem es hieß, das Ministerium plane, mit den Anstalten direkt Kontakt aufzunehmen, werde aber die Unterstützung der vorgesetzten Dienststellen einfordern, sofern die Bogen nicht rechtzeitig zurückgesandt würden.188 Eine flexible Anpassung in der Frage der Meldebogenrücksendung an die jeweiligen praktischen Umstände lässt sich auch für andere Länder oder Provinzialverbände belegen. So heißt es etwa für das Land Hessen, dass dessen Heil- und Pflegeanstalten die Meldebogen im Allgemeinen unmittelbar an „T4“ in Berlin schickten,189 dass die Weitergabe der Meldebogen aber wahrscheinlich mindestens einmal auch über die Darmstädter Landesregierung er184 Leipert, Beteiligung (1987), S. 28 f. – Prof. Dr. Kurt Pohlisch (1893–1955) war 1934–1945 u. 1952–1955 Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Univ. Bonn und leitete 1934–1945 die PHA Bonn. – Prof. Dr. Friedrich Panse (1899–1973) versah 1933–1945 einen Lehrauftrag für „Rassenhygiene“ an der Univ. Bonn und war 1955–1967 Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Med. Akademie Düsseldorf u. Dir. d. Rhein. Landeskrankenhauses Düsseldorf-Grafenberg. 185 LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 118 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an die LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (05.07.1940), hier als Abschr. vom selben Absender, gez. i. V. Traupel, an LHAen Eichberg, Hadamar, Herborn u. Weilmünster, hier Hadamar (o. D. [05.07. 1940], Eingang: 06.07.1940), hier Bl. 118. 186 Z. B. heißt es über die ausgefüllten Bogen in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 178, Aussage Dr. Otto Henkel ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (22.08.1946), „m[eines] W[issens] wurden sie entweder an Dr. Mennecke oder an den Bezirksverband in Wiesbaden versandt“. – Auch für die LHA Eichberg ist eine direkte Weitergabe durch Mennecke an „T4“ anzunehmen, zumindest ist dort – anders als bei den anderen Anstalten – an keiner Stelle in den vielen Aussagen eine Rücksendung über das Wiesbadener Landeshaus erwähnt. – Von der LHA Hadamar wurde den Traupel’schen Verwaltungen in Kassel (PV u. BV) die Rücksendung der Meldebogen über Mennecke angekündigt, und die Verwaltung des BV Nassau in Wiesbaden wurden nur abschriftlich darüber informiert: LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 123, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Oberpräsident „(Verw. des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, Kassel, sowie abschriftl. an BV Nassau, Abt. A (SII), Wiesbaden, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten zum Erlass des Herrn Reichsminister des Innern vom 14. 6. 1940. Aktz. IVg 6157/40 – 5100“ (18.07.1940), Durchschr. – Bernotats Sekretärin meinte in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 182 f., Zeugenaussage Therese H. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), hier Bl. 183, sogar: „M[eines] W[issens] wurden die Meldebogen von den einzelnen Anstalten unmittelbar nach Berlin versandt, sodass sie nicht über den Bezirksverband gingen.“ – Diese Einschätzung scheint aber aufgrund der anderen Aussagen als zu weit gehend. 187 AHS, Der Vorsitzende d. HEPA Scheuern, Wiesbaden, gez. Bernotat, an HEPA Scheuern, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten; Erlass des Herrn Reichsministers des Innern vom 14. 6. 1940 IVg 6157/40 – 5100“ (04.08.1941). 188 Friedlander, Weg (1997), S. 135 f. u. S. 504 (Anm. 87), mit Hinweis auf GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611–1733], RdErl. d. RMdI, gez. Conti, an die außerpreuß. Landesregierungen, die preuß. RPen u. die Landeshauptleute der Ostmark, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (21.09.1939). 189 StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Aussage Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 18; ebd., Bl. 50, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. Polizeipräsidium Darmstadt (08.01.1947); ebd., Bl. 105, RP Darmstadt an LG Darmstadt, Untersuchungsrichter (30.11.1948), unter Bezugnahme auf eine Auskunft des Gießener Anstaltsdirektors Dr. Schneider. 395 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde folgte.190 Auch im Provinzialverband Westfalen wurde die ursprüngliche Planung modifiziert, und zwar zur Beschleunigung des Verfahrens. Nachdem die Provinzialverwaltung ursprünglich von den Anstaltsleitern gefordert hatte, die fertigen Meldebogen zur Sammlung an das Landeshaus in Münster zu schicken, verzichtete der Verband schließlich, um Zeit zu sparen, darauf und begnügte sich damit, dass die Anstaltsleiter monatlich berichteten, wie viele Bogen sie bereits nach Berlin gesandt hatten.191 Nach Eingang der Meldebogen bei „T4“ in Berlin wurden von jedem Bogen drei Kopien angefertigt; diese Kopien wurden an drei verschiedene „Gutachter“ weitergesandt, die (hauptsächlich nach den Kriterien „Heilungsaussicht“ und „Arbeitsfähigkeit“) über Leben und Tod des erfassten Menschen entschieden. Für den Fall, dass die drei „Gutachter“ in ihrer Bewertung nicht übereinstimmten, fällte abschließend einer der „T4“-Obergutachter (Dr. Herbert Linden, Prof. Dr. Werner Heyde oder Prof. Dr. Paul Nitsche) das abschließende Urteil.192 Wie den anderen „Gutachtern“ sandte „T4“ die Meldebogenkopien auch Mennecke zur Bewertung zu, der diese dann meist zu Hause bearbeitete; seiner Schätzung nach belief sich die Zahl der von ihm bewerteten Bogen auf eine Größenordnung von 6.000 oder 7.000 Stück.193 Die Eichberger Verwaltung war bereits instruiert und sandte ihm mitunter die eingegangen Bogen nach, wenn er sich gerade auf einer seiner „Begutachtungs“reisen befand.194 Solche Reisen setzte „T4“ verschiedentlich an, um die Meldebogenausfüllung in bestimmten Regionen voranzutreiben – sei es aus Zeitdruck, sei es weil Anstaltsleiter selbst die Ausfüllung nicht oder nicht vollständig durchgeführt hatten. Derartige Reisen führten den Eichberger Direktor Mennecke in den Jahren 1940 und 1941 in eine Vielzahl von Anstalten im Rheinland, in Westfalen, in Bayern sowie in den österreichischen Reichsgauen; 1941/42 selektierte er darüber hinaus im Rahmen der so genannten „Sonderbehandlung 14f13“ in den KZs Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, Buchenwald, GroßRosen, Auschwitz und Flossenbürg solche Häftlinge, die anschließend in den Gaskammern verschiedener „T4“-Anstalten ermordet wurden.195 Mennecke wollte im Nachkriegsprozess nicht bestreiten, dass die „Gutachter“tätigkeit, für die er eine monatliche Sondervergütung von 200 RM zuzüglich Reisespesen von „T4“ erhielt, ihm „eine gewisse Genugtuung“ bereitet habe.196 * Der Mord an psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen, der in den Jahren 1940 und 1941 in Gaskammern begangen wurde, war von vornherein als zentral organisierte Tötungsaktion angelegt. 190 Ebd., Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 102; vgl. auch ebd., Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 4, Zeugenaussage Peter M. b. d. Vernehmung durch d. StAnw Ffm in Goddelau (11.08.1948), worin der langjährige Verwaltungsangestellte der LHPA „Philippshospital“ bei Goddelau bemerkte, er „möchte annehmen, dass der damalige Direktor Dr. Scriba [...] die Meldebogen beraten und nach Ausfüllung diese nach Darmstadt weitergeleitet hat.“ 191 Walter, Psychiatrie (1996), S. 714 f. 192 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, QR, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Fritz R. ggü. d. LG Ffm in Berlin (02.11.1963), Kopie („T4“-Mitarbeiter, der die Meldebogen kopierte und zur Versendung vorbereitete); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 344 f.; Stöckle, Aktion (1996), S. 18. – Zu den Personen der Obergutachter siehe z. B. Aly, Aktion (1989), S. 15; Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 36. 193 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 11 f. bzw. Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im EichbergProzess, 1. bzw. 2. Hv-Tag (02. bzw. 03.12.1946) (dort die Schätzung 6.000); ebd., Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 228 (dort Menneckes Schätzung 7.000); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Eva Mennecke, Eichberg, an Fritz Mennecke, z. Zt. Oranienburg (04.–09.04.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 186–191 (Dok. 66), hier S. 186 (04.04.1941) (die Ehefrau Eva Mennecke meldete den Eingang „eine[r] Briefsendung von Berlin von 54 Fragebögen“ und bedauerte, „daß ich davon nichts erledigen kann, dann hättest Du doch mal nichts tun, wenn Du zurückkommst.“ 194 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld (zeitweise Bad Oeynhausen), an Eva Mennecke (21.–24.02. 1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 176–183 (Dok. 63), hier S. 178 (21.02.1941) (ihm wurde „vom Eichberg: ein Einschreiben von Berlin, neue Photocopien von Kinderfällen“ nachgesandt). – In diesem konkreten Fall handelte es sich wahrscheinlich nicht um „T4“-Bogen, sondern um solche der sog. „Kindereuthanasie“ des „Reichsausschusses“, siehe dazu Kap. V. 1. b). 195 Zu den Quellen und den Daten im Einzelnen siehe Sandner, Eichberg (1999), S. 187, S. 212 (Anm. 120–125); insb. die dort nachgewiesenen Fundstellen in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, bzw. in Mennecke (1988); zur sog. „Sonderbehandlung 14f13“ siehe die in Kap. IV. 3. c) zitierten Literaturnachweise. 196 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 50, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 4. HvTag (06.12.1946) (Zitat „[...] Genugtuung“); ebd., Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 228 (betr. Sondervergütung). 396 IV. Zeit der Gasmorde Die hierzu eingerichtete Organisation „T4“ war jedoch bereits in der Vorbereitungsphase auf umfangreiche Beiträge von Kooperationspartnern in den Regionen angewiesen, zunächst insbesondere, um Zugang zu den Informationen über die Unterbringungsorte, die Anzahl und die Erkrankungs- oder Behinderungsarten der künftigen Mordopfer zu gewinnen. Aber auch bei der Rekrutierung von ärztlichen „Gutachtern“ benötigte und erhielt die Mordorganisation von Anfang an Unterstützung seitens regionaler Stellen. Die Führung des Bezirksverbandes Nassau leistete bereits vergleichsweise früh „Amtshilfe“, indem sie die von „T4“ gewünschte U.-k.-Stellung von Dr. Friedrich Mennecke, dem ärztlichen Direktor der Landesheilanstalt Eichberg, beantragte und betrieb, um diesem die Mitarbeit bei „T4“ zu ermöglichen. Generell waren die Anstaltsdezernate der preußischen Provinzial- und Bezirksverbände sowie die Medizinalabteilungen der außerpreußischen Landesregierungen die Hauptansprechpartner von „T4“ bei der Vorbereitung der Morde. Durchweg wurden die jeweils für die Psychiatrie oder das Anstaltswesen Verantwortlichen zu örtlichen „Sonderbeauftragten“ der Mordorganisation gemacht. Die (scheinbare) Legitimation für diesen Auftrag verschaffte das informelle Konglomerat „T4“ sich je nach Bedarf – und wohl auch je nach Haltung des Angesprochenen – über Parteireferenzen oder über die amtliche Einschaltung der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums. Allein schon durch die Einweihung dieser „Sonderbeauftragten“, die ihrerseits mitunter einzelne Mitarbeiter, Anstaltsleiter usw. informierten, verbreiteten die Kenntnisse über die geplanten (bzw. bereits begonnenen) Morde sich zwangsläufig recht weitgehend im Deutschen Reich, wozu außerdem aber auch die anscheinend für unumgänglich gehaltene Informationsweitergabe an Partei- und kommunale Stellen (Gauleitungen, Oberbürgermeister) durch „T4“ beitrug. Die „Sonderbeauftragten“ bei Provinzial- oder Bezirksverbänden und Landesregierungen oder Reichsgauen ließen sich allesamt in die Mordplanungen von „T4“ einbinden. Mögliche Widerstandserwägungen – sollten sie denn bestanden haben – führten nicht zur Realisierung. Der Bezirksverband Nassau mit dem „Sonderbeauftragten“ Anstaltsdezernent Bernotat fügte sich nahtlos in die Planungen ein und unterstützte „T4“, ohne Hürden zu errichten. Zur ersten Nagelprobe für die Zuverlässigkeit der jeweiligen „Sonderbeauftragten“ in den Regionen wurde die Meldebogenerfassung. Da diese Erhebung nicht überall zeitgleich stattfand, sondern nach Regionen gestaffelt, nahm der Kenntnisstand über die wirklichen Hintergründe der Erfassung im Laufe der Zeit zu: Da die Meldebogen im Bezirksverband Nassau erst relativ spät, nämlich ein Dreivierteljahr nach Beginn der Erfassungsaktion, eintrafen, konnten zum Teil Kenntnisse über den Zweck der Meldebogen sich verbreiten. Anders als vereinzelt in konfessionellen Anstalten lässt sich ein Widerstand gegen die Meldebogenausfüllung im Bezirksverband Nassau nicht erkennen. Der seit Kriegsbeginn in den Anstalten verschärft herrschende Personalmangel drohte allerdings zum Hindernis für eine schnelle Meldebogenbearbeitung zu werden. Umso mehr kam der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes die Rolle zu, mögliche Hürden für eine rasche Erledigung des Erfassungsauftrags (wie in Weilmünster) pragmatisch und unbürokratisch aus dem Weg zu räumen. Voraussetzung hierzu war die umfassende Information zumindest der Führungsriege aus Landeshauptmann, Personaldezernent und Anstaltsdezernent. Indem die regionalen „Sonderbeauftragten“ und damit auch die Verwaltung des Bezirksverbandes die fristgerechte Ausfüllung der Meldebogen sicherstellten und auch deren Rücksendung nach Berlin entweder gesammelt selbst vornahmen oder doch von Wiesbaden aus überwachten, trugen sie dazu bei, die Mordaktion „T4“ möglichst reibungslos in Gang zu setzen. In dieser frühen Phase der Mordplanung reihte der Bezirksverband Nassau sich engagiert in die Riege der Unterstützerorganisationen von „T4“ ein. Er nahm dabei jedoch, obwohl er 1937 die Anstaltsfürsorge als sein Musterarbeitsfeld gewählt hatte,197 keine besonders hervorgehobene Stellung ein, durch die er sich erheblich von anderen Provinzialverbänden oder Landesverwaltungen unterschieden hätte – sieht man vielleicht einmal von der U.-k.-Stellung Menneckes ab. Eine prominentere Stellung sollte dem Bezirksverband im Rahmen der Kranken- und Behindertenmorde dann jedoch bereits wenige Monate später zukommen, als er seine Landesheilanstalt Hadamar der Organisation „T4“ als Mordstätte zur Verfügung stellte. 197 Zu dieser Schwerpunktsetzung siehe Kap. III. 1. a). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 397 b) Auswahl und Einrichtung der Gasmordanstalt Mit der Bereitstellung seiner Landesheilanstalt Hadamar als Gasmordanstalt für die Krankenmordorganisation „T4“ ab November 1940 hob der Bezirksverband Nassau sich von allen anderen preußischen Provinzial- und Bezirksverbänden ab, da er der einzige unter ihnen war, der in seinen Räumlichkeiten eine „T4“-Anstalt installieren ließ. Während „T4“ bei der Meldebogenerfassung auf die Unterstützung sämtlicher regionaler Träger des Anstaltswesens angewiesen war und diese auch erhielt,198 ging man bei der Auswahl und Einrichtung der – vom ärztlichen „T4“-Leiter Nitsche so genannten – „Vollzugsanstalten“199 gezielt vor und versicherte sich der Kooperation einzelner Partner, auf deren uneingeschränkte Unterstützung man zählen konnte. Die „T4“-Zentrale richtete bis Ende 1940 sechs Gasmordanstalten nach geografischen Gesichtspunkten für vier Großregionen des Deutschen Reiches ein. In zwei dieser Regionen existierten zeitlich nacheinander jeweils zwei verschiedene Mordanstalten, die einander ablösten. Die Großregionen waren von „T4“ als „Einziehungsgebiete“ (Einzugsgebiete) definiert worden,200 aus welchen die Opfer kamen, die dann in der dortigen zentralen „T4“-Anstalt ermordet werden sollten. Jedes dieser Einzugsgebiete schloss dem Grundsatz nach mehrere Reichsteile – preußische Provinzen, außerpreußische Länder oder Reichsgaue (im Osten, im Sudetenland oder in Österreich) – ein, nur in einem Fall wurde eines dieser Territorien – nämlich das Land Bayern – variabel auf drei „T4“-Einzugsgebiete aufgeteilt. Die im Folgenden dargestellte Aufteilung der Einzugsgebiete ist nicht durch ein Schriftdokument oder durch Aussagen überliefert, sondern lässt sich hier nur aufgrund einer Vielzahl von Einzelbefunden rekonstruieren:201 1. Im nördlichen Einzugsgebiet gab es zunächst die Mordanstalt in der Stadt Brandenburg, die dann durch die Mordanstalt in Bernburg an der Saale abgelöst wurde. Die Mordopfer kamen aus den Anstalten Berlins, der preußischen Provinzen Brandenburg und Sachsen sowie der Länder Mecklenburg, Anhalt (wozu Bernburg zählte) und Braunschweig. Auch die Stadt Hamburg und die preußische Provinz Schleswig-Holstein waren dem Einzugsgebiet zuzurechnen, wenn auch Verlegungen von dort in die Mordanstalt Bernburg aufgrund des „Euthanasiestopps“ im August 1941 gar nicht bzw. in geringerem Ausmaß stattfanden. Umgekehrt waren Psychiatriepatienten aus den Anstalten in der Provinz Pommern, die geografisch ebenfalls zu dem nördlichen Einzugsgebiet zählte, zahlreich bereits Ende 1939/Anfang 1940 erschossen worden.202 2. Das östliche Einzugsgebiet mit der Gasmordanstalt Sonnenstein in Pirna an der Elbe umfasste neben dem Land Sachsen (wozu Pirna zählte) auch das Land Thüringen, die preußischen Provinzen Ostpreußen und Schlesien (ab Januar 1941 Nieder-/Oberschlesien), den Sudetengau sowie anfangs (bis Herbst 1940) die beiden bayerischen Bezirke Mainfranken sowie „Oberfranken und Mittelfranken“. Psychisch Kranke aus dem Reichsgau Danzig-Westpreußen, geografisch Teil des Sonnensteiner Einzugsgebiets, waren bereits 1939/40 im Rahmen der frühen Krankenmordaktionen ohne „T4“-Mitwirkung umgebracht worden, ebenso aus dem Reichsgau Wartheland;203 dennoch fielen 1941 auch Men198 Siehe dazu Kap. IV. 2. a). Aly, Fortschritt (1985), S. 14. Zur anfänglichen „Auswahl der Einziehungsgebiete“ durch die KdF vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015– 1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1019 (19.02.1947). 201 Grundlage dieser Rekonstruktion der „Einzugsgebiete“ der sechs Gasmordanstalten sind Einzelangaben in Kogon/Langbein/Rückerl, Massentötungen (1983), S. 34–36 (Darstellung v. Willi Dreßen); Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 52; Walter, Psychiatrie (1996), S. 669, Friedlander, Weg (1997), S. 163; Faulstich, Hungersterben (1998), S. 262 (Tab. 62), S. 316; Schilter, Ermessen (1999), S. 90–128, S. 273 (Anm. 381); Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 72, S. 95; Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 465 f. (Tabelle „T4-Transporte aus Bayerischen Anstalten in Tötungsanstalten“). – Die im Folgenden referierten Gebietszuordnungen wurden nicht immer zu 100 % eingehalten, so gibt es abweichend z. B. Belege für Verlegungen von den Anstalten Lüneburg, Hildesheim u. Göttingen (Hannover) sowie Scheuern (Hessen-Nassau) jeweils über Zwischenanstalten in die Mordanstalt Pirna-Sonnenstein: Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 218 (betr. PV Hannover); Schilter, Ermessen (1999), S. 81 (betr. Scheuern); Koppelmann, Zeit (2000), S. 31, S. 33 (betr. Scheuern); zu dieser Verlegung aus Scheuern siehe auch Kap. IV. 3. a); ebenso von der Anstalt Bedburg-Hau/Rheinprovinz (aus Gründen der Kriegsplanung) in die Anstalten Grafeneck und Brandenburg: Walter, Psychiatrie (1996), S. 669; auch jeweils ein „Transport“ von Lohr/Mainfranken nach Grafeneck und noch im Feb. 1941 von Kutzenberg/Oberfranken nach Sonnenstein: vgl. Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 466. 202 Zu den frühen Morden an Patient/inn/en aus Pommern siehe Kap. III. 3. c). 203 Zu den frühen Kranken- und Behindertenmorden in Danzig-Westpreußen u. dem Wartheland siehe Kap. III. 3. c). 199 200 398 IV. Zeit der Gasmorde schen aus westpreußischen Anstalten den Morden in Pirna-Sonnenstein zum Opfer, während dies für den Warthegau noch nicht sicher belegt ist. 3. Im südlichen Einzugsgebiet lag die Gasmordanstalt in Hartheim, nahe dem oberösterreichischen Linz/Donau im Reichsgau Oberdonau. Neben diesem Gau gehörten auch sämtliche anderen Reichsgaue des ursprünglich österreichischen Territoriums sowie der bayerische Bezirk „Niederbayern und Oberpfalz“ zu diesem Gebiet, schließlich (teils ab Sommer, teils ab Herbst 1940) auch die übrigen bayerischen Bezirke Schwaben, Oberbayern, Mainfranken sowie „Oberfranken und Mittelfranken“. 4. Das westliche Einzugsgebiet besaß zunächst eine Mordanstalt im württembergischen Grafeneck auf der Schwäbischen Alb, wo in erster Linie Menschen aus den Anstalten der Länder Baden und Württemberg sowie aus dem preußischen Bezirk Sigmaringen (Hohenzollern) und anfangs auch aus den bayerischen Bezirken Oberbayern (bis Frühjahr 1940) und Schwaben (bis Herbst 1940) ermordet wurden.204 Die Anstalt Grafeneck wurde abgelöst durch die „T4“-Anstalt Hadamar, wo hauptsächlich Kranke und Behinderte aus den übrigen Territorien dieses westlichen Einzugsgebiets den Morden zum Opfer fielen: aus den preußischen Provinzen Hessen-Nassau, Rheinprovinz, Westfalen und Hannover sowie dem Land Hessen. Die für 1941 vorgesehene Ermordung von Patienten aus den Ländern Lippe,205 Bremen und Oldenburg fand wegen des so genannten „Euthanasiestopps“ nicht mehr in der Hadamarer Gaskammer statt. Die Betroffenen kamen jedoch großenteils dann durch die anschließenden Medikamentenmorde ums Leben.206 Um sich Liegenschaften zu verschaffen, die für die (geheime) Einrichtung einer Gastötungsanstalt geeignet erschienen, stützte „T4“ sich sowohl auf eigene Kenntnisse als auch auf Hinweise oder Empfehlungen von Kooperationspartnern in den Regionen. Der letztlichen Auswahl ging im Allgemeinen eine Besichtigung des betreffenden Gebäudes voraus. Bevor schließlich die Landesheilanstalt Hadamar als letzte „T4“-Anstalt bestimmt wurde, hatte die Mordorganisation bereits Erfahrungen bei der Auswahl der fünf übrigen Gasmordanstalten sammeln können. Dabei ist auffällig, dass man überwiegend Standorte in solchen Territorien auswählte, in denen eine möglichst monolithische Führungsstruktur in Partei- und Staatsverwaltung anzutreffen war. Für das westliche Einzugsgebiet war zunächst, bereits Ende 1939, eine Anstalt im Südwesten des Reichs gesucht worden. Hier konnte der aus Baden stammende Ministerialrat Dr. Herbert Linden aus der Gesundheitsabteilung des Reichsministeriums des Innern als ein erster Hinweisgeber fungieren. Gemeinsam mit weiteren „T4“-Verantwortlichen, darunter Viktor Brack von der Kanzlei des Führers, bereiste er im Oktober 1939 Württemberg auf der Suche nach einem geeigneten Standort. Nach der Besichtigung von zwei anderen möglichen Einrichtungen wurde man schließlich fündig in Grafeneck, das Dr. Eugen Stähle als Leiter der Medizinalabteilung des Stuttgarter Innenministeriums vorgeschlagen hatte. Das Samariterstift Grafeneck, eine Behinderteneinrichtung, einsam auf einem Bergrücken der Schwäbischen Alb gelegen, war im Mai 1939 durch das Stuttgarter Innenministerium (in einem anderen Kontext) inspiziert worden, sodass dort notwendige Detailinformationen bereits vorlagen. Die „T4“-Leitung veranlasste nun, im Oktober 1939, die Räumung und Beschlagnahme der Immobilie. Die württembergische Regierung vollzog diese binnen weniger Tage unter Bezug auf das „Reichsleistungsgesetz“, das ursprünglich für Beschlagnahmungen zu Wehrzwecken verabschiedet worden war, das seit dem Vormonat aber auch „andere staatliche oder mit staatlichen Aufgaben betraute Stellen“ als Leistungsberechtigte nannte.207 Nicht unerheblich für diesen 204 Offenbar zu keinem der Einzugsgebiete zählten der bayerische Bezirk Pfalz und das Saarland, da die dortigen Anstalten schon 1939 aus Kriegsgründen geschlossen und die Kranken in andere Anstalten (die pfälzischen im übrigen Bayern u. die saarländischen im BV Nassau) verteilt worden waren und von dort aus im Rahmen der Meldebogenaktion erfasst wurden; vgl. Faulstich, Hungersterben (1998), S. 316, S. 336, S. 381 f.; Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 462. 205 Die lippische Anstalt Lindenhaus in Lemgo wurde von Dr. F. Mennecke (wohl 1941) bei einer „Begutachtungs“reise aufgesucht: vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1370, IJ, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage [der „T4“-Schreibkraft] Liselotte J. ggü. d. LG Ffm in Jülich (23.11.1965). 206 Zu den späteren Morden an bislang überlebenden Patienten (u. a. aus Nordwestdeutschland) siehe Kap. V. 2. a) u. V. 3. b). 207 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 82 f., S. 90, S. 94; Morlok, Reichssache (1985), S. 10; Schneider, Chronik (1985), S. 277; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 218 f.; Stöckle, Aktion (1996), S. 18–20, S. 148 (Anm. 47); Walter, Psychiatrie (1996), S. 655; Friedlander, Weg (1997), S. 158 u. S. 511 (Anm. 25–27). – Zur gesetzlichen Grundlage der Beschlagnahme: „Gesetz über Sachleistungen für Reichsaufgaben (Reichsleistungsgesetz)“ (in der Fassung vom 01.09.1939), veröffentlicht durch RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 166 (05.09.1939), S. 1645–1654, „Bekanntmachung der neuen Fassung des Gesetzes über Leistungen 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 399 reibungslosen Ablauf dürfte gewesen sein, dass in Württemberg mit Wilhelm Murr208 ein Mann das Sagen hatte, der seit 1939 vier maßgebliche Staats- und Parteiämter in seiner Person vereinigte: Er war in Stuttgart zugleich Gauleiter, Reichsstatthalter, Innenminister und der zuständige Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis V.209 Eine noch höherrangige Ämterballung – nämlich dieselbe Konstellation wie in Stuttgart, jedoch statt des Ministeramtes die Führung der jeweiligen Landesregierung – war in den außerpreußischen Ländern des „Altreiches“ nur in Anhalt (unter Gauleiter Jordan), in Sachsen (unter Gauleiter Mutschmann) und in Hessen (unter Gauleiter Sprenger, der zunächst jedoch nur für ein Teilgebiet das Amt des Reichsverteidigungskommissars innehatte) anzutreffen. Alle drei genannten NS-Größen sollten bei der Auswahl von weiteren „T4“-Standorte eine Rolle spielen. In Brandenburg, wo die Morde Anfang 1940 begannen, fiel die Wahl nicht (wie in allen anderen Fällen) auf eine Anstalt der Psychiatrie oder Behindertenhilfe, sondern „T4“ richtete einen Gasmordtrakt in einem Teil des Zuchthauses Brandenburg ein.210 Unter anderem hierdurch konnte der für die Landesheilanstalten zuständige Potsdamer Landeshauptmann Dietloff von Arnim umgangen werden, der nicht als uneingeschränkter Anhänger der NS-„Euthanasie“ eingestuft wurde.211 Bei der Standortwahl wäre an eine Beteiligung des brandenburgischen Oberpräsidenten Emil Stürtz in Potsdam zu denken, der zugleich NSDAP-Gauleiter im Gau Mark Brandenburg war und der seit Kriegsbeginn ebenfalls das Amt des Reichsverteidigungskommissars im betreffenden Wehrkreis (hier Wehrkreis III) ausübte.212 Ab Ende 1940 löste die Anstalt Bernburg die dann stillgelegte Mordanstalt Brandenburg ab. Im Lande Anhalt, das die Anstalt Bernburg unterhielt, lag die beinahe unumschränkte Macht bei einem überzeugten Befürworter der „T4“-Krankentötungen, bei dem aus dem Kreis Fulda stammenden Rudolf Jordan. Wie erwähnt war dieser – analog zu Murr in Stuttgart und zu Stürtz in Potsdam – in Dessau zugleich Gauleiter sowie Reichsstatthalter und übte das Amts des Reichsverteidigungskommissar im dortigen Wehrkreis XI aus, zudem war er Führer der anhaltischen Landesregierung.213 Jordans Haltung wird mitentscheidend dafür gewesen sein, dass der Organisation „T4“ die Einrichtung einer Mordstätte in der „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Anhaltinische Nervenklinik“ gestattet wurde. Nachdem der „T4“-Koordinator Viktor Brack und der Leiter der „T4“-„Inspektionsabteilung“, Adolf Kaufmann,214 die am Stadtrand liegende Einrichtung im Sommer bzw. im September 1940 besichtigt und für geeignet befunden hatten, ließ man eine Hälfte der Anstalt für „T4“ beschlagnahmen, während in der anderen Hälfte der herkömmliche Psychiatriebetrieb unter Regie der anhaltischen Landesbehörde weiterlief.215 für Wehrzwecke (Wehrleistungsgesetz)“, hier insb. S. 1646 (§ 2 Abs. (1) d. Gesetzes: Zitat „andere staatliche [...]“); vgl. auch RGBl. I, Jg. 1938, S. 877, „Gesetz über Leistungen für Wehrzwecke (Wehrleistungsgesetz)“ (13.07.1938); vgl. auch RGBl. I, Jg. 1939, S. 1639–1644, „Verordnung zur Änderung des Wehrleistungsgesetzes“ (01.09.1939). 208 Zu Wilhelm Murr (1888–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Weiß, Lexikon (1998), S. 329; Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 7 (1998), S. 314; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 f. (Anm. 52); Schwarz, MdR (1965), S. 718. 209 Zum Amt des Reichsverteidigungskommissars siehe auch Kap. IV. 3. c). 210 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 109; Friedlander, Weg (1997), S. 157; Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 199. 211 Zu diese Einschätzung siehe die Angaben in Kap. IV. 2. a). – Allerdings engagierte auch LH v. Arnim sich schließlich für einen reibungslosen Ablauf der „T4-Aktion“, z. B. indem er im Spätsommer 1940 den Amtsrichter Lothar Kreyssig aufforderte, die Wegverlegung seiner Mündel [im Rahmen der „T4-Aktion“] aus den Anstalten des PV Brandenburg zu akzeptieren, „weil es sich um kriegswichtige Wehrinteressen handele“: Bericht Kreyssig (1968), hier zit. n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 141; zum Kontext siehe auch Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 253. 212 Zu den Ämtern von Emil Stürtz, seit 1937 OP d. Provinz Brandenburg, siehe Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 (Anm. 52); Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 263 (Anm. 80). 213 Zur Einschätzung, dass Rudolf Jordan der „Aktion unbedingt positiv gegenüber[stand]“, siehe Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 191; zu Jordans Ämtern und der Parallelität mit Sachsen u. Hessen siehe Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 247; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 f. (Anm. 52). – Zu Rudolf Jordan (1902–1988) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 215, S. 153 f. (Anm. 52); Weiß, Lexikon (1998), S. 244 f. 214 Zu Adolf Kaufmann (1902–1974) siehe biogr. Anhang; zu Kaufmann und zur Frage der „T4“-Inspektionsabteilung siehe auch weiter unten in diesem Kap. IV. 2. b). 215 Zur Geschichte der Anstalt während des Nationalsozialismus siehe insg. Schulze, „Euthanasie“ (1999); zur Auswahl u. Beschlagnahme der Anstalt 1940 siehe ebd., S. 63 f.; vgl. dazu auch Friedlander, Weg (1997), S. 162; siehe auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966) [im Folgenden zit.: „Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966)“], hier S. 24, mit Hinweis auf die Aussage des Zeugen B. (26.01.1966). 400 IV. Zeit der Gasmorde Die Auswahl der Mordanstalt Sonnenstein in Pirna für die östliche Großregion geschah in ähnlicher Art und Weise wie in Bernburg. Im Lande Sachsen gab es unter Gauleiter Mutschmann216 die beschriebene Ämterhäufung an den Spitzen von Parteigau, Land und Reichsverteidigungsbezirk; zudem war die Gesundheitsverwaltung mit überzeugten NS-„Euthanasie“-Befürwortern besetzt.217 Einen entscheidenden Anteil an der Bestimmung der Anstalt Sonnenstein dürfte der renommierte Psychiater Prof. Dr. Paul Nitsche gehabt haben, der die Anstalt als Direktor geleitet hatte, bis sie 1939 zu Lazarettzwecken für die psychiatrische Arbeit geschlossen wurde. Seit Anfang 1940 wirkte Nitsche bei „T4“ an maßgeblicher Stelle mit, übernahm 1941 gar deren ärztliche Leitung. Auch in Sachsen unternahmen die „T4“-Verantwortlichen Brack und Kaufmann Besichtigungsreisen, um sich von der Eignung eines möglichen „T4“-Standorts zu überzeugen. Bei dieser Gelegenheit fiel die Entscheidung, die zunächst ins Auge gefasste sächsische Anstalt Hubertusburg nicht weiter zu berücksichtigen, da dort zu viele Umbauten erforderlich gewesen wären. In Absprache mit dem Dresdner Innenministerium wählte Brack schließlich den Sonnenstein aus, eine ehemalige Festung auf einem Felsvorsprung oberhalb der Stadt Pirna, wo dann nach der Einrichtung der Mordanstalt in einigen Gebäuden auf dem früheren Anstaltsgelände die Tötungen im Juni 1940 begannen.218 Bevor die auf österreichischem Boden gelegene „T4“-Anstalt Hartheim im Mai 1940 eröffnet wurde, war keine Beschlagnahme mehr erforderlich. Die NSDAP hatte das betreffende Gebäude – ein Renaissanceschlösschen, in dem bislang eine Kinderpflegeeinrichtung untergebracht war, nämlich schon Anfang 1939 durch Enteignung in ihren Besitz gebracht. Der Vorschlag zur Auswahl des Schlosses, das von dem Dorf Hartheim umgeben ist, scheint von dem (bereits erwähnten) Leiter der „T4“Inspektionsabteilung, dem gebürtigen Österreicher Adolf Kaufmann, gekommen sein. Kaufmann kannte die Gegend, da er lange in Linz ansässig war.219 Eine monolithische Personalstruktur an der Spitze, wie sie im „Altreich“ nur in einigen Ländern anzutreffen war, war in den österreichischen Territorien von Vornherein, seit dem „Anschluss“, geschaffen worden: Das Amt des Gauleiters, das in diesem Fall August Eigruber in Linz ausübte, umfasste neben der obersten Parteiführung zugleich die Herrschaft über die Staats- und überörtliche Kommunalverwaltung im Reichsgau Oberdonau. Für die kommunalen Aufgaben (einschließlich der Anstaltsverwaltung) war dem Gauleiter zwar ein Gauhauptmann als Stellvertreter zugeordnet, der jedoch nicht über eine eigene Behörde verfügte.220 Zusammenfassend lässt sich bei der Standortwahl der ersten fünf „T4“-Gasmordanstalten eine Bevorzugung solcher Reichsteile feststellen, in denen eine möglichst homogene, auf einen regionalen „Führer“ konzentrierte Herrschaftsstruktur im Partei- und Staatssektor gab. Als idealtypisch können insofern Bernburg und Sonnenstein gelten. Die beiden Gauleiter Jordan und Mutschmann übten jeweils eine sehr weit gehende Herrschaft in den betreffenden Ländern Anhalt bzw. Sachsen aus, wo Landeseinrichtungen als Orte der Mordanstalten ausgewählt wurden. Eine ähnliche Machtfülle hatten auch die Gauleiter Stürtz (Brandenburg), Murr (Stuttgart) und Eigruber (Linz) inne. Im Unterschied zu Anhalt und Sachsen wurden der Organisation „T4“ jedoch in Brandenburg, Württemberg und Oberdonau nicht originäre Landesheilanstalten als Standorte für die Gasmordzentren überlassen, sondern der Teil eines Zuchthauses bzw. beschlagnahmte Immobilien, die sich ursprünglich in privater Trägerschaft befunden hatten. 216 Zu Martin Mutschmann (1879–1947 [oder 1948]) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Weiß, Lexikon (1998), S. 330; Schwarz, MdR (1965), S. 718; Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 7 (1998), S. 321. 217 Zur Gesundheitsverwaltung im MdI in Dresden siehe Kap. IV. 2. a). 218 Zur „T4“-Anstalt Sonnenstein/Pirna insg. siehe Schilter, Ermessen (1999); zur Auswahl, zur Alternative Hubertusburg u. zum Beginn der Morde siehe ebd., S. 67 f.; siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 161. – Zur Auflösung der HPA Sonnenstein im Okt. 1939 zu Lazarettzwecken siehe auch Böhm, Thesen (2000), S. 13. – Zur Mitwirkung Nitsches bei „T4“ siehe HStA Wi, Abt. 631a, GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611–1733], „Heidelberger Dokumente“, hier Bl. 127890 f., chronologische u. systematische „Gutachterliste“, hier nach dem Faks. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 228 f. („Gutachter“ ab Feb. 1940, Arzt „in der Zentrale“ ab Mai 1940). 219 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 24, mit Hinweis auf Aussage Franz Stangl (12.–15.09.1947); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 82; Aly, Aktion (1989), S. 199; Friedlander, Weg (1997), S. 160; Gedenkstätte (1998). – Zu Adolf Kaufmann (1902–1974) und seinen Bezügen zu Linz siehe biogr. Anhang. 220 Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 246, S. 274. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 401 Die „T4“-Anstalt Hadamar wurde schließlich im NSDAP-Gau Hessen-Nassau des Gauleiters Sprenger eingerichtet und somit im Einflussgebiet eines regionalen Führers, der wie seine Amtskollegen Murr, Mutschmann und Jordan ebenfalls zugleich Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar war und der zudem eine Landesregierung führte. Der entscheidende Unterschied bestand allerdings darin, dass Hadamar nicht im staatlichen Einflussgebiet Sprengers (dem Land Hessen) lag, sondern im preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden. Die einzige staatliche Funktion, die Sprenger hier ausüben konnte, war die des Reichsverteidigungskommissars.221 Unter den sechs „T4“-Anstalten war die Hadamarer die einzige, die in einer Immobilie eines preußischen Provinzial- oder Bezirksverbandes eingerichtet wurde. Auch der Auswahl und Einrichtung dieser sechsten und letzten „T4“-Anstalt, die schließlich im Januar 1941 mit den Gasmorden begann, scheinen Alternativüberlegungen vorausgegangen zu sein. Besonders um die langen Transportwege zu vermeiden und da die meisten Opfer aus Baden und Württemberg bereits ermordet waren, plante „T4“ im westlichen „Einzugsgebiet“ die Schließung der Anstalt Grafeneck und suchte einen aus Sicht der Organisatoren günstigeren Standort, um vor allem Patientinnen und Patienten aus dem Westen und Nordwesten des Reichs zu ermorden.222 Hessen-Nassau stellte dabei nicht die erste Wahl dar. Zunächst bemühte „T4“ sich, einen zentraleren Ort für die großen Provinzen Hannover, Westfalen und Rheinprovinz zu finden und die Anstalt weniger weit südlich anzusiedeln, als es dann mit Hadamar geschah. So gab es Ortstermine im Ruhrgebiet, an denen wie bei den früheren Standortsuchen erneut der „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann beteiligt war. Beispielsweise ließen er bzw. andere „T4“-Kollegen sich im Mai und Juni 1940 die im Pavillonstil erbaute evangelische Anstalt Tannenhof in Remscheid-Lüttringshausen zeigen, wobei mit einem Vertreter des Provinzialverbandes Rheinland die Frage diskutiert wurde, ob „sich davon [...] ein Gebäude abgliedern liesse“.223 „T4“ prüfte außerdem die Eignung der hannoverschen Anstalt Osnabrück.224 Es erwies sich als Problem, „daß sich für den Westen des Reiches zunächst keine geeignete Tötungsanstalt fand“.225 Schließlich scheint man sogar erwogen zu haben, die im Lande Oldenburg – und damit im äußersten Nordwesten – gelegene Anstalt Wehnen zu akquirieren. Deren ärztlicher Leiter bekundete später, es habe der Plan bestanden, Wehnen „als Sammelpunkt für Nordwestdeutschland anzusehen und die Verfahren hier durchzuführen.“226 Was schließlich den Ausschlag dafür gab, stattdessen die Anstalt Hadamar auszuwählen,227 und wer im Einzelnen in diesen Entscheidungsprozess einbezogen war, lässt sich bislang nicht mit letzter Sicherheit rekonstruieren. Allerdings erbringt ein Blick auf die Auswahl der fünf vorausgegangenen Mordanstalten manchen Hinweis auf entscheidende sachbezogene Kriterien. Die Anstalt Hadamar war verkehrsgünstig gelegen und verfügte mit der erst 1939 eröffneten Autobahn Wiesbaden – Limburg – Köln über eine gute Anbindung ans Rheinland, woher ein großer Teil der Mordopfer kommen sollte. Ein wichtiges Kriterium aus „T4“-Sicht war auch die geringe Größe der Anstalt, die unter den vier 221 Der Reichverteidigungsbezirk (Wehrkreis XII), für den Sprenger zuständig war, beinhaltete zwar nicht den gesamten Reg.Bez. Wiesbaden, wohl aber den westlichen Teil davon, im dem auch Hadamar lag: Ämter (1997), S. 87–89. 222 Die Gründe für die Schließung Grafenecks diskutiert Stöckle, Aktion (1996), S. 23, und kommt zu der Annahme, dass „Grafeneck als Tötungsanstalt sein vorgegebenes Plansoll erfüllt“ und dass der aufkommende „Protest allenfalls eine beschleunigende Wirkung [...] ausgeübt“ habe; mit demselben Tenor auch bereits Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 291. – Auch die Schließung der „T4“-Anstalt Brandenburg und ihre Ersetzung durch die Anstalt Bernburg geschah „wegen logistischer Probleme“ in Brandenburg: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 63. 223 Archiv Diakonisches Werk d. Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf, Best. Ohl, 89.8, zwei Aktennotizen des Chefarztes Dr. Wilhelm Philipps, Anstalt Tannenhof, an Otto Ohl, Rhein. Provinzialausschuss f. Innere Mission, betr. Besuche von Vertretern von „T4“ u. des PV d. Rheinprovinz in der Anstalt am 27.05.1940 (Kaufmann, Tillmann) bzw. 13.06.1940 (Tillmann, Kitz, Creutz) (geschrieben 28.05. bzw. 15.06.1940), hier zit. n. d. Abdr. b. Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 686 f. (Dok. 37) (das aus der zweiten Notiz stammende Zitat gibt indirekt eine Aussage des Düsseldorfer Landesrates Kitz wieder); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 6 f. (Hinweis auf eine Reise mit Hefelmann, Vorberg und Haus ins Ruhrgebiet zwecks Auswahl einer Anstalt); vgl. auch Faulstich, Hungersterben (1998), S. 261 („Auch im Rheinland soll danach gesucht worden sein.“). 224 Faulstich, Hungersterben (1998), S. 422. 225 Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 334 (Anm. 24). 226 HStA Hannover, 721 Hann., Acc. 61/81 Nr. 28, „Sonderheft Wehnen“, Bl. 10, Aussage Dr. Carl Petri (03.12.1945), zit. n. Harms, Hungertod (1996), S. 135 f., zur Datierung der Aussage siehe S. 132 (Anm. 62); siehe auch Faulstich, Hungersterben (1998), S. 261, S. 425. 227 Überlegungen zu den Gründen für die Auswahl Hadamars finden sich bei Winter, Geschichte (1991), S. 79. 402 IV. Zeit der Gasmorde Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau die kleinste war. Mitte 1939 hatte die Landesheilanstalt Hadamar gut 500 Planbetten (war aber überbelegt); das ärztliche Personal bestand aus nur drei, der Pflegebereich aus 37 Kräften.228 Wie Schulze herausstellt, handelte es sich auch bei den übrigen Heil- oder Pflegeanstalten, die als „T4“-Gasmordstätten hergerichtet wurden, um kleine, allenfalls mittelgroße Einrichtungen. Dies lag insbesondere darin begründet, dass dort keine stationäre Unterbringung für die Patientinnen und Patienten vor deren Ermordung mehr vorgesehen war. Zudem lag die Anstalt in Hadamar – ebenso wie Pirna und Bernburg – etwas abseits vom Ort, wenn auch nicht so einsam wie Grafeneck. In diesem Punkt hatte man aus negativen Erfahrungen in Brandenburg gelernt, wo die Gaskammer im Zuchthaus mitten in der Stadt lag und wo deshalb die Leichenverbrennung an anderer Stelle vorgenommen werden musste. Als Negativposten musste insofern allerdings gelten, dass die Anstalt in Hadamar auf einer Anhöhe lag, sodass der Rauch des Krematoriums weithin sichtbar war. Aus welchem Grund auch immer war man bei „T4“ später nicht mehr mit der Lage der Anstalt zufrieden.229 Bei bisherigen Überlegungen zur Auswahl der Gasmordanstalten ist meist auf solche äußeren Anforderungen geachtet worden, die in der Tat auch Berücksichtigung fanden.230 Letztlich ausschlaggebend für die Standortwahl war aber die Haltung der jeweiligen regionalen Verantwortlichen. Dies galt – wie gezeigt – für die Gauleiter, dies galt aber auch für die Verantwortlichen in den für das Anstaltswesen zuständigen Behörden. Ein Blick auf die übrigen Anstalten zeigt, dass sowohl die Psychiatriereferenten in den Innenministerien in Dresden und Stuttgart, in deren Gebiet die Anstalten Grafeneck und PirnaSonnenstein lagen, als auch der für Bernburg zuständige Chef der Landesregierung in Dessau ausdrückliche Befürworter der Krankenmordaktion waren (entsprechende Untersuchungen zu Brandenburg und Hartheim stehen noch aus). Insofern war es nahe liegend, zur Findung des westlichen „T4“Standorts den Bezirksverband Nassau anzusprechen, der sich durch seine kranken- und behindertenfeindliche Anstaltspolitik bereits in der Zeit bis 1939 – mit einem durchaus reichsweiten Anspruch – exponiert hatte. Es war bei „T4“ bekannt, dass insbesondere Anstaltsdezernent Fritz Bernotat, aber auch Landeshauptmann Wilhelm Traupel entschiedene Befürworter einer „rassenhygienisch“ begründeten, wie auch immer ausgeformten NS-„Euthanasie“ waren.231 Dagegen durfte „T4“ in den Provinzialverbänden der Rheinprovinz, Westfalens und Hannovers zumindest nicht mit demselben Entgegenkommen rechnen (wenn auch spätere Widerstandsbekundungen der dortigen Verantwortlichen als zu weit gehend erscheinen).232 Angesichts des weiteren Verlaufs der Ereignisse kann man annehmen, dass das Angebot oder das Einverständnis des Bezirksverbandes zur Überlassung der Anstalt Hadamar an „T4“ sehr wahrscheinlich auf einen gemeinsamen Vorstoß des Anstaltsdezernenten Bernotat und des Eichberger Anstaltsdirektors Dr. Mennecke zurückgeht. Ein von Mennecke erwähntes Treffen zwischen ihm, Bernotat und dem ärztlichen „T4“-Leiter Prof. Dr. Werner Heyde in Weilmünster scheint diese Annahme zusätzlich zu stützen.233 Die Abgabe der Anstalt Hadamar wurde dem Bezirksverband Nassau dadurch erleichtert, dass er dort schon aus anderen Gründen eine neue Nutzung ins Auge gefasst hatte: Im Gespräch war etwa die Einrichtung einer Kinderheilstätte oder die Übergabe an die SS als Erholungsheim.234 Zwar hatte die 228 LWV, Best. 12/ehem. VA 231 (Kopie), Bl. 76, LHA Hadamar an BV Nassau, Statistik „Kranken- und Personalbestand am 1. Juli 1939“, (01.07.1939), Entwurf (von tatsächlich 638 Kranken, 58 mehr als etatmäßig vorgesehen, befanden sich 579 in der Anstalt selbst, die übrigen in Heim- oder Familienpflege, die Planbettenzahl in der LHA selbst betrug demnach 521). 229 Zu den Kriterien für die Auswahl Hadamars siehe Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 52 f.; zu den Kriterien allgemein (am Beispiel Bernburgs) siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 63 f. – Mennecke erwähnte 1942 „die ungünstige Lage, von der schon öfter gesprochen war“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt. Heidelberg, an Eva Mennecke, Eichberg (01.–02.07.1942), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 408–413 (Dok. 132), hier S. 411 (es wird hier nicht ersichtlich, ob eine ungünstige Lage innerhalb des Ortes [Geheimhaltung] oder innerhalb Deutschlands [weite Verlegungswege] moniert wurde). 230 Siehe dazu die jeweiligen Literaturangaben in vorausgehenden Anmerkungen. 231 Siehe Kap. III. 232 Zur zumindest teilweise reservierten Haltung der dortigen Verantwortlichen siehe Kap. IV. 2. a). 233 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 74, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 5. HvTag (09.12.1946). 234 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 1, Bl. 18–21, Spruch der Spruchkammer Dillenburg (28.02.1948), Kopie, hier Bl. 19. – Diese Angabe zu geplanten Nutzungen geht zurück auf den Direktor 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 403 drängende Überbelegung in den Anstalten des Bezirksverbandes sich bei Kriegsbeginn noch verstärkt, da zusätzlich Patientinnen und Patienten aus saarländischen, teils auch aus rheinischen Anstalten aufgenommen worden waren, die aus militärischen Gründen hatten geräumt werden müssen.235 Dennoch schien dem Bezirksverband – im Sinne seiner Überbelegungs- und Sparpolitik – der dauerhafte Verzicht auf die Anstalt Hadamar möglich, da man die Einrichtung ohnehin schon bei Kriegsbeginn als Lazarett an die Wehrmacht abgetreten hatte und seitdem ohne sie auszukommen schien. Ende August 1939 war ein Teil der Hadamarer Belegschaft zum Militärdienst einberufen worden (darunter der ärztliche Direktor Dr. Peter Masorsky und der erste Verwaltungsbeamte Fritz K.);236 gleichzeitig setzte die Wegverlegung vieler Hadamarer Patientinnen und Patienten in andere Anstalten (hauptsächlich nach Herborn) ein, um in Hadamar Platz für das Wehrmachtslazarett zu schaffen. Der sukzessive Ausbau dieses Lazaretts mit Abteilungen für deutsche Soldaten und für verwundete polnische Kriegsgefangene im Herbst und Winter 1939/40 hatte dann noch bis Januar 1940 weitere Verlegungen zur Folge – nun auch nach Weilmünster –, sodass schließlich mehr als 350 bislang Hadamarer Patientinnen und Patienten (zu etwa vier Fünfteln Frauen) andernorts untergebracht waren.237 Bereits diese Verlegungen, die mit der „T4“-Aktion noch nicht in Verbindung standen, geschahen auf menschenunwürdige Weise. So wurden die Betroffenen beispielsweise bei einer Verlegung nach Weilmünster in einem LKW ohne Bänke transportiert.238 Jene Hadamarer Mitarbeiter, die weder einberufen noch zur Betreuung der verlegten Kranken an andere Bezirksverbandsanstalten versetzt worden waren, wurden bei der Lazarettgründung durch die Wehrmacht übernommen.239 Bei der Lazarettgründung im Herbst 1939 in Hadamar wurde die dortige Landesheilanstalt formal nicht aufgelöst wie etwa die Pirnaer Anstalt Sonnenstein, sondern blieb als „Rumpf“anstalt weiter bestehen. Obwohl das gesamte Zentralgelände der Einrichtung auf dem Hadamarer Mönchberg dem Lazarett zur Verfügung stand, war der Fortbestand möglich, da eine Außenstation auf dem etwa einen Kilometer entfernten Hofgut Schnepfenhausen erhalten werden konnte. Nach und nach reduzierte sich die Zahl der Patientinnen und Patienten der Landesheilanstalt von mehr als 600 (Anfang 1939) über knapp 300 (im September 1939) und knapp 200 (im Januar 1940), bis schließlich im Oktober 1940 eine Zahl von knapp 80 erreicht war.240 Hauptsächlich waren dies jene männlichen Patienten, die sich noch der LHA Hadamar, Dr. Peter Masorsky, und bezieht sich ausdrücklich auf die Zeit vor der Abgabe der Anstalt an „T4“. 235 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12651, o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. i. A. LVR Dr. Steinhäuser, an Reichskommissar für das Saarland, Abt. II, Saarbrücken (28.08.1939), hier als Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (o. D. [28.08.1939]); BV Nassau, Haushalts-Satzung (Rechnungsjahr 1940), hier vorangestellte „Begründung des Haushaltsplanes des Bezirksverbandes Nassau für das Rechnungsjahr 1940“: „[...] haben die drei bezirkseigenen Landesheilanstalten [...] alsbald nach Kriegsausbruch durch die Übernahme von Kranken aus den freigemachten Gebieten eine bis dahin nichtgekannte [!] Belegungsstärke erreicht.“ 236 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 69, LHA Hadamar an BV Nassau (28.08.1939), Abschr. (danach 9 Einberufungen im Zeitraum 26.–28.08.1939). – Zu Dir. Dr. Peter Masorsky (1887–1966) und zum ersten Verwaltungsbeamten Fritz K. (1898–1978) siehe biogr. Anhang. 237 Exzerpt aus LWV, Best. 12/ehem. VA 056, erstellt vom LWL (ca. 1986); LWV, Best. 12/ehem. VA 056 (Kopie), Bl. 1–15, LHA Hadamar, diverse „Verlegungslisten“ als Information an die jeweiligen Kostenträger (28.08.–04.09.1939) (danach wurden folgende Anzahlen von Personen verlegt: 197 am 28./29.08.1939 nach Herborn, 49 am 03./04.09.1939 nach Herborn, 23 am 05.09.1939 nach Breitenau, 16 am 05.09.1939 nach Marburg in das Diakonissenheim Bethesda, 93 am 18./19.09.1939 nach Herborn, 17 am 16.01.1940 nach Weilmünster, insgesamt also 366 Personen); siehe dazu auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 79; zum Lazarett, das ab 27.08.1939 eingerichtet wurde, siehe auch ebd., S. 78, mit Hinweis auf LWV, Best. 12/ehem. VA 477 u. 634; dazu auch LWV, Best. 12/ehem. VA 042 (Kopie), o. Bl.-Nr., LHA Hadamar, Meldezettel „Verpflegungs-Sollstärke“ des Lazaretts Hadamar für den 18.10.1939 (Meldung: 17.10.1939) (danach war das Lazarett zu diesem Zeitpunkt mit 100 Personen belegt). 238 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946). – Der Weilmünsterer Angestellte Karl K. der die Fahrt durchführte, berichtete über eine Auseinandersetzung mit dem Hadamarer LS Alfons Klein, da er, Karl K., „Kranke ohne Bänke nicht aufladen zu können glaubte, eben weil es sich um Kranke handelte.“ 239 Insgesamt zu diesem Abschnitt siehe BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 23. – Zur Übernahme des Personals (insb. Pflegerinnen) siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947). 240 Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 369–372 („Verlegungsstatistik 2: Entwicklung der Aufnahmen und Abgänge der Patienten in der Anstalt Hadamar von April 1937 bis März 1945 (eigene Statistik)“), hier S. 369 f., mit Hinweis u. a. auf Hauptkrankenverzeichnis d. LHA Hadamar (01.04.1937–31.03.1944 u. 02.09.1944–31.03.1945) u. auf das Abgangsverzeichnis (1937–1945), alles ehemals in LWV, Best. 12. – Danach Belegungszahlen (einschließlich „Heim-“ u. „Familienpfleglinge“) von 628 am 31.01.1939, 283 am 30.09.1939, 183 am 31.01.1940, 77 am 31.10.1940. 404 IV. Zeit der Gasmorde auf dem Hofgut befanden; etwa 30 Patientinnen und Patienten waren aber auch noch auswärts als „Familienpfleglinge“, teilweise sogar in der eigentlich als Lazarett genutzten Hauptanstalt selbst untergebracht, wo sie beispielsweise in den Werkstätten eingesetzt wurden.241 Zum Ausbau der Außenstation Schnepfenhausen veranlasste der Bezirksverband 1939 und 1940 umfangreiche Baumaßnahmen.242 Für die in Hadamar verbliebenen Patientinnen und Patienten stand vor Ort seit dem Herbst 1939 keine ärztliche Betreuung mehr zur Verfügung, nachdem der Bezirksverband die bislang in Hadamarer tätige Oberärztin Dr. Elfriede C. zur Anstalt Eichberg versetzt hatte. Von nun an wurden die Hadamarer Kranken vom rund 70 Kilometer weit entfernt liegenden Eichberg aus mitbetreut. Dessen Leiter Mennecke oder auch die Ärztin Dr. C. suchten Hadamar von Zeit zu Zeit auf und korrespondierten im Bedarfsfall auch mit den Kostenträgern in Fragen der Unterbringung.243 Bereits im Oktober 1940, also im Vormonat der Übergabe der Landesheilanstalt Hadamar an „T4“, befasste der Bezirksverband sich mit der Räumung der Anstalt. Als der zur Marine eingezogene ärztliche Direktor Dr. Peter Masorsky im Oktober auf Urlaub nach Hause kam, kamen ihm „Gerüchte von einer Auflösung der Anstalt“ zu Ohren. Auf seine Nachfrage bei Anstaltsdezernent Bernotat hin wurde ihm „kurz vor Ende des Urlaubs bestätigt, dass die Anstalt dem Reich übereignet würde“, sodass er seine Direktorenwohnung zu räumen habe.244 Nur wenig später trat die Frage auf, was mit den letzten noch auf dem Zentralgelände der Anstalt verbliebenen Patientinnen zu geschehen habe. Zwischen dem 3. und 5. November 1940 organisierten Mennecke und Bernotat deren Unterbringung: teils kamen sie als so genannte „Arbeitspatienten“ – zusätzlich zu den dort bereits Untergebrachten – auf das Gut Schnepfenhausen, teils verlegte man sie in die drei anderen Landesheilanstalten. Binnen einer Woche war auch bei den Kostenträgern, etwa bei der Stadt Frankfurt, bekannt, dass „inzwischen die Landesheilanstalt Hadamar ganz geräumt worden“ war. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt Ende Oktober/Anfang November befassten Verantwortliche im Bezirksverband sich also mit der Bereitstellung der Landesheilanstalt Hadamar für Zwecke von „T4“.245 Einen Monat später erörterte man die Zukunft der „Landesheilanstalt Hadamar“ als Institution des Bezirksverbandes schlechthin. Offenbar war zunächst geplant gewesen, die Einrichtung als solche ganz aufzulösen, denn Bernotat und Mennecke hatten am 7. Dezember verabredet, die Hadamarer Außenstation Schnepfenhausen fortan als Familienpflegestelle der Landesheilanstalt Eichberg weiterzubetreiben. Nur wenige Tage darauf aber konnte der Hadamarer Landessekretär Alfons Klein den Anstaltsdezernenten Bernotat umstimmen (und damit den ahnungslosen Mennecke düpieren): Nun entschied Bernotat, „dass entgegen meiner ursprünglichen Anordnung die sich zurzeit noch auf dem Hofgut Schnep241 Vgl. dazu HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., [LHA Eichberg,] gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, betr. „Abt. S II“ (03.11.1940, ab: 04.11.1940), Durchschr.; siehe auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80. 242 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 51; dto. (01.04.1940–31.03.1941), S. 44. – Schieferdeckung des Scheunendachs, Erweiterung der Toiletten im Verwalterwohnhaus, Einrichtung einer Badeanlage für Kranke, Neubau einer Gerätehalle, Errichtung einer Brandmauer zwischen zwei Scheunen, Bau eines Entwässerungskanals, Dacherneuerung am Schweinestall. 243 Zu Dr. med. Elfriede C. (1894–1966) siehe biogr. Anhang. – Offizieller Termin der Versetzung zur LHA Eichberg war der 01.12.1939: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Co., El., Dr.; siehe auch HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12825, o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LHA Eichberg an NSDAP, Gau Hessen-Nassau, Amt für Volksgesundheit, Verwaltungsstelle 3, Bad Schwalbach (26.04.1940, ab: 27.04.1940). – Zur praktischen Betreuung Hadamars durch die LHA Eichberg siehe ebd., Nr. 12568, o. Bl.-Nr., Korr. zwischen d. LHA Eichberg u. der Stadt Ffm sowie zugehörige Vm. d. LHA Eichberg (18.05.– 10.07.1940). – Siehe auch die Bemerkung der LHA Hadamar, dass „die ärztliche Betreuung der Kranken unserer Anstalt z. Zt. von dem Genannten [= Dr. Mennecke] ausgeübt wird“: LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 123, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, Kassel, sowie abschriftl. an BV Nassau, Wiesbaden (18.07. 1940), Durchschr.; vgl. auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80. 244 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 10–12, Dir. Dr. Masorsky, z. Zt. Marine-Oberstabsarzt, Wilhelmshaven, an BV Nassau (07.02.1941), hier Bl. 11. 245 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., [LHA Eichberg,] gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, betr. „Abt. S II“ (03.11.1940, ab: 04.11.1940), Durchschr.; ebd., BV Nassau, Az. A (S II) 4017/8, an LHA Hadamar (05.11.1940), hier als Abschr. an LHA Eichberg. – Zu den Zielen von ca. 20 Frankfurter Verlegten siehe ebd., o. Bl.-Nr., Stadt Ffm, Stadtgesundheitsamt, Pflegeamt, an LHA Eichberg (13.11.1940). – Diese Dokumente sind insofern bemerkenswert, da sie die einzigen zeitgenössischen Quellen sind, welche die frühe Informiertheit bereits zum Monatswechsel Okt./Nov. 1940 dokumentieren, während ansonsten hierzu nur Nachkriegsaussagen vorliegen. – Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 81, weisen darauf hin, dass „[z]wischen Ende Oktober und Ende November 1940 [...] 99 Patienten in andere Bezirksanstalten verlegt“ wurden. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 405 fenhausen befindenden und beschäftigten Kranken aus finanziellen Gründen vorerst bis auf weiteres in dem Bestand der Landesheilanstalt Hadamar verbleiben sollen.“246 Ebenfalls dem Erhalt der finanziellen Überlebensfähigkeit dienten auch Versetzungen von einberufenen Mitgliedern der Hadamarer Belegschaft. Damit die Fortzahlung von deren Bezügen den Haushalt der Anstalt Hadamar künftig nicht mehr belastete, versetzte der Verband ab Januar 1941 den ärztlichen Direktor Dr. Masorsky formal nach Herborn, den Assistenzarzt Dr. Josef S. zum Eichberg und den ersten Verwaltungsbeamten Fritz K. zu Bernotats Anstaltsabteilung in der Wiesbadener Zentrale. Nachdem die Personalabteilung des Verbandes und ihr Leiter Kranzbühler den Betroffenen zunächst hatten mitteilen wollen, die Versetzung erfolge „[i]nfolge einer notwendigen Organisationsänderung im Anstaltswesen“, besann man sich dann – wohl um dem „T4“-Geheimhaltungsgebot Genüge zu tun – eines Besseren und beschränkte sich auf die Erläuterung, die Versetzung geschehe „[a]uf Vorschlag der Anstaltsabteilung“.247 Während der Lazarettzeit in Hadamar hatte der dortige Landessekretär Alfons Klein248 relativ selbstständig die Geschäfte der „Rumpf“anstalt geführt; er fungierte als Leiter der Wirtschaftsbetriebe und damit auch der Anstaltsküche, die für die Verpflegung des Lazaretts verantwortlich war, daneben war er Verwalter der Außenstation der Landesheilanstalt im Hofgut Schnepfenhausen.249 Seine herausgehobene Stellung, die er dem Anstaltsdezernenten Bernotat verdankte, führte dazu, dass Klein selbst sich quasi in der Stellung des Anstaltsdirektors sah, eine Position, die er offenbar auch mit Selbstbewusstsein darzustellen gewillt war. Bei Zeitgenossen in Hadamar galt er – obwohl gerade erst Anfang 30 – als „Anstaltsleiter oder Direktor“, zumindest hieß es: „Er fühlte sich als Direktor.“ Die Feierlichkeiten zu seiner zweiten Eheschließung um 1940 gestaltete er als einen „Triump[h]zug“ vor der Hadamarer Bevölkerung.250 Der rechtmäßige, jedoch einberufene Direktor Masorsky sah sich 1941 veranlasst, gegenüber dem Bezirksverband in ironischer Distanzierung auf ein Schreiben aus dem Vorjahr hinzuweisen, das „vom ‚Anstaltsleiter‘ Klein unterzeichnet war“.251 Hier wirkte sich auch die von Traupel und Bernotat seit 1937 verfolgte Linie aus, die ersten Verwaltungsbeamten in den Anstalten gegenüber den (ärztlichen) Direktoren zu stärken. Gerade in den Vertretungsregelungen des Bezirksverbandes nach Kriegsbeginn bestätigte sich dieser Wandel. Während Klein in Hadamar die faktische Leitung allein schon deshalb innehatte, weil gar kein Arzt des Bezirksverbandes mehr anwesend war, übernahm der erste Verwaltungsbeamte der Landesheilanstalt Eichberg, Landesoberinspektor Louis W., bei Menneckes Abwesenheit 1940 und 1941 fallweise die Funktion des amtierenden Leiters selbst dann, wenn noch andere Ärzte in der Landesheilanstalt Dienst taten, die in früheren Zeiten mit der Stellvertretung beauftragt worden wären.252 Bernotat zollte seinem Schützling Klein Anerkennung für dessen Rolle 246 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., LHA Hadamar, gez. LS Klein, an LHA Eichberg (09.12.1940), Abschr., mit Vfg. zur urschriftl. Weitergabe von LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, Abt. S/II (10.12.1940, ab: 10.12.1940) (dort Angabe zur Absprache vom 07.12.1939); ebd., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S II) 4017/8, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg (12.12.1940) (dort das Zitat). 247 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 70, BV Nassau, Az. A (S/II), gez. Abteilungsvorstand Bernotat, an BV Nassau, Abt. B (Ia) (19.12.1940), Abschr.; ebd., Bl. 71, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, Az. B (Ia) Pers., an LOI K., Feldpost-Nr. 21.892 B (13.01.1941), hier Abschr. für LHA Hadamar, gez. Kranzbühler i. V. d. LH (o. D.) (dort findet sich sowohl die ursprüngliche Formulierung als auch die handschriftl. eingefügte geänderte Version). 248 Zu Alfons Klein (1909–1946) siehe biogr. Anhang; zu seiner Funktion in der LHA Hadamar 1942–1945 siehe auch Kap. V. 3. a). 249 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05. 1946), hier Bl. 46. 250 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 258–263, Protokoll d. Zeugenvernehmung Maria K. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 262 (dort die beiden Zitate); ebd., Bl. 243 f., Zeugenvernehmung Hedwig S. geb. L. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (Angaben zum „Triumpfzug“ [!] bei der Hochzeit). – Auch „T4“-Mitarbeiter, die nach Hadamar kamen, sahen in Klein den „damaligen Leiter der Anstalt“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 24 f., Aussage August S. (15.06.1946), Abschr., hier Bl. 24. – In seiner Vernehmung für den US-amerikanischen Prozess bezeichnete Klein sich dagegen lediglich als „Verwalter der Anstalt“: NARA, M-1078, Roll 2, Frame 632–644, schriftliche Vernehmung Alfons Klein (12.09.1945), hier Frame 632, hier nach BA, All. Proz. 7/122 (FC 6216 P). 251 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 10–12, Dir. Dr. Masorsky, z. Zt. Marine-Oberstabsarzt, Wilhelmshaven, an BV Nassau (07.02.1941), hier Bl. 10. 252 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an BV Nassau, Personalabteilung (18.08.1940), Abschr., hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 160 f. (Dok. 52), hier S. 161; vgl. auch ebd. (HStA), Eva Mennecke, Eichberg, an Fritz Mennecke, z. Zt. Oranienburg (04.–09.04.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 186–191 (Dok. 66), hier S. 187 (05.04.1941). – Bei Abwesenheit von Dr. F. Mennecke u. Dr. W. Schmidt wurde LOI W. 1941 auch zuständig für die organisatorische Vorarbeiten für die (von „T4“ durchgeführten) Patientenverlegungen in die Mordanstalt Hadamar: HStA Wi, Abt. 406 IV. Zeit der Gasmorde während der Lazarettzeit in Hadamar von September 1939 bis Oktober 1940: „[...] Herr Klein ist ein Mann, auf den ich mich verlassen kann, er hat ein ganzes Jahr als Verwaltungsinspektor die Anstalt geleitet mit mindestens 100 Kranken, es war kein Arzt da.“253 Die Klein’sche Dominanz trat dann während der Anwesenheit von „T4“ in Hadamar zwar etwas in den Hintergrund, doch tat dies seiner Stellung gegenüber den Bediensteten des Bezirksverbandes vor Ort keinen Abbruch. Der Bernotat’schen Grundsatzentscheidung, die „Rumpf“anstalt Hadamar weiterbestehen zu lassen, waren Kontakte des Anstaltsdezernenten und des Eichberger Direktors Mennecke zu „T4“ vorausgegangen. Obwohl Mennecke 1946 die Justiz glauben machen wollte, Bernotat sei „vor [... ihm, Mennecke,] in Kenntnis gesetzt worden“,254 dass Hadamar zur „T4“-Anstalt werden solle, so ist es doch nahe liegend, dass diese beiden NS-„Euthanasie“-Protagonisten, deren Verhältnis zu jener Zeit noch ungetrübt war, Hand in Hand arbeiteten, um die Anstalt der Mordorganisation anzubieten – Mennecke aufgrund seiner bisherigen Kontakte zur „T4“-Zentrale, Bernotat aufgrund seiner Stellung als Anstaltsdezernent. Dass der Erstkontakt zu „T4“ über Landeshauptmann Traupel, etwa vermittelt durch SSKontakte, zustande gekommen wäre, hat dagegen keiner der Beteiligten behauptet, und auch aufgrund anderer Argumente erscheint dies als eher unwahrscheinlich.255 Die neue Funktion der Einrichtung in Hadamar lag für den Bezirksverband umso näher, als die Wehrmacht – nach erfolgreichem Abschluss des Frankreichfeldzugs – den Anstaltsraum in Hadamar nicht mehr für Lazarettzwecke benötigte, das Lazarett daher im Laufe des Monats Oktober 1940 schloss und die verbliebenen Lazarettpatienten nach Koblenz verlegte.256 Bei der Einrichtung neuer „T4“-Anstalten fungierte als Kontaktmann der „T4“-Zentrale zu den regionalen und lokalen Stellen jeweils der Leiter der „T4“-Inspektionsabteilung, Adolf Gustav Kaufmann. Auch die Einrichtung der Anstalt Hadamar wurde von ihm in Gesprächen sowohl mit Bernotat257 als auch mit Mennecke vorangetrieben; Gespräche mit dem Frankfurter Gauleiter Sprenger dürften vorausgegangen sein.258 Zuvor hatte er im Laufe des Jahres 1940 bereits für die Ingangsetzung der Anstalten Brandenburg, Sonnenstein, Hartheim und Bernburg gesorgt – lediglich in die frühere Installierung Grafenecks im Herbst 1939 war er nicht involviert gewesen, da diese vor seiner „T4“-Mitarbeit lag.259 Der Österreicher Kaufmann war zwar im polnischen Teil der Donaumonarchie geboren, entstammte aber einer deutschsprachigen Familie und wuchs in Tirol auf. Nach einer technischen Ausbildung ließ er sich zunächst in Linz (Oberösterreich) nieder und arbeitete wie schon sein Vater als Beamter bei der österreichischen Bundesbahn. Zugleich verschrieb er sich früh dem Nationalsozialismus. Seine politi461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 175, Protokoll d. Vernehmungen Dr. Friedrich Mennecke u. Dr. Walter Schmidt als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 8. Hv-Tag (13.12.1946). 253 Zit. n. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 24, Aussage d. Angeklagten Dr. Adolf Wahlmann im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); auch bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80. 254 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141 (Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung); vgl. auch ebd., Bd. 4, Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). – Die „T4“-Konferenz, bei der Mennecke unterrichtet worden sein will, datiert Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 266 f., mit Hinweis auf die Anklageschrift im Heyde-Verfahren (HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1–453), S. 317, auf den 27.11.1940, der Termin liegt also mehrere Wochen nach dem Termin, zu dem Mennecke sich bereits um die Räumung der LHA Hadamar bemühte (siehe oben). 255 Siehe dazu die Ausführungen zum Pachtvertrag weiter unten in diesem Kap. IV. 2. b). 256 Zur Datierung und zur Angabe „Koblenz“ siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947) (erst nach einer Übergangszeit habe dann „T4“ die Anstalt übernommen). – Formal waren die versetzen Mitarbeiter jedoch bis zum 31.10.1940 beim Reservelazarett Hadamar beschäftigt: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Hu., Ir., Teil 2, Bl. 50, LHA Hadamar an Arbeitsamt [Limburg] (04.11.1940), Durchschr. – Es ist unwahrscheinlich und es gibt bislang auch keine Hinweise darauf, dass die Schließung des Lazaretts erfolgt wäre, um Platz für „T4“ zu machen; Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 153, bemerken, dass Hadamar mittlerweile „hunderte von Kilometern von allen Fronten entfernt“ lag und daher „als Reservelazarett entbehrlich“ wurde. 257 Eine vorausgegangene Besichtigung der LHA Hadamar durch „Kaufmann [...] gemeinsam mit Fritz Bernotat“, wie sie Friedlander, Weg (1997), S. 162, behauptet, ist zwar nahe liegend, konnte aber bislang weder durch zeitgenössische Dokumente noch durch Nachkriegsaussagen belegt werden. 258 Zu den Details siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 2. b). 259 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 5; ebd., Nr. 1360, Bl. 208–212, GenStAnw Ffm an LG Ffm, 3. Strafkammer (24.09.1965), hier Bl. 210; ebd., Bl. 215 f., Beschluss d. LG Ffm, 3. Strafkammer (01.10.1965), hier Bl. 215; Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 24; vgl. Friedlander, Weg (1997), S. 132 f., S. 315. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 407 sche Betätigung – möglicherweise auch ein illegaler, militanter Einsatz für die NS-Bewegung in Österreich – brachte ihn um seine Stellung und ließ ihn 1934 ins nationalsozialistische Deutschland ausweichen. Die SA verschaffte ihm eine hauptamtliche Tätigkeit, 1937 wechselte er dann in die Dienste des NSDAP-Gaus Pommern, um Gauinspekteur (im Rang eines Gauamtsleiters) unter Gauleiter SchwedeCoburg zu werden. In beiden Weltkriegen diente Kaufmann – wenn auch jeweils nur kurz – in der Kriegsmarine, im Ersten Weltkrieg in der der K.-und-k.-Monarchie, im Zweiten in der „großdeutschen“. Bereits im Januar 1940 endete Kaufmanns Militärdienst, als Brack, der ihn schon seit den 1920er Jahren kannte, ihn für „T4“ anwarb und u. k. stellen ließ. Adolf Kaufmann verschaffte dann auch seinem Bruder Reinhold einen Posten bei „T4“.260 Die Funktion, die Adolf Kaufmann für „T4“ ausübte, benannte die Staatsanwaltschaft später als „Leiter der Inspektionsabteilung“, auch wenn Kaufmann selbst die Existenz einer derartigen Abteilung immer bestritt.261 Zwar ist es tatsächlich schwierig, in dem anfangs kaum kodifizierten Gebilde „T4“ eine starre Abteilungsgliederung dingfest zu machen, doch der Begriff „Inspektionsabteilung“, möglicherweise auch aus Kaufmanns NSDAP-Hauptberuf eines „Gauinspekteurs“ hergeleitet, umreißt doch zutreffend sein Tätigkeitsfeld. Ebenso wie ein Gauinspekteur operierte Kaufmann nicht in erster Linie von einem festen Arbeitsplatz aus, sondern reiste umher und suchte die Außenstellen – bei „T4“ also die Mordanstalten – auf, um mögliche Probleme zu erkennen und zu lösen. Zu seinen Aufgaben zählte wie erwähnt zunächst die Ortswahl und der Erwerb der Immobilie in Verbindung mit den relevanten örtlichen Stellen. Anschließend koordinierte Kaufmann an Ort und Stelle den Umbau und die Einrichtung der Mordanstalt, beteiligte sich auch an der Akquisition neuer „T4“-Mitarbeiter. Nach Beendigung der Einrichtung und Beginn der Morde blieb Kaufmann noch einige Tage, teilweise auch Wochen dort, um die Abläufe der Massentötung zu organisieren, und er erschien auch später in Abständen, um diese zu inspizieren oder sich als „Troubleshooter“ zu betätigen.262 Während seiner Anwesenheit sahen die „T4“-Mitarbeiter in der Anstalt in ihm offenbar den Chef, titulierten ihn teilweise auch als „Direktor“ oder – wenngleich er nicht promoviert war – als „Dr. Kaufmann“.263 Eine Mitarbeiterin erinnerte sich: „Von ihm wurde gesprochen, als ob er der Leiter der ganzen ‚T4‘ wäre.“264 Bei seinem „Erscheinen in den ‚Euthanasieanstalten‘ [habe] ein ‚Mordswind‘“ geherrscht, es habe dann geheißen: „der Kaiser kommt“.265 Im Gebiet der „T4“-Anstalten nahm Kaufmann Kontakt mit Parteidienststellen und bei Bedarf mit den jeweiligen Behörden auf, deren Tätigkeit in irgendeiner Weise von der Aktivität der Mordanstalt berührt wurde. Beispielsweise kümmerte er sich bei den Wirtschaftsbehörden darum, dass die neue Einrichtung mit Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen für sonstige Güter versorgt wurde; in Standesamtsfragen hatte er einen Modus Vivendi mit den Gemeindebehörden zu finden, der die gebotene 260 Zu Adolf Gustav („Gustl“) Kaufmann (1902–1974) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 27– 33, hier Bl. 28, Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. LG Ffm in München (27.05.1963); ebd., Bl. 79–82, RA B., Ffm, an LG Ffm, 3. gr. Strafkammer (10.08.1965), hier Bl. 79; ebd., Nr. 1361, Bl. 495, Adolf Kaufmann, schriftl. Erklärung für GenStAnw (o. D. [ca. 25.04.1966]); ebd., Nr. 1364, Bl. 311, Standesamt Freising, Sterbeurkunde (21.08.1974), begl. Kopie; Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., insb. S. 3–8, auch S. 21 f.; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 11 f.; ebd., Teil 1, Bl. 22–25, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (23.12.1965), Kopie, hier Bl. 22 f.; ebd., Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 10 f.; Klee, Ärzte (1986), S. 70 f., S. 291 (Anm. 54); Friedlander, Weg (1997), S. 132 f., S. 157, S. 309–311, S. 313, S. 315. 261 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 22 f. 262 Ebd., hier S. 29 f., S. 43; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 27–33, hier Bl. 30 f., Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. LG Ffm in München (27.05.1963); vgl. auch ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 32; siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 133, S. 315. 263 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 34; vgl. auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 3 („T4“ habe ihm in Brandenburg „zunächst die Funktion eines Direktors“ übertragen). 264 Aussage Hedwig H. geb. A. (01.03.1966), hier zit. n. Klee, Ärzte (1986), S. 70, dort mit Quellenhinweis auf das Verfahren Az. Js 7/63 der GenStAnw Ffm gegen Renno u. a. (HStA Wi, Abt. 631a Nr. 785–915), nach Schilter, Ermessen (1999), S. 290 (Anm. 981), auch vorhanden in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 514. 265 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 34, mit Hinweis auf die Aussagen Franz H. (10.12.1965), Erwin Lambert (15.09.1965), Maria L. (17.09.1964), H. [vermutlich Hedwig H.] (03.03.1966) u. Irmgard Huber (21.10.1965); vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965), Kopie, S. 5 („Es wurde unter den Angestellten [...] gesagt, Kaufmann kommt“). 408 IV. Zeit der Gasmorde Geheimhaltung bestmöglich gewährleistete.266 Diese Kontakte waren jeweils eine Gratwanderung, denn bei derartigen, zum Teil heiklen Missionen hatte Kaufmann von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine Einweihung der zuständigen Mitarbeiter externer Verwaltungen opportun war oder ob ein – mit der Autorität des Gauinspekteurs vorgebrachter – Hinweis auf den Willen der Partei eher zum Ziel führte. Kaufmann selbst fasste dies in Bezug auf die Anstalt Hadamar zusammen: „Ich schaffte die Voraussetzungen und Möglichkeiten durch Herstellung von Verbindungen und Kontakten zwischen Parteidienststellen und Behörden einerseits und der Anstalt andererseits mit dem Ziel, eventl. Schwierigkeiten seitens der Parteidienststellen und Behörden von den geplanten Anstalten abzuwenden.“267 Ebenfalls dem Ziel einer möglichst reibungslosen und unauffälligen Abwicklung des Mordgeschehens dienten die „T4“-Büroleitertagungen, zu denen sich die Verwaltungschefs der Mordanstalten in Anwesenheit von Kaufmann von Zeit zu Zeit in einer der Einrichtungen trafen, beispielsweise um aufgetretene Pannen zu besprechen und Wege zu deren künftiger Vermeidung zu verabreden.268 Außerdem kümmerte Kaufmann sich auch um die weltanschauliche Schulung des Personals der Anstalten;269 beispielsweise diente 1941 ein fanatischer Vortrag unter dem Titel „Die dritte Front!“ der Anstachelung des Personals, unter anderem in Hadamar. Den Auftakt zu dem Vortrag bildete eine Einleitung „über Zweck und Ziel unserer Arbeit in den Anstalten“. Kaufmann sprach vom „grossen Ringen unserer Tage“ und schwor die Zuhörer auf eine Ausrichtung der „ganzen öffentlichen und privaten Tätigkeit“ des Volkes auf den Krieg ein, der „nicht etwa Sache einer schmalen Führerschicht und des Militärs“ sei. Die bisherige Unterscheidung „zwischen der Front der Waffen und der Front der Heimat“ sei „nur noch äusserlich, ihrem innersten Wesen nach sind beide Fronten erfüllt vom Geiste des Widerstandes und vom Willen zum Siege“; es gehe „diesmal vielleicht zum letzten Male, um Leben oder Sterben, nicht etwa um die Person des Führers oder den Nationalsozialismus als Regierungsform, sondern um Sein oder Nichtsein unseres völkischen Deutschlandes!“ Indem Kaufmann diesen Vortrag in den Gasmordanstalten hielt bzw. halten ließ, ordnete er die Krankenmorde in den Kontext des Krieges – hier gegen den inneren (biologischen), dort gegen den äußeren (militärischen) Feind – ein. Die Tätigkeit von „T4“ erschien damit als Beitrag zum „Kampf“ an der „Heimatfront“, der „Dritten Front“.270 Schließlich übernahm Adolf Kaufmann für „T4“ die Einrichtung des Erholungsheims der Mordorganisation, „Haus Schoberstein“ in Weißenbach am Attersee im Gau Oberdonau, wo sämtliche „T4“-Beschäftigten ihre Ferien verbringen konnten; zeitweise leitete Kaufmann dieses Erholungsheim (das dann 1943 zum Sitz eines Teils der Organisation „T4“ wurde271) gemeinsam mit seiner Ehefrau.272 266 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 24 f., S. 43; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1361, Bl. 495, Adolf Kaufmann, schriftl. Erklärung für GenStAnw Ffm (o. D. [ca. 25.04.1966]); ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 27; zur Einrichtung des „T4“-„Sonderstandesamts“ in Hadamar (ohne Kenntnis des RP in Wiesbaden) siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 229, Zeugenaussage des Hadamarer Amtsrichters Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); zu diesen Aufgaben in Bezug auf Bernburg vgl. Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 192 (Standesamt), S. 194 (Bezugsscheine); die Möglichkeit für ein derartiges „unbürokratisches, geheimes und schnelles Vorgehen unter der Regie der KdF“ war einer der Gründe für die Vergabe des NS-„Euthanasie“-Auftrags an die Kanzlei des Führers anstatt an Contis Abteilung im RMdI: Walter, Psychiatrie (1996), S. 655. 267 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 9. 268 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 35; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johannes H. b. d. LG Ffm (08.09.1965), Kopie, hier S. 2. 269 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 32, dort zit. Aussage Dr. Heinrich Bunke (11.06.1963). 270 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 3, o. Bl.-Nr., Schreiben Adolf Kaufmann „An die Anstalten Be[rnburg], C [= Hartheim], D [= Sonnenstein].“ (13.10.1941), mit Fragment (Beginn) des Vortrags „Die dritte Front!“, Kopie (Hervorhebungen im Orig. durch Großbuchstaben); vgl. ebd., Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 31. – Kaufmann beauftragte die Anstalten Bernburg, Hartheim und Sonnenstein, den vorformulierten Text von einem Redner vortragen zu lassen und kündigte an, den Vortrag in Hadamar selbst zu halten, bestritt aber, dies dann getan zu haben, dies korrespondiert mit der Aussage des Hadamarer Pförtners u. Leichenbestatters Philipp Blum, wonach „Dr. Schwallenbach“ [= Dr. Curt Schmalenbach] (im Herbst 1941 „T4“-Arzt in Hadamar) einen derartigen Vortrag gehalten habe: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 164 (= S. 7). 271 NARA, T-1021, Roll 10, Frame 979–983, „T4“, „Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und für die Anstalt ‚C‘“ (o. D., gültig ab 08.08.1943), auch in BA, All. Proz. 7/110 (FC 1805), hier zit. nach der Kopie in BA, R96 I/1, Bl. 126498–126502, hier Bl. 126500 (dort ist die „Dienststelle Attersee“ unter Leitung von Nitsche, also die medizinische Hauptabteilung von „T4“, aufgeführt); siehe auch LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr., Hans R.-G. [„T4“], 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 409 Aufgrund seines Aufgabenzuschnitts fiel auch die Ingangsetzung der Mordanstalt Hadamar in das Ressort Kaufmanns. Einem erweiterten Kreis von „T4“-Mitarbeitern, insbesondere den externen ärztlichen „Gutachtern“, wurde der Plan zur Schließung Grafenecks und zur Einrichtung der neuen „T4“Anstalt Hadamar bei einer Sitzung Ende November 1940 in der Berliner Tiergartenstraße 4, an der auch Mennecke teilnahm, mitgeteilt.273 Die eigentliche Entscheidung fiel allerdings mindestens fünf Wochen früher. Das früheste überlieferte Datum ist der 24. Oktober 1940, an dem erstmals zusätzliches Personal für die „T4“-Anstalt Hadamar akquiriert wurde.274 Sowohl diese Personalbeschaffung als auch die Abtretung der Anstalt Hadamar an sich geschah vermutlich unter Einbeziehung der Frankfurter Gauleitung; dem Bernotat-Vertrauten und Hadamarer Verwaltungsbeamten Klein erschien dies sogar als eine Operation „auf Befehl des Gauleiters“275. Bernotats enge persönliche Kontakte mit dem Frankfurter Gauleiter Sprenger276 sowie Hinweise auf frühe Kontakte zwischen Kaufmann und der Gauleitung277 lassen die Annahme zu, dass Sprenger bereits im Oktober 1940 über die beabsichtigte Einrichtung der „T4“-Anstalt Hadamar informiert war und die entsprechende Unterstützung zugesagt hatte. Dagegen sollte Hadamar die einzige „T4“-Anstalt werden, deren Einrichtung keinerlei Verhandlungen mit den staatlichen Landesverwaltungen in der Region – hier also dem Regierungspräsidium oder dem Oberpräsidium – vorausgegangen waren.278 Die operative Zusammenarbeit mit Adolf Kaufmann in praktischen Fragen der Anstaltsherrichtung lag in den folgenden Wochen und Monaten bei Bernotat und Mennecke. Diese Kontakte scheinen bald über das rein „Dienstliche“ hinausgegangen zu sein; offenbar waren Bernotat und Mennecke darum bemüht, dem „mächtigen“ Kaufmann zu Diensten zu sein und Gefallen zu tun und auf diese Weise die Kooperation zwischen „T4“ und Bezirksverband zu festigen. Anfang Dezember 1940 beispielsweise übermittelte Mennecke, selbst Stammkunde bei einem Assmannshäuser Weingutsbesitzer, diesem die Bestellung des „Herrn Direktor Kaufmann, Landesheilanstalt Hadamar“ über eine Kiste Rotwein.279 Mit Bernotat verband Kaufmann die Leidenschaft für die Jagd;280 im Dezember 1940 wurde Kaufmann Weißenbach am Attersee, an Alfons Klein, LHA Hadamar (14.02.1944): „[...] daß ein Teil unserer Berl[in]er Dienststelle jetzt hier im Hause untergebracht ist.“ 272 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 35; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 7; ebd., Teil 1, Bl. 22–25, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (23.12.1965), Kopie, hier Bl. 22 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 133. 273 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141; ebd., Bd. 4, Bl. 20 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946), hier Bl. 20. – Zur Datierung der Sitzung auf den 27.11.1940 siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 266; zur Teilnahme der sächsischen Anstaltsdirektoren an der Konferenz siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 88. 274 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie (bei der Vernehmung legte der in Hadamar eingesetzte B. den am 24.10.1940 ausgestellten Verpflichtungsbescheid vor, welcher eine Meldung am 28.10.1940 in der Berliner Tiergartenstraße 4 forderte). – Zur Personalbeschaffung siehe Kap. IV. 2. c). 275 NARA, M-1078, Roll 2, Frame 632–644, schriftl. Vernehmung Alfons Klein (12.09.1945), hier Frame 633, hier nach BA, All. Proz. 7/122 (FC 6216 P). 276 Zum engen Verhältnis zwischen Fritz Bernotat (1890–1951) und Gauleiter Sprenger (1884–1945) siehe insb. Kap. III. 3. a), siehe auch Kap. IV. 1. b). 277 Kaufmanns Bruder sagte aus, Adolf Kaufmann sei „nach Hadamar gegangen, weil die Anstalt von der T4 übernommen werden sollte und weil er Personal für diesen Zweck durch die Gauleitung besorgen sollte“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), hier Bl. 16, Durchschr. – Zur tatsächlichen Unterstützung bei der Personalbeschaffung durch die Gauleitung Frankfurt und zu Kaufmanns dortiger Anwesenheit siehe Kap. IV. 2. c). 278 OP Philipp von Hessen, der nachträglich wegen der Unterzeichnung des Pachtvertrages (siehe unten) angesprochen wurde, trat dabei nur in seiner Eigenschaft als Leiter d. BV Nassau und nicht als Leiter des (staatl.) Oberpräsidiums in Erscheinung. – Einschränkend ist zu bemerken, dass der Kenntnisstand bezügl. Brandenburgs noch zu rudimentär ist, um in dieser Frage Genaueres feststellen zu können; zur vermuteten Beteiligung des Potsdamer OP Stürtz vor Einrichtung der „T4“-Mordstätte im (staatl.) Zuchthaus Brandenburg siehe weiter oben in diesem Kap. IV. 2. b). 279 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, o. Bl.-Nr. (nach Bl. 198), Dir. Dr. Mennecke, LHA Eichberg, an Weingutsbesitzer Emil Weiler, Lorch am Rhein (07.12.1940), hier von Mennecke abgezeichnete Abschr., auch zit. b. Mennecke (1988), S. 163 f. (Dok. 54), hier S. 164. Weiler dankte „verbindlichst für Ihre güt. Weiterempfehlung an Herrn Direktor Kaufmann in Hadamar“: ebd. (HStA), Bd. 2, o. Bl.-Nr. (nach Bl. 198), Antwortschreiben (15.12.1940), Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 165 f. (Dok. 55), hier S. 165. 280 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 18–23, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (13.04.1966), Durchschr., hier Bl. 20. – Bernotats Schwager, der einem Gespräch zwischen Bernotat u. Kaufmann im Jagdschlösschen beiwohnte, sagte später, außer seiner Beauftragung mit Installationsarbeiten in der LHA Hadamar (siehe unten) habe die Unterhaltung überwie- 410 IV. Zeit der Gasmorde von Bernotat in dessen Weilmünsterer Jagdschlösschen empfangen. In dieser Wochenendresidenz Bernotats besprach man nun im Detail die Umbaumaßnahmen, die in Hadamar bereits begonnen hatten.281 Wie privat die Beziehungen zwischen Kaufmann und Bernotat im Laufe der folgenden Wochen wurden, zeigte sich einen Monat später, als Kaufmann seine kranke Ehefrau bei den Bernotats im Jagdschlösschen einquartierte und dort durch Bernotats Frau Auguste pflegen ließ.282 Bereits Ende Oktober/Anfang November 1940 war ein so genanntes „Vorkommando“ aus einer Reihe von „T4“-Mitarbeitern unter Kaufmanns Leitung in der inzwischen geräumten Anstalt Hadamar eingetroffen; beim Aufbau der neuen Mordanstalt insgesamt kam Kaufmann fortan eine Überwachungsfunktion zu.283 Generell schickte die Mordorganisation (abgesehen von den Handwerkern) zunächst das Verwaltungspersonal in die künftigen Mordanstalten, das dort die organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen hatte.284 Bereits im November 1940 wurde auch ein Teil der Mitarbeiter der – noch nicht geschlossenen – Mordanstalt Grafeneck nach Hadamar versetzt, um das dortige Vorkommando zu verstärken.285 Vor Ort kümmerten die „T4“-Vorkommandos sich üblicherweise zunächst um die Beschaffung nötiger Materialien, insbesondere der Baustoffe, die für den Umbau zu einer Mordanstalt erforderlich waren.286 Dies war in Hadamar nur noch teilweise notwendig. Anders als bei den anderen „T4“-Anstalten standen die meisten Baustoffe für die Einrichtung der Mordanstalt dort nämlich bereits vor Eintreffen des „T4“-Personals bereit, denn der Bezirksverband hatte mit eigenem Personal unter Regie von Landessekretär Klein vieles schon vor dem 1. November 1940 beschafft. Ein Mitarbeiter der Landesheilanstalt Hadamar transportierte aus einer Ziegelei im benachbarten Ort Elz per LKW die Backsteine für die Verbrennungsöfen an und lud sie im Hof der Anstalt ab. Dieser Fahrer der Anstalt erfuhr auf Nachfragen bei Klein zwar (nach eigenem Bekunden) nicht den wahren Verwendungszweck, doch habe er „gleich [vermutet], es sollten Menschen verbrannt werden.“ Auch die Röhren für den Ofen wurden nach Aussage dieses Zeugen von einheimischen Firmen geliefert, während die Beschläge („Eisenteile“) für das Krematorium etwa gleichzeitig mit einem LKW aus Berlin eintrafen.287 Ebenfalls noch vor dem Anrücken des „Vorkommandos“ von „T4“ räumten Bezirksverbandsmitarbeiter in der Anstalt Hadamar jene Kellerräume im Hauptgebäude („den Seifen-, Kleider- gend die Jagd betroffen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04. 1946), hier Bl. 2. 281 Ebd. (Aussage Fritz Sch. v. 05.04.1946), hier Bl. 3. – Siehe auch weiter unten die weiteren Angaben zur Beauftragung Sch.s mit Umbauarbeiten in Hadamar. 282 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 32. – Vgl. dazu auch Kaufmanns Aussage, er habe die Tätigkeit bei „T4“ nur angenommen, um seine kranke Ehefrau häufig besuchen zu können: Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 21. 283 Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 28; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.01.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 4, Aussage Hedwig S. (o. D.), Abschr.; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), Kopie, S. 4 f., S. 7; ebd., Bl. 208–212, GenStAnw Ffm an LG Ffm, 3. Strafkammer (24.09.1965), hier Bl. 210; Friedlander, Weg (1997), S. 163. 284 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 27–33, Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. LG Ffm in München (27.05.1963), hier Bl. 29. – Zum Hadamarer „Vorkommando“ zählten u. a. Kaufmanns Bruder Reinhold, der „Wirtschaftsleiter“ der „T4“Anstalt Hans R.-G., der stv. „T4“-Personalchef Friedrich Haus sowie die beiden Verwaltungsangestellten Rudolf H. (später Mitarbeiter der „T4“-„Zentralverrechnungsstelle“) und Else A.: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 9; ebd., Nr. 1367, Teil 1, Bl. 22 f., LG Ffm, Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gegen den Bruder (04.09.1963), hier Bl. 23; ebd., Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 12 f., Bl. 17; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), Kopie, S. 4 f.; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.01.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947). 285 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 291. 286 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1360, Bl. 215 f., Beschluss d. LG Ffm, 3. Strafkammer (01.10.1965), hier Bl. 215. 287 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946) (eine Datierung auf den Oktober 1940 ist schlüssig, da K. zum 01.11.1940 von Hadamar wegversetzt wurde). – Entsprechend auch die Aussage des erst nach den Anlieferungen eingetroffenen Erwin Lambert (26.04.1961) in den Unterlagen der StAnw Stuttgart im Verfahren gegen A. Widmann, Az. Ks 19/62 (19 Js 328/60), hier nach Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82; zur Quellenangabe auch vgl. Friedlander, Weg (1997), S. 559 (Anm. 76). – Die Aussage zur Anlieferung der Eisenteile für die Krematorien aus Berlin deckt sich mit der Erkenntnis, dass diese durch die Berliner Firma H. Kori an die „T4“-Anstalten geliefert wurden: Schilter, Ermessen (1999), S. 69. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 411 und Marmeladenkeller“) aus, welche später als Mord- und Krematoriumsstätte dienen sollten.288 Durch diese vorbereitenden Tätigkeiten stellten die Verantwortlichen im Bezirksverband heraus, dass sie mit eigenem Engagement an der Herrichtung der „T4“-Anstalt mitzuwirken bereit waren. Dies erklärt sich dadurch, dass insbesondere Bernotat, Mennecke und Klein sich die nun auch in Hadamar bevorstehende Tötung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen als „ihr“ Projekt zu Eigen gemacht hatte. Auch nach Eintreffen des Vorkommandos erwies sich die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Bezirksverbandes für Kaufmann als äußerst hilfreich, um die notwendigen Kontakte vor Ort knüpfen zu können. Gemeinsam mit dem Hadamarer Landessekretär Alfons Klein, der künftig für die Beköstigung des „T4“-Personals verantwortlich zeichnen sollte, fuhr Kaufmann zu Bewirtschaftungsbehörden in Limburg oder Frankfurt, um dort die notwendigen Formalitäten für den Nahrungsmittelbezug zu klären. Bernotat selbst machte Kaufmann mit dem zuständigen Sachbearbeiter für Bezugsscheinangelegenheiten bekannt.289 Die eigentlichen Umbauarbeiten in Hadamar nahmen den größten Teil der Monate November und Dezember 1940 in Anspruch; die Rede war von einer Dauer von sechs bis acht Wochen.290 Nicht externe Firmen nahmen die Umbauten vor, sondern „T4“-eigene Handwerker sowie zum Teil „handwerklich geschickte Pfleger und Wachleute“ anderer Mordanstalten, wie es etwa für die kurz zuvor durchgeführte Einrichtung der „T4“-Anstalt Bernburg im Oktober 1940 dokumentiert ist.291 Nach Instruktionen durch den „T4“-Ingenieur Walter W. zogen nun die Handwerker im gesamten Hadamarer Anstaltsgebäude zum einen zusätzliche Wände ein, um „die ehemaligen Schlaf- und Aufenthaltsräume der Kranken als Büro-, Schlaf- und Gesellschaftsräume“ für das „T4“-Personal herzurichten.292 Zudem installierten sie die eigentliche Mordstätte im Keller mit Gaskammer, Sezierraum und Krematorium.293 Als Gaskammer diente ein abgeteilter Kellerraum, nun mit Kacheln versehen und als Dusche getarnt.294 Im Nachbarraum ermöglichte ein eingebauter Holzverschlag die Unterbringung der Kohlenmonoxydflaschen.295 Ein weiterer Raum fungierte fortan als Sezierraum; die Seziertische wurden vermutlich ebenfalls im Rahmen der Umbauten installiert, denn die Mordaktion sollte für umfangreiche Gehirnsektionen zu Forschungszwecken genutzt werden.296 In einem angrenzenden Kellertrakt errichtete der 288 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 59, Aussage Else M. aus Hadamar-Faulbach ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946) (auch diese Mitarbeiterin wurde zum 01.11.1940 von Hadamar wegversetzt). 289 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 28 (Klein), Bl. 30 (Bernotat). 290 Ebd., Nr. 1359, Bl. 22 f., Aussage Josef Hirtreiter (21.06.1946), Abschr., hier Bl. 22. 291 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (in diesem Fall wurde Personal der „T4“-Anstalt Brandenburg hinzugezogen). 292 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 7 f., Aussage Josef Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946), hier Bl. 7 (dort Zitat „die ehemaligen [...]“); ebd., Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.1946), hier Bl. 2; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 22 f., Aussage Josef Hirtreiter (21.06.1946), Abschr., hier Bl. 22. – Walter W. hatte auch den Umbau in Bernburg geleitet: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67. 293 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [ca. 26.03.1947]), spätere Ausfertigung, hier Bl. 1305; ebd., Bd. 2, o. Bl.-Nr., Lagepläne von Erdgeschoss u. Kellergeschoss der LHA Hadamar (Hauptgebäude, Ostflügel) nach den Umbauten von Ende 1940 (o. D. [ca. 1946]), auch abgebildet b. Winter, Geschichte (1991), S. 92; siehe auch ebd. (Winter), S. 79 f. 294 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Aussage Emil S. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Niederzeuzheim (10.03.1946); ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in der Anstalt Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115; ebd., Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.1946), hier Bl. 3; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 18; vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (zur Installation der Gaskammer in Bernburg); vgl. auch Schilter, Ermessen (1999), S. 69 f. (zur Installation der Gaskammer in Pirna-Sonnenstein). 295 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 179. 296 Anfang 1939 gab es in den LHAen d. BV Nassau noch keine Prosektur: vgl. LWV, Best. 1/276, Bl. 40–50, „Bericht über das Ergebnis der Überprüfung der nassauischen Anstalten“ am 27./28.02.1939, erstattet von Dr. Linden, Dr. Lehmkuhl, Prof. Dr. C. Schneider u. Trenz (26.04.1939), hier Bl. 48. – Bereits im März 1939 – also vor der Mordaktion – hatte die Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater gefordert, dass zwecks „Erfassung der Erbkrankheiten“ „im Interesse des Volkswohls [...] bei allen Kranken der öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten im Todesfalle die Leichenöffnung vorgenommen wird“: NARA, T-1021, Roll 12, Nr. 126428, Entschließung d. Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (März 1939), hier vermutlich Abschr. (1943), auch in BA, All. Proz. 7/112 (FC 1807), hier zit. n. Aly, Fortschritt (1985), S. 49. – Im Mai 1941 ließ der ärztliche Leiter von „T4“, Nitsche den Direktoren der „T4“-Anstalten bei einer Sitzung in Hadamar Hinweise für das fachgerechte Einlegen sezierter Gehirne ermordeter „T4“-Opfer geben: NARA, T–1021, Roll 12, Nr. 127891, P. Nitsche, Dienstanweisung (Mai 1941), auch in BA, All. Proz. 7/112 (FC 1807), hier n. Aly, Fortschritt (1985), S. 53. – Laut HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier 412 IV. Zeit der Gasmorde „T4“-Maurer Erwin Lambert zwei Verbrennungsöfen (er hatte bereits die Krematorien in Sonnenstein, Hartheim und Bernburg gemauert und betreute später den Bau der Verbrennungsanlagen in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor).297 Die Hadamarer Öfen wurden mit einem voluminösen Schornstein versehen, der das gesamte Haus bis zum Dachstuhl durchzog.298 Im Hof der Anstalt schließlich erbaute das „T4“-Personal eine Busgarage, in der drei Transportomnibusse der „T4“Tarnorganisation „Gekrat“ Platz finden sollten.299 Nach den ersten unterstützenden Tätigkeiten (wie Materialbeschaffung oder Aufräumungsarbeiten) durch Bezirksverbandsmitarbeiter ließ der Verband nun auch beim Umbau der Anstalt zur Mordanstalt tatkräftige Hilfe durch seine Mitarbeiter leisten. Besonders die Installationen in der Gaskammer selbst geschahen nicht durch „T4“-Personal, sondern durch den Schlossermeister der Landesheilanstalt Weilmünster, Fritz Sch., und den Elektrikermeister der Landesheilanstalt Hadamar, Emil S. Bei Fritz Sch. handelte es sich um den Ehemann von Bernotats Schwester. Der Anstaltsdezernent ließ seinen Schwager während einer Besprechung mit Kaufmann im Dezember 1940 ins Weilmünsterer Jagdschlösschen rufen und erteilte ihm den Auftrag, die Umbauten in Hadamar vorzunehmen. Fritz Sch. fuhr daraufhin am nächsten Morgen gemeinsam mit Kaufmann nach Hadamar und arbeitete einige Wochen beim Umbau der dortigen Anstalt – auch der übrigen Räumlichkeiten – mit, ohne offiziell zur dortigen Landesheilanstalt (oder gar zu „T4“) versetzt oder abgeordnet zu sein; allein der mündliche Auftrag des Anstaltsdezernenten genügte, um diese Maßnahme zu legitimieren.300 Emil S., der mit Fritz Sch. bei der Installation von Gasleitung, Wasseranschluss und Ventilationsanlage in der Gaskammer zusammenarbeitete, war bereits seit 1925 als Schlosser und Elektromeister in der Anstalt Hadamar angestellt und hatte zuletzt dort als Fahrer gewirkt.301 Auch der Hadamarer Anstaltsschlosser Josef Sch. war an den Bl. 1020 (19.02.1947), scheiterte die Auswertung der „Gehirnbefunde [...] aber am Mangel an geeigneten Aerzte[n]“. – Zur Sektion von Gehirnen im Sezierraum in Hadamar siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 92; vgl. auch Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (zum Einbau von zwei Seziertischen für „T4“ in Bernburg). 297 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 179; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1360, Bl. 208–212, GenStAnw Ffm an LG Ffm, 3. Strafkammer (24.09.1965), hier Bl. 211 f.; ebd., Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud F. ggü. d. LG Ffm in Heilbronn (15.02.1966), S. 3, Kopie; ebd., H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), Kopie, hier S. 4, S. 7; ebd., Nr. 1373, W, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Franz W. b. d. LG Ffm (05.09.1963), Kopie; vgl. ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Erwin Lambert ggü. d. LG Ffm in Hagen (15.09.1965), Kopie; vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (zur Einrichtung des Krematoriums in Bernburg); vgl. Schilter, Ermessen (1999), S. 69 (zur Einrichtung des Krematoriums in Pirna-Sonnenstein). – Zu Erwin Lambert (* 1909 in Schildow b. Berlin, Krs. Niederbarnim) siehe auch Klee, Dokumente (1985), S. 22; Klee, Ärzte (1986), S. 16; Friedlander, Weg (1997), S. 345–348 u. 560 f. (Anm. 108–119). – Zur Beteiligung von „T4“ an der sog. „Aktion Reinhard“ siehe Kap. V. 1. a). 298 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 103, Aussage August S. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., o. Bl.-Nr., Zeugenaussage August S. b. d. LG Ffm (26.08.1965), Kopie; vgl. Schilter, Ermessen (1999), S. 69 f. (zum Schornstein der Anstalt Sonnenstein). 299 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage August S. b. d. LG Ffm (26.08.1965), Kopie. – Zu den ab 1940 vorgenommenen Umbauten in der Anstalt Hadamar siehe auch die im Frühjahr 1990 erhobenen bauarchäologischen Befunde in den betreffenden Räumen: Cramer, Untersuchungen (1991). 300 Zu Fritz Sch. (* 1899) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 42 f., Aussage Hedwig S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946), hier Bl. 42; ebd., Bd. 2, Bl. 7 f., Aussage Josef Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946), hier Bl. 7; ebd., Bl. 111–114, sowie ebd., Bd. 3, Bl. 2–4, Aussagen Fritz Sch. (03.03. bzw. 05.04. 1946); ebd., Bd. 7, Bl. 107–110, Aussage Fritz Sch. als Angeklagter im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 243 f., Zeugenaussage Hedwig S. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an d. LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 (02.04.1946), hier Bl. 173; ebd., Bd. 7, Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Fritz Sch. b. d. LG Ffm (24.08.1965); ebd., Nr. 1359, Bl. 108, Postamt Audenschmiede an LG Ffm (12.08.1965), Kopie; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Me., Wi., Teil 1, o. Bl.-Nr., RP Wiesbaden, Verw. d. PV Nassau, an LHA Weilmünster (20.06.1945), auszugsweise Abschr.; ebd., Teil 2, Bl. 4, KV Wiesbaden an LHA Weilmünster (17.12.1945), Abschr.; Klee, Ärzte (1986), S. 296 (Anm. 131); Friedlander, Weg (1997), S. 346. 301 Zu Emil S. (* 1902) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946); ebd., Bd. 2, Aussage Emil S. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Niederzeuzheim (10.03.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 244 f., Zeugenaussage „Eugen“ [= Emil] S. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 1, Teil 1, Bl. 50–52, Liste der vom BV Nassau an „T4“ abgeordneten Mitarbeiter/innen (o. D. [ca. Feb. 1941]), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben 27.06.1941]); ebd., Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 159, Postamt Wiesbaden-Biebrich an LG Ffm (02.09.1965); LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), o. Bl.-Nr., [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Gehaltsabteilung, an LHA Hadamar (13.10.1942), mit aufgeschriebener Vfg. d. LHA Hadamar, gez. Klein (13.10.1942); ebd., ehem. VA 232 (Kopie), o. Bl.-Nr., LHA Hadamar an BV Nassau, Abt. Ia, Statistik 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 413 Umbauten im Anstaltsgebäude beteiligt, wenn auch nach eigenen Bekundungen nicht in den Kellerräumen.302 Wahrscheinlich engagierte sich Landessekretär Alfons Klein (der sich am Ort auskannte und der sich mittlerweile als „Hausherr“ in der Landesheilanstalt verstand) beim Umbau sogar über seine unterstützende Funktion hinaus und übernahm auch koordinierende Aufgaben, sodass einer der Anwesenden (wenn auch zur eigenen Entlastung) später behauptete, Klein sei der „eigentliche Leiter der Umbauarbeiten“ gewesen.303 Im Endeffekt konnte „T4“ also gerade beim Aufbau der Mordanstalt in umfangreichem Maße auf Beiträge des Bezirksverbandes in Form von Arbeits- und Organisationsleistungen der Mitarbeiter zurückgreifen. Diese „Eigenleistungen“ ließ der Verband sich auch nicht vergüten – anders als die spätere Mitarbeit seiner abgeordneten Angestellten und Beamten bei der Gasmordaktion selbst.304 Schließlich konnte „T4“ auch bei der Ausstattung der Mordanstalt mit Sachgütern auf die Unterstützung des Bezirksverbandes bauen. Hier allerdings bestand der Verband zumindest teilweise auf einer finanziellen Entschädigung durch „T4“. So zahlte „T4“ an die Landesheilanstalt Hadamar monatliche Mietgebühren für die Nutzung des anstaltseigenen Lastkraftwagens; außerdem erstattete man die monatlichen Telefongebühren und die Kosten für die mehr als 5.000 RM teure Telefonanlage, die die Anstalt des Bezirksverbandes im Februar 1941 einbauen ließ.305 Als „T4“ während der Mordaktion zusätzliche Schreibmaschinen in der Anstalt Hadamar benötigte, um die Angehörigen der Ermordeten mit den so genannten „Trostbriefen“ irreführend zu informieren, ließ Klein sich (nach Erlaubnis durch Bernotat) in der Landesheilanstalt Eichberg einige der dortigen Maschinen aushändigen und transportierte sie nach Hadamar.306 Die Hadamarer Anstaltsverwaltung des Bezirksverbandes kümmerte sich auch während der „T4“-Zeit um die Zuteilung und Lieferung von Heizmaterial, hauptsächlich Koks, für die Anstalt (ebenso wie dies schon während der Lazarettzeit geschehen war) – diese Hilfsdienste galten aber wohl nicht für jene Koksmengen, die „T4“ zur Befeuerung ihrer Krematoriumsöfen in Hadamar benötigte. Die Kosten für die Koks- und Brikettbestände, die „T4“ aus Beständen der Landesheilanstalt entnahm, erstattete die Mordorganisation anschließend der Anstalt.307 Schon bald schlugen diese finanziellen Verhältnisse – die Erstattungen von „T4“ an die Landesheilanstalt Hadamar – sich auch im Haushaltsplan des Bezirksverbandes nieder: im Wirtschaftsjahr 1941 entstanden dem Bezirksverband für seine Anstalt Hadamar weder Heiz- noch Wasserkosten.308 „Personalbestand am 1. März 1943“ (01.03.1943), Entwurf; dto., „[...] am 1. April 1943“ (01.04.1943); dto., „[...] am 1. März 1945“ (01.03.1945). 302 Zu Josef Sch. (* 1885) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 245, Zeugenaussage Josef Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 1, Teil 1, Bl. 50–52, Liste der vom BV Nassau an „T4“ abgeordneten Mitarbeiter/innen (o. D. [ca. Feb. 1941]), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben 27.06.1941]); ebd., Bd. 3, Bl. 167– 170, Vm. d. OStAnw Ffm, Erster StAnw Tomforde (03.08.1946); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schm., Jo.; LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 65, LHA Hadamar, „Gehaltsliste f. übern. Personal (Monat Juni 42)“ (o. D. [Anlage zum Schreiben LHA Hadamar an „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ vom 17.06.1942]), Konzept. 303 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 16. 304 Siehe dazu Kap. IV. 2. c). 305 LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 41, Vm. d. LHA Hadamar, gez. LS Klein (23.05.1941); ebd., Bl. 43, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Berlin (05.09.1941), Durchschr.; ebd., Bl. 44, Vm. d. LHA Hadamar, gez. LS Klein (15.09.1941). 306 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 81–85, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Beschuldigter ggü. d. StAnw Ffm in Ffm (28.05.1946), hier Bl. 84. 307 LWV, Best. 12/ehem. VA 461A (Kopie), Bl. 147, LHA Hadamar, gez. LS Klein, formularmäßiger „Antrag zur Aufnahme in die Kundenliste des Händlers“ Fa. Alois Hilf, Limburg (04.05.1940), vermutlich Duplikat; ebd., Bl. 152, Firma Aloys Ant. Hilf, Limburg, an LHA Hadamar, betr. „Koks“ (14.08.1941); ebd., Bl. 156, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Landratsamt Limburg, Wirtschaftsamt (12.03.1942), Durchschr.; ebd., weitere Dokumente in der Akte (bereits für den Zeitraum 01.04.1939–31.03.1940 rechnete die LHA Hadamar mit einem Verbrauch von 550 t Koks u. Briketts, für den Zeitraum 01.04. 1940–31.03.1941 beantragte man mit Hinweis auf das Lazarett 760 t Koks, Briketts u. Braunkohle, für den Zeitraum 01.04. 1941–31.03.1942 teilte das Wirtschaftsamt nur 385 t Koks statt der beantragten 600 t zu, Klein beantragte für den März 1942 jedoch eine Zusatzgenehmigung über 20 t). – Zur Kostenerstattung: LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr., Hans R.-G. [„T4“], Weißenbach am Attersee, an Alfons Klein, LHA Hadamar (14.02.1944); ebd., Bd. 1 (Kopie), o. Bl.-Nr., Notiz- u. Rechenzettel d. LHA Hadamar zum Koks- u. Brikettsverbrauch in der LHA Hadamar 1940–1942 (o. D. [möglicherweise Ende 1942 mit Ergänzungen Anfang 1944]); ebd., Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr., LHA Hadamar an R.-G. [„T4“], Weißenbach am Attersee (o. D. [nach 14.02.1944]), handschr. Konzept. 308 BV Nassau, Anlagen zum Haupt-Haushaltsplan (Rechnungsjahre 1943 u. 1944), S. 65–81 (= Anlage 14: „Haushaltspläne der Landesheilanstalten Eichberg, Hadamar, Herborn und Weilmünster für das Rechnungsjahr 1943“), hier S. 74 f. (dort 414 IV. Zeit der Gasmorde Einen der wichtigsten Posten, der im normalen Wirtschaftsleben berücksichtigt worden wäre, entfiel allerdings im Zuge der Kooperation von Bezirksverband Nassau und „T4“: nämlich etwaige Miet- oder Pachtkosten für die Nutzung des Anstaltsgebäudes in Hadamar einschließlich des Inventars.309 Indem der Bezirksverband sich auf den entsprechenden Überlassungsvertrag mit „T4“ einließ, leistete er einen nicht unwesentlichen finanziellen Beitrag zur Mordaktion – ebenso wie etwa das Land Anhalt (durch die kostenlose Bereitstellung des Anstaltsteils in Bernburg).310 Eine Beschlagnahme der Anstalt gegen den Willen eines staatlichen oder kommunalen Trägers scheint „T4“ nirgends erwogen zu haben – anders als etwa bei dem kirchlichen Träger Grafenecks –, sodass der unentgeltlichen Überlassung der Anstalt Hadamar durch den Bezirksverband durchaus ein Charakter von Freiwilligkeit zuzumessen ist. Vorbereitung und Abschluss des Pachtvertrages zwischen dem Bezirksverband Nassau und der Mordorganisation „T4“ werfen ein Licht auf das Binnenverhältnis unter den Verantwortlichen des Bezirksverbandes zu dieser Zeit. Bei der Vorbereitung des Vertrages kam Bernotats Sonderrolle als direkter Ansprechpartner für „T4“, seine Funktion als „Geheimnisträger“ und regionaler „Sonderbeauftragter“,311 voll zur Geltung. Bernotat war derjenige, in dessen Geschäftsbereich der Vertrag mit „T4“ bearbeitet wurde, vermutlich in Rücksprache mit dem Wiesbadener Stellvertreter des Landeshauptmanns, Landesrat Kranzbühler.312 Bernotat übermittelte dem Hadamarer Landessekretär Klein (schriftlich) die Vertragsinhalte und damit die formale Grundlage der Beziehung zwischen der „Rumpf“Landesheilanstalt und „T4“; den Status als „Sonderbeauftragter“ brachte der Anstaltsdezernent in diesem Zusammenhang dadurch zum Ausdruck, dass er nicht „im Auftrag“, also als Mitarbeiter des Bezirksverbandes, unterschrieb, sondern in der personalen Form als „Bernotat[,] Landesrat“ in „Wiesbaden[,] Landeshaus“.313 Die Vertragsunterzeichnung selbst aber nahm Oberpräsident Philipp Prinz von Hessen in Kassel als Behördenleiter des Bezirksverbandes vor, allerdings erst am 15. Februar 1941 (also dreieinhalb Monate nach Nutzungsbeginn der Anstalt Hadamar durch „T4“ und selbst noch einige Wochen nach Beginn der Morde). Landeshauptmann Traupel legte dem Oberpräsidenten den Vertragstext vor und teilte ihm mit, die Verpachtung an die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ sei mit dem Innenministerium abgestimmt. Den Nutzungszweck der Anstalt Hadamar habe Traupel ihm – so Philipp – jedoch nicht mitgeteilt; Philipp Prinz von Hessen meinte später sogar, der Zweck sei dem Landeshauptmann selbst unbekannt gewesen – sicherlich eine Fehleinschätzung. Der Oberpräsident beauftragte Traupel dann, ihm bei Gelegenheit Bericht über die Nutzung der Anstalt Hadamar zu erstatten,314 da der Vertrag selbst keine Angaben über deren künftige Verwendung beinhaltete. Die „Stiftung“ sicherte im Vertrag Angaben der Ist-Angaben für das Rechnungsjahr 1941, die Wasserkosten betragen ebenfalls nur 4,03 RM). – Anscheinend stellte der BV Nassau „T4“ auch die Bewirtschaftungskosten des Hofgutes Schnepfenhausen in Rechnung, denn diese sind in der Aufstellung nicht gesondert ausgewiesen. 309 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez. durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. als Anlage zum Schreiben von LdsR Bernotat, Wiesbaden, an LS Klein, LHA Hadamar (27.06.1941). – In § 1 des Vertrages (= Bl. 48) heißt es, der BV stelle „die Gebäude und Einrichtungen“ der LHA Hadamar der Stiftung „unentgeltlich zur Verfügung“ (mit Ausnahme von Schnepfenhausen, das „weiterhin durch die Organe des Bezirksverband verwaltet wird“). 310 Zu Bernburg: Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 192: Der Leiter des Landesfürsorgeamtes in Dessau „hat uns unseren Teil kostenlos zur Verfügung gestellt, d. h. wir zahlen dafür keinerlei Miete, sondern lediglich die laufenden Kosten für Licht, Heizung usw. werden anteilmässig von uns getragen.“ – Wahrscheinlich ist auch eine entsprechende Vereinbarung mit dem Land Sachsen (zur Überlassung der Gebäude auf dem Sonnenstein), jedoch werden in der Literatur keine konkreten Belege hierzu erwähnt: vgl. Schilter, Ermessen (1999), S. 68. 311 Zur Funktion der regionalen „Sonderbeauftragten“ siehe Kap. IV. 2. a). 312 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 182 f., Zeugenaussage Therese H. (Bernotats Sekretärin) ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), hier S. 182. – Kranzbühler selbst bestätigte zwar, über die Verpachtung durch Bernotat informiert worden zu sein, behauptete jedoch, den Vertrag selbst nie gesehen zu haben: Ebd., Bl. 226, Zeugenaussage Max Kranzbühler ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Ffm (17.09.1946). 313 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 47, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an Landessekretär Klein, LHA Hadamar (27.06.1941). 314 Ebd., Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 878 f. (Philipp von Hessen gab weiterhin an, er habe eine Intrige des Gauleiters Sprenger zur Übernahme der Anstalt durch die Partei befürchtet); ebd., Bd. 7, Bl. 232, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 415 lediglich zu, die Anstalt bei Vertragsende auf ihre Kosten in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Ab Anfang 1942 sollte dem Bezirksverband eine Vertragskündigung zum jeweiligen Quartalsende mit eineinhalbmonatiger Frist möglich sein.315 Philipp von Hessens Auftrag an Traupel zur Beschaffung weiterer Informationen über die Nutzung blieb wenig ertragreich. Der angesprochene Bernotat habe kurzerhand die Auskunft über Hadamar verweigert und „von einem ihm persönlich gegebenen Sonderauftrag gesprochen“. „Das wäre seine Angelegenheit und er brauche keine Auskünfte über den Zweck der Anstalt zu geben.“ Philipp von Hessen nannte es später einen „ganz ungewöhnlichen Fall, daß der Chef einer Behörde keine Kenntnis von den dienstlichen Aufträgen eines ihm unterstellten Beamten erhalten sollte“, dass also der Dienstweg in einer öffentlichen Verwaltung umgangen wurde.316 Man mag zunächst geneigt sein, diese Darstellung, die allein auf Nachkriegsaussagen Philipps von Hessen beruht, als eine der häufig zu findenden Schutzbehauptungen anzusehen, durch die Verantwortlichkeiten auf bereits Verstorbene (bzw. vermeintlich Verstorbene) abgeschoben werden sollen.317 Indes sprechen in diesem Fall Argumente dafür, dass Bernotat im Vertrauen auf die Rückendeckung von Parteiseite die Abgabe der Anstalt Hadamar an „T4“ tatsächlich bereits unter Dach und Fach hatte bringen können, lange bevor zumindest Oberpräsident Philipp Prinz von Hessen Kenntnis über die wirklichen Hintergründe erlangte. Das zerrüttete Verhältnis, das sich im Laufe des Jahres 1940 (im Zusammenhang mit dem Machtkampf Sprenger gegen Traupel) auch zwischen Bernotat und Philipp von Hessen vollends herausgebildet hatte,318 hatte dazu geführt, dass eine Routinekommunikation zwischen beiden Seiten nicht mehr existierte, zumal die unterschiedlichen Dienstorte in Wiesbaden bzw. Kassel auch vorher schon bremsend gewirkt hatten. Zudem fand die Unterstellung des Bezirksverbandes Nassau unter den Oberpräsidenten in Kassel im Alltagshandeln der Wiesbadener Verwaltung kaum einen Ausdruck, sodass der Oberpräsident ohnehin oft erst nachträglich selbst wichtige Entscheidungen der Verbandsverwaltung zur Kenntnis nahm und damit nachträglich legitimierte.319 Dass allerdings auch Landeshauptmann Traupel zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung Mitte Februar 1941 nicht gewusst haben solle, dass Hadamar mittlerweile als „T4“-Mordanstalt genutzt werde, ist äußerst unwahrscheinlich. Sollte er sich gegenüber dem Oberpräsidenten bei Vorlage des Vertrages tatsächlich unwissend gegeben haben, so wäre dies nur damit zu erklären, dass er dessen Einweihung auf geschickte Weise umgehen wollte. Wie und zu welchem Zeitpunkt allerdings Traupel eingebunden wurde, muss bislang offen bleiben. Auch für ihn galt, dass der Kontakt zu seiner Wiesbadener Verwaltung und speziell zu Bernotat seit den existenziellen Auseinandersetzungen des Jahres 1940 weitgehend auf Eis lag, dass der Kontakt abgerissen war.320 Andererseits war Traupel über die 315 Ebd., Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez. durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben: 27.06.1941]). 316 Ebd., Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 879 f. (auf Bl. 879 das Zitat „von einem [...]“, Philipp will sich beim RMdI über das Verhalten Bernotats beschwert habe, doch auch das Ministerium habe Auskünfte zur Verwendung Hadamars abgelehnt); ebd., Bd. 7, Bl. 232, Bl. 234, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (auf S. 232 das Zitat „Das wäre [...]“, auf S. 234 die Einschätzung, Bernotat sei hier nicht durch Gauleiter Sprenger, sondern durch das RMdI legitimiert worden); HStA Wi, Abt. 520 Nr. DZ 519563, Beiakten Bd. I, Bl. 2 f. Philipp Prinz von Hessen, „Aufzeichnung über die Verpachtung der Landesheilanstalt Hadamar. (In Ermangelung schriftlicher Unterlagen aus dem Gedächtnis aufgezeichnet).“ (02.01.1947); ebd., Bd. II, Bl. 114–127, Protokoll d. Vernehmung Philipp Prinz von Hessen b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager in seinem Verfahren (Verhandlung 1. Instanz) (15.–17.12.1947), hier Bl. 124–126. 317 Dafür spräche auch, dass diese Aussagen durch den Verteidiger im Spruchkammerverfahren herausgestellt wurden: HStA Wi, Abt. 520 Nr. DZ 519563, Hauptakten Bd. II, Bl. 8–56, RA Dr. Frhr. v. Preuschen u. RA v. Schlabrendorff, Wiesbaden, an Spruchkammer Darmstadt-Lager, Erwiderung auf die Klageschrift im Spruchkammerverfahren (1. Instanz) gegen Philipp Prinz von Hessen (21.11.1947), hier Bl. 51 f. 318 Siehe dazu Kap. IV. 1. b). 319 Siehe dazu Kap. II. 1. b). 320 Siehe dazu Kap. IV. 1. b). – Besonders kurios erscheint der Versuch des Anwalts von Traupels Familie im Jahre 1949, Traupels Konflikt mit Sprenger mit den NS-„Euthanasie“-Verbrechen zu erklären: „In schwerste Konflikte geriet der Verstorbene mit dem Gauleiter Sprenger, als dieser die Euthanasie in hessischen Anstalten durchführen wollte, wogegen sich der Verstorbene auf das äußerste sträubte. [...] Erst [...] als dieser sich selbst zum Militärdienst gemeldet hatte, [...] wurde die Euthanasie in der Anstalt Herborn [!] in Hessen durchgeführt“: HStA Wi, Abt. 520 Nr. KZ 3217, Bl. 7–10, Antrag von RA u. 416 IV. Zeit der Gasmorde Mordaktion an sich von Anfang an im Bilde, wie man aufgrund seiner Freundschaft mit Richard Hildebrandt annehmen kann,321 wie seine Mitwirkung bei Menneckes U.-k.-Stellung für „T4“ im Dezember 1939 nahe legt und wie es spätestens für die Zeit der Meldebogenerfassung im Juli 1940 belegt ist.322 Trotz aller persönlicher Feindschaft war es für Bernotat Ende 1940 unumgänglich, Traupel über die Abgabe der Anstalt Hadamar ins Vertrauen zu ziehen, wenn sich aus der Bereitstellung als Mordanstalt nicht unabsehbare Komplikationen ergeben sollten. Bei allem Hang zu ideologisch motivierten Maßnahmen war Bernotat doch Verwaltungsbeamter genug, um die Notwendigkeit einer formalen Grundlegung der Abgabe an „T4“ zu kennen. Dass Traupel von der Sache her hinter der NS-„Euthanasie“-Aktion stehen würde, konnte vorausgesetzt werden, doch wann und auf welchem Wege er konkret einbezogen wurde, ist unbekannt. Denkbar wäre einerseits, dass die Angelegenheit am 5. Dezember 1940 in Berlin zur Sprache kam, als Bernotat und Traupel (aus anderen Gründen323) gemeinsam einen Termin bei SD-Chef Reinhard Heydrich hatten, der selbst mit der Frage der Krankentötungen befasst war (etwa indem er an den Beratungen zum Gesetz über die „Sterbehilfe bei unheilbar Kranken“ teilnahm324). Anderseits ist denkbar, dass Bernotat durch einen „Vermittler“ Kontakt zu Traupel aufnehmen ließ, nachdem der in Berlin entworfene und vom Leiter der „T4“-Wirtschaftsabteilung, Willy Schneider, am 8. Januar 1941 unterschriebene Pachtvertrag in Wiesbaden eingetroffen war. Zu denken wäre etwa an Traupels Wiesbadener Stellvertreter als Landeshauptmann, Landesrat Max Kranzbühler, der längst eingeweiht war, oder aber an den Eichberger Direktor Dr. Friedrich Mennecke, der sich aus den Auseinandersetzungen zwischen Bernotat und Traupel gänzlich herausgehalten hatte – wohl weil sie ihn sachlich nicht betrafen und weil er währenddessen vollauf mit den „Begutachtungen“ und Reisen für „T4“ beschäftigt war.325 Festzuhalten bleibt, dass in die Verpachtung der Anstalt Hadamar seitens des Bezirksverbandes eine sehr kleine Anzahl von Personen involviert war. Dass ein derartiges „Kommandounternehmen“ überhaupt möglich war, bringt die veränderten Strukturen und Machtverhältnisse im Bezirksverband seit der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ und der Einführung des Führerprinzips326 deutlich zum Ausdruck. Während ein Vorgang wie die Hadamarer Verpachtung zu Weimarer Zeiten noch vom Kommunallandtag oder dem Landesausschuss hätte beschlossen werden müssen (und vielfältige Diskussionen hätte hervorrufen können), lag nun (theoretisch) die alleinige personale Vollmacht beim Oberpräsidenten, wodurch die Entscheidung unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt werden konnte. Indem Philipp von Hessen – mit welchen Informationen auch immer ausgestattet – die Unterschrift Mitte Februar 1941 vollzog, wurde die Verpachtung der Anstalt Hadamar an die Mordorganisation „T4“ rückwirkend ab November 1940 wirksam. Wenn die Verpachtung im Vorfeld auch intern nicht auf breiter Basis verhandelt worden war, so sah der Verband in den folgenden Monaten dennoch offenbar keinerlei Veranlassung, die Überlassung der Anstalt gegenüber der Öffentlichkeit – und erst recht nicht gegenüber der breiten Masse der eigenen Mitarbeiterschaft – zu verschweigen. In dem 1941 veröffentlichten Verwaltungsbericht über den Bezirksverband hieß es im Abschnitt über Hadamar kurz: „Das seit Beginn des Krieges in der hiesigen Anstalt eingerichtete Reservelazarett wurde Ende Oktober 1940 aufgelöst. Seit dem 1. November 1940 ist die Anstalt an die Gemeinnützige Stiftung für Notar Ludwig W., Schötmar in Lippe an d. Kammer f. polit. Überprüfung d. Versorgungsberechtigten, Kassel (06.09.1949), hier Bl. 8. 321 Siehe dazu Kap. III. 3. c). 322 Siehe dazu Kap. IV. 2. a). 323 Hauptthema der Besprechung war die Frage der (beruflichen) Zukunft der verfeindeten SS-Mitglieder; siehe dazu Kap. IV. 1. b). 324 NARA, T-1021, Roll 11, Frame 64–96, „T4“-Protokoll zu den Gesetzesberatungen (o. D.), auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1806), hier n. den Kopien in BA, R96 I/2, Bl. 126659–126690, hier Bl. 126685. – Zu dem geplanten Gesetz siehe auch Roth/Aly, Gesetz (1984). 325 Letztlich muss dieser Punkt offen bleiben, da Traupel u. Bernotat sich nach 1945 gar nicht zu den NS-„Euthanasie“Verbrechen äußerten, während in den Äußerungen der beiden anderen, Kranzbühler u. Mennecke, diese konkrete Frage nicht thematisiert wurde. – Zu den Kenntnissen Kranzbühlers und der Involvierung der von ihm geleiteten Personalabteilung in die Personalbeschaffung für „T4“ siehe auch Kap. IV. 2. c). 326 Siehe dazu Kap. II. 1. b). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 417 Anstaltspflege verpachtet. Auf dem zur Anstalt gehörenden Hofgut Schnepfenhausen sind 65 Kranke untergebracht, die mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt werden.“327 Spätestens als sich dann im Laufe des Jahres 1941 in der Bevölkerung die Gerüchte über die Hadamarer Morde ausbreiteten, konnten diese auch dem Oberpräsidenten Philipp von Hessen nicht mehr verborgen bleiben; anscheinend hatte sich auch der Betheler Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh wegen der Krankentötungen Hilfe suchend an Philipp von Hessen gewandt.328 Aufsehen erregen sollte später Philipp von Hessens Erklärung im Nürnberger Prozess, er habe „sowohl vom Euthanasie-Programm als auch von den Juden-Deportationen, vor allem aus Frankfurt, volle Kenntnis“ gehabt, ein Bekenntnis, das „im Gegensatz zu der Aussage der meisten Nürnberger Angeklagten“ stand.329 Über die Krankenmorde informiert, will Philipp von Hessen dieses Thema 1941 bei Besprechungen in Berlin angeschnitten haben. Zunächst sei er an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, herangetreten – angeblich zufällig, ohne zu wissen, dass dieser Hitlers „Euthanasie“-Beauftragter war. Anschließend habe er mit Hitler selbst gesprochen, der ihm in einem verhältnismäßig kurzen Gespräch gesagt habe „[...] es muss sein.“330 Gleichviel, ob die Angaben Philipp von Hessens über seine behaupteten Interventionen zutreffen oder nicht: Auf den weiteren Verlauf der Krankenmorde in den ihm unterstellten Landesheilanstalten nahm der Kasseler Oberpräsident sowohl 1941 als auch in den folgenden Jahren – soweit ersichtlich – keinerlei Einfluss mehr, weder in aktiv fördernder noch in bremsender Hinsicht.331 Landeshauptmann Wilhelm Traupel dagegen stellte noch im April 1941, kurz bevor er sich infolge der Streitigkeiten mit Sprenger zur Wehrmacht einberufen ließ, eine möglichst reibungslose Beteiligung der Anstalten seines (nordhessischen) Bezirksverbandes Hessen sicher.332 Er persönlich machte seinen Kasseler Anstaltsreferenten Karl Rücker, der ohnehin seit der Meldebogenerfassung eingeweiht war,333 mit den nächsten Schritten vertraut, nämlich der anstehenden Verlegung von nordhessischen Patienten in Zwischenanstalten wie Weilmünster; dabei bekräftigte er nochmals, das Vorgehen sei rechtmäßig, es sollten „die völlig unheilbaren Kranken, die in keiner Weise für eine Arbeit zu verwenden seien, [...] von ihren Leiden schmerzlos befreit werden“.334 In Wiesbaden dagegen überließ Traupel das Feld vollständig den dortigen Protagonisten Bernotat und Mennecke.335 Aus Überzeugung leistete der Landeshauptmann die ihm möglichen Beiträge zur Unterstützung der Krankentötungsaktion der „T4“ und ließ sich dabei anscheinend nicht dadurch irritieren, dass sein Wiesbadener Kontrahent Bernotat von der Krankenmordorganisation „T4“ nun als bevorzugter Ansprechpartner auserwählt worden war. Im Gegenteil: Gegenüber dem Oberpräsidenten, mit dem er zuletzt bei der geplanten Zusammen327 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 21. – Die gedruckten Verwaltungsberichte fanden zwar keine allzu große Verbreitung, wurden aber keineswegs nur intern vertrieben, sondern z. B. auch in den Bestand der Nassauischen Landesbibliothek in Wiesbaden aufgenommen. 328 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 232–236, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947). – Vgl. auch NARA, Unterlagen des Nürnberger Prozesses, Bl. E 047196 f., Zusammenfassung der Vernehmung (06.05.1947) von Philipp Prinz von Hessen durch Dr. Kempner in Nürnberg, hier Bl. E 047196, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, AA Film Nr. 3653: „He [...] heard that Pastor BODELSCHWINGH appealed directly to the institution although it was not in his diocese.“ 329 Frankfurter Neue Presse (28.05.1947), „Prinz Philipp von Hessen wußte davon“, hier zit. n. d. Zeitungsausschnitt in d. Akten d. Hess. Justizministeriums, Az. IV – 149/49, Bl. 35. 330 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 232–236, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (dort auf S. 236 Zitat „[...] es muss sein.“); ebd., HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 880; HStA Wi, Abt. 520 Nr. DZ 519563, Hauptakten Bd. II, Bl. 114–127, Aussage Philipp Prinz von Hessen b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager in seinem Verfahren (Verhandlung 1. Instanz) (15.–17.12.1947), hier Bl. 125 f. 331 Beispielsweise sagte der stv. Kasseler LH Schellmann aus, in seinen (seltenen) Dienstgesprächen mit dem OP sei das Thema nicht angesprochen worden: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 115 f., Aussage Otto Schellmann b. d. StAnw in Kassel (04.07.1946), hier Bl. 116. 332 Zu Traupels diesbezüglichen Aktivität siehe Kap. IV. 3. a); zu seiner Einberufung siehe Kap. IV. 1. b). 333 Zu Karl Rücker (1889–1948 siehe biogr. Anhang; zur Meldebogenerfassung im BV Hessen siehe Kap. IV. 2. a). 334 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 182 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). – Zur Unterrichtung der 3 nordhessischen Anstaltsdirektoren durch Traupel eine Woche vor seiner Einberufung siehe Kap. IV. 3. a). 335 Weder für eine Kontaktaufnahme Traupels zur Wiesbadener Zentralverwaltung oder den LHAen des BV Nassau noch zur „T4“-Anstalt Hadamar während der Zeit des Gasmorde gibt es irgendwelche Hinweise in zeitgenössischen Archivquellen oder Nachkriegsaussagen. 418 IV. Zeit der Gasmorde legung der Bezirksverbände336 eine Allianz eingegangen war, deckte Traupel Bernotats Verhalten bei der Verpachtung der Anstalt Hadamar an „T4“, möglicherweise um die Einweihung des als vielleicht unsicheren Kantonisten eingestuften Philipp Prinz von Hessen zu umgehen. Die Ideologie der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, der Traupel sich spätestens seit den 1930er Jahren verschrieben hatte, scheint nun schwerer gewogen zu haben als jegliche Rücksichtnahme auf taktische Konstellationen oder persönliche Zu- und Abneigungen. * Die Anstalt Hadamar war unter den 1940/41 installierten sechs Gasmordanstalten die letzte, welche „T4“ in Betrieb nahm. Sie war zugleich die erste und einzige, die in Räumlichkeiten eines der preußischen Provinzial- und Bezirksverbände eingerichtet wurde, weswegen dem Bezirksverband Nassau als Verpächter auch eine Sonderrolle unter diesen Verbänden zukommt. Ein Vergleich mit der Auswahl und Übernahme der übrigen fünf „T4“-Anstalten zeigt die Hintergründe für diese Rolle. Um in den Besitz von geeigneten Liegenschaften für die Installierung von Mordanstalten für die vier eigens definierten „Einzugsgebiete“ (Nord, Ost, Süd, West) zu gelangen, benötigte „T4“ Unterstützung vor Ort – in politischer Hinsicht vom gebietsmäßig zuständigen Gauleiter und in verwaltungstechnisch-organisatorischer Hinsicht von der zuständigen Staatsverwaltung. Überwiegend wurde „T4“ fündig in solchen Territorien, in denen eine möglichst monolithische Führungsstruktur herrschte, etwa indem die Ämter von Gauleiter, Reichsstatthalter, Chef der Landesregierung und Reichsverteidigungskommissar in Personalunion geführt wurden (wie in Anhalt, Sachsen oder Württemberg). Dies minimierte zum einen Kompetenzkonflikte, zum anderen trugen die Gauleiter als legitimatorische Instanz zu einer Absicherung des geheimen Krankentötungsprojekts bei. Dass die Personalunion in der Führung von Gauleitung und Verwaltungsbehörde im Falle Hadamars nicht bestand, ließ sich offensichtlich durch das gute persönliche Einvernehmen zwischen Gauleiter Sprenger und Anstaltsdezernent Bernotat kompensieren, während der Rivalität Sprengers zur eigentlichen Behördenspitze des Bezirksverbandes Nassau seit der faktischen Entmachtung von Landeshauptmann Traupel kaum noch eine Bedeutung zukam. Neben derartigen machtstrategischen Gründen beeinflussten einige praktische Bedingungen die Auswahl der Anstalt Hadamar: die verkehrsgünstige Lage nahe der Autobahn, die relativ geringe Größe der Anstalt, die mangelnde Notwendigkeit größerer Umbauten, die schnelle Verfügbarkeit, möglicherweise auch die Lage außerhalb des Ortskerns. Letztlich aber scheint all dies nicht ausschlaggebend gewesen zu sein; in gewisser Hinsicht war die Wahl des eigentlich zu weit südlich gelegenen Hadamars sogar nur eine Notlösung. Somit wurde schließlich die ideologische Verlässlichkeit und die Bereitwilligkeit der Führungspersönlichkeiten des Bezirksverbandes Nassau zu dem Hauptkriterium. Der Bezirksverband Nassau, der sich bereits bis 1939 mit seiner kranken- und behindertenfeindlichen Anstaltspolitik profiliert hatte, schien darauf aufbauend die Gewähr für eine Unterstützung der Krankentötungsaktion zu bieten. In der Praxis betrieben insbesondere Anstaltsdezernent Bernotat und Anstaltsdirektor Dr. Mennecke im Kontakt mit dem zuständigen „T4“-Ansprechpartner, dem Leiter der Inspektionsabteilung Adolf Kaufmann, die Übergabe der Immobilie in Hadamar. Ein sich entwickelndes persönliches Verhältnis zwischen den Protagonisten des Bezirksverbandes und Kaufmann, zuständig für die Ingangsetzung der Gasmordanstalt, führte zu einer reibungslosen Einrichtung des Gebäudes als „T4“-Anstalt, über deren Zweck – dies kann als sicher gelten – bereits in der Anfangsphase auch der (für Hadamar zuständige) Frankfurter Gauleiter Sprenger einbezogen war. Als prägend für die weitere Kooperation zwischen „T4“ und Bezirksverband erwies sich die Tatsache, dass fortan auf dem Hadamarer Anstaltsgelände – ja sogar in den Räumlichkeiten des Hauptgebäudes – zwei Institutionen koexistierten: die so genannte „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar“ als „T4“-Gasmordanstalt und die als Rumpfeinrichtung weiter bestehenden „Landesheilanstalt Hadamar“ als Institution des Bezirksverbandes Nassau mit dem Bernotat-Vertrauten Landessekretär Alfons Klein an der Spitze. Klein unterstützte die „T4“-Anstalt engagiert in logistischen oder organisatori336 Siehe dazu insb. Kap. IV. 1. a). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 419 schen Angelegenheiten. Auch darüber hinaus erhielt „T4“ vielfältige Dienst- und Sachleistungen des Bezirksverbandes beim Aufbau der Mordanstalt; den namhaftesten Beitrag des Verbandes stellte gewiss die mietfreie Überlassung der Anstaltsgebäudes für die folgenden eindreiviertel Jahre dar. Durch die deformierte Leitungsstruktur, die sich mit der Gleichschaltung des Bezirksverbandes und der Einführung des „Führerprinzips“ seit 1933/34 herausgebildet hatte, war der Abschluss des Pachtvertrages über Anstalt Hadamar für den Bezirksverband relativ reibungslos möglich. Ohne Rücksichtnahme auf demokratische Gremien ließ sich die Verpachtung unter Ausschluss der Öffentlichkeit bewerkstelligen; Bernotat konnte dabei seine Rolle als regionaler „T4“-„Sonderbeauftragter“ voll zur Geltung bringen. Zugleich erwies sich die Unterstellung des Wiesbadener Verbandes unter den Kasseler Oberpräsidenten als Farce, denn indem der Amtsinhaber seine Funktion als Behördenleiter allenfalls der Form halber wahrnahm, erhielten die Wiesbadener Verbandsverantwortlichen einen weiten Spielraum, den die Rechtsvorschriften von 1933/34 kaum hätten erwarten lassen. Wenngleich die Bereitstellung und Verpachtung der Anstalt als eine Maßnahme des Bezirksverbandes gewertet werden kann, so ist doch unverkennbar, dass an dieser Maßnahme erst eine relativ kleine Elite aus der Spitze der Verwaltung beteiligt war. Das Engagement Einzelner, die durch ihrer Verankerung in der NSDAP (und zugleich in der SS) eine beinahe unangefochtene Stellung innerhalb der Verbandshierarchie hatten einnehmen können, ermöglichte diese entscheidenden Schritte zur Vorbereitung der „T4“-Morde in Hadamar. Der Anteil der Verwaltung als Ganzer bestand in dieser Phase noch allein darin, den Betreffenden den Raum für ihr dementsprechendes Handeln zu geben. Erst in der folgenden Zeit sollte auch ein größerer Teil der Mitarbeiterschaft – und damit die Basis – des Bezirksverbandes in bestimmte Sektoren der Mordaktion auf aktivere Art und Weise eingebunden werden. c) Akquirierung von Personal für die „T4“-Anstalt Hadamar Einen der heikelsten Punkte in der Vorbereitung der Mordaktion stellte aus Sicht von „T4“ die Beschaffung von geeignetem Personal dar. Die intensive Zusammenarbeit, die gerade in dieser Frage zwischen dem Bezirksverband Nassau und „T4“ entstand, zeigt – anders als in manchen anderen Bereichen der Mordaktion – eine Sonderstellung des Wiesbadener Verbandes. Der Bezirksverband unterschied sich hier deutlich von den übrigen Verbänden, aber auch von den außerpreußischen Landesverwaltungen, da er die einzige dieser Behörden war, die für den Betrieb der Mordanstalt einen erheblichen Teil ihres dortigen Personals an die Organisation „T4“ abordnete. Für diese war es notwendig, Mitwirkende zu finden, die sich möglichst ohne Bedenken an der Kranken- und Behindertentötung beteiligten. Zugleich konnte jedoch aus Gründen der Geheimhaltung keine offene Ausschreibung erfolgen.337 In vielen Fällen griff „T4“ auf das Mittel der „Heranziehung zum Notdienst“ zurück, eine Zwangsverpflichtung, die der Staat nach der „Notdienstverordnung“ von 1938 zur „Bekämpfung öffentlicher Notstände“ in „Erfüllung hoheitlicher Aufgaben“ von allen Bewohnern des Reichsgebiets „für eine begrenzte Zeit“ verlangen konnte.338 Nicht „T4“ selbst, sondern kooperierende Behörden, etwa das Reichsinnenministerium oder beispielsweise einzelne Landräte, sprachen die Dienstverpflichtungen aus;339 teilweise traten dabei die Arbeitsämter in Aktion, die seit 1939 im Zusammenhang mit 337 Zu den Schwierigkeiten der Personalbeschaffung aus „T4“-Sicht angesichts des Ziels der Geheimhaltung siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. HvTag (11.03.1947), hier Bl. 352. 338 RGBl. I, Jg. 1938, Nr. 170 (18.10.1938), S. 1441 f., „Dritte Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Notdienstverordnung)“ (15.10.1938), hier S. 1441 (§ 1); ebd., Jg. 1939, Nr. 25 (14.02.1939), S. 206 f., „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ (13.02.1939). – Zur Anwendung der Notdienstverordnung durch „T4“ siehe Walter, Psychiatrie (1996), S. 658. 339 Die Notdienstverordnung von 1938 sah in § 2 (S. 1442) vor, dass die zuständigen Behörden vom „Beauftragte[n] für den Vierjahresplan [...] im Benehmen mit dem Reichsminister des Innern“ bestimmt werden. – Der für „T4“ verpflichtete Pfleger Heinrich Unverhau, bis dahin in der Heil- und Pflegeanstalt Neuruppin, wurde durch den Landrat des Kreises Neuruppin notdienstverpflichtet: Zeugenaussage Heinrich Unverhau ggü. einem Untersuchungsrichter (30.06.1960), hier n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 69. – 5 Pflegerinnen der Anstalt Berlin-Wittenau wurden durch das RMdI notdienstverpflichtet: Hühn, Psychiatrie (1989), S. 192 f., mit Hinweis auf Archiv d. Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik Berlin, Schnellbrief d. RMdI (14.12.1939). – Die Ankündigung der Notdienstverpflichtung in Berlin-Wittenau soll dagegen durch den Berliner Polizeiprä- 420 IV. Zeit der Gasmorde der „Notdienstverordnung“ befugt waren, „privaten und öffentlichen Betrieben und Verwaltungen [...] die Abgabe von Arbeitskräften“ aufzuerlegen.340 Die Dienstverpflichteten hatten sich im Allgemeinen zunächst in der „T4“-Zentrale in Berlin einzufinden, wurden dort über ihren Auftrag unterrichtet und anschließend in eine der Mordanstalten geschickt.341 Unterschiedlich handhabte man bei den „T4“-Anstalten die Frage, ob auch vor Ort Personal akquiriert wurde. So ist beispielsweise für die Mordanstalt Grafeneck dokumentiert, dass zu Beginn ausschließlich Personal von der Berliner Zentrale geschickt wurde,342 während in Bernburg vereinzelt auch Mitarbeiter aus dem Ort selbst angestellt wurden.343 Trotz des prinzipiellen Zwangscharakters von Heranziehungen zum „Notdienst“ legte „T4“ doch großen Wert darauf, die Freiwilligkeit des Einsatzes zu wahren, um späteren Reibungen vorzubeugen.344 So wertete das Landgericht Frankfurt 1947 im Hadamar-Prozess: „Das Bestreben der maßgebenden Leute in der ‚Aktion‘ ist ganz offensichtlich dahin gegangen, als Mitarbeiter in der ‚Aktion‘ nur Leute zu sehen, die für diese außergewöhnliche Tätigkeit die innere Bereitschaft hatten. [...] Es ist [...] offensichtlich, daß man in dieser recht heiklen Angelegenheit keine Leute wissen wollte, die möglicherweise Schwierigkeiten bereiteten, die hierüber reden und möglicherweise durch Machenschaften den geplanten Aktionsablauf beeinträchtigen könnten.“345 Insofern geschahen auch die Dienstverpflichtungen meist nicht wahllos, sondern gezielt: Man ließ beispielsweise solche Personen verpflichten, die aus Parteikreisen oder von bereits aktiven „T4“Mitarbeitern empfohlen worden waren. Häufig warb man darüber hinaus Bekannte oder Verwandte anderer „T4“-Beschäftigter an. Umgekehrt wurden aus der Mordorganisation heraus Informationen über freie Stellen an Vertrauenspersonen weitergetragen, die an einer neuen Verwendung interessiert waren. Erwartungsgemäß war in derartigen Fällen meist nicht das Mittel der Dienstverpflichtung erforderlich.346 Über weite Strecken konnte „T4“ sich bei der Personalakquisition auf Unterstützung aus der SS stützen. Hierbei werden die SS-Mitgliedschaft und die persönliche Bekanntschaft des „T4“-Organisators Brack zu Reichsführer Heinrich Himmler eine Rolle gespielt haben. Ein Teil des „T4“-Personals stand zuvor in den Diensten des Sicherheitsdienstes (SD).347 Auch von dem in Hadamar eingesetzten Personal galt ein Teil als SS-Gruppe; Einzelne gaben sich als SD-Mitglied zu erkennen.348 Sowohl „T4“ selbst als auch SS und SD konnten sich kaum der halböffentlichen Meinung im Volk erwehren, wonach die Krankenmorde – soweit sie bekannt waren – als „eine irgendwie wilde Aktion der SS“ galten.349 Selbst der oberste Medizinalbeamte des Wiesbadener Regierungspräsidenten vertrat im Nachhisidenten erfolgt sein: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier Bl. 26. 340 RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 25 (14.02.1939), S. 206 f., „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung“ (13.02.1939), hier S. 206 (§ 1 Abs. 1); zur Anwendung einer Durchführungsanordnung v. 02.03.1939 (mit Bezugnahme auf die genannte Verordnung vom 13.02.1939) siehe HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie (bei der Vernehmung legte B. den Verpflichtungsbescheid vor, welcher die Verordnung u. die Durchführungsanordnung nennt); vgl. auch Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 140. 341 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02. 1948), Abschr., hier Bl. 26. 342 Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 220. 343 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 69. 344 Friedlander, Weg (1997), S. 373, weist in diesem Zusammenhang auch auf das Einspruchsverfahren in der Notdienstverordnung hin, „dessen Inanspruchnahme die Manager von T4 sich nicht leisten konnten, wenn die Operation geheim bleiben sollte.“ 345 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil mit Urteilsbegründung im Hadamar-Prozess, LG Ffm, Az. 4a Js 3/46 (o. D., ca. 26.03.1947), hier Bl. 1347. 346 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 166; Friedlander, Weg (1997), S. 373 f.; Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 140 f. 347 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 6, Vm. d. StAnw Ffm, Staatsanwalt Dr. Wagner (12.02.1946); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud F. geb. K. ggü. d. LG Ffm in Heilbronn (15.02.1966), Kopie; Walter, Psychiatrie (1996), S. 658. 348 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 91, Aussage d. Angeklagten Erich Moos im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 123, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (der ltd. „T4“-Büromitarbeiter Berger in Hadamar habe ihm ggü. gesagt: „[...] ich bin Beamter von dem SD [...]“). 349 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 352. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 421 nein die Auffassung, die so genannte „Euthanasie“ sei „allein auf Betreiben der SS und einiger Gauleiter“ in die Tat umgesetzt worden.350 Sogar gegenüber Reichsjustizminister Franz Gürtner sah SD-Chef Reinhard Heydrich sich 1940 bemüßigt mitzuteilen, bei den Aktivitäten von „T4“ handele es sich nicht um eine Aktion der ihm unterstellten Organe.351 Einen Grundstock für die personelle Ausstattung der künftigen Mordanstalt in Hadamar stellten für „T4“ die übernommenen und nach Hadamar versetzten Mitarbeiter der Ende 1940 geschlossenen Gasmordanstalt Grafeneck dar.352 Doch durch personelle Fluktuation reichte dies bei Weitem nicht aus. Daher wurde eine gewisse Anzahl der von „T4“ in Hadamar eingesetzten Personen zwischen Oktober 1940 und Juli 1941 in Frankfurt a. M. über die „Heranziehung zum Notdienst“ akquiriert – dieser Teil der Personalbeschaffung geschah noch ohne Einschaltung des Bezirksverbandes Nassau. Als Anforderer der „Notdienste“ trat zunächst gegenüber den Verpflichteten und ggf. deren bisherigen Arbeitgebern nicht eine der „T4“-Tarnorganisationen in Erscheinung, sondern die NSDAP. Als Adresse wurde zwar teilweise „Berlin, Tiergartenstraße 4“ angegeben, als Ansprechpartner und erste Anlaufstelle fungierte jedoch die Frankfurter Gauleitung.353 Diese Vorgehensweise, die ihre Entsprechung auch in Dienstverpflichtungen durch die Gauleitung Stuttgart für die „T4“-Anstalt Grafeneck sowie durch die Gauleitung Linz für die Anstalt Hartheim findet,354 bestätigt die auch andernorts festgestellte Einbindung zumindest bestimmter Gauleiter in das System der Krankenmorde. Auch der Dresdener Gauleiter stellte in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter Personal aus den sächsischen Landesanstalten für „T4“ ab.355 Die Methode der Dienstverpflichtungen über die nächstgelegene Gauleitung war jedoch auch keine Standardlösung; vielmehr suchte „T4“ offenbar von Fall zu Fall kooperationswillige Stellen. So ist es zu erklären, dass in Frankfurt nicht nur das erforderliche Personal für die Anstalt Hadamar akquiriert wurde, sondern auch mehrere Kräfte für andere Mordanstalten, so für die Anstalten Hartheim, Pirna-Sonnenstein und Bernburg.356 350 Ebd., Bd. 5, Bl. 502 f., Bericht von Oberregierungs- u. Obermedizinalrat Dr. Schrader auf Ersuchen der amerikanischen Militärregierung in Wiesbaden (o. D., angefordert am 21.04.1945), Abschr., hier Bl. 502, auch vorhanden in ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 232 f. (o. D., dort mit Eingangsstempel d. Kriminalpolizei: 26.11.1946). 351 BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 73, handschr. Vm. Dr. Joël für den Minister [Gürtner] (01.11. o. J. [1940]) (hier bezogen auf die Sicherheitspolizei); vgl. Friedlander, Weg (1997), S. 192 u. S. 525 (Anm. 6). 352 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im HadamarVerfahren (02.04.1946), hier Bl. 180; siehe dazu auch Kap. IV. 3. b). 353 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie (der durch B. vorgelegte Verpflichtungsbescheid enthielt den Hinweis auf die NSDAP in Berlin); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 664 f., gemeinsames Schreiben von Elisabeth U., Elfriede H., Ingeborg S. u. Johanna Sch., [Gefängnis] Limburg, an LG Ffm (10.12.1946), hier Bl. 664 („als Minderjährige ohne Ortsangabe vom Arbeitsamt Frankfurt/M. [...] für die NSDAP dienstverpflichtet“). 354 Der Aufenthalt des Leiters der „T4“-Inspektionsabteilung Adolf Kaufmann „bei Gauleitungen [...] im Zusammenhang mit der Personalbeschaffung“ wird bezeugt in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 18–23, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (13.04.1966), Durchschr, hier Bl. 20. – Zur Einbindung der Gauleitung Linz: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 8; ebd., Teil 1, Bl. 22– 25, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (23.12.1965), Kopie, hier Bl. 23; ebd., Nr. 1369, H, bzw. Nr. 1370, L, jeweils o. Bl.Nr., Zeugenaussagen Franz H. bzw. Elisabeth L. b. d. Bezirksgericht Linz/Österreich (beide 18.11.1964), Kopie (beide wurden über die Gauleitung Linz nach Hartheim kommandiert); Friedlander, Weg (1997), S. 374 u. S. 568 (Anm. 103). – Über die eigene Heranziehung über die Gauleitung Stuttgart wird berichtet in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 393–395, Aussage Elise F. geb. T. im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 393. 355 LWV, Best. 12/ehem. VA 153 (Kopie), o. Bl.-Nr., [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Personalabteilung, A. Oels, an VI Alfons Klein, LHA Hadamar (31.03.1944) („Der Reichsstatthalter hatte uns seinerzeit die Kräfte für einen geheimen Sonderauftrag entgegenkommend zur Verfügung gestellt [...]“; vermutlich wurde hier der Weg der Abordnung und nicht der Dienstverpflichtung beschritten); vgl. auch Schilter, Ermessen (1999), S. 198. 356 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 299–301, Bl. 303, Zeugenaussage Hedwig W. geb. I. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 299 (Hinweis auf eine in Ffm Verpflichtete, die „nach Linz/Österreich“ [= Hartheim] kam); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Elisabeth F. geb. N. b. d. LG Ffm (27.01.1966), Kopie (wurde im Okt. 1940 in Ffm für die Anstalt Sonnenstein verpflichtet). – Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 139, weist darauf hin, dass allein 12 Personalangehörige in Bernburg aus dem Raum Ffm stammten; nach ebd., S. 164–171 (Tab. VII.4: „Personal der ‚Euthanasie‘-Anstalt Bernburg“) zählten zu den aus Ffm stammenden (oder dort dienstverpflichteten) Bernburger Mitarbeitern die Büromitarbeiterin Mathilde Ha. aus Ffm (* 1909, bisher Stenotypistin, DAF-Mitglied, nicht NSDAP-Mitglied, später Sekretärin beim SSPF Görz), die Büromitarbeiterin Elisabeth Kl. aus Ffm (* 1922, bisher Angestellte, BDM-Mitglied, kein NSDAP-Mitglied), der Büromitarbeiter Karl. Sp. aus Ffm (* 1907, bisher Kaufmann, NSDAP- u. SS-Mitglied, später eingesetzt in Italien), der Büromitarbeiter Heinrich St. aus Ffm (* 1909, bisher Kaufmann, NSDAP-, SS- u. DAF-Mitglied), die Pflegerin Klara Wa. aus Ffm sowie verschiedene in anderem Zusammenhang in den Anmerkungen dieses Kap. IV. 2. c) Genannte. – Schilter, Ermessen (1999), S. 199, S. 290 (Anm. 976) nennt 7 aus Ffm nach Pirna beorderte Personen; nach ebd., 422 IV. Zeit der Gasmorde Die operative Abwicklung der Heranziehungen zum „Notdienst“ – auch die Suche der Kandidaten – übernahm jedoch in Frankfurt nicht (wie in Linz) die Gauleitung selbst, sondern das Arbeitsamt.357 Man darf vermuten, dass bei dieser Funktionsübernahme das vertrauensvolle oder freundschaftliche Verhältnis zwischen Gauleiter Sprenger und dem Präsidenten des in Frankfurt angesiedelten Landesarbeitsamtes Hessen, Ernst Kretschmann, eine Rolle gespielt hat.358 Das Frankfurter Arbeitsamt konnte sich zumindest teilweise auf Personalvorschläge aus Frankfurter Parteikreisen stützen. Dies diente dazu, eine prinzipielle Gewähr für eine Befürwortung der Krankentötungen durch die Ausgewählten sicherzustellen. So erwies sich beispielsweise die bei der NSDAP-Ortsgruppe Frankfurt-Praunheim ehrenamtlich tätige Finanzamtsangestellte Elisabeth N. als überzeugte Anhängerin des „T4“-Programms, wie sie noch 1966 unumwunden zugab: „Ich habe die Euthanasie-Massnahmen für richtig gehalten. Das bezieht sich natürlich nur auf die Geisteskranken. Ich habe viele Voll-Idioten gesehen und bin auch heute noch der Auffassung, dass im Interesse dieser Personen ihre Tötung das Richtige war, ihr Tod war eine Erlösung.“ Elisabeth N. wurde 1940 durch einen ebenfalls in dieser Ortsgruppe organisierten Mitarbeiter des Arbeitsamtes benannt und von „T4“ angeworben. Offenbar organisierte dieser Verbindungsmann auch die Einstellung weiterer Personen, denn mehrere der Verpflichteten wohnten im nördlichen Frankfurter Vorortbereich Praunheim/Römerstadt/Heddernheim.359 Wie in mehreren Fällen bezeugt, mussten einige der dienstverpflichteten „T4“-Mitarbeiter sich nach dem Termin beim Arbeitsamt zunächst im Gauhaus in der Frankfurter Gutleutstraße melden, es folgte dann im Prinzip die Entsendung in die Berliner Tiergartenstraße 4 und die schließliche Versetzung an den Einsatzort, meist Hadamar.360 Fast unisono formulierten mehrere Dienstverpflichtete später im Vorfeld und in der Hauptverhandlung des Hadamar-Prozesses 1946/47, sie seien „durch das Arbeitsamt Frankfurt/Main über die Gauleitung [...] dienstverpflichtet“361 worden. Die bereits erwähnten362 Kontakte zwischen Gauinspekteur Adolf Kaufmann seitens „T4“ und der Frankfurter Gauleitung sowie die damit verbundenen Aufenthalte Kaufmanns in Frankfurt im Herbst 1940 dienten zweifellos auch dem Zweck, diese Verpflichtungen zum „Notdienst“ in die Wege zu leiten, denn zu Kaufmanns Aufgabenspektrum zählte auch „die Anwerbung und Einführung des Anstaltspersonals“; wahrscheinlich war er sogar persönlich für die Instruktion des Arbeitsamtes verantwortlich und zumindest in der Anfangsphase an den dortigen Vorstellungsgesprächen beteiligt.363 Der zuständige Abteilungsleiter des S. 206–208 (Tab. „Nichtärztliche Mitarbeiter der Tötungsanstalt Sonnenstein“), S. 290 (Anm. 976) zählten zu den aus Ffm stammenden (oder dort dienstverpflichteten) Sonnensteiner Mitarbeitern die Büromitarbeiterin Erna A. aus Darmstadt, der Büromitarbeiter Netscher aus Ffm, der Büromitarbeiter Karl Sp. aus Ffm (* 09.04.1907, NSDAP- u. SS-Mitglied, auch eingesetzt in Bernburg, siehe oben) sowie verschiedene in anderem Zusammenhang in den Anmerkungen dieses Kap. IV. 2. c) Genannte. 357 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 25 f. – Zur Situation in Linz siehe die Schilderung bei Friedlander, Weg (1997), S. 374, S. 568 (Anm. 103). 358 Zum Verhältnis Sprenger – Kretschmann siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 21, Bl. 2–4, Pol.-Präs. Ffm, Einlieferungs-Anzeige zu Ernst Kretschmann (16.05.1945), hier Bl. 3. – Zu Ernst Kretschmann (1891–1970), der 1943 in Sprengers Gau zum Präsidenten des Gauarbeitsamtes u. Reichstreuhänder der Arbeit Rhein-Main wurde, siehe biogr. Anhang; zu dessen Rolle bei der Ermordung ausländischer Zwangsarbeiter/innen in Hadamar 1944/45 siehe Kap. V. 4. b). 359 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Elisabeth F. geb. N. b. d. LG Ffm (27.01.1966), Kopie. – Das Bekenntnis zur „Euthanasie“ kann auch prozessstrategische Gründe haben (vermeintliches Nichterkennen der Strafbarkeit). – Zur lokalen Herkunft siehe die Daten im biogr. Anhang zu den unten genannten im Okt. 1940 verpflichteten Personen. 360 Ebd., H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter ggü d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie; siehe auch die weiter unten genannten Belege zur Verpflichtung einzelner Personen. 361 So wörtlich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946), sowie ebd., Bd. 3, Bl. 99, Aussage Ingeborg S. geb. W. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); beinahe gleichlautend auch in ebd., Bd. 2, Bl. 51, Aussage Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (16.02.1946) („durch das Arbeitsamt Frankfurt/M[.], über die Gauleitung Frankfurt/M[.] [...] verpflichtet“); ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946) („durch das Arbeitsamt Frankfurt/Main an die sogenannte Gauleitung zwecks Dienstverpflichtung [...] verwiesen“). 362 Siehe dazu Kap. IV. 2. b). 363 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 34 (Kaufmann gab seinen Besuch bei der Gauleitung Ffm grundsätzlich zu, wollte seine Rolle aber auf einzelne Fälle beschränkt wissen und behauptete, er habe „mit dem Arbeitsamt [...] nichts zu tun gehabt“); vgl. auch ebd., Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 13, Bl. 16 (dort wird der generelle und häufige Kontakt des Bruders A. Kaufmann zur Gauleitung Ffm zwecks Personalbeschaffung nahe gelegt); siehe auch ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie (in dieser – allerdings in anderen Details fehlerhaften – Aussage wird die Anwesenheit des „Älteren der Gebrüder Kaufmann“ [= Adolf Kaufmann] beim Vorstellungsgespräch 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 423 Arbeitsamtes scheint in den eigentlichen Zweck der Dienstverpflichtungen eingeweiht und mit besonderen Vollmachten ausgestattet gewesen zu sein, denn er verfügte gegenüber seinen Mitarbeitern Sonderregelungen zur Geheimhaltung364 und schickte die Dienstverpflichteten teilweise sogar direkt nach Hadamar – ohne den aufwändigen Umweg über Gauleitung und Berliner „T4“-Zentrale.365 Die Dienstverpflichtungen über das Arbeitsamt Frankfurt geschahen zunächst in zwei Schüben: der erste Ende Oktober 1940, der zweite Ende Februar/Anfang März 1941. Einzelne weitere Dienstverpflichtungen fanden schließlich um die Jahresmitte 1941 statt. Die ersten, im Herbst 1940 Verpflichteten sollten ihren Dienst bei „T4“ am 28. Oktober aufnehmen; soweit sie für einen Einsatz in Hadamar bestimmt waren – eine Gruppe von etwa zehn Personen –, trafen sie dort ein, als das so genannte „T4“Vorkommando seine Tätigkeit bereits aufgenommen hatte. Die Herangezogenen gehörten der Altersgruppe zwischen Anfang 20 und Anfang 30 an, waren (soweit bekannt) in der Partei oder ihren Verbänden organisiert und hatten bislang überwiegend im öffentlichen Dienst oder sogar bei der NSDAPGauleitung selbst gearbeitet. „T4“ setzte sie nun hauptsächlich im Büro oder im Wirtschaftsbereich der Mordanstalten ein.366 Zunehmend gewannen für „T4“ die Verwaltungsabteilungen der Anstalten an Bedeutung, nicht zuletzt da Unachtsamkeiten gerade in diesem Bereich (etwa Unstimmigkeiten bei schriftlichen Benachrichtigungen an die Angehörigen der Opfer) die Geheimhaltung in höchstem Maße gefährdeten. Der zweite Schub von Dienstverpflichtungen für Hadamar, wirksam ab Anfang März 1941, ist in diesen im Arbeitsamt Ffm im Okt. 1940 bezeugt). – Grundsätzlich zur Funktion Kaufmanns bei der Personalbeschaffung siehe auch ebd., Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 25 (Zitat „die Anwerbung [...]“); zur entsprechenden Aktivität Kaufmanns in Linz zur Anwerbung und Einstellung von Personal für die „T4“-Anstalt Hartheim siehe Friedlander, Weg (1997), S. 160. 364 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 299–301, Bl. 303, Zeugenaussage Hedwig W. geb. I. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 299 (im Gegensatz zu sonstigen Heranziehungen zum „Notdienst“ wurden nicht 3–4, sondern nur 2 Durchschläge der Verpflichtungsanordnung erstellt). 365 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie. 366 Zu den im Oktober 1940 in Ffm Verpflichteten zählten: Hedwig A. (* 1916), Johann B. (* 1907), Alfred F., Anneliese G. (* 1909), Josef Hirtreiter (* 1909), Johann („Hans“) K. (* 1901), Alfred L. (+ 1944), Elisabeth N. verh. F. (* 1918), Karl R. (1910–1956), Paula S. (* 1911), August S. (* 1912), Sch. (Vorname u. Lebensdaten unbekannt); nicht bekannt sind die Daten einer (wahrscheinlichen) Dienstverpflichtung von Philipp P. und Adolf Merkle für „T4“ (beide 1941 von „T4“ in Hadamar eingesetzt); formal nicht dienstverpflichtet war der bereits in Kap. IV. 2. b) genannte BV-Bedienstete Emil S. (* 1902), der jedoch etwa zeitgleich mit den Verpflichteten im Herbst 1940 vom Arbeitsamt Ffm nach Hadamar geschickt wurde. – Zu den Genannten siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 47, 5. Polizeirevier Ffm an GenStAnw Ffm (07.08.1963); ebd., Bl. 135, Strafanstalt Butzbach an LG Ffm (09.08.1965); ebd., Nr. 1360, Bl. 234, LG Ffm an Polizeipräsidium Ffm (31.08.1965); ebd., Bl. 239 f., Vm. d. Polizei Ffm, 13. K. (10.09.1965) u. Polizeipräsidium Ffm an LG Ffm, Untersuchungsrichter (13.09.1965); ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Helmut F. bzw. Elisabeth F. geb. N. b. d. LG Ffm (24. bzw. 27.01.1966), Kopie; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter ggü d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage August S. b. d. LG Ffm (26.08.1965), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Schr. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02. 1946); ebd., Bl. 80, Bl. 83, Bl. 88, Berichte d. Kriminalpolizei Ffm, 1. Kommissariat (22. bzw. zweimal 25.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 100, Zeugenaussage Johann B. b. d. Kriminalpolizei Ffm (23.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 41, Aussage Elfriede H. b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.04.1946); ebd., Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946); ebd., Bl. 100 f., Aussage Josef Hirtreiter b. d. Kriminalpolizei Ffm (21.06.1946); ebd., Bl. 103, Aussage August S. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); ebd., Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]); ebd., Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm, Erster StAnw Tomforde (03.08.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier Bl. 174 f., Bl. 212 f.; Bl. 218 f.; ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 f. (07.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 133–136, Aussage d. Angeklagten Paula S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 156 f. bzw. Bl. 157 f., Zeugenaussagen Johann B. u. August S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 5, Bl. 244, IfZ, München, an OStAnw b. d. LG Ffm (27.02. 1954), Abschr.; ebd., Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier Bl. 27, Bl. 29; Hess. Justizministerium, Az. IV – 149/49, Bl. 1–4, Vm. d. Hess. Justiz-Min., Az. IV – 147/46 (13.01.1949), Durchschr., hier Bl. 4; LWV, Best. 12/ehem. VA 232 (Kopie), Bl. 10 bzw. o. Bl.-Nr., LHA Hadamar [an BV Nassau], Statistiken „Personalbestand am 1. September 1942“ bzw. „[...] 1. Oktober 1943“ bzw. „[...] am 1. November 1943“ (04.09.1942, ab: 04.09.1942, bzw. 01.10.1943, bzw. 01.11.1943), Entwürfe; ebd., ehem. VA 636 Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr., August S., z. Zt. Darmstadt, an „Verein für Anstaltspflege“, Hadamar (28.06.1944); Schilter, Ermessen (1999), S. 79, S. 199, S. 204, S. 206–208, S. 312, S. 290 (Anm. 976). 424 IV. Zeit der Gasmorde Kontext einzuordnen, denn mit der Akquisition von sechs zusätzlichen weiblichen Schreibkräften versuchte „T4“, diesem Missstand Herr zu werden. Diese Stenotypistinnen waren (bis auf eine Ausnahme) erst knapp 20 Jahre alt, vier von ihnen hatten bis dahin Stellen (teils Ausbildungsstellen) beim Frankfurter Defaka innegehabt, einer Filiale der (1954/61 im Hortenkonzern aufgegangenen) Hamburger Kaufhauskette „Deutsches Familienkaufhaus“. Wie bereits die Dienstverpflichteten des Oktobers 1940 wurde nun, Ende Februar 1941, auch diese Gruppe ins Arbeitsamt einbestellt; die Betreffenden mussten sich noch einmal bei der Gauleitung melden und wurden dann am 1. März, einem Samstag, gemeinsam mit einem Bus am Frankfurter „Horst-Wessel-Platz“ (Rathenauplatz) abgeholt und nach Hadamar gebracht.367 Wer die vier beim Defaka tätigen Frauen dem Arbeitsamt zur Dienstverpflichtung vorgeschlagen hatte, kam bei späteren Befragungen nicht zu Tage; anzunehmen ist die Benennung durch eine in der Firma tätige Mittelsperson, die einerseits die vier Frauen kannte und die andererseits Kontakte zu den Verantwortlichen des Arbeitsamtes oder der Gauleitung hatte. Darauf, dass auch in diesem Fall die ideologische Zuverlässigkeit eine Rolle gespielt haben könnte, weist die Äußerung einer der Verpflichteten, der in Frankfurt-Sachsenhausen wohnenden Elisabeth U., hin, die sich zur „Euthanasie“-Aktion bekannte: „Ich war mir [...] im Klaren, dass ich Mitwisser bin, doch habe ich mir hierüber keine Gewissensbisse gemacht, denn ich war ja einverstanden mit der Vernichtung.“368 Dagegen scheinen formale Aspekte wie etwa eine Verankerung der Betreffenden in der Partei in diesem Fall kaum noch eine Rolle gespielt zu haben – aufgrund biografischer Aspekte (Jugendlichkeit und Geschlecht) hatte keine der hier betroffenen sechs Mitarbeiterinnen Derartiges vorzuweisen. Allerdings konnte eine langjährige Parteimitgliedschaft durchaus ein Anhaltspunkt sein, um einen „geeigneten“ Mitarbeiter für „T4“ in Hadamar ausfindig zu machen. Darauf verweist die „T4“-Dienstverpflichtung des 1926 der NSDAP beigetretenen „alten Kämpfers“ und Trägers des Goldenen Parteiabzeichens, Maximilian L. aus Frankfurt. Der Beamte, der bis dahin als Schulhausmeister in Frankfurt in städtischen Diensten gestanden hatte, wurde nun für diverse Arbeiten in der Mordanstalt Hadamar eingesetzt.369 Maximilian L. zählte zur letzten Gruppe der in Frankfurt für „T4“ Dienstverpflichteten, die um die Jahresmitte 1941 (also wenige Wochen vor Abbruch der Gasmorde) teils als Ablösung, teils 367 Bei den am 25.02.1941 vom Arbeitsamt Ffm Dienstverpflichteten und am 01.03.1941 nach Hadamar Gebrachten handelte es sich um: Elfriede H., später verh. H. (* 1922), Hildegard („Hilde“) R. (* 1923), Rosa Sch. (* ca. 1901–1906); Ingeborg („Inge“) W., später verh. S. (* 1922), Ingeborg („Inge“) St. verh. Sch., Elisabeth („Liesel“) U. (* 1922). – Zu den Genannten siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 80, Bericht d. Kriminalpolizei Ffm (22.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in der Anstalt Herborn (01.03.1946), hier Bl. 116; ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 41, Aussage Elfriede H. b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.04.1946); ebd., Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946); ebd., Bl. 99, Aussage Ingeborg S. geb. W. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier insb. Bl. 174, Bl. 215, Bl. 217 f. (= S. 3, S. 44, S. 46 f.); ebd., Bd. 5, Bl. 664 f., Elisabeth U., Elfriede H., Ingeborg S. u. Johanna Sch., [Gefängnis] Limburg, an LG Ffm (10.12.1946), hier Bl. 664; ebd., Bd. 7, Bl. 140–142, Aussage d. Angeklagten Hildegard R. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947), insb. Bl. 140 f.; ebd., Bl. 146, Aussage d. Angeklagten Elisabeth U. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. HvTag (03.03.1947); ebd., o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 369 = Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag am 11.03.1947), Freier Gewerkschaftsbund (Metallgewerbe), Ffm, Bescheinigung für Hildegard R. (27.09.1946); ebd. (Anlage zu Bl. 369), Deutsches Familien-Kaufhaus G. m. b. H. (Defaka), Ffm, Vorläufiges Lehrzeugnis für Ingeborg W. (25.02.1941); ebd. (Anlage zu Bl. 369), LG Limburg an Elfriede Heil, Ffm (04.09.1961); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); Hadamar (1991), S. 180 f. („Übersicht über das angeklagte Personal der ‚Euthanasie‘Anstalt Hadamar“), hier S. 181. 368 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946). 369 Zu Maximilian („Max“) L. (* 1902) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 53, Aussage Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (17.02.1946); ebd., Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 80, Bericht d. Kriminalpolizei Ffm (25.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 156, Kriminalpolizei Ffm an Kommissariat, Einlieferungsanzeige Maximilian L. (08.03.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier Bl. 173, Bl. 207–209; ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 120–127, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947), insb. Bl. 120–124; ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 20 f., Aussage Maximilian L. (06.04.1946), Abschr.; ebd., Bl. 142, Postamt Ffm-NO an LG Ffm (o. D. [ca. 25.08.1965]); ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Maximilian L. ggü. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; Gimbel, Schilderungen (1941), S. 165–190 (= Liste „Die Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP. im Gau HessenNassau“), hier S. 172. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 425 als Verstärkung des bisherigen „T4“-Personals nach Hadamar geschickt wurden. Dies gilt auch für zwei weitere Mitarbeiter, die das Arbeitsamt in Verbindung mit der Gauleitung zum Juni 1941 für die Mordanstalt Hadamar dienstverpflichtete: die 20-jährige, bis dahin im Frankfurter Kaufhaus M. Schneider beschäftigte Verkäuferin Johanna M. und den 30-jährigen Hilfsarbeiter Robert Jührs, der seinen Arbeitsplatz in Frankfurt bis dahin mehrfach gewechselt hatte.370 (Etwa zeitgleich mit ihnen wurden durch das Arbeitsamt Frankfurt auch mehrere Frankfurterinnen für die Anstalt Bernburg dienstverpflichtet.371) Sowohl für Robert Jührs, NSDAP-Mitglied seit 1930, als auch für den erwähnten „alten Kämpfer“ Maximilian L. könnte die Dienstverpflichtung nach Hadamar auch der Beschaffung eines sicheren Postens gedient haben, der beide vor einer Einberufung zum Militärdienst bewahrte – angesichts des gerade anlaufenden Feldzuges gegen die Sowjetunion möglicherweise eine attraktiv erscheinende Alternative. Ebenfalls zum Juni 1941 ließ sich die schon früher in Frankfurt dienstverpflichtete 19-jährige Bürokraft Judith S. von ihrem ersten Einsatzort in der Berliner „T4“-Zentrale nach Hadamar versetzen, um heimatnäher eingesetzt zu sein, zumal seit Oktober 1940 auch ihre elf Jahre ältere Schwester Paula S. bereits in Hadamar tätig war. Bei Judith S. ist eine starke Affinität zur NS-Bewegung festzustellen, was sich in ihrem frühen Parteibeitritt als Minderjährige (vor der „T4“-Tätigkeit) und in einer Ausbildung zur Arbeitsdienst-Jungführerin manifestierte.372 Bislang lassen sich also über 30 Personen namhaft machen, die zwischen Oktober 1940 und Juli 1941 durch das Frankfurter Arbeitsamt in Verbindung mit der Gauleitung für „T4“ dienstverpflichtet wurden; mindestens 20 von ihnen kamen in der Mordanstalt Hadamar zum Einsatz.373 Der Hadamarer Stammbelegschaft galten die im Auftrag von „T4“ dienstverpflichteten Kolleginnen und Kollegen fortan als das „Berliner Personal“ – und zwar auch dann, wenn es sich tatsächlich um die aus Frankfurt stammenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter handelte.374 Für die in Frankfurt Dienstverpflichteten lässt sich zusammenfassen, dass sie in Hadamar durchweg in den Bereichen Verwaltung, Büroorganisation oder Hauswirtschaft beschäftigt wurden.375 Bei einem Teil von ihnen sind ausdrücklich enge Beziehungen zur NSDAP festzustellen, für einen anderen Teil trifft dies aber überhaupt nicht zu, insbesondere nicht für die jüngeren Frauen, die zuvor in Frankfurter Kaufhäusern tätig gewesen waren. 370 Zu Johanna („Hanni“) M., später verh. Sch. (* 1921) und Robert Jührs (* 1911) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 53, Aussage Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (17.02.1946); Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 41, Aussage Elfriede H. b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.04.1946); ebd., Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946); ebd., Bl. 102, Aussage der Ehefrau von Robert Jührs, b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.06.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946); ebd., Bd. 5, Bl. 664 f., Elisabeth U., Elfriede H., Ingeborg S. u. Johanna Sch., [Gefängnis] Limburg, an LG Ffm (10.12.1946), hier Bl. 664; ebd., Bd. 7, Bl. 137–139, Aussage d. Angeklagten Johanna Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 369), Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege, Der Personalchef, Zeugnis für Hanne M. (31.07.1942); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, W, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Franz W. b. d. LG Ffm (05.09. 1963), Kopie; Hess. Justizministerium, Az. IV – 149/49, Bl. 1–4, Vm. d. Hess. Justiz-Min., Az. IV – 147/46 (13.01.1949), Durchschr., hier Bl. 3; Friedlander, Weg (1997), S. 382 u. S. 569 (Anm. 134), mit Hinweis auf LG Hagen, Urteil Dubois, 11 Ks 1/64 (20.12.1966), S. 342–346. 371 Bekannt ist dies für Ilse L., später verh. G. (* 1918) und Anneliese J., später verh. B. (* 1920): HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Ilse G. geb. L. ggü. d. LG Ffm in Bonn (07.02.1966), S. 1 f., S. 4 f., Kopie; ergänzende Angaben nach Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 164–167. – Zu beiden siehe biogr. Anhang. 372 Zu Judith S., später verh. T. (* 1922) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 51 f. bzw. Bl. 53, Aussagen Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (16. bzw. 17.02.1946); ebd., Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 73; ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier S. 174; ebd., Bd. 5, Bl. 672, Judith T. geb. S., [Gefängnis] Limburg, an LG Ffm (11.12.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 127–133, Aussage d. Angeklagten Judith T. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); LWV, Best. 12/ehem. VA 232 (Kopie), Bl. 5, LHA Hadamar, gez. Klein, Statistiken „Personalbestand am 1. September 1942“ u. „[...] am 1. September 1943“ (04.09.1942 bzw. 01.09.1943). 373 Siehe die biografischen Angaben zu den Betreffenden im Anhang. 374 Siehe z. B. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02. 1946), hier Bl. 72. 375 Eine einzige Ausnahme könnte der „Fahrer oder Beifahrer“ Sch. (siehe oben) darstellen, der möglicherweise die „Gekrat“Busse begleitete. 426 IV. Zeit der Gasmorde Letztere gelangten zweifellos ohne ihr Zutun, ausschließlich über Empfehlungen zu „T4“, wenngleich zumindest Einzelne anschließend ihr Einverständnis mit dem so genannten „Euthanasie“-Programm bekannten. Gratifikationen, die „T4“ an seine Mitarbeiter zahlte, konnten einen Anreiz zur Mitwirkung darstellen.376 Die Dienstverpflichteten insgesamt leisteten einen eminenten Beitrag zu einem möglichst reibungslosen Vollzug der Krankenmorde, waren aber nicht so unmittelbar oder offensichtlich an den Tötungen beteiligt wie diejenigen, die die Kranken zur Gaskammer brachten, dort erstickten und anschließend die Leichen beseitigten. Dies war dem Landgericht Frankfurt im Hadamar-Prozess von 1947 Begründung für den durchgängigen Freispruch der Betreffenden.377 Die geschilderten Fälle von Personalbeschaffung belegen am Beispiel Frankfurts, wie weit gehend regionale Dienststellen von Partei und öffentlicher Verwaltung – hier die NS-Gauleitung und das Arbeitsamt – in Zuarbeiten für die Krankenmordaktion der „T4“ einbezogen waren. Doch nicht nur Dritte, sondern auch der Bezirksverband Nassau stellte in umfangreichem Maße Personal für die Mitarbeit in der Mordanstalt Hadamar ab. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Pflegekräfte (Schwestern und Pfleger), in geringerem Maße auch um Verwaltungskräfte, die vorher bereits in der Landesheilanstalt Hadamar gearbeitet hatten. Anders als bei den aus Frankfurt kommenden Mitarbeitern wurde bei den Beamten und Angestellten des Bezirksverbandes nicht die Form der Heranziehung zum „Notdienst“ gewählt, sondern die direkte Abordnung. Dies bedeutete, dass die Betreffenden fortan in ebenso verantwortlichen Funktionen378 wie die Mitglieder des „Berliner Personals“ in der „T4“-Mordanstalt Hadamar mitarbeiteten. Formal aber blieben sie Beschäftigte des Bezirksverbandes und erhielten von diesem auch ihre Bezüge, welche „T4“ dem Verband dann erstattete.379 Während ansonsten das für „T4“ ausgewählte Personal sich entweder in der Zentraldienststelle in Berlin oder in den Anstalten direkt vorstellen musste, verzichtete „T4“ bei der En-bloc-Übernahme des Hadamarer Personals auf diesen Überprüfungsschritt. Das Landgericht Frankfurt führte dies im Hadamar-Prozess 1947 zurück auf das „besondere[...] Vertrauen, das gerade Bernotat bei den Berliner Stellen genoß“.380 Hinzuzufügen ist dieser Einschätzung jedoch, dass der für die erste Personalausstattung der Mordanstalten verantwortliche „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann die nun übernommenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hadamar während seiner dortigen Aufbautätigkeit ab Oktober/November 1940 bereits hatte kennen lernen können. Offenbar hatte Bernotat aber tatsächlich bereits eine Vorauswahl getroffen und mindestens vier Hadamarer Beschäftigte, die ihm wohl als zu unsichere Kandidaten erschienen, zum 31. Oktober 1940 entlassen oder in eine andere Anstalt des Bezirksverbandes versetzt.381 Zu ihnen zählte beispielsweise die nun entlassene Verwaltungsangestellte Else M., deren Familie (nach ihrer eigenen Einschätzung) eine „nicht sehr parteifreundliche Einstellung“ gehabt habe. Bernotat habe ihr nur erklärt, er könne sie „nicht gebrauchen“; im Entlassungszeugnis seien „organisatorische[...] Gründe[...]“ für den Schritt angeführt worden.382 Zu den aus Hadamar Versetzten zählte auch der Fahrer Karl K., der nun in der Landesheilanstalt Weilmünster eingesetzt wurde und dessen nonkonforme Haltung in Bezug auf die Mordaktion sich nur wenige Wochen später erweisen sollte.383 376 Zu den finanziellen Prämien und Zulagen siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 2. c). Einzelne Verurteilungen unter den Genannten (Josef Hirtreiter, möglicherweise Robert Jührs) betrafen allein eine spätere Mitwirkung an der „Aktion Reinhard“ zur Ermordung von Juden: siehe biogr. Anhang. 378 Eine evtl. unterschiedliche Aufgabenzuweisung zwischen „Bezirksverbändler[n]“ und „Stiftungsangestellten“ wird in der Untersuchung von Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 298, S. 300, „eindeutig vernein[t]“. 379 Siehe dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Kap. IV. 2. c). 380 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil mit Urteilsbegründung im Hadamar-Prozess, LG Ffm, Az. 4a Js 3/46 (o. D., ca. 26.03.1947), hier Bl. 1347. 381 Außer den im Folgenden Genannten zählte dazu auch die Schwester Emilie („Emmy“) B. (1892–1962), die zum 01.11. 1940 von der LHA Hadamar zur LHA Eichberg versetzt wurde (siehe auch biogr. Anhang): LWV, Pers.-Akten Zug. 1981, Br., Em. – Gründe für ihre Versetzung wurden nicht aktenkundig. 382 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 59, Aussage Else M. aus Hadamar-Faulbach ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946). – Else M. wurde zunächst ab 01.11.1940 noch für einige Wochen an der LHA Weilmünster beschäftigt (vermutlich bis zum Ende der Kündigungsfrist), nach ihrer Aussage wurden gemeinsam mit ihr auch der (im Folgenden genannte) Karl K. sowie der Bäcker W. nach Weilmünster versetzt. 383 Karl K. wurde am 01.11.1940 von der LHA Hadamar zur LHA Eichberg versetzt: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946). – Zu Karl K. (* 1906) siehe auch biogr. Anhang; zu seiner öffentlichen Positionierung bezüglich der Krankenmorde und den Sanktionen siehe Kap. IV. 3. b). 377 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 427 Allein schon durch diese Vorauswahl erbrachte Bernotat als Anstaltsdezernent des Bezirksverbandes eine Unterstützungsleistung für „T4“; dies kann um so mehr für die Personalabordnung überhaupt gelten. Indem der Bezirksverband Nassau der Organisation „T4“ Personal auf dem Wege der (freiwilligen) Abordnung bereitstellte, unterschied er sich von wahrscheinlich fast allen anderen Anstaltsträgern. Allein für das Land Sachsen gibt es Hinweise, dass es möglicherweise ähnlich wie der Bezirksverband Nassau gehandelt hat: Dort hatte – wie es bei „T4“ hieß – der Reichsstatthalter der Organisation „Kräfte für einen geheimen Sonderauftrag entgegenkommend zur Verfügung gestellt“.384 Dagegen geschah die Abgabe von Personal aus verschiedenen Berliner Anstalten oder aus der Anstalt Neuruppin (Provinzialverband Brandenburg) mittels Verpflichtungen zum „Notdienst“,385 und selbst für die Anstalt Bernburg, die „T4“ teilweise vom Land Anhalt als Anstaltsträger übernahm, hat sich eine Abordnung des zuvor dort beschäftigten Anstaltspersonals bislang nicht feststellen lassen.386 Ein vergleichsweise prominentes Mitglied der „T4“-Führungsriege, Hans-Joachim Becker, entstammte dem Bezirksverband Hessen. Dessen Kasseler Hauptverwaltung stellte (noch zur Zeit der Anwesenheit von Landeshauptmann Traupel) den Verwaltungsangestellten Becker für „T4“ frei – ebenfalls aufgrund einer Notdienstverpflichtung und nicht infolge einer freiwilligen Abmachung. Die Dienstverpflichtung hatte das Reichsministerium des Innern auf Vorschlag von Ministerialrat Dr. Herbert Linden veranlasst, dessen Ehefrau eine Kusine Beckers war. Während der gesamten Zeit seiner „T4“-Tätigkeit war Becker formal weiterhin Angestellter des Bezirksverbandes Hessen, dessen Verwaltung sich die Bezüge – analog dem Vorgehen der Landesheilanstalt Hadamar – jeweils von der „T4“-Zentrale erstatten ließ.387 Die Abordnungen hatten „T4“ und Bezirksverband in demselben Vertrag vereinbart, der auch die Überlassung der Anstalt Hadamar insgesamt an die Mordorganisation regelte. Eine Anlage zum Vertrag nannte ursprünglich 24 „Gefolgschaftsmitglieder der Landes-Heilanstalt Hadamar“, die „für die Dauer des Vertrages der Stiftung zur Dienstleistung zur Verfügung gestellt“ werden sollten, wobei „Anstellungs-, Dienst- und Besoldungsverhältnisse dieser Gefolgschaftsmitglieder dadurch unberührt“ blieben.388 Realiter wurde die Abordnung nach einer Vereinbarung zwischen „T4“ und der Personalabteilung des Bezirksverbandes389 nicht für alle im Vertragsanhang aufgeführten Personen390 wirksam, 384 LWV, Best. 12/ehem. VA 153 (Kopie), o. Bl.-Nr., [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Personalabteilung, an Verw.-Insp. Alfons Klein, LHA Hadamar (31.03.1944) (mit der unbestimmten Zeitangabe „seinerzeit“). – Zu einer der davon betroffenen Kräfte, Hildegard S., die ab 1942 in Hadamar tätig war (zunächst für „T4“, ab 1944 als Angestellte d. BV Nassau), siehe Kap. V. 3. a) u. biogr. Anhang. – Die Studie Schilter, Ermessen (1999), über die Mordanstalt Pirna-Sonnenstein liefert jedoch keine Anhaltspunkte für eine Personalabordnung seitens des Landes Sachsen an die „T4“-Anstalt Sonnenstein. 385 Hühn, Psychiatrie (1989), S. 192 f. (Dienstverpflichtung von 5 Schwestern/Pflegern der Wittenauer Heilstätten ab Jan. 1940 nach Grafeneck); siehe dazu auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier Bl. 26. – Ebd., Bl. 2, Aussage Emma B. bei K. I. F. 5, Berlin (06.03.1947) (Dienstverpflichtung der Schwester aus der Anstalt Berlin-Buch ab Jan. 1940 nach Grafeneck). – Friedlander, Weg (1997), S. 387, S. 839 u. S. 570 (Anm. 148, Anm. 153) (Einsatz zweier Pfleger der Anstalt Neuruppin für „T4“ ab 1940 in Grafeneck); siehe dazu auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1013 f., Aussage Ernst Z. b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17.02.1947). 386 Für Bernburg vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 69. 387 Zu Hans-Joachim Becker (* 1909) siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: LWV, Pers.-Akten Zug. 1981, Becker, HansJoachim (dort Quellen zur Erstattung der Bezüge); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 13; NARA, T-1021, Roll 10, Frame 979-983, „T4“, „Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und für die Anstalt ‚C‘“ (o. D., gültig ab 08.08.1943), hier nach BA, All. Proz. 7/110 (FC 1805)], als Kopie auch in BA, R96 I/1, Bl. 126498–126502; Klee, Ärzte (1986), S. 78–81; Aly, Fortschritt (1985), S. 17, S. 26 f., S. 31; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 232; Friedlander, Weg (1997), S. 135, S. 316, S. 556 (Anm. 32); Kohl, Pyramiden (1997), S. 110 f.; Sandner, „Euthanasie“-Akten (1999), S. 395 f. – Zur Funktion der „Zentralverrechnungsstelle“ während der Krankenmordaktion nach 1941 und zum dortigen Einsatz Beckers, der ihm den Spitznamen „Millionenbecker“ einbrachte, siehe auch Kap. V. 3. b). 388 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez. durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben: 27.06.1941]); ebd., Bl. 50–52, Personalliste als Anlage zu § 3 des Vertrages, Abschr. – Zur Überlassung der Anstalt Hadamar durch den BV Nassau an „T4“ siehe Kap. IV. 2. b). 389 Schreiben BV Nassau, Az. B (Ia) 9/2/4, an „T4“ (17.04.1941), erwähnt in LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 58, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Leiter der Wirtschaftshauptabteilung, an BV Nassau, betr. „Ihr Schreiben vom 30. 4. 1942 – A (S/II)“ (11.05.1942), als Abschr. weitergesandt von BV Nassau, A (S/II), gez. LdsR Bernotat, an LHA Hadamar, z. H. LI Klein (15.05.1942). 428 IV. Zeit der Gasmorde sondern nur für diejenigen, die schließlich tatsächlich für die Mordanstalt tätig wurden. Das klammerte insbesondere jene männlichen Mitarbeiter der Landesheilanstalt aus, die sich bei der Wehrmacht befanden, aber auch eine Verwaltungsangestellte.391 Somit reduzierte sich die Zahl der zur Verfügung gestellten Personen auf gut die Hälfte,392 sodass der Bezirksverband Nassau der Mordanstalt in Hadamar in den Anfangsmonaten der Gasmordphase vier Schwestern und zwei Pfleger,393 je einen Koch und eine Köchin,394 drei Handwerker,395 einen Pförtner/Telefonisten396 sowie (mit Verzögerung) den Verwaltungsbeamten Alfons Klein397 zur Verfügung stellte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirkten in den folgenden Monaten zum Teil im Wirtschaftsbereich der „T4“-Anstalt (Küche oder Waschküche) mit, aber auch beim „Transport“ der Mordopfer nach Hadamar und bei deren Vorbereitung (Entkleidung, Bewachung) auf ihrem Weg in die Gaskammer.398 Sieht man einmal von Alfons Klein ab, lässt sich bei der ausgewählten Personengruppe eine besondere Prädestinierung für die Teilnahme an der Mordaktion, die über die reine Mitgliedschaft in der NSDAP oder ihren Organisationen hinausgegangen wäre, überwiegend nicht feststellen. Im Gegenteil hätte beispielweise die aus Oberbayern stammende und als „fromm“ geltende Schwester Irmgard Huber, die vor ihrer Tätigkeit in Hadamar der katholischen Schwesternschaft der Aquinater angehört hatte, von ihrer Biografie her kaum zu den „typischen“ Kandidatinnen für eine Mitarbeit bei „T4“ gelten können. Dennoch unternahm nur eine der abgeordneten Beschäftigten ernsthafte – und erfolgreiche – Bemühungen, wieder aus der Mordanstalt auszuscheiden: Indem sie eine Schwangerschaft 390 Die im biogr. Anhang aufgeführten Daten zu sämtlichen 24 im Vertragsanhang genannten Personen beruhen (außer auf dieser Vertragsanlage selbst) auf folgenden Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 42 f., Aussage Hedwig S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946), hier Bl. 42; ebd., Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02. 1946); ebd., Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946); ebd., Bl. 188, Aussage Käthe Gumbmann b. d. Kriminalpolizei Wiesbaden (30.08.1945); ebd., Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel, geb. Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 69–73, Bl. 77, Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 79, Aussage d. Angeklagten Agnes Schrankel im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. Landgerichts Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); ebd., Bd. 9, Bl. 1559–1582, Urteil d. OLG Ffm mit Urteilsbegründung im Revisionsverfahren zu Hadamar-Prozess u. Schwesternprozess (o. D. [verkündet am 20.10.1948]); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 106, Postamt Wiesbaden-Biebrich an LG Ffm (09.08.1965); ebd., Nr. 1360, Bl. 256, Postamt Reitmehring an LG Ffm (12.10.1965); Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965), Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (31.10.1963 u. 24.08. 1965); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Br., Mi.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Gr., An., Bl. 3; ebd., Pers.Akten Zug. 1981, Hu., Ir.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha., Teil 1, Bl. 30, Bl. 37, Vermerke d. BV Nassau (24.09.1940 bzw. 19.02.1941); ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Ne., Pe., Teil 1, Bl. 55, LHA Hadamar an KV Wiesbaden (10.06.1946); ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Le., Fr., Teil 3, Bl. 43–47, Dokumente d. KV Wiesbaden betr. Anstellungen und Beförderungen (24.04.1951), Abschr.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1982, Fö., Ma., Bd. I., Bl. 221 f., Vm./Vfg. d. BV Nassau (01.04.1942); ebd., Pers.-Akten Zug. 1982, Rö., Wi.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 69, LHA Hadamar an BV Nassau (28.08. 1939), Abschr.; LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wg. der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (18.12.1940–14.07.1942) sowie mit anderem Betreff (03.–19.10.1942); ebd., ehem. VA 232 (Kopie), diverse Statistiken „Personalbestand“ d. LHA Hadamar (04.09.1942–01.03.1945), Entwürfe; Hadamar (1991), S. 180 f.; Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 322–330 (zu Irmgard Huber). 391 Folgende 11 auf der Liste genannten Personen wurden in der Realität nicht an „T4“ abgeordnet, dementsprechend wurden staatsanw. Ermittlungen 1946 entweder eingestellt oder gar nicht erst angestellt: Friedrich B. (* 1902), Helene M. (1889– 1942), Anton S. (* 1894), Jakob St. (* 1899), Michael B. (1908–1941), Georg K. (* 1897), Anton G. (* 1884), Wilhelm K. (* 1896), August St. (* 1909), Stephan St. (* 1908); Johann H. (* 1911). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang. 392 13 (von 24 in der maschinenschr. Abschr. d. Anlage zum Pachtvertrag genannten) Personen wurden tatsächlich (d. h. bei Erstattung der Bezüge) an „T4“ abgeordnet (siehe die Quellen in obiger Anm., die Namen in den folgenden Anmerkungen sowie die weiteren Personendaten im biogr. Anhang). 393 Es handelte sich um die Pflegekräfte Willi R. (1890–1941), Benedikt Härtle (* 1904), Isabella („Bella“) W., später verh. W. (* 1901); Käthe Gumbmann (* 1898), Irmgard Huber (* 1901), Agnes Kappenberg, später verh. Schrankel (* 1907). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang. 394 Es handelte sich um den Koch Berthold H. (* 1910) und die Köchin Hedwig („Hede“) S. geb. L. (* 1905). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang. 395 Es handelte sich um den Schlosser Josef Sch. (1885–1959) , den Elektriker, Schlosser und Fahrer Emil S. (* 1902) u. den Schreiner Wilhelm Sch. (* 1904). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang. 396 Es handelte sich um den Pförtner Christian E. (* 1891). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zur Person siehe biogr. Anhang. 397 Zu dem erst ab Apr. 1941 abgeordneten Alfons Klein (1909–1946) siehe biogr. Anhang. – Zu den Quellen siehe obige Anm. 398 Siehe dazu die o. g. Quellen über das beteiligte Personal. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 429 vortäuschte, konnte die Schwester Isabella W. 1941 ihre Kündigung erreichen, nachdem sie sich zuvor bereits wegen eines Nervenzusammenbruchs für sechs Wochen krank gemeldet hatte, ohne dass sie Sanktionen wegen ihrer Verweigerungshaltung getroffen hätten.399 Zwar haben Untersuchungen zur Belegschaft der Landesheilanstalt Hadamar in den 1930er Jahren „auf ein hohes nationalsozialistisches Organisationsniveau“ und auf „ein fatales Maß an Anpassungsbereitschaft“ hingedeutet,400 doch dies kann allenfalls als Erklärung dafür dienen, warum die Betreffenden – bis auf die eine Ausnahme – schließlich klaglos oder gar bereitwillig mitwirkten. Es erklärt jedoch nicht die konkrete Zusammenstellung des abgeordneten Personals. Ausgangspunkt für die Abordnung war nicht ein bewusster Entschluss der Betreffenden zur Beteiligung, sondern die entsprechende Entscheidung der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes unter Federführung des Anstaltsdezernenten Bernotat. In einer Untersuchung über die Pflegekräfte der Anstalt Hadamar kommt Wettlaufer zu dem Ergebnis, dem leitenden Verwaltungsbeamten Alfons Klein müsse bei Entscheidung über Abordnung oder Wegversetzung der Personalmitglieder eine zentrale Funktion zugekommen sein. Dieser Studie zufolge wurde bei „der Zusammenstellung des Mordkaders auf langjährige Psychiatrieerfahrung, Anpassungsbereitschaft und politische Loyalität Wert gelegt“, wohingegen „niemand aufgrund sadistischer Persönlichkeitsstrukturen in den Kreis des Tötungspersonal[s] aufgenommen wurde.“401 Landessekretär Alfons Klein spielte auch während der Zeit der Gasmorde eine zentrale Rolle in der Anstalt Hadamar, die wohl über die ihm tatsächlich übertragene Rolle als Leiter des Küchenbetriebs402 hinausging. „T4“-Mitarbeitern galt er als „Wirtschaftsleiter“ der „T4“-Anstalt Hadamar, bis diese Funktion von dem durch die Berliner Zentraldienststelle geschickten Hans R.-G. wahrgenommen wurde.403 Insbesondere wurde Klein für die Hadamarer „T4“-Belegschaft der Kontaktmann zur Zentralverwaltung des Bezirksverbandes und dort hauptsächlich zu Bernotat. Zugleich personifizierte der Landessekretär die Klammer zwischen den beiden nun nebeneinander (zum Teil sogar ineinander) existierenden Institutionen auf dem Hadamarer Anstaltsgelände: der „T4“-Einrichtung namens „Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar“ und der Bezirksverbandseinrichtung unter der herkömmlichen Bezeichnung „Landesheilanstalt Hadamar“.404 Klein arbeitete in beiden Einrichtungen und auch für beide, welche ohnehin durch dieselben Wirtschaftsbetriebe (Küche, Waschküche) versorgt wurden.405 „T4“ erklärte sich deswegen (nach einer Besprechung zwischen dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten Bernotat und dem Berliner „T4“-Personalchef Friedrich Haus) ab April 1941 bereit, den Landessekretär in ihre Dienst zu übernehmen, also dem Bezirksverband seine Bezüge zu erstatten, obwohl Klein weiterhin auch als Leiter der Bezirksverbandsanstalt fungierte.406 399 Zu Isabella („Bella“) W., später verh. W. (* 1901) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 11 f., Aussage Isabella W. geb. W. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 90, LHA Hadamar an OStAnw in Ffm (25.06.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 174, Bl. 209 f.; ebd., Bd. 7, Bl. 104 f., Aussage d. Angeklagten Isabella W. im HadamarProzess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 311 f. – Zur grundsätzlichen Möglichkeit des Ausscheidens, „[w]enn wir [...] den Eindruck hatten, daß jemand garnicht zu dieser Arbeit passte“, vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (27.05.1963), Durchschr., hier S. 5; vgl. auch ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Thekla B. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.12.1965), Kopie (sie erreichte für sich u. ihre Schwester 1941 die Entlassung aus Hartheim); vgl. auch Friedlander, Weg (1997), S. 379. 400 Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 61. 401 Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 296 f. (Zitat auf S. 297). – Dennoch fanden sich unter der abgeordneten Mitarbeiterschaft durchaus grausame Persönlichkeiten: siehe etwa die Ausführungen zu Karl Willig in Kap. V. 3. a). – Zu den nur bedingt durchgeführten Ausleseverfahren bei bestimmten NS-Tätergruppen und zur Motivation der Betreffenden, dennoch an den Morden mitzuwirken, siehe die exemplarische Darstellung bei Browning, Männer (1993), S. 208–247 (am Beispiel des Reservepolizeibataillons 101). 402 Vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel geb. Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946), hier Bl. 46: „Klein wurde von der Stiftung übernommen und hatte dort verwaltungstechnisch für den Küchenbetrieb die Verantwortung.“ 403 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), Kopie, hier S. 4. 404 Siehe dazu auch Kap. IV. 2. b). 405 Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80 f. 406 LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 6, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Der Personalchef, Berlin, an LdsR Bernotat, Wiesbaden, Eichendorffstraße 1 (28.04.1941), hier als Abschr. von Bernotat, Wiesbaden, Landeshaus, an LHA Hadamar (02.05.1941). – Es wird Bezug genommen auf eine Abmachung vom 21.04. 1941. 430 IV. Zeit der Gasmorde Ein Nebeneinander von „T4“-Anstalt und der jeweils bisherigen Einrichtung fand sich auch in Bernburg und modifiziert ebenfalls in Pirna-Sonnenstein, allerdings ist in beiden Fällen kein derartiges Inund Miteinander wie in Hadamar festzustellen. Zwar nutzten in Bernburg die Mitarbeiter der „T4“Anstalt und der Landesanstalt dieselbe Küche, doch ansonsten waren die beiden Einrichtungen räumlich (durch Mauer und Bretterzaun) und organisatorisch voneinander abgeteilt; auch in Pirna war der „T4“-Bereich von den übrigen, als Umsiedlerlager für „Volksdeutsche“ genutzten Gebäuden des Sonnensteingeländes durch eine Mauer separiert.407 Die personelle Doppelrolle Kleins fand allerdings eine Entsprechung bei der „T4“-Anstalt Hartheim bei Linz (Gau Oberdonau), deren Leiter Dr. Rudolf Lonauer zugleich als Direktor der Gauanstalt Niedernhart bei Linz amtierte, die jedoch etliche Kilometer von Hartheim entfernt lag.408 Wohl zu Recht kommt Friedlander bei einem Vergleich aller sechs „T4“Gasmordanstalten zu dem Ergebnis, dass Hadamar sich von den übrigen insbesondere dadurch unterschied, dass der zuständige Anstaltsdezernent Bernotat, auch über seinen Untergebenen Klein, eine wichtige Funktion übernommen hat.409 All diese Befunde zusammengenommen ergeben das Bild, dass die Frage von Kooperation oder Separation zwischen „T4“ und den regionalen Anstaltsträgern nicht nach einem starren Konzept beantwortet wurde, sondern dass die Beteiligten von Fall zu Fall improvisierten und einen gangbaren Weg suchten, der durchaus eine Bereitschaft zur Unterstützung vor Ort berücksichtigen konnte. Die Kooperation zwischen Bezirksverband und „T4“ in personalpolitischer Hinsicht war mit der Abordnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Vertragsbeginn keineswegs beendet. Vielmehr kümmerte der Bezirksverband sich auch in den folgenden Monaten weiterhin um eine ausreichende Personalausstattung der Mordanstalt. Hierzu versetzte er mehrfach Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Anstalten Herborn und Weilmünster nach Hadamar, um sie sogleich an „T4“ abzuordnen. So wechselte der Koch Hans L. im Februar 1941 von Weilmünster nach Hadamar, um dort seinen Berufskollegen Berthold H. zu ersetzen, der zur Wehrmacht einberufen wurde.410 Einen eher untypischen Hintergrund hatte die Abordnung der Weilmünsterer Schwester Gertrud H. Aus „rein persönlichen Gründen, die auf einem ganz anderen Gebiet“ lagen (möglicherweise Differenzen mit Kollegen oder Vorgesetzten) beantragte sie die Wegversetzung von Weilmünster. Der Bezirksverband erfüllte ihr im Februar 1941 diesen Wunsch und versetzte sie nach Hadamar, wo sie nunmehr zu „T4“ abgeordnet wurde.411 Im Hochsommer 1941 (wenige Wochen vor der überraschenden Beendigung der Gasmorde) schickten der Bezirksverband Nassau und seine Personalabteilung412 noch zehn Pflegekräfte aus den Anstalten Weilmünster und Herborn nach Hadamar, um dadurch das „T4“-Kontingent in der dortigen Mordanstalt zu verstärken.413 Das Prozedere der Versetzung macht deutlich, dass die Verwaltungsleiter in 407 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 f.; Schilter, Ermessen (1999), S. 68. Zu Dr. med. Rudolf Lonauer (1910–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 267, S. 352, S. 498; Friedlander, Weg (1997), S. 188, S. 354–356, S. 542 (Anm. 156 f.). 409 Friedlander, Weg (1997), S. 334, S. 559 (Anm. 76). – Allerdings ist Friedlanders Formulierung, Bernotat scheine „einigen Einfluß auf die dortige Mordaktion ausgeübt zu haben“ (S. 334), für das Jahr 1941 doch als zu weit gehend einzuschätzen. 410 Zu Hans L. (1895–1956) siehe biogr. Anhang. – Quellen: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha.; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 203–205, Zeugenaussage Hans L. im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wegen der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (22.12.1941–17.04.1942). – Zum Hadamarer Koch Berthold H. (* 1910), den Hans L. ab Feb. 1941 ersetzte, siehe biogr. Anhang. 411 Zu Gertrud H., später verh. S. (* 1910) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß bzw. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (16.09.1963/25.11.1965), Kopie; LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wegen der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (18.12.1940–14.07.1942); ebd., ehem. VA 232 (Kopie), Bl. 5, LHA Hadamar, gez. Klein, [an BV Nassau,] Statistik „Personalbestand am 1. September 1942“ (04.09.1942, ab: 04.09.1942), Entwurf. 412 Zur Beteiligung der Personalabteilung siehe z. B. LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1989, Lückoff, Wilhelm, o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. i. A. LdsR Kranzbühler, an LHA Herborn (25.07.1941), Abschr. 413 In der LHA Weilmünster waren bis Juli 1941 folgende 2 Personen tätig gewesen: Paul Reuter (1907–1990er Jahre) u. Erich Moos (1903–1950). – In der LHA Herborn waren bis Juli 1941 folgende 8 Personen tätig gewesen: Paul H. (* 1905), Wilhelm Lückoff (1909–1968), Lydia Thomas (* 1910), Karl Willig (1894–1946), Robert O. (1897–1974), Willi R., Helga R., Änne J. – Zu allen 10 Personen siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Versetzung u. zu den Lebensdaten: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 84 f., Aussage Dr. Ernst B. in Weilmünster (22.02.1946), hier Bl. 84; ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115 f.; ebd., Bl. 130 f., Aussage Lydia Thomas ggü. d. AG Herborn (01.03.1946); Bl. 149, Gemeindepolizei Weilburg, Einlieferungsschein Paul Reuter (07.03.1946); ebd., Bl. 151, Bl. 170–173, Bl. 175–178, Aussagen 408 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 431 Weilmünster und Herborn, die als Bernotats Vertraute vor Ort agierten, vollständig über den Zweck der Versetzungen im Bilde waren; vermutlich waren sie sogar diejenigen, die Bernotat die nötigen Hinweise darauf gegeben hatten, wer von ihrem Personal am ehesten für einen Einsatz in Hadamar in Frage kommen könnte. Die Krankenschwester Lydia Thomas schilderte die Art ihrer Akquirierung durch den Weilmünsterer Landesamtmann Karl F. und ihre Versetzung nach Hadamar: „Da ließ mich eines Tages Herr F[...] rufen und sagte zu mir: das was er mir jetzt zu sagen hätte, da hätte ich mit niemand darüber zu sprechen. [...] Dann erklärte er mir, daß ich nach Hadamar versetzt werden würde. Wann ich dahin käme, würde er mir noch sagen lassen, heute oder morgen käme Landesrat Bernotat und da würde noch einmal Rücksprache genommen.“ Am folgenden Sonntagmorgen suchte dann einer der Bürobeamten der Landesheilanstalt Weilmünster die Schwester auf und teilte ihr mit, sie solle am nächsten Morgen nach Hadamar fahren. Entsprechend trat sie ihren Dienst dort gemeinsam mit einigen Kollegen am Montag, dem 28. Juli 1941 an.414 Der Herborner erste Verwaltungsbeamte Landesoberinspektor Paul A. scheint mit den Versetzungskandidaten zumindest verklausuliert über deren künftige Aufgabe in Hadamar gesprochen zu haben. Der Pfleger Wilhelm Lückoff erinnerte sich später: „A[...] frug mich bei meinem Weggang, ob ich wüsste, was [... in Hadamar] los wäre. Ich habe ihm geantwortet, ich wüsste es nur vom Hören-Sagen. Man müsste kolossal vorsichtig sein.“415 Während die Personalauswahl bei den ersten Abordnungen Ende 1940 relativ willkürlich vonstatten gegangen war, spielte nun, im Juli 1941, die politische Zuverlässigkeit eine gesteigerte Rolle. Die Mehrzahl der nach Hadamar versetzten Männer zählten zur Gruppe derer, die Mitte der 1930er Jahre als „alte Kämpfer“ eine Anstellung als Pfleger in den Anstalten Herborn oder Weilmünster erhalten hatten, und mindestens eine der nun an „T4“ abgeordneten Frauen – die erwähnte Lydia Thomas – gehörte sogar der NSDAP an, was bei den Krankenschwestern in den Landesheilanstalten (wie bei Frauen im Allgemeinen) eher eine Seltenheit darstellte. Bei der ersten Personalabordnung im November 1940 ging es dem Bezirksverband Nassau auch darum, sein in der abgetretenen Anstalt Hadamar verbliebenes Personal, das er für die eigenen Zwecke fortan nicht mehr benötigte, auf einfache Weise unterzubringen. Letztlich stand auch die Personalbereitstellung Ende Juli 1941 aus Sicht des Bezirksverbandes im Zeichen praktischer Erwägungen, denn wie schon ein Dreivierteljahr zuvor versuchte der Verband nun erneut, andere Einsatzmöglichkeiten für jene Mitarbeiter zu finden, für die es in den Anstalten des Bezirksverbandes keinen Bedarf mehr gab, was mittlerweile sehr konkret aus der gesunkenen Krankenzahl aufgrund der Mordaktion resultierte.416 Paul Reuter b. d. AG Weilburg (07.03.1946), b. d. Kriminalpolizei Ffm (14./15.03.1946) bzw. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in der LHA Weilmünster (06.03.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); Bl. 49, Aussage Paul H. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (07.05.1946); ebd., Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]); ebd., Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 58–60, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 63–67, Aussage des Angeklagten Paul Reuter im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02. 1947); ebd., Bl. 85–88, Bl. 99, Aussage d. Angeklagten Wilhelm Lückoff im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 91 f., Aussage d. Angeklagten Erich Moos im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 103 f., Aussage d. Angeklagten Paul H. im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); ebd., Bd. 44, Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm im Verfahren Az. 4a Js 30/46 (12.10.1946); ebd., Bd. 9, Bl. 1559–1582, Urteil mit Urteilsbegründung im Revisionsverfahren zum Hadamar-Prozess Ffm u. zum „Schwesternprozess“ (o. D. [verkündet am 20.10.1948]); ebd., Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 89, 6seitige „Aufstellung der in der Landesheilanstalt Eichberg in der Zeit v. 1939 bis März 1945 beschäftigten Personen“ (o. D., Anschreiben: 13.02.[1946]); LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wegen der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (28.08.1941–14.07.1942) sowie weitere Dok. aus dieser Akte; ebd., ehem. VA 232 (Kopie), div. Statistiken „Personalbestand“ d. LHA Hadamar (01.03.1943–01.03.1945), Entwürfe; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Wi., Ka.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Mo., Er.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1989, Lü., Wi.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Ne., Pe., Teil 1, Bl. 31 f., Vfg. zum Schreiben BV Nassau an LHA Herborn (19.07.1941), Abschr.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1984, Op., Ro., u. a. Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau an HEA Kalmenhof, Idstein (30.07.1941), Abschr. (zu Änne J.); ebd., Pers.-Akten Zug. 1989, Ei., He., Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Vm. (27.11.1940), Abschr.; ebd., Pers.Akten Zug. 1989, Lü., Wi.; Hadamar (1991), S. 180 f.; zu Robert O. u. Erich Moos siehe auch die weiteren Ausführungen (u. Quellen) in Kap. II. 2. b). 414 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. HvTag (25.02.1947). 415 Ebd., Bl. 87, Aussage d. Angeklagten Wilhelm Lückoff im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947). 416 Zur deswegen im Juli 1941 vollzogenen weitgehenden Schließung der LHA Herborn siehe Kap. V. 1. a). 432 IV. Zeit der Gasmorde Während allerdings den Abordnungen Ende 1940 eine Auswahl auf Zuverlässigkeit nur in negativer Hinsicht (durch den Ausschluss Einzelner) vorausgegangen war, war nun bei der zweiten Folge von Abordnungen eine positive Auswahl möglich und wurde auch vorgenommen. Dass die „alten Kämpfer“ hier den Vorzug erhielten, konnte einerseits dem Ziel dienen, den reibungslosen Fortgang der Mordaktion zu unterstützen. Andererseits könnten die Anstalten Herborn und Weilmünster aber auch die Gelegenheit genutzt haben, sich von einzelnen „schwierigen“ Mitarbeitern zu trennen, die bislang durch Brutalität, „Querulantentum“ oder geringe Befähigung zum Pflegerberuf aufgefallen waren.417 Anders als für die Überlassung der Hadamarer Anstaltsräume geschahen die Personalabordnungen durch den Bezirksverband nicht unentgeltlich. Bereits im Pachtvertrag, der auch die Abgabe der Anstalt regelte, hatte der Bezirksverband mit „T4“ vereinbart, dass zwar die „Zahlung der Dienstbezüge an die zur Verfügung gestellten Gefolgschaftsmitglieder [...] wie bisher durch den Bezirksverband“ erfolgen würde, dass allerdings diese Beträge zuzüglich eines 20-prozentigen „Versorgungszuschlages“ (für spätere Pensionszahlungen und für die aktuellen Arbeitgeberanteile zur Rentenversicherung) „dem Bezirksverband auf Anfordern [...] durch die Stiftung zurückerstattet“ werden sollten.418 Die Abrechnung mit der „Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege“ übernahm die Verwaltung der Landesheilanstalt Hadamar selbst.419 Anfangs im mehrmonatlichen, später im monatlichen Rhythmus reichte der erste Verwaltungsbeamte der Anstalt Hadamar, Alfons Klein, eine Aufstellung des aktuell abgeordneten Personals bei der „T4“-Wirtschaftsabteilung ein, deren Leiter anschließend die Überweisung der Personalkosten an die Hadamarer Anstalt tätigte.420 Offiziell waren die Rollen von „T4“ und Bezirksverband Nassau in Bezug auf die in Hadamar abgeordneten Mitarbeiter klar voneinander getrennt: „T4“ war für die Tätigkeit der Mitarbeiter zuständig, der Bezirksverband für die Auszahlung der Bezüge (und für weitere administrative Aufgaben im Bereich Personalverwaltung, etwa für die Führung der Personalakten). In der Praxis allerdings vermischten sich die beiden Sphären. Um einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ und damit einem möglichen Neidpotenzial zwischen „Stiftungspersonal“ und „Bezirksverbandspersonal“ vorzubeugen, bedachte „T4“ Letzteres auch mit den finanziellen Zulagen und Prämien, die für die Beschäftigung bei der Mordorganisation ansonsten gezahlt wurden. Diese steuerfreien Zulagen, die etwa bei Bürokräften zunächst 30, später 40 RM monatlich erreichen konnten,421 ließ „T4“ den abgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bezirksverbandes beispielsweise Ende 1941 in Form eines Weihnachtsgeldes zukommen, das sich je nach Tätigkeit und Dauer der Mitarbeit auf Beträge zwischen RM 60 und RM 395 für das abgelaufene Jahr belief. Die Vermischung der Sphären wird noch deutlicher, wenn man sieht, dass zwei der nicht abgeordneten Angestellten der Landesheilanstalt, nämlich die Verwaltungsangestellte Helene M. und der Gärtner Anton G., für treue Dienste ebenfalls das Weihnachtsgeld von „T4“ erhielten.422 Will man nicht von einer versehentlichen Zahlung ausgehen, so legt das den Schluss nahe, dass – auch über die Person des leitenden Verwaltungsbeamten Alfons Klein hinaus – die weiterhin für den Bezirksverband tätigen Mitarbeiter der Landesheilanstalt Hadamar während der Zeit der Gasmorde ebenfalls Hilfsdienste für „T4“ übernahmen und daher für ihre Kooperationsbereitschaft belohnt wur417 Dies könnte gelten insbesondere für Karl Willig, Robert O., Erich Moos und Paul Reuter. – Siehe dazu u. a. die entsprechenden Darstellungen in Kap. II. 2. b). 418 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez. durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben: 27.06.1941]), hier § 3. 419 Die Verwaltung der LHA Hadamar legte zu diesem Zweck eine eigene Verwaltungsakte an, wie eine Vfg. d. LS Klein (30.01.1941) auf dem ersten Schriftstück zu diesem Betreff zu entnehmen ist: LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 1, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Berlin, an LHA Hadamar, betr. „Erstattung der Gehälter und Arbeitgeberanteile für die von mir übernommenen Gefolgschaftsmitglieder Ihrer Anstalt“ (18.12.1940). 420 Ebd., Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wg. der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (18.12.1940–14.07. 1942). – Ansprechpartner bei „T4“, die der Korrespondenz zu entnehmen sind, waren die nacheinander amtierenden „T4“Wirtschafts- und Finanzchefs Willy Schneider u. Fritz Schmiedel. 421 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Klara M. geb. H. verwitw. D. ggü. d. LG Ffm in Freiburg/ Br. (17.02.1966), Kopie. 422 LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 60, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Gehaltsabteilung, an LHA Hadamar, betr. „Gezahlte Weihnachtszuwendungen 1941 an das zu uns abgestellte Pflegepersonal“ (18.03. 1942). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 433 den. Insgesamt wird ein enges Miteinander der beiden Anstalten unter einem Dach, der „Landes-Heilund Pflegeanstalt Hadamar“ („T4“) und der „Landesheilanstalt Hadamar“ (Bezirksverband) anzunehmen sein. Ebenso wie „T4“ an der einen oder anderen Stelle finanziell über den Kreis seiner Mitarbeiter hinausgriff, so übernahm auch der Bezirksverband Zusatzleistungen, die die reibungslose Kooperation mit „T4“ dokumentieren. Als beispielsweise der Koch Hans L. im April 1941 innerhalb der Landesheilanstalt Hadamar vom Bezirksverband zu „T4“ abgeordnet wurde und daher seinen beim Bezirksverband aufgelaufenen Resturlaub nicht mehr nehmen konnte, zahlte der Verband ihm auf ausdrücklichen Beschluss der Wiesbadener Personalabteilung den Gegenwert aus. Damit verhinderte der Verband, dass L. durch seine Abordnung finanzielle Einbußen erlitt und trug damit zum Betriebsfrieden in der Anstalt bei.423 Der Bezirksverband Nassau übernahm auch an anderer Stelle in Einzelfällen solche Lasten, die ihm ohne die Abordnung an „T4“ nicht entstanden wären. Als beispielsweise der an „T4“ abgeordnete Hadamarer Pfleger Willi R. Anfang Juli 1941 in Köln bei der „T4“-Busfahrt zur Abholung rheinischer Kranker gemeinsam mit zwei oder drei „T4“-Fahrern durch einen Bombentreffer ums Leben kam,424 übernahm der Bezirksverband und nicht „T4“ die Auszahlung des Sterbegeldes an die Witwe und die Veröffentlichung eines Nachrufs in der Parteizeitung „Frankfurter Volksblatt“. Selbstverständlich kümmerte der Bezirksverband sich auch um die Festsetzung der Hinterbliebenenbezüge, da mit dem Zeitpunkt des Todes die Abordnung zu „T4“ endete. Eine Witwenrente zugunsten der hinterbliebenen Ehefrau aus den Kassen des „Gemeindeunfallversicherungsverbandes für den Regierungsbezirk Wiesbaden“ (dem Bezirksverband als Abteilung angliedert) konnte mithilfe des Bezirksverbandes erzielt werden, indem man die Abordnung an „T4“ verschwieg und den Todesfall in den Unterlagen des Versicherers als Folge „eines Unfalls auf einer Dienstfahrt für die Landesheilanstalt Hadamar“ deklarierte.425 Insgesamt stellte der Bezirksverband Nassau zwischen November 1940 und Juli 1942 also mindestens 25 Personen (für unterschiedliche Dauer) über Abordnungen an „T4“ zum Dienst in der Gasmordanstalt Hadamar ab. Anstaltsdezernent Bernotat war aufgrund der Kontakte, die er zu „T4“ entwickelt hatte, fraglos die Zentralfigur bei der Initiierung der Abordnungen, doch er war keineswegs der einzige Beamte innerhalb des Verbandes, der damit befasst war. Eingebunden war ebenso die Personalabteilung mit ihrem Dezernenten Landesrat Max Kranzbühler, eingebunden waren aber auch die ersten Verwaltungsbeamten in den verschiedenen Landesheilanstalten des Bezirksverbandes. Mit den Abordnungen verbanden sich aus Sicht des Verbandes oder seiner Oberbeamten zwei Motivationsstränge: Zum einen konnte auf diese Weise Personal, das zumindest vorübergehend in den Anstalten nicht benötigt wurde, auf elegante und kostenneutrale Weise bis zu einem möglichen späteren Einsatz untergebracht werden, zum anderen konnten damit diejenigen in der Verbandsspitze, die Anhänger des Krankenmordprogramms waren, ihren Beitrag zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ leisten. Auch über die gruppenweise Abordnung von Pflege- und Verwaltungskräften des Bezirksverbandes an „T4“ hinaus sind personalpolitische Initiativen des Anstaltsdezernenten Bernotat zu bemerken, die sowohl zur Abordnung ärztlichen Personals an „T4“ als auch zur Bereitstellung einzelner weiterer Mitarbeiter führten. Für Bernotat gaben nicht nur funktionale Gründe den Ausschlag für seine Mitarbeit bei der „T4“-Personalbeschaffung, sondern auch ein Engagement für die Sache. Dies stellte der Anstaltsdezernent unter Beweis, indem er auch Personen an „T4“ vermittelte oder zu vermitteln suchte, die entweder nicht dem Bezirksverband angehörten oder die 1940 zur Wehrmacht einberufen waren. 423 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha., Teil 1, Bl. 39, Hans L., Hadamar, durch die LHA Hadamar an BV Nassau, Abt. Ia (10.09.1941); ebd., Vfg. zum Schreiben BV Nassau an LHA Hadamar (24.09.1941, ab: 30.09.1941). Es muss sich um die geplante Abholung von Kranken aus der „Zwischenanstalt“ Galkhausen (heute Langenfeld bei Köln) gehandelt haben. – HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946) (Emil S. musste anschließend „noch zur Abholung der Fahrzeuge nach Köln fahren“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie. 425 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1982, Rö., Wi., Bl. 1 a, BV Nassau, Anstaltsdezernent LdsR Bernotat, Az. A (S/II), an Abt. B (Ia) (10.07.1941); ebd., Bl. 2, Vfg. zu den Schreiben des BV Nassau an Minna R., Hadamar, sowie an das Frankfurter Volksblatt, Ffm (11.07.1941, beide ab: 11.07.1941); ebd., Bl. 18, Rentenbescheid des Gemeindeunfallversicherungsverbandes für den Reg.-Bez. Wiesbaden, Wiesbaden, für Minna R. (28.11.1941) (Zitat „eines Unfalls [...]“); vgl. auch ebd., Bl. 1, Fragebogen d. „Military Government of Germany“ zu Minna R. (ausgefüllt: 15.12.1945). 424 434 IV. Zeit der Gasmorde Sogar beides trifft auf den 1941 am Gasmord in Hadamar beteiligten Arzt Hans Bodo Gorgaß zu, doch auch in anderen Fällen kann Bernotats Initiative dokumentiert werden oder als wahrscheinlich gelten. Nachdem in der Gasmordanstalt Hadamar zunächst ab Januar 1941 die beiden aus Grafeneck übernommenen „T4“-Ärzte Dr. Ernst Baumhard als Leiter und Dr. Günther Hennecke als dessen Stellvertreter agiert hatten,426 kam es im Juni 1941 zu einem Revirement: nach Differenzen zwischen den beiden Genannten und dem „T4“-Organisator Viktor Brack schieden diese Ärzte aus und meldeten sich zur Kriegsmarine.427 An ihre Stelle traten von nun an zwei Ärzte aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden: der Frankfurter Dr. Friedrich Berner als ärztlicher Leiter und der in Königshofen bei Niedernhausen ansässige und im Kalmenhof in Idstein angestellte Hans Bodo Gorgaß als dessen Stellvertreter. Der im Jahr 1941 32-jährige Gorgaß, der aus Leipzig stammte und der auch dort studiert hatte, war 1936 ins Nassauische gekommen und zunächst in der Landesheilanstalt Eichberg (und vorübergehend auch in Weilmünster) tätig geworden. Sein Eichberger Vorgesetzter, Direktor Dr. Hinsen, bescheinigte Gorgaß zumindest anfangs in einem Zeugnis „Intelligenz und Charakter“ sowie „Neigung zum Beruf des Psychiaters“. Im Rückblick allerdings prangerte er dessen Disziplinlosigkeit an: Gorgaß sei (gemeinsam mit dem damals noch als Anstaltsarzt beschäftigten Dr. Mennecke) 1936/37 oft laut grölend in die Anstalt gekommen: „[...] es waren damals, sagen wir mal, meine jüngeren Kollegen recht unsolide; es wurde viel getrunken.“ Seinem opportunistischen Bekenntnis zum Nationalsozialismus und seiner fast servilen Haltung gegenüber den Vorgesetzten in der Wiesbadener Zentralverwaltung des Bezirksverbandes dürfte es Gorgaß zu verdanken gehabt haben, dass Bernotat ihn bereits 1938, mit 29 Jahren, zum leitenden Arzt der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof machte. Um die Tätigkeit in dieser privaten Behinderteneinrichtung in Idstein, deren Vorsitz der Wiesbadener Anstaltsdezernent Bernotat (als „Statthalter“ des Landeshauptmanns) ausübte, aufnehmen zu können, musste Gorgaß aus den Diensten des Bezirksverbandes wieder ausscheiden. Zwar wurde er nicht Direktor des Kalmenhofes, da traditionell ein Lehrer oder Verwaltungsleiter dieses Amt ausübte, doch führte er von nun an verantwortlich das „Krankenhaus“ der Einrichtung bis zu seiner Einberufung Anfang Dezember 1939. Unmittelbar vor seinem Antritt bei der Wehrmacht heiratete er eine Krankenschwester der Landesheilanstalt Eichberg.428 Eine Promotion im Fach Medizin scheint Gorgaß, anders als bislang angenommen und von ihm selbst nach dem Krieg behauptet, tatsächlich nie erhalten zu haben. Keinesfalls trifft seine 1947 im 426 Zu Dr. Ernst Baumhard (1911–1943) u. Dr. Günther Hennecke (um 1913–1943) siehe biogr. Anhang. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./ 19.02.1947), hier Bl. 1026 (19.02.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im HadamarProzess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 350 f. (auf S. 350: „[...] die sind auf eigenes heftigstes Drängen ausgeschieden wegen Differenzen von Seiten Bracks. Ich habe ihnen selber zugeredet, auszuscheiden.“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt. Vöcklabruck [Österreich], an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden [?] (30.–31.03.1944), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 964–971 (Dok. 260), hier S. 969 (31.09.1944) („Dr. Baumhardt [= Baumhard] u. Dr. Hennecke, die beide 1941 in Hadamar waren, sind beide mit U-Booten untergegangen – fort!“); siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318. 428 Zu Hans Bodo („Bodo“) Gorgaß (1909–1990er Jahre) siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: BA, R96 I/1, Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung ihres ärztlichen Personals (o. D. [1943/1944]), Kopie, hier Bl. 127890; HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12825, o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LHA Eichberg an Reichsärztekammer, Ärztliche Bezirksvereinigung Wiesbaden (04.10.1938, ab: 04.10.1938); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 2–4, Bl. 17, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bl. 113–115, Beweisantrag d. Verteidigers d. Angeklagten Gorgaß (26.02.1947), hier Bl. 114 f., Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 289–294, Zeugenaussage Dr. Wilhelm Hinsen im Hadamar-Prozess, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 289 f. (auf S. 290 Zitat „[...] es waren [...]“), Bl. 292 f.; ebd., o. Bl.-Nr. (zwischen Bl. 382 u. 383), div. Zeugnisabschr. für Hans Bodo Gorgaß, Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 89, 6-seitige „Aufstellung der in der Landesheilanstalt Eichberg in der Zeit v. 1939 bis März 1945 beschäftigten Personen“ (o. D., Anschreiben: 13.02.[1946]); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hans Bodo Gorgaß ggü. d. LG Ffm in Bielefeld (07.10.1965), S. 3 f., Kopie; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Gorgaß, Hans Bodo, Teil 1, Bl. 9, LHA Eichberg, Dr. Hinsen, an BV Nassau (14.09.1936) (Zitate „Intelligenz [...]“ u. „Neigung [...]“); ebd., Bl. 23, Personalbogen d. LHA Weilmünster (o. D. [1937]); ebd., Bl. 26, Approbationsurkunde d. Landesregierung Sachsen (06.02.1937), Abschr.; ebd., Teil 2, Bl. 62/66, Meldeund Personalbogen I zu § 81 des Bundesgesetzes zu Art. 131 GG (o.D. [ca. 1953/54]); Frankfurter Rundschau (28.01.1947), „Gorgaß verhaftet“, hier n. d. Abdr. in Euthanasie (1991), S. 169 (Kat. Nr. V. 7); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 230, S. 318; Winter, Geschichte (1991), S. 179 f.; Sandner, Eichberg (1999), S. 178 f., S. 208 f. (Anm. 72); Greve, Vernichtung (1998), S. 18 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 179, S. 358–362, S. 564 f. (Anm. 39, 48, 50–53). – Zur Gleichschaltung und Leitung des Kalmenhofs nach dem „Führerprinzip“ siehe Kap. III. 1. a). 427 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 435 Hadamar-Prozess gemachte Angabe zu, er sei 1935 mit einer Arbeit über „Infantilismus“ promoviert worden.429 Dieses erste Dissertationsvorhaben in Leipzig bei Privatdozent Dr. Hans Bürger-Prinz nämlich konnte Gorgaß in Wirklichkeit nicht vollenden – eigenen Angaben aus dem Jahr 1937 zufolge „aus finanziellen Gründen“. Als Landeshauptmann Traupel ihn in diesem Jahr aufforderte, „sich baldigst um die Erlangung des Doktorgrades [zu] bemühen“, da auf diesen Titel bei den Ärzten des Bezirksverbandes Wert gelegt werde, ließ Gorgaß sich von Prof. Dr. Karl Kleist in Frankfurt ein neues Thema stellen. Die Aufgabe bestand nun darin, „das weitere Schicksal der Hebephrenen, die 1920 bis 1925 in der Nervenklinik Frankfurt a. M. waren, zu erforschen“; nach Gorgaß’ Einschätzung war diese Arbeit „sehr umfangreich und erfordert viel Zeit“. Zumindest bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst des Bezirksverbandes zum Oktober 1938 war die Promotion nicht abgeschlossen, dennoch ließ er sich seit seinem Anstellungsvertrag mit dem Kalmenhof vom August 1938 in den dortigen Unterlagen als „Dr. med. Gorgaß“ führen.430 Alles spricht dafür, dass Gorgaß auch sein zweites Dissertationsprojekt nie abgeschlossen hat.431 Bereits ein Dreivierteljahr vor seiner Einberufung zur Wehrmacht war Gorgaß im Februar 1939 wohl zum ersten Mal mit den beiden späteren NS-„Euthanasie“-Verantwortlichen Dr. Herbert Linden (Reichsinnenministerium) und Prof. Dr. Carl Schneider (Universität Heidelberg) zusammengetroffen, als diese auf Vermittlung des SD-Hauptamtes die „nassauischen“ Anstalten inspizierten, um den in Bedrängnis geratenen Landeshauptmann Traupel zu unterstützten.432 Die Kommission, deren Bericht im Allgemeinen als tendenziös und schönfärberisch zu werten ist, attestierte Gorgaß „trotz der verhältnismäßig noch nicht großen psychiatrischen Erfahrung“ eine Eignung für seine Tätigkeit im Kalmenhof. Dennoch regte das Gremium an, Gorgaß – „[s]oweit es erwünscht ist“ –, „eine weitere psychiatrische Ausbildung angedeihen zu lassen“, beispielsweise durch den temporären Stellentausch mit einem Assistenzarzt einer psychiatrischen Klinik.433 Als Gorgaß dann rund zwei Jahr später, 1941, von „T4“ zum zweiten Arzt der Gasmordanstalt Hadamar gemacht wurde, sah er sich in seiner Zustimmung zur Mitarbeit dadurch bestärkt, dass Carl Schneider, den er sich zum Vorbild als Psychiater erkoren hatte, führend daran mitwirkte.434 Bereits aus Sicht des Landgerichts Frankfurt im Hadamar-Prozess 1947 stellte der Einsatz von Hans Bodo Gorgaß in Hadamar „nicht eine Laune des Schicksals“ dar, sondern war das Ergebnis einer bewussten Auswahl.435 Die Idee, Gorgaß u. k. stellen zu lassen, dürfte in einer der Besprechungen geboren worden sein, die Bernotat während der Zeit der Gasmorde in Personalfragen mit „T4“Verantwortlichen führte, möglicherweise geschah dies bereits in den ersten Wochen der Einrichtung 429 Zu dieser Behauptung: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 3, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); zur Angabe „Dr. Gorgaß“ siehe die Liste der Angeklagten ebd., Bl. 1; vgl. auch die darauf beruhenden Angaben bei Winter, Geschichte (1991), S. 109, sowie bei Friedlander, Weg (1997), S. 360. 430 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Gorgaß, Hans Bodo, Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an Hans Bodo Gorgaß (16.07.1937), Abschr.; ebd., Teil 2, Gorgaß, LHA Eichberg, an BV Nassau, „[...] Bericht über meine Bemühungen zur Erlangung der Doktorwürde“ (30.09.1937), mit Wv.- u. Z.-d.-A.-Vermerken d. BV Nassau (bis zum 04.10.1938); ebd., Bl. 71–73, Anstellungsvertrag zwischen dem Verein für die HEA „Calmenhof“ u. „Dr. Hans Bodo Gorgaß“, gez. Gorgaß (31.08.1938) u. Bernotat (03.09.1938), Abschr. – Auch „T4“ führte ihn als „Dr. Gorgass“: BA, R96 I/1, Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung über ihr ärztliches Personal (o. D. [1943/44]), Kopie, hier Bl. 127890. 431 In schriftlichen Dokumenten, etwa bei Adressenangaben oder Unterschriften, nutzte Gorgaß selbst keinen Doktortitel: siehe z. B. ebd. (Pers.-Akte), Teil 2, o. Bl.-Nr., Schreiben Hans Bodo Gorgaß an LWV Hessen (27.08.1960). – Weder über den Hessischen Zentralkatalog noch über die Medizinische Hauptbibliothek Ffm noch im Med. Dekanat d. Univ. Ffm noch im Jahresverzeichnis der Hochschulschriften bei der Deutschen Bibliothek in Leipzig ist eine evtl. Diss. von Hans Bodo Gorgaß nachzuweisen: Auskunft der Stadt- u. Univ.-Bibliothek Ffm an d. Verf. (31.01.2002). – Ein erfolgreicher Abschluss des Frankfurter Promotionsverfahrens kann besonders deshalb als unwahrscheinlich gelten, da Gorgaß anderenfalls 1947 wohl nicht fälschlich eine Promotion in Leipzig angegeben hätte. 432 Zu diesem Visitationsauftrag im Feb. 1939, der Vorwürfe gegen den BV Nassau wegen katastrophaler Verhältnisse in seinen (u. in den in seinem Auftrag genutzten) Anstalten entkräften sollte, siehe ausführlich Kap. III. 3. b). 433 LWV, Best. 1/276, Bl. 40–50, „Bericht über das Ergebnis der Überprüfung der nassauischen Anstalten“ am 27./28.02.1939, erstattet von Dr. Linden, Dr. Lehmkuhl, Prof. Dr. C. Schneider u. Trenz (26.04.1939), hier Bl. 43 f. 434 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 4 f., Kopie: „Zu Schneider hatte ich gewisse Berührungspunkte, da er ebenfalls aus Sachsen stammte und eine ähnliche Laufbahn hinter sich hatte, wie ich. Ich kannte ausserdem sein psy[c]hiatrisches Hauptwerk und schätzte ihn danach als ernst zu nehmenden Wissenschaftler.“ 435 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [ca. 26.03.1947]), spätere Ausfertigung, hier Bl. 1347. 436 IV. Zeit der Gasmorde der Gasmordanstalt Hadamar im Herbst 1940, als Bernotat mit „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann zusammentraf.436 Friedlander mutmaßt, Bernotat könnte mit der Benennung von Gorgaß versucht haben, „eine gewisse Kontrolle über die Vorgänge in Hadamar aus[zu]üben“.437 Entscheidender aber scheint Bernotats Bedürfnis gewesen zu sein, seine eigene Bedeutung im Rahmen der reichsweiten geheimen Mordaktion unter Beweis zu stellen und zugleich einen Beitrag zu deren reibungsloser Fortführung zu leisten. In jedem Fall übernahm Anstaltsdezernent Bernotat als Vorsitzender des Idsteiner Trägervereins die Aufgabe, seinen Angestellten Gorgaß zumindest dem Grundsatz nach über die künftigen Pläne ins Bild zu setzen. Nach Gorgaß’ Zurückberufung von der Truppe beorderte Bernotat ihn im Frühjahr 1941 zu sich ins Wiesbadener Landeshaus, instruierte ihn und schmeichelte ihm dabei zugleich – wie sich aus Gorgaß’ Ausführungen ablesen lässt: „[...] ich sei für große Dinge ausersehen, es sei eine ausserordentlich ehrenvolle Aufgabe, ich könne stolz darauf sein, hierfür als besonders geeignet und zuverlässig befunden zu sein, er hoffe, daß ich ihm keine Schande machen werde.“ Müßig sind Überlegungen, ob Gorgaß die näheren Einzelheiten seines Auftrags, insbesondere die vorgesehene Tätigkeit bei der Gastötung in Hadamar, bereits durch Bernotat in Wiesbaden oder – wie er aussagte – erst kurz darauf durch Brack in Berlin erfahren hat.438 Nach seinem Dienstantritt bei „T4“ Ende April/Anfang Mai 1941 schickte die Organisation Gorgaß zunächst für einige Wochen in die Mordanstalt Hartheim bei Linz und anschließend noch für mehrere Tage nach Pirna-Sonnenstein, um ihm dort jeweils Einweisungen in seine künftige Hadamarer Tätigkeit, den Gasmord, geben zu lassen. Auf dem Rückweg von Pirna nach Hadamar machte Gorgaß (gemeinsam mit seinem künftigen Hadamarer Vorgesetzten Dr. Friedrich Berner) Mitte Juni 1941 im Konzentrationslager Buchenwald Station, wo beide als Hospitanten an der Selektion kranker und/oder „rassisch“ verfolgter Häftlinge für die Ermordung in den Gaskammern der „Euthanasie“-Anstalten teilnahmen, bevor sie am 18. Juni 1941 das ärztliche Kommando in der „T4“-Mordanstalt Hadamar übernahmen.439 Gorgaß erwies sich in der Praxis als „williger Vollstrecker“ der Krankenmordpläne, zumal er die Tötungen mit seiner Überzeugung als bekennender „Anhänger der Euthanasie im weiteren Sinne“440 in Einklang bringen konnte. Zwar bat Gorgaß nach eigener Aussage, in einer anderen „T4“-Anstalt eingesetzt zu werden, um am Heimatort nicht mit der Hadamarer „Aktion“ in Verbindung gebracht zu werden,441 doch eine grundsätzliche Ablehnung der Mitarbeit war von ihm von vornherein kaum zu erwarten. Ebenso wie sein früherer Kollege Mennecke wurde auch Gorgaß im Zusammenhang mit den Morden durch eine von „T4“ beschaffte Facharztanerkennung als Psychiater belohnt, da er „während der Zeit in Hadamar fachlich tätig gewesen“ sei.442 436 Gorgaß’ Ehefrau sagte aus, Bernotat habe bereits im Okt. 1940, als Gorgaß nach der Geburt seines Sohnes (19.10.1940) auf Heimaturlaub in Wiesbaden war, die Absicht bekundet, Gorgaß u. k. stellen zu lassen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 50, Aussage ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Königshofen (06.05.1946). – Ein Hinweis auf eine spätere Besprechung zwischen Bernotat u. „T4“-Personalchef Friedrich Haus am 21.04.1941, als die U.-k.-Stellung Gorgaß’ allerdings wohl schon erfolgt war, findet sich in LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 6, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Der Personalchef, Berlin, an LdsR Bernotat, Wiesbaden, Eichendorffstraße 1 (28.04.1941), hier Abschr. (02.05.1941). 437 Friedlander, Weg (1997), S. 362. 438 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07./08.02.1947), Kopie, hier S. 1 (07.02.1947) (Zitat „[...] ich sei für [...]“); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 11–13, Bl. 37, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947) (im Gegensatz zu seiner Frau – siehe oben – behauptete Gorgaß auf Bl. 37, die U.-k.-Stellung sei „sehr überraschend“ gekommen); Friedlander, Weg (1997), S. 362 f. 439 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hans Bodo Gorgaß ggü. d. LG Ffm in Bielefeld (07.10.1965), Kopie; ebd., o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07./08.02. 1947), Kopie, hier S. 1 f. (07.02.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 16, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318; Friedlander, Weg (1997), S. 362; Sandner, Frankfurt (1998), S. 241 f. (zum Aufenthalt in Buchenwald). 440 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 6, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. HvTag (24.02.1947). – Lediglich das methodische Vorgehen von „T4“ lehnte Gorgaß im Nachhinein ab, da dadurch „das Vertrauen zum Arzt verloren geht“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 4, Kopie. 441 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 31. 442 Ebd., Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), hier S. 5, Kopie. – Zur Facharztanerkennung für Mennecke siehe Kap. IV. 2. a). 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 437 Nahe liegt eine Vermittlungstätigkeit aus Kreisen des Bezirksverbandes auch bei der Anstellung des ärztlichen Leiters der Gasmordanstalt Hadamar ab Juni 1941, Dr. Friedrich Berner,443 der den Dienst dort gemeinsam mit seinem Vertreter Gorgaß antrat. Der zuvor an der Frankfurter Universitätsklinik als Röntgenologe und Universitätsdozent tätige Berner, der 1940 seine Habilitation abgeschlossen hatte, war Mitglied des SS-Abschnitts Rhein. Man darf annehmen, dass in diesem Fall der Eichberger Direktor Mennecke oder ebenfalls Anstaltsdezernent Bernotat, beide selbst SS-Mitglieder, als Mittelsmänner aufgetreten sind; denn das Ehepaar Mennecke war mit dem dort zuständigen Oberabschnittsarzt (also dem SS-Vorgesetzten Berners) Dr. Hans Friedrich und dessen Ehefrau eng befreundet, ebenso wie auch das Ehepaar Bernotat privat mit den Friedrichs verkehrte.444 Erfolglos versuchte Landesrat Bernotat offenbar in einem dritten Fall, einen Arzt, nämlich den Weilmünsterer Oberarzt Dr. Karl V., als „T4“-Mitarbeiter anzuwerben. Im Oktober 1940 suchte Bernotat zunächst in Weilburg die Ehefrau des zur Wehrmacht Einberufenen auf und fragte sie, ob sie ihren „Ehemann [...] reklamiert haben wollte, für eine besondere Aktion“. Frau V. verwies Bernotat auf den baldigen Heimaturlaub ihres Mannes, den der Landesrat dann auch nutzte, um telefonisch mit Karl V. zu verhandeln. Wahrscheinlich hat Bernotat bei Dr. Karl V. ein besonderes Engagement für die Partei und deren Krankentötungsaktion erwartet, da der Arzt wohl ein Schwager des Hamburger Gauleiters Karl Kaufmann war. Seine Ehefrau Elisabeth V. wurde – nach Menneckes Einschätzung – als „Schwester des Gauleiters [...] von Bernotat [...] geehrt“. Dennoch lehnte Dr. Karl V. das Ansinnen Bernotats ab. Aufgrund der zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhänge kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es sich bei der „besondere[n] Aktion“ um die Gasmorde in Hadamar, die seinerzeit gerade vorbereitet wurden, handelte.445 443 Zu Dr. med. habil. Friedrich Berner (1904–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen: BA, BDC-Unterlagen zu Berner, Friedrich, Dr.; BA, R96 I/1, Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung über ihr ärztliches Personal (o. D. [1943/44]), Kopie, hier Bl. 127890; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07./08.02.1947), Kopie, hier S. 1 (07.02.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 17, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bl. 59, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 126, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 230, S. 318; ergänzende Mitteilung Ernst Klee; Chroust/Groß u. a., Hadamar (1989), S. 52; Friedlander, Weg (1997), S. 179, S. 358, S. 563 (Anm. 30). 444 Zur Freundschaft zwischen Dr. Friedrich u. Eva Mennecke einerseits und dem Ehepaar Dr. Hans u. Ulla Friedrich (von Mennecke in Briefen an seine Frau kontrahierend als „Hansulla“ bezeichnet) siehe Mennecke (1988), S. 1648 (danach war Friedrich im Hauptberuf frei praktizierender Dermatologe in Wiesbaden); dazu sowie zum privaten Kontakt zwischen den Bernotats u. den Friedrichs siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 16, Fritz Mennecke, z. Zt. Metz, an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden (25.–27.01.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 458–465 (Dok. 152), hier S. 459 (25.01.1943); ebd. (HStA), Bd. 17, Fritz Mennecke, z. Zt. Russland, Feldpost-Nr. 02.296, an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden (20.–22.07. 1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 845–684 (Dok. 238), hier S. 846 (20.07.1943); ebd. (HStA), Bd. 18, Fritz Mennecke, z. Zt. Bühl/Baden, an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden (06.–08.05.1944), hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1051–1064 (Dok. 287), hier S. 1058 (07.05.1944); ebd. (HStA), Bd. 19, Fritz Mennecke, z. Zt. St. Blasien, an Eva Mennecke [z. Zt. Wiesbaden] (18.–21.08.1944), hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1280–1296 (Dok. 342), hier 1290 (20.08. 1944). 445 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 16 f., Zeugenaussage Elisabeth V. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (02.08. 1945), hier Bl. 17 (Zitat „Ehemann [...] reklamiert [...]“). – Zu dem betreffenden Dr. med. Karl V. siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 403 Nr. 1202, Bl. 14 f., BV Nassau, „5. Verzeichnis der Änderungen im Fernsprechstellenverzeichnis der Landeshaus-Anlage“ (o. D. [Anschreiben: 24.11.1936]), hier Bl. 14; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, (wahrscheinl.) Bd. 17, Eva Mennecke, Eichberg bzw. z. Zt. Wiesbaden, an Fritz Mennecke, z. Zt. Russland (28.–30.06.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 804–814 (Dok. 232), hier S. 809 (29.06.1943); HStA Wi, Abt. 520 Nr. BW 5406, Bl. 46, Eidesstattl. Erkl. Dr. med. Karl V., Wiesbaden, für Hans K. in dessen Spruchkammerverfahren (07.01.1948); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 90, handschr. Notizen d. BV Nassau (o. D. [ca. Juni 1937]); ebd., Bl. 102, Vm./Vfg. d. BV Nassau (10.06.1940); BV Nassau, Verwaltungsbericht (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 2; dto. (Anfang 1936–31.03.1937), S. 4. – Zur Verwandtschaft der Ehefrau: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 34 f., Dr. Friedrich Mennecke Text „Mein Dienstaustritt. (Zugleich der 2. Teil d. Abschnitts: Verhältnis zu Bernotat)“, hier Bl. 35, Anlage zur Aussage Mennecke als Beschuldigter b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (02.–13.05.1946) (Zitat „Schwester des [...]“). – Nach Mennecke war Elisabeth V. die „Schwester des Gauleiters (oder jedenfalls eines hohen Parteibeamten) in Westfalen“; greift man diese Darstellung auf, so könnte es sich bei Elisabeth V. geb. Kaufmann (* 1903 in Wuppertal) um die Schwester von Karl Kaufmann (1900–1969) gehandelt haben; dieser war geboren in Krefeld, stammte also wie Elisabeth V. aus der Rheinprovinz (nicht aus Westfalen) und war an deren Geburtsort Elberfeld [= später Wuppertal] politisch aktiv, bevor er NSDAPGauleiter zunächst im Rheinland und dann in Hamburg wurde; siehe dazu biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie Karl Kaufmann: Hamburg: Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 5 (1997), S. 473; Stockhorst, Köpfe (1967), S. 227 f.; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 215; Weiß, Lexikon (1998), S. 257 f. 438 IV. Zeit der Gasmorde Schließlich ging auch die Abstellung des Hadamarer Anstaltselektrikers und -fahrers Emil S.,446 der (wie schon erwähnt) am Bau der Gaskammer beteiligt war, auf Bernotats Initiative zurück. S. war – anders als das übrige abgeordnete Hadamarer Anstaltspersonal – vor Einrichtung der Mordanstalt nicht im Lazarett in Hadamar tätig gewesen, sondern hatte das erste Kriegsjahr als Soldat bei der Wehrmacht verbracht. Folgt man den Angaben von Emil S., so wurde er Ende 1940 von der Wehrmacht entlassen und wollte sich als Rüstungsarbeiter einsetzen lassen. Anstatt ihm das angeforderte Arbeitsbuch auszuhändigen, habe Anstaltsdezernent Bernotat ihn jedoch aufgefordert, „weiter auf der Anstalt tätig [zu] bleiben“.447 Auf diese Weise gelangte S. zu dem Kader, das der Bezirksverband ab November 1940 an „T4“ abordnete. Durch die Vermittlung einzelner Mitarbeiter an „T4“ – über die Sammelabordnungen der Anstaltsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen hinaus – festigte Bernotat seine Position als wichtiger Ansprechpartner der hauptamtlichen „T4“-Verantwortlichen, die sich (in Berlin oder Hadamar) mit der Mordanstalt Hadamar befassten. Die Sonderrolle, die Bernotat nun als Nicht-„T4“-Mitarbeiter gegenüber dem Personal in der „T4“-Anstalt Hadamar einnehmen konnte, lässt sich exemplifizieren an der Art und Weise, wie der Anstaltsdezernent sich in die Instruktion und „Einschwörung“ des neuen Personals einschaltete und wie auch sein Hadamarer „Adlatus“ Alfons Klein (zu diesem Zeitpunkt formal noch allein für den Bezirksverband tätig) hier einbezogen wurde. Noch bevor die ersten „Berliner“ in Hadamar eingetroffen waren, erschien Bernotat in der Anstalt, rief das Personal zusammen und teilte mit, „dass die Anstalt von einer Berliner Organisation für eine Sonderaufgabe übernommen werde.“ Während Bernotat anscheinend anfangs den Zweck noch verschwieg,448 gab Landessekretär Klein gegenüber dem Pflegepersonal seine Kenntnisse bereits vor Eintreffen des „T4“-Vorkommandos preis, wie eine der Anwesenden beschrieb: „Er erklärte uns Schwestern [...], daß künftighin Kranke vergast und verbrannt werden. [...] Klein gab uns noch zur Kenntnis[,] wie die Vernichtung vor sich geht.“449 Grundsätzlich wurde dem Personal der „T4“-Anstalten eine Schweigepflicht auferlegt, die vielfach mit einer Strafandrohung – der Androhung der Todesstrafe oder von KZ-Haft – bewehrt war, wohingegen niemand „unter Drohungen [...] zur Teilnahme an der Aktion“ oder „zu einzelnen Tötungshandlungen genötigt worden“ ist.450 Ohnehin galt das Verbot eines Geheimnisverrats aber auch ansonsten in Einrichtungen öffentlicher Träger, und zwar nicht nur für Beamte: Beispielsweise wurden Angestellte oder Arbeiter des Bezirksverbandes Nassau (ganz unabhängig von der Mordaktion) bei ihrer Einstellung per Handschlag und Unterschrift auf ihre Obliegenheiten aus der „Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat“ verpflichtet;451 angesichts der Krankenmorde jedoch erhielt die Schweigepflicht 446 Zu Emil S. (* 1902) siehe biogr. Anhang. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946). – Rekapituliert man die Zusammenhänge, so ist zu vermuten, dass S. regulär von der Wehrmacht entlassen wurde, weswegen sein Anstellungsverhältnis beim BV Nassau wieder relevant wurde, während einem Einsatz in der Rüstungsindustrie eine Kündigung beim BV Nassau oder eine Dienstverpflichtung zugunsten des Rüstungsbetriebs hätte vorausgehen müssen. 448 Ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 (07.01. 1947). 449 Ebd., Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel, geb. Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946), hier Bl. 46; vgl. auch ebd., Bd. 7, Bl. 244 f., Aussage „Eugen“ [richtig: Emil] S. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03. 1947). 450 Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 245 f. (dort auf S. 245 Zitat „unter Drohungen [...]“, hier bezogen auf die „T4“Aktion insgesamt); ebd., Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“, hier mit Aussage Alfons Klein (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 161; ebd., Bd. 7, Bl. 47, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 256, Zeugenaussage Alfred T. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (27.05.1963), Durchschr., S. 5; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter für d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie; ebd., H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965), S. 6, Kopie. 451 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha., Teil 1, Bl. 9, Formular d. BV Nassau zum Hinweis auf die Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat, hier gez. v. Koch Hans L. und LS Klein (30.01.1940). – Dort Hinweis auf RGBl., Jg. 1917, Nr. 87 (04.05.1917), S. 393–395, Verordnung (03.05.1917); Veröffentlichung einer neuen Fassung in RGBl. I, Jg. 1920, Nr. 34 (17.02.1920), S. 230 f., unter der Überschrift „Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat 447 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 439 nun eine völlig andere Dimension. Teilweise existierte unter der Belegschaft der Mordanstalten ein Klima des Misstrauens, welches sich unter anderem in einem Gerücht manifestierte, das in Hadamar unter den zu dienstverpflichteten „T4“-Verwaltungsangestellten aus Frankfurt kursierte: Demnach sollten bei Beendigung der so genannten „Aktionszeit“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von „T4“ zu einer Dampferfahrt eingeladen werden und dann kollektiv ertränkt werden, um die Geheimhaltung sicherzustellen.452 Die Geheimhaltungsauflagen wurden den Betreffenden anfangs in der erwähnten, von Bernotat einberufenen Personalversammlung,453 ansonsten in Einzelgesprächen vermittelt. Im Allgemeinen hatten die Beschäftigten bei „T4“ eine schriftliche Erklärung über die Auferlegung der Schweigepflicht zu unterzeichnen,454 einige erinnerten sich jedoch später nur noch an eine Erteilung des Schweigegebotes auf mündlichem Wege oder an eine Bekräftigung per Handschlag.455 In erster Linie oblag es den hauptamtlichen „T4“-Mitarbeitern, den Neueingestellten die Verpflichtungserklärung abzunehmen: Sowohl die für die Verwaltungsorganisation Verantwortlichen („T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann456 oder der jeweilige „T4“-Büroleiter in Hadamar457) als auch die ärztlichen Leiter der „T4“-Anstalt Hadamar (Dr. Baumhard458 und Dr. Berner459) übernahmen diese Aufgabe. Doch gerade gegenüber dem Teil des Personals, den „T4“ vom Bezirksverband übernahm, war es meist auch der Anstaltsdezernent Fritz Bernotat, der die „Einschwörung“ (einschließlich der Androhung der Todesstrafe oder der KZ-Haft) übernahm, und zwar auch noch im Sommer 1941, als „T4“ sich in der Anstalt Hadamar längst etabliert hatte.460 Dass „T4“ Bernotat diese Rolle zubilligte, verweist auf das enge Miteinander, das sich zwinichtbeamteter Personen“ (12.02.1920). – In HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.1946), hier Bl. 4, heißt es: „Da ich in ähnlicher Form bei meiner Einstellung in Weilmünster verpflichtet worden war, fand ich an dieser neuen Verpflichtung nicht besonderes, zumal ich auch auf frühren [!] Arbeitsstellen [...] entsprechend verpflichtet worden war.“ 452 Ebd. (HStA), Bd. 7, Bl. 136 bzw. 139, Aussagen d. Angeklagten Paula S. u. Judith T. bzw. d. Angeklagten Johanna Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947). 453 Ebd., Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 47, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 70, Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947). 454 Ebd., Bd. 3, Bl. 100 f., Aussage Josef Hirtreiter b. d. Kriminalpolizei Ffm (21.06.1946), hier Bl. 100; ebd., Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“, hier mit Aussage Alfons Klein (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 161; ebd., Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter für d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie. – Darauf, dass „jeder, der eingestellt wurde, eine vorgedruckte Erklärung unterschreiben mußte, die besagte, daß sich der Betreffende zur Verschwiegenheit verpflichte“ und dass „[f]ür den Fall des Bruchs dieser Verpflichtung [...] Strafen angedroht [waren], die bis zur Todesstrafe gingen“, verweist der ehem. stv. Personalchef von „T4“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, O, o. Bl.-Nr., Aussage Arnold Oels in Hannover (29.08.1962), Kopie d. Durchschr. 455 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 20 f., Aussage Maximilian L. (06.04.1946), Abschr.; ebd., Bl. 24 f., Aussage August S. (15.06.1946), Abschr., hier Bl. 24 („Handschlag“); vgl. ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 34, Bl. 38. 456 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 100, Zeugenaussage Johann B. b. d. Kriminalpolizei Ffm (23.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 100 f., Aussage Josef Hirtreiter b. d. Kriminalpolizei Ffm (21.06.1946), Abschr., hier Bl. 100; ebd., Bd. 7, Bl. 157 f., Zeugenaussage August S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 24 f., Aussage August S. (15.06.1946), Abschr., hier Bl. 24; ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08. 1965); vgl. auch ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 30. 457 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter für d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie („Büroleiter Wirth oder sein Stellvertreter“); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946) (Bünger); ebd., Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947) (Bünger). – Zur Auferlegung der Schweigepflicht durch Wirth in Hartheim vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, hier S. 8; ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Aussage Mathias B. b. d. Landesgendarmeriekommando Linz/Österreich (22.12.1947), Kopie; ebd., Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Aussage Vinzenz N. als Beschuldigter b. d. Kriminalpolizei Linz (04.09. 1945), Kopie/Abschr. 458 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946). 459 Ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in der Anstalt Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115; ebd., Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947). 460 Ebd., Bd. 2, Bl. 6, Vm. d. StAnw Ffm (12.02.1946); ebd., Bl. 7 f., Aussage Josef Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946), hier Bl. 7; ebd., Bl. 42 f., Aussage Hedwig S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946), hier Bl. 42; ebd., Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 145, Aussage Irmgard Huber b. d. Kriminalpolizei Ffm (30.06.1945); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04. 1946), hier Bl. 180; ebd., Bd. 7, Bl. 47, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag 440 IV. Zeit der Gasmorde schen diesen einzelnen Verantwortlichen des Bezirksverbandes und der Mordorganisation „T4“ sehr schnell herauskristallisiert hat. * Die Akquirierung von Personal für die Gasmordanstalten war für „T4“ eine potenziell schwierige Angelegenheit, da man Mitarbeiter benötigte, die sowohl ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Mitwirkung an der Mordaktion mitbrachten als auch die Geheimhaltung der illegalen Krankentötungen gewährleisteten. Wie frühere Untersuchungen zeigen, versuchte „T4“, die Geheimhaltung durch die Androhung drakonischer Strafen sicherzustellen, während die Mitarbeit selbst letzten Endes nicht gegen den Willen der Betreffenden erzwungen wurde. Umso wichtiger war das Ausfindigmachen von „geeignetem“ Personal; hieran beteiligte sich der Bezirksverband Nassau 1940/41 in umfangreichem Maße. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Mordanstalt Hadamar während der Zeit der Gasmorde 1941 lassen sich – nach der unterschiedlichen Art und Weise der Personalgewinnung – in fünf Gruppen einteilen: Eine erste Gruppe bildeten diejenigen, die bereits seit 1939 oder 1940 bei „T4“ mitwirkten und die überwiegend in der Ende 1940 geschlossenen Gasmordanstalt Grafeneck Dienst getan hatten. Diese Gruppe wurde Ende 1940/Anfang 1941 von Grafeneck (in Einzelfällen auch von anderen „T4“-Einsatzorten) nach Hadamar versetzt. An deren Akquirierung hatte der Bezirksverband keinerlei Anteil. Eine zweite Gruppe von Hadamarer „T4“-Mitarbeitern wurde zwischen Oktober 1940 und Juni 1941 vom Arbeitsamt Frankfurt mit Rückendeckung der Frankfurter Gauleitung für „T4“ dienstverpflichtet. Auf die Betreffenden wurde das Arbeitsamt anscheinend überwiegend durch Empfehlungen, teils aus Parteikreisen, aufmerksam. Bei den insgesamt über 30 Dienstverpflichteten (von denen 20 nach Hadamar und die übrigen in andere „T4“-Anstalten kamen) handelte es sich zu einem gewissen Teil, aber durchaus nicht durchgehend, um überzeugte NS-Anhänger. Eine unmittelbare Mitwirkung des Bezirksverbandes (oder einzelner seiner Beschäftigten) an diesen Heranziehungen zum „Notdienst“ lässt sich nicht nachweisen, jedoch kann die Herstellung eines Kontaktes über Anstaltsdezernent Bernotat zu Gauleiter Sprenger vermutet werden. Eine dritte Gruppe von Hadamarer „T4“-Mitarbeitern bildete ein Teil der bisherigen Stammbelegschaft der Landesheilanstalt Hadamar, also Beamte, Angestellte und Arbeiter des Bezirksverbandes Nassau. Der Bezirksverband Nassau ordnete 13 von ihnen – gegen Erstattung der Personalkosten – an „T4“ zur Mitwirkung an der Mordaktion ab. Es war nur eine grobe Vorauswahl getroffen worden, um die „unsichersten“ Beschäftigten herauszufiltern und von der Abordnung auszunehmen. Eine vierte Gruppe repräsentierten die mindestens zwölf Beschäftigten (überwiegend Pflegekräfte) der Landesheilanstalten Weilmünster und Herborn, die der Bezirksverband erst während der Morde nach Hadamar versetzte und zu „T4“ abordnete. In diesen Fällen wurden die Betreffenden gezielt ausgewählt, eine erwartete Eignung für die Mitarbeit an der Mordaktion und eine langjährige Parteikarriere wurden nun zu Kriterien für die Abordnung durch den Bezirksverband. Auch hier erfolgte eine Erstattung der Personalkosten durch „T4“. Die fünfte und letzte Gruppe bildeten schließlich einzelne Personen, die auf Vermittlung und Empfehlung vermutlich aus Kreisen des Bezirksverbandes von „T4“ als Mitarbeiter gewonnen wurden, obgleich die Betreffenden nicht (oder nicht aktuell) Beschäftigte des Bezirksverbandes waren. Dies dürfte zutreffen auf den Arzt Hans Bodo Gorgaß, der ab Juni 1941 stellvertretender ärztlicher Leiter der Mordanstalt Hadamar wurde, vermutlich auch auf dessen Chef, Dr. Friedrich Berner. Die Kenntnisse über deren Anwerbung für „T4“ in Verbindung mit der Herkunft der beiden aus dem Regierungs(25.02.1947); ebd., Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 70, Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 103, Aussage d. Angeklagten Paul H. im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 4, Aussage Hedwig S. (o. D.), Abschr.; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965), Kopie, S. 6; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (06.09.1965), Kopie; Schmidtvon Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 81. 2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde 441 bezirk Wiesbaden lassen insbesondere bei ihnen (aber auch bei einzelnen anderen) eine Vermittlung durch Anstaltsdezernent Bernotat und/oder den Eichberger Direktor Dr. Mennecke als nahe liegend erscheinen. Durch die Abordnungen, Empfehlungen und Vermittlungsdienste profilierte der Bezirksverband Nassau sich als verlässlicher Partner von „T4“ bei der personellen Ausstattung der „T4“-Anstalt Hadamar. Zwar spielte streckenweise auch das Eigeninteresse des Bezirksverbandes eine Rolle, seine vorübergehend nicht benötigten Mitarbeiter schnell und kostenneutral unterzubringen, doch letztlich überwog die Bereitschaft, durch Mitwirkung an der Personalakquirierung das Funktionieren der Mordanstalt zu unterstützen und sicherzustellen. Im Vergleich mit anderen Anstaltsträgern stellt die freiwillige Abordnung eines ganzen Teams an „T4“ (ohne eine Heranziehung zum „Notdienst“) einen im Deutschen Reich seltenen Fall dar. Wie schon bei Abtretung des Hadamarer Anstaltsgebäudes an „T4“ waren auch die Personalabordnungen zunächst ein Vorgang, der von wenigen Personen innerhalb des Bezirksverbandes initiiert wurde. In diesem Fall aber wurde nun ein weiterer Kreis von Bezirksverbandsbeschäftigten involviert: Zum einen selbstverständlich die Abgeordneten selbst, die von nun ab an den Morden der Krankentötungsorganisation mitwirkten, darüber hinaus aber auch die Verwaltungsbeamten und -angestellten in der Personalabteilung des Bezirksverbandes und in der Landesheilanstalt Hadamar, die die Abordnungen administrativ betreuten und abwickelten – im Rahmen der Personalverwaltung und der Abrechnung der ausgelegten Personalkosten gegenüber „T4“. Schließlich wurden Beamte des Bezirksverbandes (Anstaltsdezernent Bernotat, aber auch die ersten Verwaltungsbeamten in den Anstalten) aktiv, um die abgeordneten Belegschaftsangehörigen auf ihre künftige Tätigkeit vorzubereiten oder sie auf die Geheimhaltungsbestimmungen und die Strafandrohung einzuschwören. In der Praxis vermischten sich in Hadamar wie in wohl keiner anderen „T4“-Mordanstalt die Sphären von Organisation „T4“ und von bisherigem Anstaltsträger. Um eine gute Zusammenarbeit und einen reibungslosen Ablauf der Mordaktion zu gewährleisten, griff sowohl „T4“ als auch der Bezirksverband mitunter über den vereinbarten Aufgabenkreis hinaus. Die gemeinsame Aufgabe der Krankentötungen, die der Organisation „T4“ ohnehin übertragen war und die der Bezirksverband sich insbesondere durch die Haltung seiner Führungsmannschaft zu eigen gemacht hatte, ließ eine kleinlich erscheinende bürokratische „Geschäftsverteilung“ in den Hintergrund treten. 442 3. Kooperation während der Gasmorde a) Krankenverlegungen und Unterhaltung von „Zwischenanstalten“ Etwa zur selben Zeit, als Anstaltsdezernent Bernotat für den Bezirksverband Nassau die Überlassung der Anstalt Hadamar an „T4“ betrieb, fiel in Absprache mit ihm1 auch die Entscheidung, die übrigen Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau (Eichberg, Weilmünster, Herborn) sowie die beiden von ihm geleiteten Privatanstalten (Kalmenhof/Idstein und Scheuern) künftig als so genannte „Zwischenanstalten“ zu nutzen: dort sollten die Opfer aus dem größten Teil des „Einzugsgebietes“ der „T4“-Anstalt Hadamar (nämlich aus dem Bezirk Kassel, den Provinzen Hannover und Westfalen sowie aus dem Land Hessen) für die letzten Wochen vor ihrer Ermordung einquartiert werden.2 Hinzu kamen vier weitere, nicht im Regierungsbezirk Wiesbaden liegende „Zwischenanstalten“: In den beiden rheinischen Provinzialheilanstalten3 Andernach bei Koblenz und Galkhausen bei Köln wurden die Patientinnen aus der Rheinprovinz vorübergehend untergebracht, und die badische Anstalt Wiesloch bei Heidelberg sowie die württembergische Anstalt Weinsberg bei Heilbronn dienten der zwischenzeitlichen Einquartierung der verbliebenen Menschen aus Baden bzw. Württemberg, die zur Ermordung vorgesehen, aber noch nicht in Grafeneck umgebracht worden waren.4 Die Zahl der „Zwischenanstalten“ für die Gasmordanstalt Hadamar addierte sich somit auf neun.5 Solche „Zwischenanstalten“ hatte „T4“ nicht von Anfang an genutzt, sondern sie wurden erst im Laufe des Jahres 1940 eingeführt, um die Transporte der Opfer in Mordanstalten wie Hadamar besser organisieren zu können:6 Die psychisch kranken Menschen aus dem „Einzugsgebiet“ wurden von ihrer „Ursprungsanstalt“ zunächst in eine der „Zwischenanstalten“ in der Nähe der Mordanstalt gebracht und erst dann von Hadamar aus per Bus abgeholt, sobald dort „Kapazitäten“ in der Gaskammer frei waren. Dieses System ermöglichte eine genauere Planung, es sollte zudem Kraftstoffersparnisse mit sich bringen, da die „Transporte“ bis zu den Zwischenanstalten nun auch per Bahn abgewickelt werden konnten, während für den direkten Weg zur Mordanstalt aus Gründen der Planbarkeit und Geheimhaltung nur Busse genutzt wurden.7 Darüber hinaus ersparte „T4“ sich nun die Kosten der „Bustransporte“ über weite Strecken, denn die Aufwendungen für die Verlegungen in Zwischenanstalten waren von den „Ursprungsanstalten“ selbst zu tragen.8 Einen Aspekt, durch den die Anstalt Hadamar sich von den 1 Bernotats Zustimmung, die ohnehin nahe liegt, wird auch bestätigt durch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vors. d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141. 2 Zur „Zwischenanstalt“ Eichberg siehe insg. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 20–22; Sandner, Eichberg (1999), S. 189. – Zur „Zwischenanstalt“ Weilmünster siehe insg. ders., Landesheilanstalt (1997), S. 135–137. 3 Zu den beiden rheinischen „Zwischenanstalten“ siehe Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138–140; siehe auch Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 342. 4 Vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.– 22.12.1964), Kopie, hier S. 19 (03.12.1964), über eine Besprechung ca. Ende 1940/Anfang 1941 in Stuttgart mit Dr. Eugen Stähle vom MdI: „Bei dieser Besprechung mit Dr. Staehle ging es um Kranke, die in verschiedenen württembergischen Anstalten saßen, für die Aktion vorgesehen waren, aber noch nicht abgeholt worden waren. [...] Das Ergebnis dieser Besprechung bestand nach meiner Erinnerung darin, daß der erwähnte Personenkreis nun in einer oder zwei Anstalten zusammengefasst werden sollte.“ – Zur Datierung siehe auch ebd., S. 25 (04.12.1964). – Auf eine Verlegung aus der württembergischen Anstalt Weißenau nach Hadamar wird hingewiesen in StA Sigmaringen, Wü 29/3, Bü 1756, Bericht der Heilanstalt Weißenau für die StAnw im Grafeneck-Prozess, hier n. Lang, Anzeige (1996), S. 129 (Anm. 425) (hierbei bleibt jedoch offen, ob es sich um eine Direktverlegung handelte oder ob die „Zwischenanstalt“ Weinsberg einbezogen war). 5 Zu diesen 9 „Zwischenanstalten“ für Hadamar siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 85 f.; entsprechend auch Hadamar (1991), S. 86 f. (Kat. Nr. 59: „Einzugsgebiet und Zwischenanstalten für Hadamar“). 6 Als erste bekannte „Zwischenanstalt“ gilt die Anstalt Neuruppin, in die ab Sommer 1940 psychisch kranke Menschen aus Berlin verlegt wurden, die anschließend in Brandenburg ermordet wurden: Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 286; auch in die Mordanstalt Grafeneck wurden 1940 bereits Opfer über „Zwischenanstalten“ verlegt: Stöckle, Aktion (1996), S. 22. – Nach HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964), hier S. 23 (04.12.1964), S. 38 f. (15.12.1964), Kopie, soll die Einführung der „Zwischenanstalten“ auf Vorschlag des ärztlichen „T4“-Leiters Heyde erfolgt sein; vgl. dazu auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 346 f. 7 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964), hier S. 22 (04.12.1964), Kopie. 8 Siehe z. B. Psychiatrisches Krankenhaus in Wunstorf, Registratur, Schreiben d. PV Hannover an die Anstalt Wunstorf (25.03.1941), hier zit. n. dem Abdr. b. Finzen, Dienstweg (1983), S. 72–74, hier S. 73: „Die Transporte sind auf Kosten der 3. Kooperation während der Gasmorde 443 übrigen „T4“-Anstalten der Jahre 1940/41 unterschied und von diesen abhob, entdeckt Schulze: „Die geringere Entfernung zwischen der ‚Euthanasie‘-Anstalt Hadamar und den ihr zugeordneten Zwischenanstalten ermöglichte, daß die Gekrat-Busse zum Teil zweimal am Tag Patienten abholen konnten. Damit ist auch die höhere Zahl der Opfer zu erklären, obwohl die technischen Voraussetzungen (Größe der Gaskammer, Anzahl der Öfen) ansonsten ähnlich waren.“9 Neben solchen praktischen Gründen diente die Einführung von „Zwischenanstalten“ nicht zuletzt der Täuschung der Angehörigen,10 denen so eine Ermittlung des Aufenthaltsortes ihrer Familienmitglieder erschwert wurde.11 Ende November 1940 gab „T4“ bei einer Sitzung in der Berliner Tiergartenstraße, an der Dr. Friedrich Mennecke, aber beispielsweise auch mehrere sächsische Anstaltsdirektoren teilnahmen, neben der anstehenden Eröffnung der neuen „T4“-Anstalt Hadamar auch die generelle Einführung des neuen Systems der „Zwischenanstalten“ bekannt. Mennecke berichtete, dass „an Hand [...] einer Landkarte vom Deutschen Reich, die mit Fähnchen besteckt war, erläutert [wurde], daß eine Planung bestände für die Anstalt Hadamar als sogenannte Euthanasie-Anstalt. Und im Rahmen dieser Planung für Hadamar wurden als weiteres Vorhaben die umliegenden Anstalten um Hadamar herum als sogenannte Zwischenanstalten vorgesehen“.12 Im Vorfeld der Patientenverlegungen informierten die Trägerbehörden der Anstalten (also die preußischen Provinzial- und Bezirksverbände, die Länder- oder Reichsgauverwaltungen) die ihnen unterstehenden Einrichtungen über die geplanten „Transporte“. Damit übernahmen die Behörden die Mittlerfunktion zwischen „T4“ (wo die „Transportlisten“ mit den zur Ermordung bestimmten Opfern erstellt wurden) bzw. dem Reichsinnenministerium (das das Verfahren durch seine Begleitschreiben scheinbar legitimierte) und den Anstalten, aus denen die Opfer nun in die „Zwischenanstalten“ verlegt werden sollten.13 Nur in Einzelfällen in der Frühphase, etwa in Baden14 und Württemberg15 im November 1939, hatten die Länderregierungen die Verlegungen grundsätzlich per Erlass angekündigt, während die Verlegungen selbst anschließend von der „T4“-Organisation „Gekrat“ ausgeführt wurde.16 In späterer Zeit aber ließen die vorgesetzten Behörden den Anstalten die fertigen „Transportlisten“ einfach per Post oder durch persönliche Übergabe zukommen und verbanden dies mit der Anordnung, die Abholung der Kranken durch die „Gekrat“ vorzubereiten oder sogar die Verlegungen in die vorgegebenen „Zwischenanstalten“ mit eigenem Personal selbst durchzuführen. Entsprechende Vorgehensweisen sind beispielsweise festzustellen in Bayern,17 in Berlin18 sowie generell im Einzugsbereich der Anstalten von diesen selbst durchzuführen. Ich ersuche daher, mit den zuständigen Stellen der Reichsbahn wegen Stellung der Eisenbahnwagen unmittelbar zu verhandeln.“ 9 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 87 (Anm. 103). 10 Nach Friedlander, Weg (1997), S. 187, dienten die „Zwischenanstalten [...] zweifellos zur Täuschung der Öffentlichkeit und zur Wahrung der Geheimhaltung“. – Dagegen zieht der Autor organisatorische Gründe nicht in Betracht. 11 Zur Funktion der „Zwischenanstalten“ bereits grundlegend die Darstellung bei Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 263–269; grundsätzlich auch Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 84–86; ebd. auf S. 110–115 auch Ausführungen zur flexiblen Handhabung des Systems und der Umgehung der „Zwischenanstalten“ in Einzelfällen; zu den 8 „Zwischenanstalten“ für Bernburg (die Anstalten Görden, Neuruppin, Teupitz u. Wittstock des PV Mark Brandenburg, die Anstalten Jerichow, Uchtspringe, Altscherbitz des PV Sachsen sowie Königslutter des Landes Braunschweig) siehe ebd., S. 87–110; zu den 4 sächsischen „Zwischenanstalten“ für Pirna (Arnsdorf, Großschweidnitz, Waldheim und Zschadraß) siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 128–149. 12 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 20 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. HvTag (03.12.1946) (Zitat auf Bl. 20); vgl. auch ebd., Bd. 2, Bl. 17–26, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Beschuldigter b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (02.–13.05.1946), hier Bl. 18 (02.05.1936), Bl. 20 (03.05.1936) (allerdings mit vielen Ungereimtheiten); ebd., Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vors. d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 266 f. (dort auf S. 266 auch Datierung der Konferenz auf den 27.11.1940); Sandner, Eichberg (1999), S. 188. – Zur Teilnahme der sächsischen Direktoren: Schilter, Ermessen (1999), S. 88. 13 Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 80, stellt dar, die Anweisungen seien den Anstalten „entweder unmittelbar oder über das für sie zuständige Innenministerium der Länder [!]“ zugegangen. – Eine unmittelbare Zusendung dürfte jedoch einen Ausnahmefall darstellen. 14 MdI Baden, Karlsruhe, Erl. No 87 431 9 (29.11.1939), abgedr. b. Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 218; vgl. auch Stöckle, Aktion (1996), S. 21. 15 Zentrum für Psychiatrie Weißenau, Registratur, RMdI Württ., Erl. Nr. X 4792 (23.11.1939), zit. b. Stöckle, Aktion (1996), S. 21. – Später kündigte das MdI Württemberg die Verlegungen auch noch konkret an: Stöckle, Aktion (1996), S. 21. 16 Einen Sonderfall stellen die Anstaltsleiter aus der Reichshauptstadt Berlin dar, die Anfang 1940 – wohl bedingt durch die räumliche Nähe – sogar von „T4“ selbst informiert wurden: Hühn, Psychiatrie (1989), S. 192, mit Hinweis auf die Aussage Dr. Hans Hefelmann (1960). 17 Friedlander, Weg (1997), S. 148 f., mit Hinweis auf Nürnb. Dok. NO-1131 bis NO-1134 zur Anstalt Eglfing-Haar (18.10. 1940, 14.01.1941, 13.02.1941); siehe insb. NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. 444 IV. Zeit der Gasmorde „T4“-Anstalt Bernburg,19 im Land Sachsen,20 schließlich auch im Hadamarer „Einzugsgebiet“,21 beispielsweise in den Provinzen Westfalen22 und Hannover23. Teilweise, wie beispielsweise in der Rheinprovinz, kündigte die zuständige Abteilung die bevorstehenden Wegverlegungen im Rahmen einer Anstaltsleiterkonferenz an.24 Am Beispiel der Provinz Hannover kommen Seidel/Sueße zum Ergebnis: „Die Durchführung der Verlegungen in der Provinz Hannover lag organisatorisch ganz in den Händen der Provinzialverwaltung.“25 Die Anweisungen der vorgesetzten Behörden waren dabei zum Teil sehr affirmativ abgefasst, etwa machte sich die Leitung des Provinzialverbandes Sachsen in Merseburg die Verlegungsaktion zu Eigen und formulierte: „Die Abholung der Kranken erfolgt in meinem Auftrage durch die Gemeinnützige Kranken-Transport G. m. b. H., die sich mit Ihnen ins Benehmen setzten wird.“26 Ähnlich bestimmt artikulierte sich der bayerische Medizinaldezernent: „Im Auftrage des Reichsverteidigungskommissars ordne ich die Verlegung von 140 Kranken aus Ihrer Anstalt an. Die Verlegung wird voraussichtlich am 24. Januar 1941 erfolgen.“27 Allenfalls im Ton zurückhaltender klingt die Formulierung des Provinzialverbandes in Hannover, die allerdings im Kern dasselbe aussagte: „Ich ersuche Sie, auf höhere Anweisung hin die Verlegung vorzunehmen [...]. [...] Die Aufnahmeanstalten sind mir unbekannt. Sie liegen in Nassau. Ich werde sie Ihnen bald mitteilen.“28 Allein in der Rheinprovinz soll den Direktoren nach deren Aussagen „empfohlen worden [sein], alle Möglichkeiten zur Zurückhaltung von Patienten auszuschöpfen, aber keinen Boykott zu versuchen, weil dies sinnlos wäre.“29 Wie die übrigen Anstaltsträger im „Einzugsgebiet“ der Gasmordanstalt Hadamar beteiligte sich auch der Bezirksverband Hessen (Kassel) an der Instruierung der ihm zugehörigen Landesheilanstalten, nachdem die ersten „Transportlisten“ in Kassel eingegangen waren.30 Unter Federführung des Anstaltsreferenten Karl Rücker, der sich mit Landeshauptmann Traupel entsprechend abgesprochen hatte,31 trug die Hauptverwaltung des Verbandes den drei Anstaltsdirektoren aus Haina, Marburg und Merxhausen erstmals Mitte April 1941 zunächst schriftlich auf, die in den übersandten „T4“-“Transportlisten“ genannten Patientinnen und Patienten in die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ Herborn, Weilmünster, Scheuern und Idstein zu verlegen. Wie auch andere Anstalten im Jahre 1941 hatten nun auch die nordhessischen Anstalten selbst „die Transportmittel zu besorgen und den Transport zu begleiten.“32 Offensichtlich entstand aus Sicht von Landeshauptmann Traupel allerdings noch einmal der Bedarf, die drei Direktoren auf die Verlegungsanweisung „einzuschwören“. So hielt der LandeshauptNO-1134, Staatsministerium des Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01. 1941), hier zit. n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. 18 Vgl. StA Potsdam, Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Reinickendorf der Reichshauptstadt Berlin, Wittenauer Heilstätten, an Landesanstalt Neuruppin (07.09.1940), hier n. d. Faks. b. Hühn, Psychiatrie (1989), S. 190. 19 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 77 f. 20 Schilter, Ermessen (1999), S. 87. 21 Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 85/87. 22 Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; ders., Psychiatrie (1996), S. 719–722. 23 Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 62–64, S. 78, S. 82 f. 24 Am 29.03.1941 in Düsseldorf unter Leitung von Medizinaldezernent Dr. Walter Creutz: Werner, Rheinprovinz (1991); Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 342; LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1223, Bl. 556–561, Urteil d. OLG Koblenz im Strafverfahren u. a. gegen den ehem. Dir. d. Anstalt Andernach, Az. SS 228/50 (o. D. [Sitzungsdatum: 05.04.1951]), hier Bl. 557. 25 Seidel/Sueße (1991), S. S. 257. 26 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 253, o. Bl.-Nr., hier zit. n. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 77. 27 NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-1134, Staatsministerium des Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.1941), hier zit. n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. 28 Psychiatrisches Krankenhaus in Wunstorf, Registratur, Schreiben d. PV Hannover an die Anstalt Wunstorf (25.03.1941), hier zit. n. dem Abdr. b. Finzen, Dienstweg (1983), S. 72–74, hier S. 73; siehe auch Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 78. 29 Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138. – Zu den anfänglichen Bedenken des Düsseldorfer LHs Haake gegen die „T4“Aktion siehe auch Kap. IV. 2. a). 30 Schreiben [„T4“,] Gekrat, an BV Hessen (10.04.1941), zit. b. Klüppel „Euthanasie“ (1984), S. 38 f. 31 Siehe dazu Kap. IV. 2. b). 32 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1449–1454, Bericht von Prof. Dr. Langelüddeke, Marburg, für Spruchkammer II Marburg-Stadt (05.09.1947), Abschr., hier Bl. 1451 (der ehem. Marburger Direktor datiert die schriftl. Anweisungen auf den 16. u. 17.04.1941); trotz der aktiven Rolle bei der Organisation der Verlegung war Langelüddeke später bemüht, den Anteil herunterzuspielen: „Die [...] Aufgabe bestand lediglich darin [...]“). – In der LHA Merxhausen traf die erste von drei „Transportlisten“ am 18.04.1941 ein: LWV, Best. 17/130. 3. Kooperation während der Gasmorde 445 mann nur wenige Tage später, am 21. April 1941 (und damit lediglich eine Woche vor seinem Ausrücken zur Wehrmacht), im Kasseler Ständehaus noch eine Besprechung mit den drei Anstaltsleitern ab. Auf dieser Konferenz, an der auch Anstaltsreferent Rücker teilnahm, versuchte Traupel, den Direktoren die Wichtigkeit der „Aktion“ nahe zu bringen. Der Landeshauptmann teilte – nach einer Darstellung des Hainaer Direktors Dr. Erich Zeiss (welche auch von dessen Marburger Amtskollegen und von Anstaltsreferent Rücker bestätigt wurde) – mit, er habe „sich im Innenministerium über die Angelegenheit unterrichten lassen und dort erfahren, dass die Anordnungen auf einem vom Führer erlassenen Gesetz beruhten [...]. Die Rechtmässigkeit der geplanten Massnahmen könne [...] nicht zweifelhaft sein.“ Er habe das entsprechende Gesetz, das aufgrund der Kriegsverhältnisse nicht veröffentlicht werden könne, eingesehen. Traupel habe dann den Anwesenden, die nach den Worten Rückers „von dieser Eröffnung etwas betroffen waren“, anschließend eine Schweigepflicht auferlegt und bei Verstößen schwere Strafen angekündigt.33 Die drei Anstaltsleiter organisierten daraufhin die Verlegungen per Bahn34 und ließen zwischen April und September 1941 nahezu 1.200 Menschen aus dem Bezirk Kassel in die „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden bringen, von wo aus die meisten nur wenige Wochen später durch die „Gekrat“ zur Ermordung nach Hadamar weiterverlegt wurden.35 Durch sein Eingreifen stellte Landeshauptmann Traupel eine reibungslose Abwicklung der angeforderten Beihilfe durch die nordhessischen Anstalten sicher, wobei eine möglicherweise im Einzelfall reservierte Haltung der Anstaltsleitungen allenfalls in begrenztem Maße eine Rolle spielen konnte.36 Doch letztlich scheint ein engagiertes Eingreifen der vorgesetzten Dienststelle für eine reibungslose Organisation der Verlegungen meist nicht einmal unbedingt erforderlich gewesen zu sein, wie ein Blick auf das Land Hessen zeigt. Der in Darmstadt amtierende Medizinalreferent Dr. Jakob Schmitt37 beschränkte seine Unterstützung anscheinend darauf, die von „T4“ kommenden Informationen an die Direktoren weiterzuleiten.38 Nach einer Nachkriegscharakterisierung verkörperte Schmitt den „typi33 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Zeiß, Erich, Dr., Bl. 56–58, nicht unterzeichneter „Bericht des Dr[.] med. E[.] Zeiss über die Verlegung von geisteskranken Männern aus der Landesheilanstalt Haina in die Heil- und Erziehungsanstalt Calmenhof und in die Landesheilanstalt Weilmünster“ (o. D. [Eingangsstempel d. LH in Kassel: 08.02.1947]), hier Bl. 56. – Entsprechend HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1449–1454, Bericht von Prof. Dr. Langelüddeke, Marburg, für Spruchkammer II Marburg-Stadt (05.09.1947), Abschr., hier Bl. 1450; ebd., Bd. 6, Bl. 806 f., Aussage Karl Rücker b. d. Kriminalpolizei Kassel (19.12.1946), Abschr., hier Bl. 807; ebd., Bd. 7, Bl. 175 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (auf Bl. 175 Zitat „[...] etwas betroffen [...]“); vgl. auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 84–86, LdsR a. D. Dr. jur. Schellmann, Kassel, an KV Kassel, betr. „Spruchkammerverfahren gegen Professor Dr. med. Langelüddeke“ (29.10.1947), hier Bl. 85; siehe auch LWV, Best. 17, [BV Hessen,] „Niederschrift über die Besprechung am 21. 4. 1941 aus Anlass der Verlegung von rund 600 Geisteskranken aus den Landesheilanstalten Haina, Marburg und Merxhausen in nassauische Anstalten“, gez. PVR Rücker (23.04.1941), hier nach dem Faks. b. Klüppel, „Euthanasie“ (1984), S. 40 f.; siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1996), S. 431 f. 34 Ein überliefertes Foto (30.05.1941) zeigt elf Schwestern der LHA Merxhausen vor und in einem Eisenbahnwaggon auf dem Bahnhof Herborn, wohin sie 165 Patientinnen begleitet haben: Hadamar (1991), S. 85 (Kat. Nr. 62). 35 Die folgenden Daten ergeben addiert eine Summe von 1.193 aus Anstalten des BV Hessen in die „Zwischenanstalten“ verlegten Menschen. – Zur Verlegung von 226 Menschen aus der LHA Marburg in die „Zwischenanstalten“ Herborn, Scheuern und Weilmünster im Zeitraum 28.04.1941 bis 05.09.1941 siehe Lilienthal, Opfer (2001), S. 281 f. (Tab. 5 u. 6); siehe auch LWV, Best. 16/806, 847, 865; zum Schicksal eines Marburger Patienten, der über die „Zwischenanstalt“ Scheuern nach Hadamar verlegt und dort ermordet wurde, siehe exemplarisch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 621, RA Dr. T., Marburg, an LG Ffm, IV. Strafkammer (29.11.1946), mit div. Anlagen (Bl. 622–625), u. a. Verlegungsmitteilung, Sterbeurkunde und „Trostbrief“ in Abschrift. – Zur LHA Merxhausen siehe LWV, Best. 17/130, worin sich „Transportlisten“ mit annähernd 700 Personen finden; siehe auch ebd., 17/137, Bl. 208, LHA Herborn, gez. Dr. Schiese, an Dir. d. LHA Merxhausen, betr. „Verlegung von Patientin [= Patienten] aus der dortigen Anstalten nach hier“ (26.05.1941), auch abgedr. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 180 f., sowie in Hadamar (1991), S. 90 f. (Kat. Nr. 63); 506 Menschen wurden schließlich von Merxhausen aus in „Zwischenanstalten“ verlegt: Klüppel, „Euthanasie“ (1984), S. 42. – Zur Verlegung von 461 Patient/inn/en der LHA Haina siehe Klüppel, „Euthanasie“ (1984), S. 52; zur LHA Haina siehe auch BA, R179/5225 u. 5392, woraus hervorgeht, dass Dir. Dr. Zeiss sich die Patientenakten der Betroffenen noch einmal vorlegen ließ und die bevorstehende Verlegung durch einen „Gesehen“-Vm. (hier z. B. vom 27. bzw. 29.04.1941) bestätigte. 36 Zur uneindeutigen Haltung des Marburger Direktors Langelüddeke siehe Lilienthal, Opfer (2001), S. 295–302; vgl. auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 84–86, LdsR a. D. Dr. jur. Schellmann, Kassel, an KV Kassel, betr. „Spruchkammerverfahren gegen Professor Dr. med. Langelüddeke“ (29.10.1947), hier Bl. 84 (dort die allerdings tendenziöse Behauptung, die 3 Direktoren seien alle mit den Krankentötungen insb. wegen des Vertrauensverlustes bei der Bevölkerung nicht einverstanden gewesen). 37 Zu Dr. med. Jakob Schmitt (1890–1949) siehe biogr. Anhang. 38 So z. B. die Mitteilung, dass die „Gekrat“ „die anläßlich der Verlegung von Kranken entstehenden Transportkosten nicht übernehmen“ könne und dass daher „[d]iese Kosten [...] aus Anstaltsmitteln zu bestreiten“ seien: LWV, Best. 14/174, Reichsstatthalter in Hessen, Landesregierung, Abt. III (Innere Verwaltung), gez. Dr. Schmitt, an LHPAen Goddelau u. Heppenheim, 446 IV. Zeit der Gasmorde schen Beamten, der eben jeden Befehl weitergab, ob er nun verbrecherisch war oder nicht, da er alles[,] was er tat[,] ja gewißermaßen [!] nur im Auftrage unterzeichnete.“39 Indirekt bestätigte Schmitt selbst im Jahr 1947 diese seine Haltung: „Ich versuchte immer[,] notwendige angeordnete Maßnahmen, auf die ich keinen Einfluß hatte, den Betroffenen in anständiger Form begreiflich zu machen.“40 Es wirkte letztlich keineswegs bremsend, dass Schmitt – so die Einschätzung des Nieder-Ramstädter Anstaltsdirektors Pfarrer Schneider – „innerlich die Aktion wohl nicht gutgeheißen haben wird und daß er dementsprechend im Sinne der Aktion nur das unternahm, wozu er kraft seiner amtlichen Stellung verpflichtet wurde“.41 Die Leiter der Landes-Heil- und Pflegeanstalten sowie der Landes-Alters- und Pflegeheime des Landes Hessen verlegten nämlich, ohne dass irgendwelche Einsprüche bekannt geworden wären, über 1.400 ihrer Patientinnen und Patienten, die auf den „T4“-“Transportlisten“ genannt wurden, in die „nassauischen“ Zwischenanstalten;42 sie verhielten sich damit ebenso wie die Leiter der Einrichtungen anderer Regionen, die besonders instruiert worden waren. Möglicherweise machten die Direktoren in Hessen aufgrund der ausbleibenden Kommunikation mit der vorgesetzten Behörde sogar weniger von einer ansonsten zugestandenen Möglichkeiten der Patientenrückstellung Gebrauch als die Anstaltsleiter in anderen Reichsteilen.43 Weit wichtiger als eine mögliche Unterrichtung und Einbindung der Leiter der „Ursprungsanstalten“ (etwa in Nordhessen oder in „Hessen-Darmstadt“) war die Instruierung der Direktoren der künftigen „Zwischenanstalten“ im Bereich des Bezirksverbandes Nassau selbst. Hier überließ Traupel das Feld voll und ganz dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten Bernotat. Dieser stattete den Direktoren der ihm unterstehenden privaten Behinderteneinrichtungen persönlich einen Besuch ab und weihte sie in die bevorstehende Funktion ihrer Anstalten ein.44 So erklärte er dem Scheuerner Direktor Todt sowie dem dortigen Anstaltsarzt, „dass demnächst innerhalb der Anstalten Verlegungen stattfinden müssten [...,] über die grösste Verschwiegenheit gewahrt werden müsse.“45 Dagegen rief Bernotat die ärztlichen Leiter der bezirksverbandseigenen Landesheilanstalten (einschließlich des längst informierten Eichberger Direktors Dr. Mennecke) zu einer Konferenz in die Anstalt Weilmünster zusammen. Bei diesem betr. „Verlegung von Kranken“ (22.03.1941), hier Exemplar an LHPA Heppenheim. – Falsch ist demnach Schmitts Behauptung, er habe nach der Meldebogenerfassung „nichts mehr amtlich mit dieser Angelegenheit zu tun gehabt“ und er habe „in keiner Weise die Aktion gefördert, zumal ich mit diesen Dingen dienstlich nicht mehr befaßt worden bin“: StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt (03.12.1948), hier Bl. 102. 39 So die Wertung des angehenden Mediziners Fred Mielke (gemeinsam mit Alexander Mitscherlich Autor von Dokumentationen über den Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 [Mitscherlich/Mielke, Diktat (1947); dies., Medizin (1960)]), der Schmitt allerdings nicht persönlich kannte: ebd. (StA Da), Bl. 125, Fred Mielke, Heidelberg, an RP Darmstadt (22.12.1948). 40 Ebd. (StA Da), Bl. 50, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. Polizeipräsidium Darmstadt (08.01.1947). – Die konkrete Aussage bezieht sich auf Gespräche mit Angehörigen verlegter Patient/inn/en. 41 Ebd. Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfarrer Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 76. 42 Zur Verlegung von 83 Männern u. 99 Frauen aus den LHPAen Heppenheim u. Goddelau sowie aus den Landes-Alters- u. Pflegeheimen Heidesheim u. Darmstadt-Eberstadt in die „Zwischenanstalt“ Eichberg im Zeitraum 22.04.–11.06.1941 siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 118 f., LHA Eichberg, Übersichten „Zugänge aus anderen Anstalten [in den Jahren 1941–1944]“ (o. D. [erstellt wahrscheinlich Feb./März 1946]). – Zur Verlegung von 66 Männern u. 115 Frauen aus den LHPAen Alzey, Heppenheim u. Goddelau in die „Zwischenanstalt“ Scheuern im Zeitraum 03.04.–09.05.1941 siehe AHS, Hauptkrankenverzeichnis (Einträge 1941); zum Schicksal einer Frau, die 1941 von der LHPA Heppenheim über die „Zwischenanstalt“ Scheuern nach Hadamar verlegt u. dort ermordet wurde, siehe exemplarisch StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 48, Aussage d. Vaters Heinrich H. b. Polizeipräsidium Darmstadt (02.06.1945), Abschr. – Zur Verlegung von 530 Männern u. 527 Frauen aus den LHPAen Alzey, Heppenheim, Gießen u. Goddelau sowie aus den Landes-Alters- u. Pflegeheimen Gießen u. Darmstadt-Eberstadt in die „Zwischenanstalt“ Weilmünster im Zeitraum mindestens 21.02.–12.05.1941 siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Liste der „Zwischenanstalts“patienten der LHA Weilmünster (o. D. [erstellt Ende 1945/Anfang 1946]) sowie LWV, Best. 19/14, Hauptkrankenverzeichnis d. LHA Weilmünster (Eintragungen 1941); zum Schicksal einer Frau, die 1941 von der LHPA Goddelau über die „Zwischenanstalt“ Weilmünster nach Hadamar verlegt u. dort ermordet wurde, siehe exemplarisch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 1154, Bl. 1 f., (Vater) Alexander B., Bad Homburg, Strafantrag gegen Dr. Schneider, Weilmünster, wegen „Mithilfe am Mord“ (22.10.1945). – Die Summe der aus dem Land Hessen in „Zwischenanstalten“ Verlegten (1.420) muss als Mindestzahl angesehen werden, da in Einzelfällen weitere (nicht dokumentierte) Verlegungen nicht ganz auszuschließen sind. 43 Zu den Rückstellungen siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). – Anders als etwa bei den Anstalten d. BV Hessen wurde auf eventuelle Rückstellungen bei den Anstalten des Landes Hessen in Nachkriegsuntersuchungen der Justiz nicht hingewiesen. 44 Dies wird bezeugt für die HEPA Scheuern, kann aber analog für den Kalmenhof in Idstein angenommen werden. 45 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 5–7, Dir. Karl Todt Anstalt Scheuern, an Gouvernement Militaire, Diez (o. D. [ca. August 1945]), hier Bl. 6; siehe auch ebd., Bl. 2 f., Dr. A. Th., Scheuern, z. Zt. Schloss Diez, an Gouvernement militaire, Diez (16.08.1945), hier Bl. 2; siehe auch AHS, Oberstaatsanwalt Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th. (06.08.1948), hier S. 7. 3. Kooperation während der Gasmorde 447 Treffen Anfang Januar 1941 erhielten die Direktoren die ersten „Transportlisten“ zur Verlegung von Patienten nach Hadamar. Damit wurde der von nun an gültige Organisationsablauf des Mordsystems zugleich präsentiert und initiiert: Zunächst transportierte „T4“ die zur Tötung ausgewählten Patientinnen und Patienten der „nassauischen“ Anstalten selbst nach Hadamar und ermordete sie dort, wodurch in den Anstalten des Bezirksverbandes vorübergehend Plätze frei wurden. Diese wurden dann jedoch sukzessive durch die „Zwischenanstaltspatienten“ aus den anderen Provinzen, Bezirken und Ländern wieder belegt – bevor auch diese Gruppe mit einer Verzögerung von einigen Wochen in der Hadamarer Gaskammer mit Kohlenmonoxyd ermordet wurde. Außer dem rein Organisatorischen stand bei der Konferenz in Weilmünster auch die „Einschwörung“ der Direktoren durch eine propagandistische Rede eines österreichischen Redners auf dem Programm – bei dem Vortragenden dürfte es sich wohl um den „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann gehandelt haben, der sich seinerzeit noch in Hadamar bzw. Weilmünster aufhielt. Der Redner betonte den Sinn der so genannten „Euthanasie“ und versuchte, für das Vorgehen von „T4“ zu werben.46 Ganz ähnlich wie im Einflussbereich des Bezirksverbandes Nassau klärten auch in anderen Reichsteilen die zuständigen Anstaltsdezernenten oder -referenten die Anstaltsleiter der künftigen „Zwischenanstalten“ über die Funktion auf, die ihren Einrichtungen zugedacht war. Dr. Alfred Fernholz beispielsweise, der Psychiatriereferent im sächsischen Innenministerium, informierte die Leiter der vier Landesanstalten, die zu „Zwischenanstalten“ für die Mordanstalt Pirna wurden, bei einer Direktorenkonferenz Ende 1940 in Dresden offiziell über das „Euthanasie“-Programm.47 Im Falle der beiden rheinischen „Zwischenanstalten“ für die Mordanstalt Hadamar erfolgte die Unterrichtung durch den Psychiatriedezernenten des Provinzialverbandes der Rheinprovinz, Prof. Dr. Walter Creutz. Dem Direktor der Anstalt Andernach etwa kündigte Creutz Anfang 1941 telefonisch an, „dass jetzt Kranke im Zusammenhang mit der Euthanasie-Aktion abtransportiert würden. [...] Und zwar sollten die Kranken der südlichen Anstalten der Rheinprovinz in der Anstalt Andernach zum Abtransport gesammelt werden.“48 In unterschiedlicher Deutlichkeit informierten nach ihrer eigenen Unterrichtung die Direktoren der „nassauischen“ Einrichtungen – oder Dezernent Bernotat selbst – die Anstaltsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Diesen wurde nun zudem – ähnlich wie dem Hadamarer „T4“-Personal49 – eine Schweigepflicht auferlegt. Am offensten scheint Mennecke sich in seiner Landesheilanstalt Eichberg verhalten zu haben. Nachdem er bereits sehr frühzeitig seine Kenntnisse – oder zumindest Andeutungen über die bevorstehende NS-„Euthanasie“ – bei der Eichberger Leitungskonferenz verbreitet hatte,50 gab er nun der „Konferenz“ (also den Ärzten und dem Oberpflegepersonal) ganz konkrete Informationen, die selbst Angaben über das Verfahren der Gastötung in der Hadamar umfassten. Um verwaltungsmäßig eine Geheimhaltung zu gewährleisten, legte die Anstalt Eichberg für den Schriftverkehr im Zusammenhang mit der Krankenmordaktion eine so genannte „Sondermappe“ außerhalb der üblichen Registratur an. Im Januar 1941 wurde auch die übrige Mitarbeiterschaft im Rahmen eines „Betriebsappells“ grundsätzlich über die Verlegungen informiert, wenn auch ohne Angabe des tatsächlichen Ziels und Zwecks. Trotz aller Anstrengungen zur Geheimhaltung sickerte die Wahrheit sehr schnell durch. Bereits im Herbst 1940 (also Monate vor Beginn der Hadamarer Morde) hatte eine Eichberger Ärztin durch einen 46 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 190 f., Aussage Dr. Paul Schiese ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (28.02.1946), Durchschr., hier Bl. 190; ebd., Bd. 3, Bl. 24 f., Aussage Dr. Ernst Schneider ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), Abschr., hier Bl. 24; ebd., Bd. 7, Bl. 189, Bl. 193, Bl. 195, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bl. 200, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 126, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 112; siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 267; Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 134. – Zu Adolf Kaufmann (1902–1974) siehe biogr. Anhang. 47 Schilter, Ermessen (1999), S. 87 f., S. 129. 48 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 195–204, Aussage Dr. Johann Recktenwald b. d. StAnw Koblenz (12.08.1947), hier Bl. 197. – Im Falle der zweiten rheinischen „Zwischenanstalt“ Galkhausen bei Düsseldorf ist eine analoge (telefonische oder persönliche) Unterrichtung der Anstaltsleitung durch Creutz anzunehmen. 49 Siehe dazu Kap. IV. 2. c). 50 Siehe dazu Kap. IV. 2. a). 448 IV. Zeit der Gasmorde Dritten von den Krankenmorden in Grafeneck gehört; schon kurz nach Beginn der Verlegungen erfuhr auch das übrige Eichberger Personal auf informellem Wege deren wirkliche Bedeutung.51 Auch leitende Mitarbeiter der Landesheilanstalt Weilmünster, die Oberschwester und der Direktor, hatten bereits im Herbst 1940 von der NS-„Euthanasie“ gehört, wenn auch vielleicht nur indirekt.52 Ebenso wie in der Anstalt Eichberg wurde dann im Januar 1941 auch das Weilmünsterer Personal zum Schweigen verpflichtet. Anstaltsdezernent Bernotat persönlich hielt ungefähr im Januar 1941 einen Betriebsappell im Esssaal der Anstalt ab, bei dem er offenbar Andeutungen machte und Drohungen ausstieß, die die Belegschaftsmitglieder zumindest teilweise nun bereits mit den Gerüchten und Berichten über die Tötungen in Hadamar in Zusammenhang bringen konnten, die ihnen nach den ersten Krankenverlegungen zu Ohren gekommen waren.53 In den ihm unterstehenden Privatanstalten, die beide ab dem Frühjahr 1941 als „Zwischenanstalten“ der Mordanstalt Hadamar fungierten, hielt Bernotat ebenfalls Betriebsappelle ab oder ließ sie von den Direktoren abhalten: im Kalmenhof in Idstein54 und in der Anstalt Scheuern.55 Eine ähnliche „Einschwörung“ für die Landesheilanstalt Herborn kann bislang nur vermutet werden;56 dort teilte Anstaltsdirektor Dr. Paul Schiese seinen Mitarbeitern mit, „dass in der nächsten Zeit Kranke verlegt und durch Kraftwagen abgeholt werden würden“,57 später erklärte er seinen Ärzten, dass es jetzt ein „Gesetz über die Euthanasie“ gebe.58 51 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945); ebd., Bl. 152, Zeugenaussage Heinrich D. ggü. d. Kriminalpolizei Wiesbaden in Eichberg (28.08.1945); ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.1946), hier Bl. 13; ebd., Bl. 55, Zeugenaussage Franziska P. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946); ebd., Bl. 55 f., Zeugenaussage Josef H. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946), hier Bl. 55; ebd., Bl. 56, Aussage Andreas Senft ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946); ebd., Bl. 57 f., Zeugenaussage Dr. Elfriede C. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946) (auf Bl. 57 u. a. Hinweis auf Kenntnisse über Grafeneck); ebd., Bl. 71, Vm. d. StAnw Ffm über die Zeugenaussage Dr. Leopold C. ggü. d. StAnw Ffm in Kloster Eberbach (22.05.1946); ebd., Bl. 176 f., Zeugenaussage Katharina Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (21.08.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 36, Aussage d. Angeklagten Andreas Senft im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946); ebd., Bl. 111 f., Bl. 114, Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (auf Bl. 111 f. u. a. Hinweis zu Kenntnissen über Grafeneck); ebd., Bl. 147, Zeugenaussage Katharina Sch. im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946); siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 190. – Zur „Sondermappe“ siehe den Vm. Mennecke auf HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12607, o. Bl.-Nr., Rundschreiben d. Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten, Az. 15/41 – 5107, betr. „Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ (22.12.1941), hier Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (08.01.1942); dazu auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt. Heidelberg, an Eva Mennecke, Eichberg (15.–16.06.1942), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 355–361 (Dok. 120), hier S. 356 (15.06.1942) (dort Erwähnung der „Berliner Mappe“); zur sog. „Sondermappe“ der HEA Kalmenhof (Idstein) siehe Kap. V. 1. b). 52 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 192–196, Aussage Maria [= Marie] Z. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (05.03.1946), Durchschr., hier Bl. 193 (die Oberschwester erfuhr während einer Kur in Karlsbad von unnormal vielen Todesfällen unter Anstaltspatienten in Wien u. berichtete Dir. Dr. Schneider darüber); vgl. auch ebd., Bd. 7, Bl. 386, Aussage Prof. Dr. Karl Kleist als Sachverständiger im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947) (er habe ebenfalls im Herbst 1940 bei einem Kongress in Wien erfahren, dass „die Insassen der Anstalt am Steinhof z. T. umgebracht würden“). 53 Ebd., Bd. 7, Bl. 64, Aussage d. Angeklagten Paul Reuter im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 195, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bl. 204, Zeugenaussage Hans L. im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bl. 216, Zeugenaussage Georg Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 217 f., Zeugenaussage Jakob J. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); HStA Wi, Abt. 463, Nr. 1154, Bl. 10, Aussage Elisabeth B. in Hadamar (14.02.1946), Abschr.; ebd., Nr. 1155, Bl. 102, Erich Moos an LG Ffm (12.11.1946), Abschr.; ebd., Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 112 f.; vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 192–196, Aussage Maria [= Marie] Z. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (05.03.1946), Durchschr., hier Bl. 193; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 134. – Zum Zusammenhang des Betriebsappells mit der Festnahme und Entlassung des Mitarbeiters Karl K. siehe Kap. IV. 3. b). 54 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage des Pflegers S. in einer Vernehmung in Idstein (26.04.1945) (danach rief der amtierende Dir. Grossmann das Pflegepersonal in einem Raum im sog. „Altenheim“ des Kalmenhofs zusammen und „erklärte, daß wir über all dies[e] Sachen tiefes Schweigen zu bewahren hätten“). – Der Verweis auf Wilhelm Grossmann als Akteur lässt jedoch darauf schließen, dass dieser Appell nicht am Beginn der Verlegungen stand, da Grossmann die Leitung erst im Juni 1941 übernahm; zu den Daten und der Leitung der HEA Kalmenhof siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). 55 AHS, OStAnw Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th. (06.08.1948), hier S. 7, Kopie (nach einer Zeugenaussage hielt Dir. Todt einen solchen Betriebsappell in Scheuern ab); LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 27, Aussage Anita B. (Schwester in Scheuern) ggü. d. StAnw Koblenz in Scheuern (09.04. 1946) (danach hielt Bernotat selbst einen entsprechenden Betriebsappell ab); Koppelmann, Zeit (2000), S. 38. 56 Allerdings wird in keiner der bekannten Aussagen damaliger Mitarbeiter der LHA Herborn eine derartige „Einschwörung“ erwähnt, lediglich Dir. Schiese selbst behauptete, Bernotat habe ihm persönlich in Herborn gesagt, „es würde als Sabotage aufgefaßt werden, wenn den Bestimmungen nicht Folge geleistet würde, da hätte man die Folgerungen zu ziehen“: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 200, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). 57 Ebd., Bd. 2, Bl. 64 f., Aussage Dr. [William] Altvater ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946), hier Bl. 64. 58 Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 154, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946). – Entsprechend ging auch der Direktor der „Zwischenanstalt“ Andernach in der Rheinprovinz vor, der „einigen Beamten der [...] An- 3. Kooperation während der Gasmorde 449 Diese vermeintliche Erkenntnis hatte Schiese von einer Konferenz in Berlin mitgebracht, zu der „T4“ am 20. März 194159 die Leiter der (aktuellen oder künftigen) „Zwischenanstalten“ zusammengerufen hatte. Diese Tagung, die ursprünglich „in einer westdeutschen Stadt“60 hatte stattfinden sollen, dann aber doch in der Kanzlei des Führers abgehalten wurde, war in erster Linie aufgrund diverser Geheimhaltungspannen einberufen worden, aber auch wegen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Krankentötungen, wie sie etwa aus dem rheinischen Provinzialverband heraus geäußert worden waren.61 „T4“ war unter anderem durch seine ärztliche Leitung – Prof. Dr. Werner Heyde und Prof. Dr. Paul Nitsche – vertreten, aber auch der Verbindungsmann im Reichsinnenministerium, Ministerialrat Dr. Herbert Linden, wirkte mit.62 Der rheinische Provinzialverband hatte seinen Medizinialdezernenten Prof. Dr. Walter Creutz sowie die Direktoren der in der Rheinprovinz gelegenen Hadamarer „Zwischenanstalten“ Andernach und Galkhausen nach Berlin geschickt;63 auch die Leiter der sächsischen „Zwischenanstalten“ nahmen teil.64 Die „Zwischenanstalten“ aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden – die Anstalten Eichberg, Herborn, Weilmünster, Scheuern und Kalmenhof/Idstein – waren bei der Sitzung ausnahmslos durch ihre Direktoren65 vertreten; zudem nahm der erst wenige Tage zuvor u. k. gestellte Eichberger Oberarzt Dr. Walter Schmidt66 teil, ebenso auch Anstaltsdezernent Bernotat. Nach Auskunft verschiedener Anwesender wurde bei der etwa einstündigen Sitzung, an der nach divergierenden Schätzungen zwischen 20 und 100 Personen – überwiegend Ärzte – teilnahmen, eine Rechtmäßigkeit der „Euthanasie“tötungen behauptet und zu belegen versucht. Der Wortlaut des Hitler’schen „Euthanasie-Erlasses“ sei zu diesem Zwecke verlesen worden. Darüber hinaus wurde über „Schwierigkeiten mit Angehörigen in Bezug auf die Hinterlassenschaft der Kranken“ und über die Funktionsweise der „Zwischenanstalten“ gesprochen. Letztlich intendierte „T4“ mit dieser Sitzung allerdings wohl mehr die Herstellung einer inneren Bindung der „Zwischenanstalts“leiter an die Tötungsaktion als die Lösung konkreter Probleme; denn im Anschluss stellten sich einzelne Teilnehmer, etwa die gemeinsam reisenden Direktoren der Anstalten Weilmünster und Herborn die Frage, „was [...] diese furchtbar strapaziöse Fahrt für einen Zweck gehabt“ habe.67 stalt [...] über diese Aktion [...] Bericht erstattet“ und zugleich „diese Leute zum Stillschweigen verpflichtet [hat]“: LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 31–35, Vm. d. StAnw Koblenz (30.01.1947), hier Bl. 32 f. 59 Datierung nach Schilter, Ermessen (1999), S. 88. – Die geringfügig abweichende Datierung in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 200, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) („Die Berliner Besprechung war im April“) ist wohl als Irrtum zu werten. 60 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 195–204, Aussage Dr. Johann Recktenwald b. d. StAnw Koblenz (12.08.1947), hier Bl. 197 f. 61 Zu diesen Zweifeln, die zeitweilig offenbar auch der Düsseldorfer LH Heinz Haake hegte, siehe Kap. IV. 2. a). – Zur gescheiterten Geheimhaltung siehe Kap. IV. 3. c). 62 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 195–204, Aussage Dr. Johann Recktenwald b. d. StAnw Koblenz (12.08.1947), hier Bl. 198. – Siehe darüber hinaus die weiter unten zit. Aussagen der Direktoren/Ärzte aus dem Reg.-Bez. Wiesbaden über diese Sitzung. 63 Ebd. (Aussage Recktenwald v. 12.08.1947), hier Bl. 198 (Dr. Recktenwald hatte als Dir. d. PHA Andernach teilgenommen); Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138; Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 342. – Der Direktor der Anstalt Galkhausen, Dr. Georg Beyerhaus, verstarb nach Werner, Rheinprovinz (1991), S. 140, am 17.04.1941, die Verlegungen von Galkhausen nach Hadamar im Rahmen der „T4-Aktion“ fanden erst danach statt, größtenteils unter Verantwortung des Nachfolgers, der seinen Dienst am 03.05.1941 antrat; zu den Verlegungsdaten vgl. ebd., S. 138, S. 140; siehe auch Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). 64 Schilter, Ermessen (1999), S. 88. 65 Zu den Direktoren der LHA Eichberg, Dr. med. Friedrich (Fritz) Mennecke (1904–1947), der LHA Herborn, Dr. med. Paul Schiese (1877–1957), der LHA Weilmünster, Dr. med. Ernst Schneider (1880–1960), der HEPA Scheuern, Karl Todt jun. (1886–1961), sowie der HEA Kalmenhof, Ernst Müller (* 1891), siehe biogr. Anhang. 66 Zu Dr. med. Walter Schmidt (1911–1970) siehe biogr. Anhang. 67 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 189 f., Bl. 193, Bl. 197 f., Bl. 202, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (auf Bl. 189 kann Bernotats Teilnahme nicht bezeugt werden); ebd., Bl. 200, Bl. 202, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 119– 125, Aussage Dr. Walter Schmidt b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (04./05./07.11.1946), hier Bl. 119 f. (04.11.1946) (Aussage zur Teilnahme Bernotats an der Reise), Bl. 121 (05.11.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 8 f., Aussagen d. Angeklagten Dr. Walter Schmidt u. Dr. Friedrich Mennecke im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 124 f., Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (auf S. 125 die Zitate „Schwierigkeiten mit [...]“ u. „[...] strapaziöse Fahrt [...]“, dort wird Bernotats Teilnahme für möglich gehalten); ebd., Bl. 152 f., Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946); HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 113; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 134; siehe auch ders., Eichberg (1999), S. 190. – Zur Teilnahme des Scheuerner Direktors Karl Todt siehe LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1792, Bl. 36–78, LG Koblenz, Urteil mit Urteilsbegründung in der Strafsache gegen Karl Todt u. Dr. Adolf Th., Az. 3 KLs 36/48 (o. D. [Eingang b. d. StAnw 20.10. 450 IV. Zeit der Gasmorde Unter anderem auf administrativem Gebiet trafen die Leiter der „Zwischenanstalten“ des Bezirksverbandes Nassau dann Vorkehrungen, die eine möglichst reibungslose Abwicklung der Verlegungen gewährleisteten. Davon zeugt beispielsweise die Korrespondenz, die die Landesheilanstalt Herborn mit den „Ursprungsanstalten“ pflegte, aus denen sie Patientinnen und Patienten für einige Wochen übernahm. Um „aufgetretene Mißstände“ abzustellen, bat der Herborner Anstaltsdirektor Schiese seine Amtskollegen um verschiedene Maßnahmen, die der leichteren Identifizierung der ankommenden Menschen sowie deren weiterer verwaltungsmäßiger Erfassung dienten. So sollte jedem Menschen der Name nicht mehr, wie anfangs, per Pflaster auf den Körper aufgeklebt, sondern „mit Tintenstift auf die vorher angefeuchtete Hautstelle zwischen den Schulterblättern“ geschrieben werden, erforderlichenfalls sogar einschließlich des Geburtsdatums. Außerdem bat die Anstalt Herborn, „[d]em Transportleiter [...] eine genaue – mit Schreibmaschine geschriebene – Liste der verlegten Kranken mitzugeben, die neben dem genauen Namen und Vornamen (bei Frauen auch Mädchennamen) Geburtstag, Geburtsort und Wohnort enthält.“ Ergänzend hieß es: „Zu ganz besonderem Dank würden Sie uns verbinden, wenn Sie uns diese Liste mindestens in dreifacher, besser aber in vierfacher Ausfertigung übersenden könnten. Ihnen macht dies nicht allzuviel Mehrarbeit und Sie können sich vorstellen, wie wir durch diese Transporte hier mit Arbeit überlastet sind, sodaß wir hoffen, keine Fehlbitte getan zu haben.“ Schließlich erbat Schiese eine (für seine Verwaltung) arbeitssparende und übersichtliche Verpackung des Eigentums der Kranken. Fraglos handelte der Herborner Anstaltsdirektor mit einer derartigen Initiative im Interesse der Arbeitsökonomie innerhalb der von ihm geleiteten Anstalt; zugleich trug er damit zu einer effizienten Abwicklung der Verlegungen in den Tod bei.68 Die Leiter der „Zwischenanstalten“ konnten während der Mordaktion in der Praxis innerhalb bestimmter Grenzen einen gewissen Einfluss auf die endgültige Bestimmung der Mordopfer nehmen, indem sie ein gewisses Kontingent von Patientinnen und Patienten, die durch „T4“ ursprünglich zur Ermordung in der Gaskammer bestimmt worden waren, zurückstellten. Derartige Reklamationen waren insbesondere dann möglich, wenn Kranke als „gute Arbeiter“ Verwendung finden konnten, in einem bestimmten Rahmen aber auch, wenn der Leiter der „Zwischenanstalt“ die Einstufung des betreffenden Menschen als „lebensunwert“ aus anderen Gründen für falsch hielt. Zwar kritisierte „T4“, dass „sich in einigen Zwischenanstalten im Laufe der Zeit der Brauch entwickelt“ habe, wonach „der Anstaltsleiter von sich aus zwischenverlegte Patienten als gute Arbeiter reklamiert und dementsprechend zurückbehalten hat.“ Je weiter allerdings die Krankenmordaktion zeitlich fortschritt, desto mehr duldete „T4“ diese (ursprünglich nicht eingeplante und halb ironisch so genannte) „Mitarbeit der Direktoren der Zwischenanstalten“, wenngleich die Mordorganisation darauf zu pochen versuchte, dass „in jedem einzelnen Fall, bei dem eine Zurückhaltung erwünscht erscheint, ein eingehender Befundbericht“ an „T4“ zu schicken sei, wo die letztendlichen Entscheidung getroffen werden sollte.69 Durch diese Zugeständnisse ab Sommer 194070 an die leitenden Ärzte schuf „T4“ ein Ventil gegen ein mögliches Widerspruchpotenzial, denn manche Entscheidungen der „T4“-Gutachter waren geeignet, selbst bei prinzipiellen Befürwortern der NS-„Euthanasie“ Unmut und Zweifel hervorzurufen. Systematische (und von „T4“ akzeptierte) Streichungen von Namen auf den „Transportlisten“ waren auch bereits in 1948]), hier Bl. 47 (hier wird Bernotats Anwesenheit in Berlin bei der Sitzung im März 1941 behauptet), auch abgedr. in Skizzen (1990), S. 33; vgl. auch LHptA Ko, Best. 584,1, Nr. 1791, Bl. 28 f., Aussage Hedwig Sch. (Schwester in Scheuern) ggü. d. StAnw Koblenz in Scheuern (09.04.1946), hier Bl. 28 (Todt sei „nach Berlin gefahren [...], um gegen die Verschleppung vorstellig zu werden“, scheine „aber nichts erreicht zu haben“); siehe auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 37 f.; siehe auch AHS, [Dir. d. HEPA Scheuern] an Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- u. Pflegeanstalten, Berlin (30.04.1941), Durchschr. (= Abrechnung der Reisekosten mit „T4“). 68 LWV, Best. 17/137, Bl. 208, LHA Herborn, gez. Dr. Schiese, an Dir. d. LHA Merxhausen, betr. „Verlegung von Patientin [= Patienten] aus der dortigen Anstalten nach hier“ (26.05.1941), auch abgedr. in Hadamar (1991), S. 90 f. (Kat. Nr. 63). – Das Schreiben muss an mehrere (möglicherweise alle) Anstalten gerichtet gewesen sein, aus denen die LHA Herborn Patient/inn/en aufnahm. Dies lässt sich daran ablesen, dass die Zeilen „Merxhausen“ und „Bezirk Kassel“ im Adressfeld nachträglich per Schreibmaschine eingesetzt wurden. 69 Gleich lautende Schreiben an die Innenministerien in Baden u. Württemberg (Datum hier nicht angeben [ca. Feb. 1941]), hier zit. n. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 267 f., dort entnommen den Akten des Verfahrens gegen Dr. Horst Schumann. – In dem Schreiben heißt es, ein „Rundschreiben ähnlichen Inhalts haben unter dem 12. Februar 1941 sämtliche Zwischenanstalten bekommen.“ – In Bezug auf die „Zwischenanstalt“ Wiesloch siehe auch Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 274. 70 Zur Datierung siehe Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 353, mit Hinweis auf die Praxis in Württemberg und Berlin. 3. Kooperation während der Gasmorde 451 den „Ursprungsanstalten“ möglich, belegt sind sie unter anderem für Anstalten des Bezirksverbandes Hessen – etwa die Landesheilanstalt Marburg –,71 aber auch für Baden und Württemberg.72 In Westfalen setzte der Provinzialverband in Münster sogar eine zentrale Kommission unter Beteiligung des Anstaltsdezernenten ein, die für den gesamten Verband die Zurückstellungen vornehmen konnte.73 Teilweise dienten die Zurückstellungen später dazu, Widerstandslegenden zu kreieren, deren Wahrheitsgehalt zumindest zweifelhaft erscheinen muss, die aber dennoch auch in der Literatur perpetuiert werden. So nehmen Sueße und Meyer in ihren Forschungen zum Provinzialverband Hannover an, die dortigen Rückstellungen im Jahre 1941 seien auf eine Ausnahmebestimmung zurückzuführen gewesen, die der hannoversche Landeshauptmann Geßner bei „T4“ in Berlin erwirkt habe.74 In der Realität aber waren es offenbar gerade Geßner und die Dezernenten in seiner Verwaltung, die in vorauseilendem Gehorsam gegenüber vermeintlichen Einsprüchen von „T4“ einzelne ihrer Anstaltsleiter, etwa den Direktor der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt, Prof. Dr. Ewald, bewogen, die ursprünglich geplante Zahl von Zurückstellungen zu reduzieren.75 Auch das durch die historische Forschung festgestellte Ausmaß der Zurückstellungen in den beiden rheinischen „Zwischenanstalten“ Andernach und Galkhausen relativiert manche Widerstandsbehauptung aus den Nachkriegsprozessen,76 wenngleich die Rückstellungsquoten aus der Rheinprovinz zum Teil immerhin doch wesentlich größer gewesen zu sein scheinen als die in „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden.77 Auch der Blick auf diese „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ belegt, wie sehr die Zurückstellungen später Anlass zu tendenziösen Deutungen geben konnte. Der Direktor der Anstalt Weilmünster, Dr. Ernst Schneider, suchte sich 1945 und in den Jahren danach – wie viele andere – mit Hinweis auf die Zurückstellung von Patientinnen und Patienten zu entlasten und behauptete fälschlicherweise sogar, er habe „von dieser Möglichkeit der Reklamation umfangreichen Gebrauch gemacht.“78 In Wirklichkeit aber scheinen – verglichen mit anderen „Zwischenanstalten“ – gerade in Weilmünster außerordentlich wenige Menschen vor einer Weiterverlegung nach Hadamar bewahrt worden zu sein. Sogar der Hadamarer „T4“-Arzt Hans Bodo Gorgaß bekundete später, Dr. Schneider als Leiter der Anstalt Weilmünster sei „außerordentlich ängstlich“ gewesen und habe zu wenige Zurückstellungen arbeitsfähiger Patienten vorgenommen und „ohne weiteres seine Kranken nach Hadamar geschickt.“79 Möglicherweise 71 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 177, Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); zu den Marburger Zurückstellungen siehe Lilienthal, Opfer (2001), S. 282–284 (insb. Tab. 6 auf S. 282), S. 299 f., wonach von den 340 Patient/inn/en der LHA Marburg, die auf den „T4“-„Transportlisten“ standen, 63 Menschen (= 18,5 %) zurückgestellt wurden, davon 43 (= 12,6 % von allen) als gute Arbeitskräfte. 72 Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 353. 73 Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; ders., Psychiatrie (1996), S. 720, S. 722–724. 74 Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 55 f., S. 64–66. 75 Ebd., S. 108–110. 76 Werner, Rheinprovinz (1991), S. 140, nennt Rückstellungsquoten von 11,6 % für die „Ursprungskranken“ und 7,5 % für die „Zwischenverlegten“ der Anstalt Andernach bzw. 8,8 % für die „Ursprungskranken“ und 4,6 % für die „Zwischenverlegten“ der Anstalt Galkhausen (insgesamt also Größenordnungen, wie sie durchaus auch anderswo festgestellt werden können) und wertet, dass das Resultat in Andernach wesentlich weniger positiv ausfiel, als nach den Widerstandsbehauptungen der Ärzte zu erwarten gewesen sei. 77 Siehe z. B. weiter unten die Angaben zur Anstalt Scheuern. – In die Bewertung einzubeziehen ist zudem die Tatsache, dass in einzelnen Anstalten „T4“-Kommissionen erschienen, um vor Ort den Kreis der zu verlegenden „Stammpatient/inn/en“ festzulegen, was den Entscheidungsspielraum der jeweiligen Leitung eingeschränkt haben dürfte; derartige Kommissionen wurden nach Aussagen z. B. aktiv in den Anstalten Andernach (am 29.03.1941 mit Prof. Dr. Paul Nitsche u. Dr. Curt Schmalenbach) und möglicherweise auch in Scheuern (mit Dr. Curt Schmalenbach, LdsR Dr. Erich Straub u. Dir. Dr. Hans Heinze): zu Andernach siehe Schulte, Euthanasie (1989), S. 100; siehe auch Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 415; zu Scheuern siehe LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 5–7, Dir. Karl Todt, Anstalt Scheuern, an Gouvernement Militaire, Diez (o. D. [ca. August 1945]), hier Bl. 6 (möglicherweise handelt es sich hier um eine falsche zeitliche Zuordnung, da sich, wie in Kap. V. 1. b) gezeigt, erst für das Jahr 1942 ein Kontakt von Heinze u. Straub zur HEPA Scheuern belegt lässt). 78 HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 112 f. (Zitat auf Bl. 112); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 127, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. HvTag (10.12.1946); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. III, o. Bl.-Nr., div. Dok.; ebd., Teil 2, Bl. 14, Bl. 17 (Spruchkammer); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 187 f., Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). – Falsch ist auch die Behauptung des ehem. Oberpflegers, die Arbeitsfähigen seien „grundsätzlich“ zurückgestellt worden: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 217–219, Zeugenaussage Jakob J. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 217. 79 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 22, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. HvTag (24.02.1947). 452 IV. Zeit der Gasmorde suchte Schneider durch diese zögerliche und – im Sinne der radikalen Krankenmordbefürworter – konforme Haltung auch, seine Stellung in der Anstalt Weilmünster zu sichern. Nachdem nämlich Landeshauptmann Traupel den Direktorenposten Schneiders bereits Anfang 1940 zur Disposition gestellt hatte80 und nachdem Schneider dann bei der Meldebogenausfüllung Mitte 1940 Bedenken wegen zu großer Arbeitsbelastung angemeldet hatte,81 könnte Anfang 1941 zumindest vorübergehend erwogen worden sein, Schneider durch den Eichberger Arzt Dr. Walter Schmidt abzulösen.82 Die Ärzte der Landesheilanstalt Herborn beriefen sich bei der Zurückstellung von Arbeitskräften auf eine ausdrückliche Verfügung, die dies genehmigte.83 Auch die „Zwischenanstalt“ Eichberg stellte 1941 im Einverständnis mit dem Wiesbadener Landeshaus einzelne Patientinnen und Patienten zurück; teilweise konsultierte Mennecke (nach eigenen Angaben) vor Zurückstellungen noch den ärztlichen „T4“-Leiter Nitsche (welcher die „Zwischenanstalt“ Eichberg im Übrigen mehrfach persönlich aufsuchte). Seinen Mitarbeiterinnen erklärte Mennecke dagegen großspurig, er selbst sei zu „Streichungen [von den „Transportlisten“, P. S.] in Einzelfällen ermächtigt [...], da er einer kleinen Kommission in Berlin angehöre, die die ganze Sache leite.“84 In einigen Fällen dürfte auch eine Fürsorgerin der Stadt Wiesbaden den Verzicht auf Verlegungen von Eichberger Patientinnen und Patienten in die Hadamarer Gaskammer erreicht haben, indem sie die Betreffenden, die in Kostenträgerschaft der Stadt Wiesbaden standen, als nicht mehr anstaltspflegebedürftig einstufen ließ.85 Zumindest in den Anfangsmonaten der Hadamarer Morde aber blieben Zurückstellungen auf dem Eichberg anscheinend die absolute Ausnahme. So ließ sich aus den Eichberger Akten rekonstruieren, dass die „ersten Transporte nach Hadamar [...] so abgegangen [sind], wie sie auf dem Eichberg ankamen bzw. aus den Eichbergpatienten zusammengestellt waren“86 – also ohne dass auch nur eine Person zurückgestellt worden wäre. Während Zurückstellungen von arbeitsfähigen Patienten in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein nur in Einzelfällen stattfanden,87 scheint die Scheuerner Leitung mehr als andere versucht zu haben, eine Reihe der schon länger in der Anstalt untergebrachten behinderten Menschen zu retten, indem sie sie während der Hadamarer Gasmorde 1941 zu den Angehörigen entließ, in Arbeitsstellen unterbrachte oder sie formal nicht mehr als „Pfleglinge“, sondern als Angestellte der Anstalt führte. Es ist allerdings derzeit nicht zu beziffern, wie viele der rund 50 auf diese Weise entlassenen Menschen unmittelbar von der Ermordung durch „T4“ bedroht waren (d. h. auf deren „Transportlisten“ standen) und somit als „Gerettete“ gezählt werden können – immerhin 18 der Genannten jedenfalls stufte die Anstalt zum Zeitpunkt der Entlassung als „ungeheilt“ ein, was eine „T4“-Qualifizierung als „lebens- 80 Siehe dazu Kap. IV. 1. Siehe dazu Kap. IV. 2. a). Schneider gab an, dies nach 1945 erfahren zu haben. Zwar ist eine genaue Datierung nicht genannt, doch dürfte der Vorgang auf Anfang 1941 zu beziehen sein, als laut Mennecke ursprünglich eine Versetzung des gerade auf Veranlassung der Kanzlei des Führers [d. h. hier: „T4“] u. k. gestellten Schmidt nach Weilmünster geplant gewesen war. Auch Schmidt selbst war davon ausgegangen, in Weilmünster eingesetzt zu werden, um dort die Stationen der „Zwischenanstalt“, allerdings als Oberarzt, zu leiten: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 197, Protokoll d. Zeugenvernehmung Dr. Ernst Schneider im HadamarProzess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 119–125, Aussage Dr. Walter Schmidt b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (04./05./07.11.1946), hier Bl. 119 (04.11.1946); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Co., El., Dr., Teil 2, Bl. 24, LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau (15.03.1941). 83 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 199, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); zu den Zurückstellungen in Herborn siehe auch ebd., Bl. 236–238, Zeugenaussage Dr. Wilhelm [= William] Altvater im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 237; vgl. auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 65 bzw. Bl. 73, zwei Schreiben von Dr. Ernst B., Weilmünster, an PV Nassau bzw. durch RP Wiesbaden an d. Amerikanische Militärregierung Wiesbaden (06.08. bzw. 06.10.1945). – Zur Zurückstellung eines aus Lüneburg verlegten Menschen in der LHA Herborn, der dann dort als Gärtner eingesetzt wurde, siehe Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 119 f. 84 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 22 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.1946) (Zitat „Streichungen in [...]“). – Zu Nitsches Besuchen in der LHA Eichberg siehe ebd., Bl. 178, Zeugenaussage Dr. Otto Henkel ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.08.1946). 85 Ebd., Bd. 4, Bl. 119, Zeugenaussage Elisabeth M. [Wiesbaden] im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946). 86 Ebd., Bd. 2, Bl. 98 f., LHA Eichberg, gez. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm (04.06.1946), hier Bl. 99. 87 Ein Einzelfall ist dokumentiert im Zentralarchiv d. Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, 0605/26a, Bericht von Willi Walter, Wiesbaden, ggü. Pfarrer Geiler (20.11.1991), zit. b. Hofmann, Dokumentation (1974–1993), hier Bd. 8,1 (Bd. 43, 1992), S. 141. 81 82 3. Kooperation während der Gasmorde 453 unwertes Leben“ nahe legt.88 Dieser tendenziell positivere Befund für die Anstalt Scheuern wird allerdings konterkariert durch die Feststellung, dass in Scheuern nur äußerst wenige „Zwischenanstalts“patienten zurückgestellt wurden (also Menschen, die erst im Rahmen der „T4-Aktion“ nach Scheuern kamen), während einige andere „Ursprungs-“ und „Zwischenanstalten“ in diesem Punkte ein deutlich positiveres Bild abgaben.89 Ein quantitativer Vergleich auf breiterer Basis über das Ausmaß der Zurückstellungen in den verschiedenen „Ursprungs-“ und „Zwischenanstalten“ steht zwar noch aus, doch die skizzierten Befunde lassen bereits erkennen, dass es durchaus Unterschiede in der Handhabung gab. Generell lässt das Faktum der Zurückstellungen erkennen, dass „T4“ den mitwirkenden Anstaltsträgern sowie den Leitern der Einrichtungen einen gewissen Spielraum zubilligte. Die zentrale Koordinations- und Mittlerfunktion der Zentralverwaltung und des Anstaltsdezernenten Bernotat in diesem Zusammenhang kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass „T4“ die „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden durch Bernotat instruieren ließ, die zurückgestellten Patientinnen und Patienten in ihre ursprünglichen Anstalten zurückverlegen zu lassen.90 Spätere Einlassungen einzelner Direktoren, ihre Einflussmöglichkeit hinsichtlich der „T4“-Verlegungen sei gleich Null gewesen, sind angesichts der geschilderten Verhältnisse als Schutzbehauptungen zu anzusehen. Dass „T4“ die Spielräume überhaupt einräumte, kann als ein Indiz dafür verstanden werden, wie sehr die Mordorganisation auf ein Entgegenkommen und eine mehr oder weniger bereitwillige Kooperation der Anstalten im Deutschen Reich setzte, um das Mordprojekt als Ganzes weiter ungehindert in die Tat umsetzen zu können. Sowohl den prinzipiellen Befürwortern der Tötungsaktion als auch den Skeptikern gab „T4“ durch die Möglichkeit der Zurückstellungen im Einzelfall den Eindruck, einen Einfluss auf den Verlauf der Tötungsaktion nehmen zu können. Dennoch sind die darauf fußenden Behauptungen aus „T4“-Kreisen, die „Zwischenanstalten“ hätten der nochmaligen Begutachtung der Kranken gedient,91 vollständig aus der Luft gegriffen. Dass die vorliegenden Einzelbefunde im Bereich des Bezirksverbandes Nassau eine eher restriktive Zurückstellungspolitik annehmen lassen, steht mit der Verbandspolitik, die der NS„Euthanasie“ grundsätzlich fördernd gegenüberstand, im Einklang. Zwar standen die Zurückstellungen bei den juristischen Untersuchungen der Nachkriegszeit besonders im Fokus des Interesses, da sie als entlastendes Moment für Beschuldigte geltend gemacht wurden. Doch für die tatsächliche Bewertung der Mitwirkung der „Zwischenanstalten“ – und damit unter anderem der Einrichtungen des Bezirksverbandes Nassau – an dem von „T4“ betriebenen Krankenmordprogramm ist die Organisation der schließlich vollzogenen Verlegungen, der so genannten „Transporte“ in die Gasmordanstalt, von noch größerer Bedeutung. Eine Analyse der Aufgaben, die diese Anstalten und ihre Mitarbeiter während der Hadamarer Morde in den Monaten Januar bis August 88 Insgesamt 52 Menschen wurden während der Hadamarer Gasmorde (13.01.–21.08.1941) durch die HEPA Scheuern entlassen (ohne die in andere LHAen usw. Verlegten), davon galten 18 als „ungeheilt“, 29 als „gebessert“ u. 4 als „geheilt“ (einmal keine Angabe), 8 der 52 wurden ab dem Entlassungsdatum zu Angestellten der HEPA Scheuern, alle 52 waren bereits vor der Mordaktion „Pfleglinge“ der HEPA Scheuern, z. T. seit vielen Jahren: AHS, Hauptkrankenverzeichnis (Eintragungen 1941); siehe dazu auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 36 f.; vgl. auch AHS, 6-seitiges Typoskript unter dem Titel „Aus der Geschichte der Anstalt Scheuern von den Jahren 1937–1947“, verfasst von dem ehem. Vorstandsvorsitzenden, Pfarrer i. R. Runkel (11.11. 1972), hier S. 2. 89 Dies gilt etwa im Vergleich zu den Anstalten in der Rheinprovinz: Siehe dazu die weiter oben referierten Daten nach Werner, Rheinprovinz (1991), S. 140; vgl. auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 93. – In AHS, Hauptkrankenverzeichnis (Eintragungen 1941), lässt sich feststellen, dass gerade 3 „Zwischenanstalts“patienten und eine -patientin zurückgestellt wurden. – Der Scheuerner Anstaltsdirektor Todt korrespondierte mit „T4“ wegen der Zurückstellung einzelner Patienten: AHS, zwei Schreiben von [„T4“,] Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, Der Leiter, Berlin, an HEPA Scheuern b. Nassau (21. bzw. 23.05.1941), hier begl. Abschr. (o. D. [1949]) (darin Bezugnahme auf Schreiben d. HEPA Scheuern v. 09. bzw. 15.05.1941, worin Todt wegen der Zurückstellung von Kriegsteilnehmern angefragt hatte). – Zur Zurückstellung von „verdienten Kriegsteilnehmern“ aus dem Ersten Weltkrieg und von Ausländern siehe Kap. IV. 3. b). 90 Dokumentiert ist diese Mittlerrolle Bernotats in Bezug auf die Zurückverlegungen von Zurückgestellten von der HEPA Scheuern zur LHPA Heppenheim u. zur LHA Marburg: AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (21.08.1941) mit Anlage „Liste der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern“. 91 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./ 19.02.1947), hier Bl. 1022 (19.02.1947). 454 IV. Zeit der Gasmorde 1941 übernahmen, erhellt zugleich die Bedeutung, die die Installierung des Systems der „Zwischenanstalten“ im Gesamtkontext des Mordprogramms hatte (dies unbeschadet dessen, dass aus den Leitungen und aus der Mitarbeiterschaft der „Zwischenanstalten“ niemand rechtskräftig wegen der Mitwirkung an den Verlegungen nach Hadamar verurteilt wurde).92 Im Vordergrund des Interesses stehen hier die fünf „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden selbst, aus denen zwischen dem 13. Januar und dem 21. August 1941 drei Viertel der über 10.000 Mordopfer, die 1941 in der Gaskammer starben, durch die „T4“-Organisation „Gekrat“ nach Hadamar gebracht wurden;93 nur ein verhältnismäßig geringer Anteil, nämlich das übrige Viertel der Hadamarer Gasmordopfer, wurde durch „T4“ aus den vier außer„nassauischen“ „Zwischenanstalten“ abgeholt.94 92 Die Verurteilungen des Personals der LHA Eichberg erfolgte wegen der Teilnahme an Morden auf dem Eichberg selbst bzw. im Fall von Mennecke (jedoch durch seinen Tod nicht rechtskräftig) wegen der Mitarbeit als „T4“-“Gutachter“: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]). – Zum Antrag, allein wegen der Verlegungen gegen den ehem. Direktor der LHA Weilmünster, Dr. Ernst Schneider, zu ermitteln, siehe HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 108, Vfg. zum Schreiben OStAnw b. d. LG Limburg an Untersuchungsrichter b. d. LG Limburg (21.04.1952) (dies führte jedoch nicht zu einem Verfahren); 1953 wurde Schneider außer Verfolgung gesetzt: ebd., Nr. 1157, Bl. 34 f., Beschluss d. 3. Strafkammer d. LG Limburg (14.11.1953); siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 153. – Die Angeklagten der HEPA Scheuern wurden nach z. T. mehrjähriger Untersuchungshaft freigesprochen, da subjektiv ein Beihilfewillen zum Mord nicht erkennbar sei, „[s]elbst wenn objektiv in der Tätigkeit des Angeklagten [Karl Todt, P. S.] eine gewisse Förderung des Mordprogramms [...] gesehen werden könnte“: Urteilsbegründung aus dem Verfahren gegen den Leiter der Anstalt Scheuern, Karl Todt, und gegen den Anstaltsarzt Dr. Th., hier n. d. auszugsweisen Abdr. in Skizzen (1990), S. 31/33/35/37, hier S. 35; zu Karl Todt (1886–1961) siehe auch biogr. Anhang – Die Mitglieder der Leitung der HEA Kalmenhof wurden entweder freigesprochen (Dir. Ernst Müller) bzw. nur wg. Beihilfe zu den Morden im Kalmenhof selbst verurteilt (stv. Dir. Wilhelm Grossmann): siehe Angaben im biogr. Anhang. – Der Dir. d. Anstalt Andernach (1934–1945), Dr. med. Johann Recktenwald (1882–1964), wurde 1948 zwar in erster Instanz zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt, ein weiterer Arzt, Dr. Ewald K., zu 5 Jahren Zuchthaus, beide wurden jedoch 1950 in 2. Instanz freigesprochen (1951 rechtskräftig): LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1220, Bl. 1–33, OStAnw Koblenz an Strafkammer beim LG Koblenz (04.02.1948); ebd., Nr. 1222, Bl. 1–84, LG Koblenz, Urteil mit Urteilsbegründung in der Strafsache gegen Dr. Johann Recktenwald, Dr. Ewald K., Dr. Elisabeth K. wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (o. D. [ca. 29.07.1948]); ebd., Nr. 1223, Bl. 380–443, Urteil des Schwurgerichts Koblenz in der Strafsache gegen Dr. Johann Recktenwald u. Dr. Ewald K., Az. 9/5 KLs 41/48 (o. D. [ca. 28.07.1950]); ebd., Bl. 556–561, Urteil d. OLG Koblenz in der Strafsache gegen Dr. Johann Recktenwald u. Dr. Ewald K., Az. SS 228/50 (o. D. [Sitzungsdatum: 05.04.1951]); Haffke, „Eugenik“ (1998), S. 36–39; zu Recktenwald siehe auch biogr. Anhang – Zu den Freisprüchen betr. Scheuern u. Andernach vgl. auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1990, Grossmann, Wilhelm, Teil 2, Bl. 6, Dir. Karl Todt, HEPA Scheuern, an Wilhelm Grossmann, Idstein (10.04.1951), Abschr.; zu den Urteilen über die Beteiligten aus den „Zwischenanstalten“ siehe insg. Boberach, Verfolgung (1991), S. 165–173. 93 Tabellarische Übersicht: Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). – Eine Liste mit den Namen der 1.630 zwischen Jan. u. Aug. 1941 aus der LHA Herborn nach Hadamar verlegten Menschen (774 „Stammpatient/inn/en“ und 856 Patient/inn/en aus anderen „Ursprungsanstalten“) findet sich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 17. – Angaben zu mind. 2.602 im Jahr 1941 aus der LHA Weilmünster nach Hadamar verlegten Menschen lassen sich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, o. Bl.-Nr. (Bl. 38) u. in LWV, Best. 19/14, finden; mind. 651 von ihnen waren ursprünglich Patient/inn/en der LHA Weilmünster (einschließlich der jüd. Patient/inn/en), die übrigen waren ursprünglich Patient/inn/en anderer „Ursprungsanstalten“; zu möglicherweise darüber hinaus gehenden Zahlen für Weilmünster siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 135, S. 159 (Anm. 81). – Die Zahl der zwischen Jan. u. Aug. 1941 von der LHA Eichberg in die LHA Hadamar verlegten Menschen wurde auf 784 „Stamm-“ und 1.487 „Durchgangs-Patienten“ (also 2.261 Personen) beziffert: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 22; vgl. ebd., Bd. 2, Bl. 173, LHA Eichberg, Dir. Dr. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm (21.08.1946); vgl. auch ebd., Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 27a, LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm (30.04.1946); siehe auch ebd., Nr. 32442 Bd. 13, Aktenteil „Sonderband III“, 57-seitige Liste d. LHA Eichberg „Abgänge nach anderen Anstalten [im Zeitraum 08.05.1941 bis 1945]“ (o. D. [wahrscheinlich 1946]). – Aus dem Hauptkrankenverzeichnis (Eintragungen für 1941) im Archiv d. Heime Scheuern lassen sich die Daten von 682 im Rahmen der „T4-Aktion“ verlegten Patient/inn/en rekonstruieren, von denen 327 aus anderen „Ursprungsanstalten“ in die „Zwischenanstalt“ Scheuern verlegt worden waren, während für die übrigen 355 die Anstalt Scheuern selbst die „Ursprungsanstalt“ war; die bei Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367, angegebenen Daten addieren sich zu einer Zahl von 689 im Zeitraum 18.03.– 23.07.1941 von Scheuern nach Hadamar verlegten Menschen; allerdings sind in beiden Fällen auch die 39 Personen mitgezählt, die tatsächlich nicht nach Hadamar, sondern am 18.03.1941 von „T4“ zwecks Filmaufnahmen nach Sachsen verschleppt wurden: siehe dazu weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). – Zu den unvollständigen Zahlenangaben über die Verlegungen aus der „Zwischenanstalt“ Kalmenhof siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). – Eine Addition dieser Daten (mit der geschätzten Zahl von 400 für den Kalmenhof) ergibt eine Anzahl von 7.536 Menschen, die über die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ nach Hadamar verlegt worden sind. 94 Tabellarische Übersicht: Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). – Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138, 140, fasst die Zahl der 1941 aus dem Rheinland nach Hadamar verlegten Menschen so zusammen: aus der Anstalt Andernach im Zeitraum 23.04.–15.08.1941 insg. 917 Personen (davon 466 ursprünglich dort Untergebrachte, 447 aus anderen Anstalten über die „Zwischenanstalt“ nach Hadamar Verlegte, 4 später nach Zurückstellungen in Hadamar Zurückverlegte), mitzurechnen sind wohl die 58 am 11.02.1941 von Andernach verlegten jüdischen Patient/inn/en, aus der Anstalt Galkhausen im Zeitraum 28.04.–20.08.1941 insg. 870 Personen (darunter [mind.] 337 ursprünglich dort Untergebrachte u. 3. Kooperation während der Gasmorde 455 In den „Zwischenanstalten“ begann die konkrete Vorbereitung der Verlegungen nach Hadamar einige Tage vor dem jeweils geplanten Termin. „T4“ teilte den betroffenen Personenkreis samt dem vorgesehenen Verlegungsdatum dem Leiter der „Zwischenanstalt“ mittels einer „Transportliste“ mit – zum Teil geschah deren Versand direkt durch die „T4“-Anstalt Hadamar, zum Teil über den Umweg der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes. Anschließend wurde diese Liste – wie Mennecke für die Anstalt Eichberg darstellte95 – vom Anstaltsleiter „im Konferenzzimmer bekanntgegeben [...]. Es wurde [...] mitgeteilt, daß die in der Liste verzeichneten Kranken an dem und dem Tag abgeholt werden sollten. Dann wurden Abschriften im Büro von den Namen dieser Listen angefertigt, damit die jeweiligen Stationsschwestern bezw. der Oberpfleger oder Stationspfleger sich aus den Abschriften orientieren konnte, welche Patienten für den soundsovielten bereit zu halten wären [...].“96 Das vom Anstaltsleiter informierte Pflegepersonal machte die genannten Patientinnen oder Patienten daraufhin für den vorgesehenen Tag reisefertig.97 Spätestens zum vorgesehenen Abholungstermin wurden die Opfer meist in einem bestimmten Gebäude der jeweiligen „Zwischenanstalt“ zusammengezogen, das von den „T4“-Bussen gut angefahren werden konnte. Im Eichberg handelte es sich um den so genannten „Frauenbau“,98 in der Landesheilanstalt Weilmünster um je eines der Krankengebäude auf der Männer- bzw. der Frauenseite der Anstalt, wo von Vornherein sämtliche im Rahmen der „Zwischenverlegungen“ aufgenommenen Menschen untergebracht waren;99 auch in einem Gebäude der Landesheilanstalt Herborn war bereits am 18. Januar 1941 Platz geschaffen worden, vermutlich um fortan die zu verlegenden Menschen sammeln zu können.100 Die für die Abholung benutzten „Gekrat“-Busse haben sich in die kollektive Erinnerung als die ominösen „grauen Bussen“ eingeschrieben (wenn auch die Fahrzeuge tatsächlich unterschiedlich – anfangs auch rot – lackiert waren).101 Bei der Übergabe der Patientinnen und Patienten an das „Transport“personal begegneten die Schwestern und Pfleger der „Zwischenanstalt“ teilweise alten Kollegen, denn auch vom Bezirksverband Nassau an „T4“ abgeordnetes Personal fuhr als Begleitkommando in den „Gekrat“-Bussen mit.102 Mitunter waren Funktion und Bedeutung der Busse bereits den Opfern [mind.] 496 aus anderen Anstalten über die „Zwischenanstalt“ nach Hadamar Verlegte). – Nach einer Feststellung d. ehem. PV d. Rheinprovinz wurden von dort 1.951 Menschen ab etwa Apr. 1941 verlegt, deren Tod bis Aug. 1941 gemeldet wurde: LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1232, o. Bl.-Nr., StAnw Düsseldorf, Vm. zum Verfahren 8 Js. 116/47 (28.10.1947); siehe auch die dazu gehörige Namensliste in ebd., Nr. 1230, o. Bl.-Nr., „Beglaubigte Abschrift des Katasterbandes IV des ehemaligen Landeshauptmanns der Rheinprovinz beim Oberpräsidenten in Düsseldorf[,] bet[r].: ‚Anstalten der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege‘“ (o. D. [1947]). – Aus der badischen „Zwischenanstalt“ Wiesloch wurden im Zeitraum 28.03.–21.07.1941 265 Menschen nach Hadamar verlegt: Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 282 (Tabelle 12). – Für die württembergische „Zwischenanstalt“ Weinsberg ist bei Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367, die Verlegung von 270 Menschen im Zeitraum 10.03.–17.06.1941 dokumentiert. – Eine Addition dieser Daten ergibt (bei Zugrundelegung der Angaben Werners) eine Anzahl von mindestens 2.380 Menschen, die über die vier außer„nassauischen“ „Zwischenanstalten“ nach Hadamar verlegt worden sind, wobei die jüdischen Patienten aus dem nördlichen Rheinland (91 über die Sammelanstalt DüsseldorfGrafenberg) sowie aus dem südwestdeutschen Raum (mind. 98 über die Sammelanstalt Heppenheim) noch nicht berücksichtigt wurden: siehe dazu Kap. IV. 3. b). 95 Menneckes Darstellung ist im Grundsatz auch auf die anderen „Zwischenanstalten“ im BV Nassau übertragbar. 96 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 174 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 8. Hv-Tag (13.12.1946). 97 Für Weilmünster: ebd., Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 533–535, Aussage Margarete W. b. OStAnw b. d. LG Ffm (27.09.1946), hier Bl. 535; HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 10, Aussage von Elisabeth B. in Hadamar (14.02.1946), Abschr. (in beiden vorgenannten Aussagen wird bestätigt, dass auch in Weilmünster die Oberschwester die Listen der Abzuholenden mit auf die Stationen brachte); ebd., Bl. 25, Aussage Stanislaus G. (11.02.1946); Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 135. – Für den Eichberg: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 40 f., Aussage Helene Schürg als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. HvTag (05.12.1946); Bl. 21 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). 98 Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 21, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). 99 Es handelte sich um die so genannten IIIer-Häuser (M III bzw. F III): ebd., Nr. 31898, Bl. 33–35, Aussage Erich Moos (29.09.1946), hier Bl. 33; Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 135. 100 LWV, Best. 12/K5097, Krankengeschichte, o. Bl.-Nr., Eintrag d. LHA Herborn (18.01.1941) („Aus platztechnischen Gründen nach – P. G. – verlegt.“) – Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung. 101 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 64 f., hier Bl. 64, Aussage Dr. [William] Altvater ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946) („teils rote, teils graue, später nur dunkle“); ebd., Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945), hier Bl. 38 („schwarze, große Autos“); ebd., Bd. 2, Bl. 59 f., Zeugenaussage Wilhelm W. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946), hier Bl. 60 („dunkel angestrichen und schwarz verhängt“); ebd., Bd. 4, Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946) („Farbe: grau“). 102 Ebd., Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 181 f., Aussage Benedikt Härtle ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Oberweyer (09.03.1946), hier Bl. 181; Bd. 7, Bl. 71, 456 IV. Zeit der Gasmorde bekannt, sodass die kranken und behinderten Menschen teilweise Angst hatten mitzufahren. Laut Mennecke haben mehrfach die Betreffenden „[z]ur Beruhigung [...] vor dem Transport ihre Spritze bekommen, damit sie unterwegs nicht irgendwelche Schwierigkeiten machten.“103 In verschiedenen „Zwischenanstalten“ wurden die Menschen vor der Verlegung mit einer Identifikationsnummer versehen, die das Pflegepersonal mit einem blauen Fett- oder Kopierstift auf den Körper (den Rücken und/oder die Arme) auftrug.104 Bei dieser Nummer handelte es sich – das lässt sich erschließen – um die meist fünf- oder sechsstellige so genannte „Z-Nummer“, mit der die Berliner Zentrale von „T4“ aus organisatorischen Gründen, unter anderem um Verwechslungen vorzubeugen, sämtliche ausgefüllten Meldebogen versehen hatte und die nun auf der übersandten „Transportliste“ erneut auftauchte.105 Eine weitere Tätigkeit, die meist das Pflegepersonal in den „Zwischenanstalten“ übernahm, war die Verpackung der persönlichen Habe (überwiegend Kleidungsstücke und Wertgegenstände) der Patientinnen und Patienten, die verlegt werden sollten. Teilweise (so in Herborn) zogen die Anstalten für diese Verpackungstätigkeit auch andere Patienten heran.106 Schließlich suchten die „Zwischenanstalten“ die Krankenakten der abzuholenden Patientinnen und Patienten heraus, um die Unterlagen den „T4“-Mitarbeitern in den Bussen mitzugeben. Diese Akten, die von „T4“ noch zu organisatorischen Zwecken verwendet und aufbewahrt wurden (und die teilweise später – bis in die 1990er Jahre – verschlungene Wege nahmen),107 wurden 1941 in den „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden entweder vom Büro der Anstalt (z. B. in der Anstalt Eichberg) oder vom Oberpflegepersonal (z. B. in der Anstalt Weilmünster)108 zusammengestellt. Obwohl der jeweilige Anstaltsdirektor bei der Organisation der Verlegungen letztlich die Verantwortung trug, war dessen persönliche Anwesenheit hierbei nicht zwangsläufig erforderlich. Als beispielsweise Mennecke aufgrund seiner „T4“-„Begutachtungs“reisen im Februar 1941 vom Eichberg abwesend war, konnte der aus dem Ruhestand zurückberufene 71-jährige Dr. Bernhard R. (der sich später – zweifellos zu Unrecht – als Gegner der NS-„Euthanasie“ zu stilisieren suchte) dem Direktor brieflich aus der Anstalt berichten: „Hier geht alles seinen ruhigen und friedlichen Geschäftsgang. [...] Montag, Mittwoch und Samstag folgen Verlegungen von ca. 140 Männern und 75 Frauen. Es wird alles plan- Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); vgl. auch die jeweiligen biografischen Angaben in Kap. IV. 2. c). 103 Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). – Zu Kenntnissen der Opfer und zur Vergabe von Spritzen in der „Zwischenanstalt“ Scheuern siehe auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 33. – Zu den Kenntnissen der Kranken in der Anstalt Andernach siehe auch die in Wert (1989), S. 242, abgedruckte Aussage einer Ärztin dieser Einrichtung. 104 Für den Eichberg: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.1946), hier Bl. 13; ebd., Bl. 55, Zeugenaussage Franziska P. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 21, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); ebd., Bl. 147, Zeugenaussage Katharina Sch. im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946); ebd., Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 228. – Für Weilmünster: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 533–535, Aussage Margarete W. b. OStAnw b. d. LG Ffm (27.09.1946), hier Bl. 535. – In der HEA Kalmenhof scheint abweichend ein runder Stempel mit Nummer für die Kennzeichnung verwendet worden zu sein: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage Hugo B. in Idstein (26.04.1945); ebd., Aussage des Pflegers S. in Idstein (26.04.1945). 105 Für die in Hadamar ermordeten bzw. in den Hadamarer „Zwischenanstalten“ untergebrachten Menschen lassen sich bislang „Z-Nummern“ in folgenden Tausenderbereichen feststellen: 70..., 74..., 84..., 114..., 119..., 122..., 123..., 127..., 132..., 133..., 157...: Archiv d. Heime Scheuern, zwei Schreiben d. LHPA Alzey an HEPA Scheuern (09.05.1941); ebd., [„T4“,] „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, Leiter, an HEPA Scheuern (21.05.1941), hier begl. Abschr. (o. D. [1949]); ebd., Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (21.08.1941), mit Anlage „Liste der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern“; ebd., HEPA Scheuern an Bernotat, Wiesbaden (02.09.1941, Durchschr.; BA, R179/2117, 2119, 2127 f., 2131 f., 2221, 2223, 2239, 2434, 2501, 2642 f., 2718, 2857, 2933, 3042, 3051 f.; siehe auch Sandner, „Euthanasie“-Akten (1999), S. 391 f.; vgl. auch Aly, Fortschritt (1985), S. 69. 106 HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1155, Bl. 114–123, Herbert B., Guxhagen-Breitenau, an StAnw d. IV. Strafkammer Ffm (30.12. 1946), hier Bl. 117. 107 Zur Überlieferungsgeschichte der erhaltenen ca. 30.000 Akten, die seit Ende des Krieges und später verschlungene Wege über Oberösterreich und Thüringen in die Berliner Archive der DDR-Staatssicherheit nahmen, bevor sie nach der deutschen Einheit in die Bestände des Bundesarchivs gelangten, wo sie heute den Bestand R179 bilden, siehe Sandner, „Euthanasie“Akten (1999), sowie Sandner, Schlüsseldokumente (2003). 108 HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 25, Aussage Stanislaus G. in Weilburg (11.02.1946) (danach hat Oberpfleger Jakob J. in Weilmünster „die Akten von Berlin und anderen Orten [...] aussortiert“). 3. Kooperation während der Gasmorde 457 mäßig verlaufen.“109 Mitunter aber traten durch Menneckes Abwesenheit auch organisatorische Pannen zu Tage. Mit Missfallen hat beispielsweise Mennecke im Februar 1941 gegenüber der Anstalt Hadamar „schwer moniert“, dass „eine neue Transportliste [...] wieder an meine persönliche Adresse gerichtet [wurde]“110 – wegen der Abwesenheit des Direktors hatte dies nämlich zur Folge, dass der Brief mit der Liste ihm ungeöffnet nachgesandt wurde und nicht unmittelbar der Eichberger Anstalt zur Vorbereitung der Verlegung zur Verfügung stand. Doch derartige Pannen blieben die Ausnahme. Im Allgemeinen vollzog man die Wegverlegungen aus der Landesheilanstalt Eichberg selbst dann, wenn überhaupt keine ärztliche Leitung anwesend war. In diesem Falle übernahm der für die Vertretung zuständige erste Verwaltungsbeamte die Weitergabe der „Transportlisten“ an die Stationen.111 Neben den operativen Aufgaben bei der Verlegung der Patientinnen und Patienten in die Mordanstalt Hadamar stellten die „Zwischenanstalten“ im Bezirksverband Nassau durch die Abrechnung der in diesem Zusammenhang anfallenden Pflegekosten auch in administrativer Hinsicht eine reibungslose Abwicklung der Verlegungsaktion im Jahre 1941 sicher. Bevor nämlich das Vertuschungssystem der „T4“-„Zentralverrechnungsstelle“ griff, übernahmen die Anstalten selbst diese Verschleierung, indem sie gegenüber den Kostenträgern – etwa den Kommunen als Bezirksfürsorgeverbänden – den tatsächlichen Aufenthaltsort der Verlegten in der „Zwischenanstalt“ buchungstechnisch verheimlichten. Dadurch erfuhren diese Kostenträger – wenn überhaupt – erst dann von den Verlegungen, wenn die von ihnen unterstützten Menschen bereits in Hadamar ermordet waren. Gerade in den Anfangsmonaten der Hadamarer Morde herrschte allerdings noch Unklarheit darüber, wann und gegebenenfalls mit welcher Auskunft die Kostenträger durch die „Zwischenanstalten“ informiert werden sollten. Zunächst hatte beispielsweise die Anstalt Scheuern (nach Verlegungen von Menschen nach Hadamar) die Kostenträger nicht informiert, bald aber erwies es sich „mit Rücksicht auf Pflegekostenabrechnung, Rentenbezüge usw. immer mehr als dringend notwendig, dass Anzeigen [an die Kostenträger, P. S.] erstattet werden.“112 Es fanden sich aber – wie die Anstalt Weilmünster bewies – Wege, diese Mitteilung zu vermeiden. Wenn beispielsweise die „Zwischenanstalt“ Weilmünster Patienten aus den hessischen Landesheil- und Pflegeanstalten (etwa Alzey, Goddelau oder Heppenheim) aufnahm, meldete sie dies nicht wie üblich den Kostenträgern, sondern sie ließ diese die Pflegekosten weiter an die „Ursprungsanstalten“ (hier also Alzey, Goddelau oder Heppenheim) zahlen. Anschließend forderte die Anstalt Weilmünster diese Pflegesätze für die nun für einige Wochen (bis zur Weiterverlegung in die Mordanstalt Hadamar) in Weilmünster untergebrachten Menschen von den „Ursprungsanstalten“ zur Erstattung an.113 Dies verringerte einerseits den Arbeitsaufwand für die „Zwischenanstalt“, andererseits trug es aber auch zur gewünschten Verschleierung bei. Schließlich verbot Anstaltsdezernent Bernotat in 109 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 197), Dr. Bernhard R., Eichberg, an Dr. Friedrich Mennecke (14.02.1941), Abdr. auch b. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 127 (D[ok.]46), Abdr. teilweise auch b. Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 331 (Dok. 191). – Zu Dr. med. Bernhard R. (* 1869) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie u. zu den Motiven für sein Ausscheiden im Sommer 1941: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 89, 6-seitige „Aufstellung der in der Landesheilanstalt Eichberg in der Zeit v. 1939 bis März 1945 beschäftigten Personen“ (o. D. [Anschreiben: 13.02.[1946]]); ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05. 1946), hier Bl. 13; ebd., Bd. 3, Bl. 119–125, Aussage Dr. Walter Schmidt b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (04./05./07.11.1946), hier Bl. 119 (04.11.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 191, Protokoll-Fragment der Aussage Medizinalrat Dr. R. ggü. d. StAnw Ffm (o. D. [ca. 1946]); HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12826, o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an Staatl. Gesundheitsamt Rüdesheim (08.03.1941), Durchschr., sowie zugehörige Vfg. (07.03.1941); ebd., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg an Reichsärztekammer, Ärztliche Bezirksvereinigung Wiesbaden (02.09.1941, ab: 03.09.1941), Durchschr.; BV Nassau, Verwaltungsbericht (Anfang 1934–Anfang 1935), S. 2. 110 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld, an Eva Mennecke (19.–20.02.1941), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 171–173 (Dok. 59), hier S. 172 (19.02.1941). 111 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, Bd. 4, Bl. 175, Aussagen Dr. Friedrich Mennecke u. Dr. Walter Schmidt als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 8. Hv-Tag (13.12.1946). – Zur Vertretungsregelung durch den ersten Verwaltungsbeamten Ludwig W. in der LHA Eichberg siehe Kap. IV. 2. b). 112 AHS, HEPA Scheuern [Dir. Todt] an den Vorsitzenden [LdsR Bernotat, Wiesbaden] (25.04.1941). 113 StA Da, Abt. H 13 Darmstadt, Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 7 (= mehrere Dokumente), hier LHA Weilmünster an LHPAen Heppenheim, Goddelau u. Alzey (18.03.1941), hier Exemplar an LHPA Goddelau („Wir bitten um sofortige Überweisung der uns für Monat Februar 1941 zustehenden Pflegegelder für die von dort nach hier überführten Kranken“); LWV, Best. 14/174, dasselbe Schreiben, hier Exemplar an LHPA Heppenheim; zur entsprechenden Verrechnung zwischen den „Zwischenanstalten“ u. der LHA Marburg siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 288. 458 IV. Zeit der Gasmorde bestimmten Fällen sogar den Kontakt der „Zwischenanstalten“ mit den Kostenträgern der auswärtigen Patientinnen und Patienten.114 Die Bedeutung der Kassengeschäfte belegt auch eine personelle Sofortmaßnahme der Landesheilanstalt Eichberg Anfang 1941. Nach einer Verabredung zwischen Anstaltsdezernent Bernotat und Direktor Mennecke bestellte die Anstalt wegen Personalmangels (durch Einberufungen und Erkrankungen) ab Februar 1941 ihren bisherigen Telefonisten Johann E. zum kommissarischen Kassenleiter, damit die anfallenden Abrechnungsarbeiten unverzüglich weitergeführt werden konnten. Nach Abschluss der „T4“-Verlegungen lobte Mennecke E. in höchsten Tönen – dieser habe „die ihm übertragenen Sonderaufgaben [...] mit ganz besonders großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit durchgeführt“, er beweise „täglich auf’s Neue, dass er derartigen Aufgaben gewachsen ist, und er setzt in erfreulicher Weise seinen ganzen Ehrgeiz darein [!], die Interessen der Verwaltung zu fördern.“ Eine beantragte Höhergruppierung E.s lehnte der Bezirksverband zwar vorerst ab, da der Betreffende keine Verwaltungsprüfung abgelegt hatte. Man belohnte ihn aber Anfang 1942 in „Anerkennung seiner besonderen Leistungen“ mit einer Einmalzulage von RM 100; beinahe gleichzeitig konnte er aus den Händen des Anstaltsdezernenten Bernotat eine Kriegsverdienstmedaille entgegennehmen.115 Nicht nur durch derartige Änderungen in der Geschäftsverteilung, sondern auch durch einzelne Versetzungen oder Abordnungen an seine eigenen Landesheilanstalten116 traf der Bezirksverband vor oder während der Zeit der Gasmorde Vorkehrungen in personeller Hinsicht, um einen reibungslosen Ablauf in der Tätigkeit der „Zwischenanstalten“ zu sichern. So ordnete die Zentralverwaltung des Bezirksverbandes ab März 1941 für fünfeinhalb Monate ihre Verwaltungsangestellte Irene M., die 1938 aufgrund von Parteireferenzen in Wiesbaden eingestellt worden war, zur Landesheilanstalt Herborn ab.117 Dort verstärkte sie die Anstaltsverwaltung, die durch die Krankenneuaufnahmen und -verlegungen nach Hadamar in diesen Monaten einen erheblichen administrativen Mehraufwand zu bewältigen hatte. Als M. dann im September 1941 „infolge Umstellung der Landesheilanstalt Herborn [dort] entbehrlich“ war, berief der Bezirksverband sie zurück zur Wiesbadener Zentralverwaltung und setzte sie dort in Bernotats Anstaltsabteilung „S/II/III“ ein.118 Eine entsprechende personelle Verstärkung im Bürobereich durch Abordnung einer Schreibkraft der Wiesbadener Zentralverwaltung lässt sich auch für die Landesheilanstalt Eichberg feststellen.119 Die beiden von Bernotat geleiteten Privatanstalten in Scheuern und Idstein, die damit de facto auch vom Bezirksverband Nassau mitverwaltet wurden, verhielten sich als „Zwischenanstalten“ für „T4“ insgesamt ähnlich wie die Landesheilanstalten des Bezirksverbandes selbst.120 Auch das Beispiel der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern dokumentiert, wie eigenständig und aktiv eine „Zwischen114 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (11.08.1941). – So durfte vom Tod von „Zwischenanstalts“patienten nur die ursprüngliche Anstalt u. die Angehörigen, nicht aber der Kostenträger informiert werden. 115 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Er., Jo., Bd. I, div. Dok. zw. Bl. 74 u. Bl. 92 zur neuen Tätigkeit u. zur Bemühung um Höhergruppierung (24.03.1941–19.08.1943), insb. Bl. 81, Dir. d. LHA Eichberg, Dr. Mennecke an BV Nassau (16.02.1942), Abschr. (Zitat „[...] übertragenen Sonderaufgaben [...]“, „täglich auf’s [...]“), sowie Bl. 82, BV Nassau, B (Ia) Pers., gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, durch Abt. A (S/II) an LHA Eichberg (25.02.1942) (Zitat „[...] besonderen Leistungen“); ebd., Bd. II, Teil 1, Bl. 37, Empfangsbescheinigung über Verleihung d. Kriegsverdienstmedaille an Johann E. (24.03. 1942); ebd., Teil 2, Bl. 42–52, div. Dok. zur „Verwaltungsprüfung II“ (19.01.–08.03.1949). – Nach einem neuerlichen Antrag wurde die Höhergruppierung 1943 schließlich doch genehmigt mit der Auflage, nach Kriegsende die vorgeschriebene Prüfung nachzuholen, welche E. jedoch im Jahre 1949 nicht bestand. 116 Zur Abordnung von Personal an „T4“ für die Mordanstalt Hadamar selbst siehe Kap. IV. 2. c). 117 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Ma., Ir., Teil 1, o. Bl.-Nr., Personalbogen d. BV Nassau für Irene M. (o. D. [begonnen 22.11.1938]); ebd., Bl. 23–32, Vfgg./Vmm. d. BV Nassau sowie Schreiben LHA Herborn an BV Nassau (11.03.–24.09.1941). – Die Abordnung sollte ursprünglich am 25.02.1941, dann am 11.03.1941 beginnen, erstreckte sich jedoch schließlich auf den Zeitraum 25.03.–10.09.1941, tatsächlicher Dienstantritt war der 26.03.1941. – Zur Einstellung von Irene M. im Jahr 1938 siehe Kap. II. 2. b). 118 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Ma., Ir., Teil 1, Bl. 30, Vm. d. BV Nassau [Pers.-Abt.] (01.09.1941); sowie ebd., Vfg. zum Schreiben BV Nassau durch die LHA Herborn an Irene M. (01.09.1941, ab: 04.09.1941). 119 Siehe dazu Kap. IV. 3. b). 120 Zur HEA Kalmenhof als „Zwischenanstalt“ siehe unten. – Zur HEPA Scheuern als „Zwischenanstalt“ siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 268 f.; Skizzen (1990), S. 31; Otto, Heilerziehungs- und Pflegeanstalt (1993), S. 320; Koppelmann, Streifzug (1997), S. 166 f.; ders., Zeit (2000), S. 33 f.; Wery, Heilerziehungs- und Pflegeanstalt (2002), S. 83–89; siehe auch Urteilsbegründung aus dem Verfahren gegen den Leiter der Anstalt Scheuern, Karl Todt, und gegen den Anstaltsarzt Dr. Th., auszugsweiser Abdr. in Skizzen (1990), S. 31/33/35/37, hier S. 33. 3. Kooperation während der Gasmorde 459 anstalt“ im Regierungsbezirk Wiesbaden die administrativen Anforderungen, die die Organisation der „T4“-„Transporte“ bedeuteten, als Herausforderungen annahm und meisterte. Ebenso wie der Herborner Anstaltsdirektor121 korrespondierte und telefonierte auch die Leitung der Scheuerner „Zwischenanstalt“ überwiegend im Vorfeld der Verlegungen mit den so genannten „Ursprungsanstalten“ (etwa in Marburg, Alzey oder Gütersloh), von wo ab April 1941 Patientinnen und Patienten zur späteren Weiterverlegung nach Hadamar aufgenommen wurden.122 Auch mit der Mordanstalt Hadamar selbst setzte man sich telefonisch ins Benehmen, um Detailfragen bei der Krankenverlegung abzuklären. Der Versuch, sich die im Zusammenhang mit den Verlegungen angefallenen Telefonkosten von RM 25,00 durch „T4“ erstatten zu lassen, schlug allerdings fehl, da die „Gekrat“ dies mit folgender Begründung verweigerte: „Es ist zwischen Behörden und Instituten, die ausschliesslich im Behördenauftrag arbeiten wie wir, durchaus ungewöhnlich, derartige Kosten weiter zu berechnen. Wir bedauern daher, Ihre Rechnung ablehnen zu müssen [...]“.123 In bürokratischer Ordentlichkeit ließ die Anstalt sich sogar die Übergabe der Patientinnen und Patienten an das „T4“-Kommando, das diese zur Ermordung fuhr, durch den „Transportführer“ quittieren.124 Diese Befunde von Mitwirkung der Scheuerner Direktion stellen jedoch nicht grundsätzlich die Berechtigung der staatsanwaltschaftlichen Einschätzung von 1948 in Frage, dass der dortige Anstaltsvorstand „Bernotat [als] der Hauptschuldige an allen Massenmorden [...] in Hessen-Nassau [...] die Durchführung des Massenmordes auch in Scheuern persönlich geleitet und mit allen Mitteln durchgeführt“ habe.125 Einen bemerkenswerten Sonderfall stellte der erste „Transport“ von knapp 40 behinderten Menschen aus Scheuern dar, die am 18. März 1941 nicht – wie eigentlich nach der regionalen Aufteilung vorgesehen – nach Hadamar, sondern nach Sachsen verlegt wurden, zunächst in die dortige Anstalt Arnsdorf; die Mehrzahl der Verlegten wurde wenige Wochen später in der „T4“-Anstalt Pirna ermordet. Die Verlegung von Scheuern, die nicht per Bus, sondern mit dem Zug erfolgte und von auswärtigem Personal begleitet wurde, hatte den Zweck, die Menschen dort für einen „T4“-Dokumentarfilm über die Krankentötungsaktion aufnehmen zu lassen. Der für die Mordorganisation tätige Filmautor Hermann Schwenninger hatte die Mehrzahl der betreffenden Behinderten wegen ihres vermeintlich besonders erschreckenden Aussehens zuvor in Scheuern ausgewählt. Der geplante Film, für den anschließend auch Aufnahmen der Ermordung in der Gaskammer in Pirna-Sonnenstein angefertigt wurden (und der nicht überliefert ist), hätte sich einordnen sollen in die nationalsozialistische Filmpropaganda, die bereits seit den 1930er Jahren die kranken- und behindertenfeindliche Politik des NS-Staats orchestrierte. Entscheidenden Anteil daran, dass es schließlich nie zur Veröffentlichung des Filmes kam, hatte Propagandaminister Goebbels, der frühzeitig darum besorgt war, „daß man mir kein Kuckucksei ins Nest legt und daß nicht der Film am Ende mehr Schaden als Nutzen stiftet.“126 121 Siehe oben in diesem Kap. IV. 3. a). AHS, LHA Marburg an Dir. d. HEPA Scheuern (28.04.1941); ebd., LHA Marburg [an HEPA Scheuern], „Aufstellung der Angehörigen-Anschriften“ (11.06.1941); ebd., zwei Schreiben d. LHPA Alzey [an HEPA Scheuern] (09.05.1941); ebd., PHA Gütersloh an HEPA Scheuern, Dir. Dr. [!] Todt (20.06.1941); siehe auch die Angaben zu den Telefonaten in der folgenden Anm. 123 AHS, HEPA Scheuern [an „T4“, Gemeinnützige Kranken-Transport-G. m. b. H., Berlin], „Rechnung über in der Zeit vom 26. Mai bis 13. August geführte Ferngespräche“ (21.08.1941); ebd., [„T4“,] Gemeinnützige Kranken-Transport-G. m. b. H., Berlin, an HEPA Scheuern (27.08.1941). – Außer Telefonaten mit der „T4“-Anstalt Hadamar hatte die HEPA Scheuern auch Gespräche mit verschiedenen „Ursprungsanstalten“ (hauptsächlich den Anstalten Marburg, Gütersloh, Elisabethenstift Katzenelnbogen) und den übrigen „Zwischenanstalten“ (Eichberg, Herborn, Weilmünster) aufgelistet. 124 AHS, HEPA Scheuern, „Transportliste Nr. 13“ (zum 01.07.1941): Der „Transportführer“ Adolf Seibel quittierte durch seine Unterschrift auf der Liste („Abgabe-Anst.: Scheuern“, „durchgeführt am 1. Juli 1941“) unter den 112 aufgeführten Namen: „Transport mit Listen und Akten ordnungsgemäss übernommen. Scheuern, den 1. Juli 1941.“ – 111 dieser am 01.07. 1941 verlegten Patient/inn/en (für die die HEPA Scheuern oder die LHA Marburg, in einem Fall das Sanatorium Katzenelnbogen „Ursprungsanstalten“ waren) lassen sich im AHS, Hauptkrankenverzeichnis (Einträge 1941), nachweisen. 125 AHS, OStAnw Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th. (06.08.1948), hier S. 5. 126 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (05.09.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 357–365, hier S. 364. – Aus AHS, HKV (mit Eintragungen 1941), lassen sich die Namen von 39 am 18.03.1941 verlegten Menschen rekonstruieren; zumindest für jene drei von ihnen, für die der LFV Kassel Kostenträger war, lässt sich die Aufnahme in der sächsischen Anstalt Arnsdorf am folgenden Tag nachweisen: ebd., Landesanstalt Arnsdorf/Sachsen an LFV Kassel (22.03.1941), hier Abschr. f. HEPA Scheuern; ebd., [„T4“,] Gekrat, an HEPA Scheuern, betr. „Verlegungstransport am 18. März 1941“ (Schreiben: 08.03.1941), Abschr., als Faks. auch in Dokumentation (2000), S. 33; AHS, OStAnw Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th. (06.08.1948), hier S. 5, Kopie; 122 IV. Zeit der Gasmorde 460 Weit mehr als die Anstalt in Scheuern, die ihren Charakter als Institution der Inneren Mission zumindest in Ansätzen aufrechtzuerhalten suchte, repräsentierte die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein – nicht zuletzt durch ihre Leitung – in radikaler Weise das Bild einer „nationalsozialistischen Anstalt“.127 Wie in den anderen „Zwischenanstalten“ wurde auch im Kalmenhof zuerst ein Teil der „eigenen Zöglinge“ nach Hadamar gebracht, bevor Menschen aus anderen Anstalten über den Kalmenhof in die Hadamar Mordanstalt verlegt wurden.128 Gegen Ende der Verlegungen, aber noch während der Hadamarer Gasmorde, wechselte im Juni 1941 in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof die Leitung: Direktor Ernst Müller, der als NS-„Euthanasie“-Befürworter bereits „etwa um die Zeit des Kriegsausbruches Andeutungen in dieser Richtung“129 gemacht habe, wurde zur Wehrmacht einberufen und fortan (bis Kriegsende) durch seinen Stellvertreter, den Bürovorsteher Wilhelm Grossmann ersetzt, der die Kranken- und Behindertenmorde nicht weniger engagiert unterstützen sollte.130 * Durch die Bereitstellung und den Betrieb von „Zwischenanstalten“ für die „T4“-Gasmordanstalten in den Jahren 1940/41 unterstützten verschiedene regionale Anstaltsträger die Krankenmordaktion in logistischer Hinsicht, denn erst mit der Zwischenschaltung derartiger Institutionen konnte „T4“ die permanente Nutzung seiner Gaskammern sicherstellen. Dagegen wurde das zweite mit den „Zwischenanstalten“ verbundene Ziel, die Täuschung der Angehörigen, zumindest nicht durchgehend erreicht.131 LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 2 f., Dr. A[dolf] Th., Scheuern, z. Zt. Schloss Diez, an Gouvernement militaire, Diez (16.08.1945), hier Bl. 2; ebd., Bl. 5–7, Dir. Karl Todt Anstalt Scheuern, an Gouvernement Militaire, Diez (o. D. [ca. August 1945]), hier Bl. 6 (Todt bezifferte die Zahl der Betroffenen auf 60; das Begleitpersonal habe angegeben, aus Arnsdorf „in Thüringen“ zu kommen); siehe auch Schilter, Ermessen (1999), S. 81, dort u. a. mit Hinweis auf HStA Wi, Abt. 631a Nr. 476, Bl. 99, Aussage Hermann Schwenninger (28.10.1970); siehe auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 31 (dort wird die Zahl der Verlegten mit 38 angegeben). – Zur Filmpropaganda in Bezug auf die Krankenmordaktion siehe Roth, Filmpropaganda (1985); zum genannten Film, dessen Kopien vor Kriegsende vernichtet wurden, siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 344; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 288–290; sowie das dort abgedr. Dokument aus BA, R96 I/8, „Entwurf für den wissenschaftlichen Dokumentarfilm G. K. [= Geisteskranke] von Hermann Schwenninger“ (29.10.1942), Abschr. 127 Zur nationalsozialistischen „Machtübernahme“ in der HEA Kalmenhof siehe Kap. III. 1. a); zu den Morden in der Anstalt selbst, insb. im Rahmen der sog. „Kindereuthanasie“, siehe Kap. V. 1. b). 128 Wegen Aktenverlustes lassen sich die Verlegungen vom und über den Kalmenhof nur unzulänglich dokumentieren; datenmäßig präzise festgehalten ist allein die Verlegung von 232 Menschen nach Hadamar im Zeitraum 17.01.–29.04.1941, für die der Kalmenhof die „Ursprungsanstalt“ war: Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 35; ebenso Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941); vgl. auch Frankfurter Rundschau (21.01.1947), „Der Kalmenhof-Prozeß begann. ‚Sie haben sich kein Gewissen gemacht‘. Das Gift im Abendessen. 232 Jugendliche in die Gaskammern geschickt“, hier zit. n. d. Fask. b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 117 f., hier S. 117. – Nicht mitgerechnet sind dabei jedoch z. B. die Menschen, die z. B. von der LHA Haina, d. westfälischen PHA Gütersloh oder der Hannoveraner Anstalt Wunstorf über die „Zwischenanstalt“ Kalmenhof nach Hadamar verlegt wurden: Siehe dazu Hadamar (1991), S. 87 (Kat. Nr. 59: „Einzugsgebiet und Zwischenanstalten für Hadamar“); zu den Verlegungen von Haina zum Kalmenhof siehe auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Zeiß, Erich, Dr., Bl. 56–58, „Bericht des Dr[.] med. E[.] Zeiss über die Verlegung von geisteskranken Männern aus der Landesheilanstalt Haina in die Heil- und Erziehungsanstalt Calmenhof und in die Landesheilanstalt Weilmünster“ (o. D., Eingangsstempel d. LH in Kassel: 08.02.1947); zur Verlegung Haina – Kalmenhof siehe auch BA, R179/5225; zur Verlegung von 82 Menschen von Wunstorf nach Idstein am 23./24.04.1941, bei denen in mindestens 37 Fällen der Tod in Hadamar beurkundet wurde, siehe Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 82 f., S. 218. – Von einer Gesamtzahl von „etwa 400 Insassen“, die „nach Hadamar zur Vergasung und Einäscherung gebracht worden“ sind, ist die Rede in den Unterlagen d. Ev. Kirchengemeinde Idstein, Chronik Bd. 3, S. 49 (Eintragung für 1945 [verfaßt 1948]), hier zit. n. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 95. – Zur Verlegung der Kalmenhof-„Zöglinge“ und zur „Zwischenanstalts“funktion der Anstalt siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage Mathilde Weber in Idstein (28.04.1945). 129 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 4, Kopie. – Müller selbst behauptete dagegen 1952 im Strafprozess wegen der „T4“Verlegungen, „es sei ihm nur übrig [geblieben], sich zur Wehrmacht zu melden“, da „offener Widerstand gegen den Führerbefehl [...] soviel wie Selbstmord gewesen“ sei: Idsteiner Zeitung (18.03.1952), „Heute in Wiesbaden: Prozeß um 232 getötete Kinder. Beihilfe zur Euthanasie – Wußte Direktor Müller, was mit seinen Zöglingen geschah?“, hier zit. n. d. Faks. in Maaß, Verschweigen (1988), S. 342. 130 Zu Ernst Müller (* 1891) und Wilhelm Grossmann (1891–1951) siehe biogr. Anhang. – Quellen zu Grossmann: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 18871, Handakte Freitag, o. Bl.-Nr. OStAnw b. d. LG Ffm als Leiter d. Anklagebehörde b. d. Sondergericht an Sondergericht Ffm, Anklageschrift gegen Wilhelm Grossmann, Az. 7 Js 79/44 (21.01.1945), Abschr.; ebd., Nr. 31526, Prozessakten d. LG Ffm im Kalmenhof-Prozess, Az. 4 Ks 1/48; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1990, Grossmann, Wilhelm, Teil 1, Bl. 10 f., Dienstvertrag zw. dem Verein für die HEA Calmenhof, Idstein, und Wilhelm Grossmann (30.11.1935), Abschr. einer Abschr. (19.05.1950); ebd., andere Dok. in dieser Akte; Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 96, S. 98; Klee, Ärzte (1986), S. 204 f.; Maaß, Verschweigen (1988), S. 338–341, S. 347 f.; Boberach, Verfolgung (1991), S. 167. 131 Siehe dazu Kap. IV. 3. c). 3. Kooperation während der Gasmorde 461 Zweifellos war das Engagement des Bezirksverbandes Nassau und seines Anstaltsdezernenten Bernotat besonders groß, da sie (noch zusätzlich zur Bereitstellung der Mordanstalt Hadamar selbst) mit fünf „Zwischenanstalten“ auf relativ engem Raum im Regierungsbezirk Wiesbaden die reichsweit größte Dichte solcher Institutionen boten. In diesem Ausmaß konnte das nur deshalb erreicht werden, weil der Verband durch seine rabiate Anstaltspolitik in den 1930er Jahren die beiden größten Privatanstalten im Bezirk (Scheuern und Kalmenhof) unter die Herrschaft des Landeshauptmanns gezwungen hatte.132 Vom Grundsatz her allerdings war der Bezirksverband als Träger von „Zwischenanstalten“ keine Ausnahme. Auch andere Provinzialverbände (z. B. in der Rheinprovinz oder in den Provinzen Sachsen und Brandenburg) sowie mehrere Länder (z. B. Baden, Württemberg, Sachsen und Braunschweig) stellten ihre Einrichtungen zu diesem Zweck zur Verfügung. Dennoch zeigte „T4“ sich offenbar auch in diesem Punkte – wie schon bei der Auswahl der Standorte für die Mordanstalten133 – flexibel und griff nur dort zu, wo ein Entgegenkommen des regionalen Anstaltsträgers (oder des Repräsentanten, etwa des Anstaltsdezernenten) erwartet werden konnte. Auf der anderen Seite nämlich gab es durchaus Provinzialverbände (etwa in Westfalen und Hannover), in deren Häusern keine „Zwischenanstalten“ eingerichtet wurden.134 Im Vorfeld der Verlegungsserien im Rahmen der „T4“-Gasmorde 1940/41 kam den regionalen Anstaltsträgern – den Provinzial- und Bezirksverbänden und den Landesregierungen – die Aufgabe zu, ihre jeweiligen Anstaltsleitungen über die bevorstehenden „Transporte“ zu informieren – sei es, um Grundsätzliches zu klären, sei es mit Blick auf konkrete Verlegungstermine. Damit einher ging – mehr oder weniger engagiert – die Einschwörung der Direktoren auf eine aktive Mitwirkung. Sowohl Landeshauptmann Traupel in Kassel als auch Anstaltsdezernent Bernotat im Bezirk Wiesbaden ließen keinen Zweifel daran, dass sie von den jeweiligen Direktoren und deren Anstalten eine rückhaltlose Mitwirkung bei der Organisation der Krankenverlegungen erwarteten. Im Bezirksverband Nassau initiierte Bernotat darüber hinaus Betriebsappelle, bei denen auch die übrige Mitarbeiterschaft der Anstalten einerseits eingeschüchtert, andererseits angestachelt wurde. In den folgenden Monaten vollbrachten die Anstalten eine weit gehend reibungslose Organisation der ein- und ausgehenden „Transporte“. Von der Möglichkeit zu der in gewissem Rahmen akzeptierten Zurückstellung von Patientinnen und Patienten scheinen die Anstaltsdirektoren im Regierungsbezirk Wiesbaden nur in sehr eingeschränktem Maße Gebrauch gemacht zu haben. Ein diachroner Blick auf die Gesamtheit der Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich zeigt, dass die Einrichtungen sich im Verlauf der Gasmordaktion – vom Planungsstadium Ende 1939 bis zur partiellen Unterbrechung der Mordaktion im August 1941 – mehr und mehr von reinen Befehlsempfängern zu aktiven Mitwirkenden bei der Mordaktion entwickelten. Hatte ihr Auftrag sich anfangs darauf beschränkt, die Abholung einer Anzahl der bei ihnen untergebrachten Kranken zu dulden, waren sie im Jahr 1941 zum Teil mit den vielfältigen konkreten Beiträgen zur Mordaktion befasst, die etwa der Status einer „Zwischenanstalt“ mit sich brachte. Zugleich wurde den Anstaltsleitern eine deutlich gesteigerte Mitwirkungsbefugnis (etwa bei Zurückstellungen) zugemessen. Es würde zu kurz greifen, wollte man diesen Kompetenzzuwachs allein auf die bekannten praktischen Komponenten – insbesondere Effizienzsteigerung und gezielte Irreleitung der Angehörigen – zurückführen. Ebenso bedeutend dürfte die offenkundige Mitwirkungsbereitschaft bestimmter Anstaltsträger (Provinzialverbände, Länder- und Reichsgaubehörden) gewesen sein, auf die „T4“ im Verlauf der Mordaktion bei den Kontakten mit diesen regionalen Stellen stieß. Gerade das Sendungsbewusstsein, mit dem manche „T4“Verantwortlichen die so genannte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ betrieben, ließ ihnen eine aktive Einbeziehung relativ breiter Kreise von Anstaltsmitarbeitern nur allzu logisch erscheinen, wenn sich auch bald herausstellen sollte, dass damit erhebliche Geheimhaltungslücken geschaffen wurden. 132 Siehe dazu Kap. III. 1. a). Siehe dazu Kap. IV. 2. b). 134 Hierfür konnte auch die Ferne von der „T4-Anstalt“ eine Rolle spielen: vgl. analog den Plan, die Patient/inn/en aus dem PV Schleswig-Holstein über die „Zwischenanstalt“ Königslutter (Land Braunschweig) zur Ermordung nach Bernburg zu verlegen: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 95 f. – In den PVen Pommern u. Ostpreußen erübrigten sich „Zwischenanstalten“ wegen der früh durchgeführten Mordaktionen: siehe Kap. III. 3. c). 133 462 IV. Zeit der Gasmorde b) Die Gasmorde in Hadamar und der Bezirksverband War der Bezirksverband an der Vorbereitung der Hadamarer Gasmorde (besonders durch die Bereitstellung der Mordanstalt Hadamar,135 durch die Akquirierung von Personal im Verband,136 durch Krankenverlegungen und die Unterhaltung der „nassauischen“ „Zwischenanstalten“137) aktiv beteiligt, so liefen die Gasmorde in Hadamar selbst weitgehend ohne direkte Beteiligung des Verbandes vor Ort ab.138 Dennoch entstanden auch hier vielfältigste Berührungspunkte zwischen der „T4-Aktion“ und der Wiesbadener Zentralverwaltung des Bezirksverbandes. Die Gasmorde in der Anstalt Hadamar als NS-„Euthanasie“-Anstalt139 der „T4“ begannen Anfang 1941 nicht allein mit jenem Personal von rund 25 Beschäftigten, die bis dahin in den Anstalten des Bezirksverbandes oder über das Arbeitsamt Frankfurt akquiriert worden waren,140 sondern überwiegend mit Kräften, die zuvor bereits bei „T4“ mitgewirkt hatten. Insbesondere die Belegschaft der Ende 1940 geschlossenen Gasmordanstalt Grafeneck in Württemberg, unter der es eine so genannte „Stuttgarter Gruppe“141 gab, kam nun größtenteils nach Hadamar;142 nur vereinzelt fanden auch Versetzungen von Grafeneck in andere „T4“-Einrichtungen wie beispielsweise nach Bernburg statt.143 Bereits kurz vor Weihnachten 1940 hatte der „T4“-Personalbestand in Hadamar die Größe von annähernd 70 Personen erreicht; nach einem Weihnachtsurlaub für die meisten erhöhte die Zahl sich nochmals und überschritt im Laufe des Jahres 1941 zeitweise sogar die 100.144 Von diesen Personen145 waren (nach früheren 135 Siehe dazu Kap. IV. 2. b). Siehe dazu Kap. IV. 2. c). Siehe dazu Kap. IV. 3. a). 138 Aus diesem Grund wird zu den Hadamarer Gasmorden im Folgenden nur ein relativ knapper Überblick gegeben. 139 An dieser Stelle werden die in der deutschsprachigen Literatur eingeführten Begriffe „NS-‚Euthanasie‘-Anstalt“, „T4Anstalt“ oder „Gasmordanstalt“ bevorzugt, nicht zuletzt da der Begriff „Anstalt“ terminologisch die Einbettung der Krankenund Behindertenmordaktion in ein zuvor schon existierendes „Anstaltswesen“ verdeutlicht; vgl. dazu z. B. die Aufsatz- oder Bandtitel in Winter, Geschichte (1991); Hadamar (1991); Winter, Hadamar (1991); vgl. auch die Betitelung „[...] Anstalt Hadamar [...] im Rahmen von T4“ bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986); vgl. auch bereits die durchgehende Verwendung des Begriffes „Anstalt“ (bzw. entsprechender Komposita) bei Klee, „Euthanasie“ (1983). – Dagegen vertritt Henry Friedlander – ebenfalls nicht ohne Berechtigung – im Rückgriff auf ältere Bezeichnungen (von 1949) die Position, man solle diese Mordeinrichtungen als „Mordzentren“ (bzw. im Englischen „killing centers“) bezeichnen, da dies „am besten die Einrichtungen [beschreibt], in denen der fabrikmäßige Massenmord stattfand“ und da sich die Bezeichnung daher zugleich auch auf die (mit der selben Mordtechnologie ausgestatteten) Vernichtungslager im Osten, etwa die Mordeinrichtungen der „Aktion Reinhard“ (Belzec, Sobibor, Treblinka) anwenden lässt: Friedlander, Weg (1997), S. 509 f. (Anm. 1). 140 Siehe dazu die Aufzählung der Betreffenden in Kap. IV. 2. c) sowie die zugehörigen Angaben im biogr. Anhang. 141 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud F. geb. K. ggü. d. LG Ffm in Heilbronn (15.02.1966), Kopie (die Schreibkraft, in Grafeneck, Hadamar u. Bernburg eingesetzt, benannte namentlich allein 3 Personen, die wie sie zuvor beim SD oder der Kripo in Stuttgart beschäftigt gewesen waren); ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie („Gruppe Stiftungspersonal [...] aus Stuttgart“). 142 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 180; ebd., Bd. 6, Bl. 1008–1012, Aussage Pauline Kneissler b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (14.02.1947), hier Bl. 1009 f.; ebd., Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 2, Aussage Emma B. in Berlin (06.03. 1947); ebd., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier insb. Bl. 25–27; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Thekla B. geb. M. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.12.1965), Kopie; ebd., Nr. 1373, U, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Heinrich Unverhau ggü. d. LG Ffm in Hagen (24.11.1965), Kopie; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 291; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82/84; Friedlander, Weg (1997), S. 163 (allgemein); ebd., S. 376, S. 389, S. 568 (Anm. 110), S. 570 (Anm. 153) (zu Unverhau – siehe oben); ebd., S. 387, S. 570 (Anm. 146 f.) (zu August M., der u. a. in Grafeneck, Hadamar u. Treblinka eingesetzt war, meist als Leichenverbrenner). 143 Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 69. – Analog wurde in Bernburg der größte Teil des „T4“-Personals aus der in Brandenburg geschlossenen „T4“-Mordanstalt übernommen. 144 Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82/84, mit Hinweis auf Rapportbuch d. LHA Hadamar, ehem. in LWV, Best. 12. 145 Wegen der Vielzahl der Personen muss auf die Aufnahme des Hadamarer „T4“-Personals in den biogr. Anhang weitgehend verzichtet werden, soweit keine Bezüge zum BV Nassau erkennbar sind. Es sei aber verwiesen auf die dort berücksichtigten Kurzbiografien der 1940–1942 vom BV Nassau an „T4“ abgeordneten Personen – vgl. Kap. IV. 2. b) u. Kap. IV. 2. c) – sowie der 1942–1945 von „T4“ in den Anstalten des BV Nassau eingesetzten Personen – vgl. Kap. V. 1. a) u. Kap. V. 3. a). Über das in diesen Kapiteln aufgeführte Personal hinaus sind die in den folgenden Anmerkungen genannten Hadamarer „T4“Mitarbeiter/innen des Jahres 1941 namentlich bekannt. Entsprechende Namenslisten u. ä. finden sich insb. in folgenden Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946); ebd., Bd. 2, Bl. 51 f. bzw. Bl. 53, Aussagen Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (16. bzw. 17.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115; ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel geb. 136 137 3. Kooperation während der Gasmorde 463 Zählungen146) rund sieben für das Transportwesen147 zuständig, etwa 25 Personen bildeten die „Mordabteilung“ im engeren Sinne (hier übernahmen Pflegekräfte148 die Begleitung, Bewachung und Abfertigung der Opfer auf dem Weg von den „Zwischenanstalten“ bis zur Hadamarer Gaskammer, Ärzte149 deren Ermordung und so genannte „Brenner“150 die Leichenverbrennung im Krematorium), weitere rund 20 Personen waren mit Verwaltungsangelegenheiten151 befasst, und die restlichen Personen, ebenfalls etwa 20, wirkten im Wirtschaftsbereich mit.152 Ebenso wie in den anderen „T4“-Gasmordanstalten bestand auch in Hadamar eine nicht bis ins Letzte geklärte Leitungssituation. Formal hatte der leitende Arzt die Direktorenfunktion inne – in Hadamar also zunächst der aus Grafeneck gekommene Dr. Baumhard oder bei dessen Abwesenheit sein Vertreter Dr. Hennecke – beide mit knapp 30 Jahren noch sehr jung.153 Eine besondere Bedeutung erhielten die Ärzte generell in den „T4“-Mordanstalten dadurch, dass sie als einzige befugt waren, den Gashahn zu betätigen. Diese Direktive diente wohl nicht zuletzt dem Zweck, gegenüber allen Mitwirkenden die Fiktion der Tötung als einer Form „medizinischer Behandlung“ aufrechtzuerhalten.154 In der Praxis aber Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946), hier Bl. 46; ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie; Akten d. Hess. Justizministeriums, Az. IV – 149/49, Bl. 1–4, Vm. d. Hess. Justizministeriums, Az. IV – 147/46 (13.01.1949), Durchschr. – Diesen (sowie einzelnen weiteren) Quellen aus HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061, bzw. ebd., Abt. 631a Nr. 1368–1373, entstammen auch die Personenangaben in den folgenden Anmerkungen; in Einzelfällen auch den Personendaten b. Friedlander, Weg (1997). 146 Zu den Zahlenangaben für die einzelnen Abteilungen: Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 84; siehe auch Winter, Geschichte (1991), S. 80. 147 Namentlich sind bekannt: Fahrer Ex., Otto K. (Fahrer), Rudi L. (Fahrer), Willi P. (Fahrer), der Fahrer Ro., Gerhard S. („Transportleiter“, ein Vetter des „Gekrat“-Chefs Vorberg), Martin T. (Fahrer). – Zeitweise in Hadamar anwesend war auch der eigentlich in Berlin stationierte Kurier Erich F. und der Chemiker Dr. August Becker (der aus Gießen stammende Beschaffer des Kohlenmonoxydgases). 148 Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Kurt A. (Pfleger), Max B. (Pfleger), Theodor F. (Pfleger), Fritz G. (Pfleger), Margot G. (Pflegerin), Franz Fromm (Oberpfleger, * 22.10.1885 in Berlin), Erwin K. (Pfleger), Hedwig Michael (Oberschwester), Margot R.-G. (Pflegerin), Karl Sch. (Pfleger), Heinrich („Heinz“) Unverhau (Pfleger, später auch eingesetzt in Sobibor). Neben den Pflegekräften zählte auch der Fotograf Franz W. (* 09.04.1907 in Krumau/Moldau) in Hadamar zu dieser Gruppe. 149 Zu den am Hadamarer Gasmord beteiligten Ärzten Dr. Ernst Baumhard (1911–1943), Dr. Günther Hennecke (um 1913– 1943), Dr. Friedrich Berner (1904–1945) sowie Hans Bodo Gorgaß (1909–1990 Jahre) siehe biogr. Anhang; ebenso zu Dr. Curt Schmalenbach (1910–1945 oder früher), der die „T4“-Anstalt Hadamar 1941/42 nach dem Ende der Gasmorde noch leitete. 150 Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Leichenverbrenner Ba., Kurt B. (später Mitwirkung in Sobibor), Leichenverbrenner Br., Karl Werner („Werner“) Dubois (* 1913 in Wuppertal, 1942/43 Mitwirkung in Belzec u. Sobibor, deswegen 1966 Verurteilung in Hagen), Herbert F., Karl F., Hubert Gomerski (* 11.11.1911 in Schweinheim b. Aschaffenburg, SS-Mitglied, 1947 Freispruch im Hadamar-Prozess, später in Haft wegen Mitwirkung in Sobibor), August M. (* 1908 in Westfalen, ab 1942 Mitwirkung in Treblinka). 151 Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Else A. (Büroangestellte), Polizeibeamter Be., Thekla B. geb. M. (Schreibkraft), Polizei(ober)leutnant Bünger (zeitweise Verwaltungsleiter), die (mutmaßliche) Schreibkraft Frl. Eb., Gertrud F. geb. K. (Schreibkraft, 1942 Teilnahme am „T4“-Osteinsatz), Werner K. (Büroangestellter), Büroangestellter Kü. (Nachlassverwaltung), Polizeibeamter Gottlieb Hering (* 02.06.1887, zeitweise Verwaltungsleiter, später Kommandant in Belzec), Hans R.-G. (Wirtschaftsleitung, Rechnungswesen), Netscher (zeitweise Verwaltungsleiter), Gerhard S. (Leitung d. „Abwicklungsabt. Grafeneck“ in Hadamar), Margot Sch. (* 02.01.1914 in Ffm, 1941–1942 Büroangestellte [Poststelle, „Trostbriefe“, „Abwicklungsabt. Grafeneck“] in Hadamar, Teilnahme am „T4“-Osteinsatz, ab 1942 bei der OT, März 1947 Freispruch im Hadamar-Prozess Ffm), Polizeihauptmann Christian Wirth (* 24.11.1885 in Oberbalzheim/Württemberg, + 26.05.1944, beerdigt in Costermano b. Verona, in Hadamar sporadisch anwesend als Oberaufseher über die Verwaltung, später Inspekteur aller Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“). 152 Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Willi B. (Waschküche), Walter W. (Bauwesen). 153 Zu Dr. med. Ernst Baumhard (nicht – wie z. T. angegeben – „Baumhardt“) (1911–1943) und Dr. med. Günther Hennecke (um 1913–1943) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 230; ders., Ärzte (1986), S. 95; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 84; Chroust/Groß u. a., Hadamar (1989), S. 44, S. 52; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 220; Friedlander, Weg (1997), S. 179, S. 354 f., S. 358, S. 562 f. (Anm. 15, 19, 30); Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 68; BA, R96 I/1, Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung über ihr ärztliches Personal (o. D. [1943/44]), Kopie, hier Bl. 127890; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 1015– 1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1026 (19.02.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 350 f.; ebd., Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth b. d. Kriminalpolizei in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier Bl. 28; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 18, Fritz Mennecke, z. Zt. Vöcklabruck [Österreich], an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden [?] (30.03.1944–31.03.1944), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 964–971 (Dok. 260), hier S. 969 (31.03.1944) („Dr. Baumhardt [!] u. Dr. Hennecke [...] sind beide mit U-Booten untergegangen – fort!“). 154 Siehe die Diskussion dieses Punktes bei Friedlander, Weg (1997), S. 354 (dort auch der Hinweis auf „Hitlers Befehl, daß nur Ärzte töten sollten“). 464 IV. Zeit der Gasmorde nahmen neben den ärztlichen Leitungen die „Aufseher“ oder „Büroleiter“, die sich durchgehend aus dem Polizeidienst rekrutierten, als Verwaltungsspitzen der „T4“-Anstalten eine starke Stellung ein. Wie Friedlander darstellt, mussten selbst „einflußreiche und willensstarke Ärzte [...] bald fest[stellen], daß sie die Macht mit den nichtmedizinischen Aufsehern zu teilen hatten.“155 Die Rolle der Verwaltungsabteilungen der „T4“-Anstalten wurde zusätzlich dadurch ausgebaut, dass ihnen de facto die Funktion von Ortspolizeibehörden eingeräumt wurde und dass sie Meldewesen und Standesamtsangelegenheiten selbstständig – an den kommunalen Behörden vorbei – regelten.156 So schien das von der Mordanstalt Hadamar 1941 betriebene Sonderstandesamt „Hadamar-Mönchberg“ als unabdingbare Voraussetzung, um die Beurkundung von über 10.000 Todesfällen in gut sieben Monaten reibungslos vornehmen zu können.157 In der hier festzustellenden Stärkung der Verwaltung finden die Entwicklungen im Bezirksverband Nassau eine Parallele, in dessen psychiatrischen Anstalten ebenfalls – je mehr die Bedeutung des rein Medizinischen Ende der 1930er Jahre zurückgedrängt wurde – die Verwaltungsbeamten ihre Position gegenüber den ärztlichen Direktoren ausbauen konnten.158 Die verwaltungsmäßig autarke Stellung der Mordanstalt Hadamar, die sich durch das Sonderstandesamt ausdrückte, spiegelte sich auch in der gesellschaftlichen Stellung des „T4“-Personals vor Ort wider. Zwar war eine Kasernierung der Belegschaft nur geplant und wurde letztlich nicht durchgeführt, doch der Ausgang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ort Hadamar galt als unerwünscht. Zum Ausgleich hatte „T4“ in der Anstalt „sehr bequem eingerichtete Geselligkeitsräume mit Klubmöbeln“ für die Freizeit herrichten lassen. Dennoch gab es offenbar zahlreiche Besuche in örtlichen Gastwirtschaften. Nicht nur dort machte das „T4“-Personal durch starken Alkoholkonsum und Exzesse von sich reden: so heißt es, eine Gruppe von Mitarbeitern habe den Kopf der Nepomukstatue auf der alten Brücke in Hadamar abgeschlagen.159 „T4“ versuchte, seinem Personal die Tätigkeit in der Mordanstalt so normal wie möglich zu gestalten. So lässt sich für 1941 feststellen, dass zwei Wochen Oster- und eine Woche Sommerurlaub gewährt wurden; an Sonn- und Feiertagen unterblieb der Betrieb der Mordanstalt.160 Als zusätzliche Leistung hatte „T4“ ein Erholungsheim in Weißenbach am Attersee (im Gau Oberdonau), das „Haus Schoberstein“, angekauft, wo die gesamte Belegschaft „unter sich“ ihren Urlaub verbringen konnte. Gemeinsame Ausflüge, etwa von Weißenbach aus in die nahe gelegene „T4“Anstalt in Schloss Hartheim, rundeten das Freizeitprogramm ab.161 Die Ausnahmesituation, die die 155 Ebd., S. 327. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 229, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); vgl. in Bezug auf Bernburg HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 7, o. Bl.-Nr., 310-seitige Anklageschrift d. GenStAnw in Ffm gegen Dr. Aquilin Ullrich, Dr. Heinrich Bunke, Dr. Kurt Borm u. Klaus Endruweit wegen Mordes, Az. Js 15/61 (GStA) (15.01.1965), darin zit. auf S. 189–197: Organisationsplan d. „Abteilung Dr. Eberl“ [= „T4“-Anstalt Bernburg], erstellt von Dr. Irmfried Eberl (o. D. [ca. Dez. 1941/Jan. 1942]), hier S. 192 (dort Hinweis auf „Ortspolizeibehörde BernburgGröna“ und „Standesamt Bernburg II“); als Dokument 50 auch abgedr. b. Klee, Ärzte (1985), S. 129–135; siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 173, S. 517 f. (Anm. 91 f.). 157 Siehe die Sterbeurkunden aus dem Jahr 1941 mit dem Dienstsiegel „Der Standesbeamte – Hadamar-Mönchberg“: z. B. abgedr. in Hadamar (1991), S. 101 (Kat. Nr. 82). – Zum Sonderstandesamt in Hadamar siehe auch Winter, Geschichte (1991), S. 95. 158 Siehe dazu Kap. III. 3. a). 159 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 122, Bl. 126, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (auf Bl. 122: „Es wurde Wert darauf gelegt, daß wir nicht nach Hadamar gingen; verboten wurde es nicht direkt“; dort auch z. B. Bericht über einen gemeinschaftlichen Besuch der „Wirtschaft Gotthard“ in der Hadamarer Hauptstraße); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 874 f. (10.01.1947); ebd., Bd. 2, Bl. 6, Vm. d. StAnw Ffm (12.02.1946) (Zitat „sehr bequem [...]“); ebd., Bl. 42 f., Aussage Hedwig S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946) („Gelage waren an der Tagesordnung“; Hinweis auf häufige Besuche im Kino „und in dem Café Tuchscherer und dem Lokal Gotthard (jetzt Ratskeller)“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (06.09.1965), Kopie (betr. Nepomukstatue); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 4–8, Bl. 10, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946), hier Bl. 6; siehe auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 120; generell zu den „T4“-Anstalten siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 159 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 380, S. 569 (Anm. 127–130). 160 Von Samstag, 5. April, bis Sonntag, 20. April 1941 (einschließlich) fanden in Hadamar keine Gasmorde statt, auch von Freitag, 1. August, bis Sonntag, 10. August 1941 (einschließlich) waren die Morde unterbrochen. – Zu den Daten vgl. Roer/ Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). 161 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1361, Bl. 495, Adolf Kaufmann, schriftl. Erklärung für GenStAnw (o. D. [ca. 25.04.1966]); ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; Friedlander, Weg (1997), S. 133. – Beim gemeinsamen Besuch einer Kleingruppe von Hadamarer „T4“-Mitarbeitern „in einem Lokal am Main“ in Ffm dürfte es sich 156 3. Kooperation während der Gasmorde 465 Gasmorde trotz aller Bemühungen um scheinbare „Normalität“ darstellten, brachte eine erhebliches Maß an Zynismus unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hervor. Beispielsweise begegnete man den „Gekrat“-Bussen mit dem „Scherzwort“ „Gehst mit, biste hin“.162 Den Gipfel des zynischen Umgangs mit dem mörderischen Alltag stellte sicherlich die „Jubiläumsfeier“ anlässlich der 10.000. Tötung in Hadamar dar, als die Belegschaft sich an einem Tag im August 1941 um eine aufgebahrte Leiche im Keller versammelte, je eine Ansprache des ärztlichen Direktors Dr. Berner und des Verwaltungschefs Bünger anhörte und den Anlass anschließend mit Musik und Freibier beging.163 Die Ermordung der Opfer in Hadamar ging im Allgemeinen ebenso vonstatten, wie „T4“ es bislang schon in ihren vorher bestehenden Gasmordanstalten praktiziert hatte. In bestimmten Punkten allerdings, die aus Sicht der Mordorganisation Probleme aufgeworfen hatten, kam es zu gewissen Modifikationen des Prozederes. Wie bereits mehrfach beschrieben,164 traf die Busstaffel mit den aus den „Zwischenanstalten“ abgeholten Opfern – meist 60 bis 90 Personen – im Hinterhof der Anstalt ein. Von der Garage aus schleuste das Pflegepersonal die Patientinnen und Patienten durch einen gezimmerten Gang ins Haus, wo alle sich in einem großen Raum zu entkleiden hatten. Anhand der Akten wurde eine Identitätskontrolle durchgeführt; eine sich meist anschließende Vorstellung beim Arzt diente in erster Linie der Festlegung der später angegebenen falschen Todesursachen. Eine durchgehende Fotografierung der kurz vor ihrer Ermordung stehenden Menschen sollte schließlich der späteren medizinischen Forschung eine Dokumentation des so genannten „lebensunwerten Lebens“ überliefern, da die ärztliche „T4“-Leitung „sich davon Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen äusserem Habitus und seelischer Struktur“ versprach.165 Bei den allermeisten der Hadamarer Opfer handelte es sich um geistig behinderte oder psychisch kranke Menschen (darunter auch die wegen Delikten gerichtlich in der Psychiatrie Untergebrachten), die nach den Rassengesetzen als Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“ galten.166 Obwohl die um eine privaten Ausflug gehandelt haben: Vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 78, Zeugenaussage Emilie G. b. d. Kriminalpolizei Ffm (22.02.1946). 162 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Thekla B. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.12.1965), Kopie; ebd., Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Freya M. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.02.1966), Kopie; Harms, Hungertod (1996), S. 18. 163 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 11 f., Aussage Isabella W. geb. W. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946), hier Bl. 12 (diese Ende Juli 1941 ausgeschiedene Mitarbeiterin erlebte die Feier nicht mehr); ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 107, Aussagen d. Angeklagten Hubert Gomerski u. Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 138 bzw. 141, Aussagen d. Angeklagten Johanna Sch. u. Hildegard R. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 243 f., Zeugenaussage Hedwig S. geb. L. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. HvTag (06.03.1947); ebd., Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [verkündet 26.03.1947]), hier Bl. 1305; ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 32; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Maximilian L. ggü. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Emil S. u. Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (06.09.1965 bzw. 24.08.1965), Kopie; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 336; Friedlander, Weg (1997), S. 189. 164 Darstellungen zu dem letzten Weg der Opfer in Hadamar finden sich z. B. bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 91; Chroust/Groß u. a., Hadamar (1989), S. 45–47; Winter, Geschichte (1991), S. 89–93, Cramer, Spuren (1991), S. 199 f. – Auf eine ausführlichere Darstellung kann daher an dieser Stelle verzichtet werden. 165 Zu diesen Einzelschritten in der Mordanstalt siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 13, Aussage Isabella W. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946); ebd., Bl. 19, Protokoll eines Ortstermins in der LHA Hadamar durch die StAnw Ffm (13.02.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 32, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02. 1947); ebd., Bd. 46, Bl. 43 f., Aussage Edith Korsch im sog. „Schwesternprozess“ Ffm, Hauptverhandlung (09.01.1948); ebd., Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945), hier Bl. 38; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie. – Speziell zur Fotodokumentation siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1020 (19.02.1947) (Zitat „sich davon Erkenntnisse [...]“); ebd., Bd. 7, Bl. 18, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bd. 46, Bl. 43 f., Aussage Minna Zachow im sog. „Schwesternprozess“ Ffm, Hauptverhandlung (09.01.1948). – Allgemein zur Festlegung der falschen Todesursachen durch die Ärzte siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 177 f. 166 Zu den „Nürnberger Gesetzen“ siehe Kap. III. 2. a). – Auch die forensischen (nach § 42b StGB eingewiesenen) Patienten wurden meist Opfer der Gasmordaktion: Scheer, Paragraph (1986), S. 245; Friedlander, Weg (1997), S. 282–284. – Für eine mögliche Ermordung von KZ-Häftlingen in der Anstalt Hadamar (wie im Rahmen der Aktion „14f13“ für die Anstalten Bernburg, Hartheim u. Pirna-Sonnenstein bekannt) gibt es zwar einzelne Aussagen, die jedoch für eine gesicherte Annahme nicht ausreichend erscheinen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gerhard S. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965), Kopie („Nach meiner Kenntnis sind während meiner Tätigkeit in Hadamar [= erste Hälfte 1941, 466 IV. Zeit der Gasmorde Beteiligten später – wohl aus prozesstaktischen Gründen und begünstigt durch die Verschleierungstaktik von „T4“ – versuchten, die Ermordung jüdischer Psychiatriepatienten in Hadamar zu leugnen,167 kann kein Zweifel daran bestehen, dass in der ersten Februarhälfte 1941 auch mehr als 300 psychisch kranke oder behinderte Jüdinnen und Juden aus zwei Landesheilanstalten des Bezirksverbandes (Eichberg und Weilmünster) und aus auswärtigen Anstalten nach Hadamar gebracht und dort in der Gaskammer ermordet wurden,168 nachdem die jüdischen Kranken aus den übrigen Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau (Hadamar und Herborn) sowie aus den Einrichtungen des Bezirksverbandes Hessen bereits im Oktober 1940 in der „T4“-Anstalt Brandenburg zu Opfern der Mordaktion geworden waren.169 In Abweichung zur sonstigen Struktur des Systems der Hadamarer „Zwischenanstalten“ des Jahres 1941 diente nun neben Andernach auch Düsseldorf-Grafenberg als Sammelanstalt für die Verlegung der Juden aus der Rheinprovinz,170 während die Sammelanstalt Heppenheim die verbliebenen jüdischen Kranken und Behinderten aus dem Land Hessen und aus Anstalten Badens, Württembergs, der Pfalz und aus einer Frankfurter Einrichtung konzentrierte, bevor sie verlegt wurden.171 Offenbar versuchte „T4“, selbst die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ über das Verlegungsziel der jüdischen Patienten im Unklaren zu lassen. So nahm der erste Verwaltungsbeamte der Anstalt Eichberg, Louis W., zunächst an, die 19 am 5. Februar abgeholten jüdischen Patienten seien in die Sammelanstalt Heppenheim (und nicht nach Hadamar) verlegt worden. Erst als W. mit der Anstalt Heppenheim die Pflegekosten verrechnen wollte, erfuhr er durch den dortigen Anstaltsdirektor, dass dies nicht zutraf: „Von Ihrer Anstalt wurden keine jüdischen Kranken hierher verlegt. Sämtliche aus anderen Anstalten hierher verlegten jüdische [!] Kranke [!] wurden am 4. 2. mittels Sammeltransport in eine für Juden vorbehaltene Anstalt verlegt.“ Wir können daraus nur schließen, dass am 4. Februar 1941 die in Heppenheim und einen Tag später die auf dem Eichberg untergebrachten jüdischen Patientinnen und Patienten sofort – ohne eine weitere Zwischenstation – zur Ermordung in die Anstalt Hadamar verbracht wurden. Nachdem man in der Anstalt Eichberg die Information hatte, wurde von dort aus die „hierdurch verzögerte Schlußabrechnung mit den jüdischen Verbänden“ abgewickelt.172 Als wenige Monate später, im P. S.] auch dort Transporte mit Konzentrationslagerhäftlingen eingetroffen“); ebd., Nr. 1373, W, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Franz W. b. d. LG Ffm (05.09.1963), Kopie („Das Pflegepersonal erwähnte allerdings gelegentlich, daß auch Asoziale dabei seien“). 167 Zum Versuch der Vertuschung durch „T4“ siehe Kap. IV. 2. a). – Siehe z. B. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 192, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (Schneider bestritt dies, obwohl am 07.02.1941 insgesamt 91 jüdische Patient/inn/en aus der LHA Weilmünster – ebenso wie in den Tagen und Wochen zuvor und danach auch die nicht jüdischen Kranken – aus der LHA Weilmünster abgeholt worden waren). 168 Siehe bereits die überzeugende Argumentation zum Todesort bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 88 f.; zur Zahl der Opfer, den Herkunftsanstalten u. den Verlegungsdaten im Zeitraum 04.–14.02.1941 siehe Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941) (dort sind 235 Personen angegeben, hinzuzurechnen ist die dort nicht aufgeführte Anzahl von 91 Personen, die am 14. u. 15.02.1941 aus Düsseldorf-Grafenberg abgeholt wurden); zur Zahl der 91 aus Grafenberg verlegten Juden siehe Griese, Opfer (2001), S. 150; vgl. auch Hoss, Patienten (1987), S. 72. – Die Angehörigen der jüdischen Kranken erhielten Sterbeurkunden, die als Todesort die „Irrenanstalt Cholm“ im besetzten Polen angaben. – Zur Verlegung jüdischer Kranker aus d. LHA Eichberg siehe u. a. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 289– 294, Zeugenaussage Dr. Wilhelm Hinsen im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 291; Sandner, Eichberg (1999), S. 190. – Zu den jüdischen Opfern aus d. LHA Weilmünster siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 131. 169 Zu den Morden im Okt. 1940 an jüdischen Psychiatriepatient/inn/en, die zuvor in der LHPA Gießen als Sammelanstalt konzentriert worden waren, siehe Kap. IV. 2. a). 170 Hoss, Patienten (1987), S. 72 f.; Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 402 f., mit Hinweis auf Archiv d. LVR, 13070, Bl. 24–27, Bl. 45; Friedlander, Weg (1997), S. 435, S. 581 (Anm. 86–89), mit Hinweis auf Nürnberger Dokumente PS-3871 u. PS-3883, auf GenStAnw Ffm, Vernehmung Johann Recktenwald (17.05.1961); Griese, Opfer (2001), S. 147–150; zum Todesort Hadamar siehe u. a. LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 31–35, Vm. d. StAnw Koblenz (30.01.1947), hier Bl. 32. – Zur Verlegung d. jüd. Patient/inn/en aus Andernach siehe auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage d. Angeschuldigten Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm (01.–22.12.1964), hier S. 50 (22.12.1964), Kopie. 171 Zur Sammelanstalt Heppenheim siehe Winter, Heil- und Pflegeanstalt (1993), S. 88–86. 172 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12557, o. Bl.-Nr., Korrespondenz LHPA Heppenheim – LHA Eichberg (30.01.–26.03.1941) (Zitat „Von Ihrer [...]“ im Schreiben d. LHPA Heppenheim v. 26.03.1941); ebd., o. Bl.-Nr., zwei Vfgg. zu den Schreiben LHA Eichberg an BV Nassau (01.04.1941, ab: 02.04.1941, bzw. 28.04.1941, ab: 28.04.1941) (Zitat „hierdurch verzögerte [...]“ im Schreiben v. 01.04.1941); ebd., o. Bl.-Nr., Vfgg. zu den Schreiben LHA Eichberg an Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Hessen-Nassau, Ffm, bzw. an Jüdische Gemeinde Ffm, Abt. Wohlfahrt (beide 31.03.1941, ab: 02.04.1941); siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 190; Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 20; Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941); zur anzunehmenden Verlegung am 04.02.1941 von Heppenheim nach Hadamar siehe auch Winter, Heil- und Pflegeanstalt (1993), S. 85, dort auch Angaben zur Zahl der Opfer aus der Sammelanstalt Heppenheim (98 nachgewiesen, jedoch mit Sicherheit deutlich über 100). 3. Kooperation während der Gasmorde 467 Mai und Juni 1941, zusätzlich fünf jüdische Bewohner des Landes-Alters- und Pflegeheimes Heidesheim in Rheinhessen über die „Zwischenanstalt“ Eichberg zur Ermordung nach Hadamar verlegt wurden, folgte die Eichberger Verwaltung dann auch nicht mehr der Fiktion einer Verlegung in „eine für Juden vorbehaltene Anstalt“, sondern dokumentierte in ihren Büchern die Weiterverlegung dieser Jüdinnen und Juden ebenso wie die Verlegung der nicht jüdischen Kranken, die nach Hadamar gebracht wurden.173 Als Novum für Hadamar und für die anderen „T4“-Anstalten des Jahres 1941 ist die reguläre Zurückstellung einzelner Personen noch in der Gastötungsanstalt selbst und damit die Bewahrung vor der Ermordung zu benennen; derart späte Zurückstellungen waren beispielsweise noch in der Vorgängeranstalt Grafeneck nur äußerst selten vorgenommen worden.174 Erst in Reaktion auf Proteste und Beschwerden175 schuf „T4“ im März 1941 Ausnahmebestimmungen, wonach Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, „die sich entweder an der Front verdient gemacht haben, die verwundet wurden oder Auszeichnungen erhalten haben“ sowie ausländische Kranke zu verschonen waren; „grösste Zurückhaltung“ sollte bei Menschen gelten, die als „Senile“ eingestuft waren.176 Im Zuge dieser Neuregelung wurden in der Gasmordanstalt Hadamar insbesondere Kriegsteilnehmer zurückgestellt, allerdings in jedem Einzelfall nur nach telefonischer Rückversicherung bei der „T4“-Zentrale in Berlin. In keinem Fall ist bekannt geworden, dass in der Mordanstalt selbst (so wie in den „Zwischenanstalten“) noch Menschen als „gute Arbeitskräfte“ zurückgestellt und damit verschont worden wären. Die Zurückstellung einer schwangeren Frau in Hadamar scheiterte letztlich – die Betreffende wurde nach einer neuerlichen Verlegung doch noch in der Gaskammer ermordet.177 Die Zahl der 1941 in Hadamar zurückgestellten Menschen dürfte sich auf weniger als ein Prozent der aus „Zwischenanstalten“ ankommenden Patientinnen und Patienten belaufen. Die auf diese Weise Verschonten wurden nach einem nur kurzen Aufenthalt in Hadamar zunächst in eine der „Zwischenanstalten“, überwiegend nach Weilmünster, gebracht, was aber vielfach keine endgültige Rettung bedeutete, da viele der Betroffenen danach dort ebenfalls zu Opfern des Mordprogramms wurden; nur eine gewisse Zahl gelangte nach kurzem Aufenthalt in Weilmünster von dort aus in eine Anstalt ihres Herkunftsgebietes zurück.178 Berichte über das Schicksal der äußerst wenigen in Hadamar zurückgestellten Menschen, die das Jahr 1945 überlebten, dokumentieren eindrücklich die Perspektive der Opfer; Zeugenaussagen einer Überlebenden aus Wiesbaden waren und sind geeignet, dem ansonsten vorherrschenden Blickwinkel der Tatbeteiligten über die Vorgänge in der Mordanstalt und auf dem Weg dorthin das Erleben der Opfer entgegenzusetzen.179 173 Sandner, Leben (1994), S. 112 f.; ZSP Rheinblick, „D[urchgangs]-Buch“ (1941–1944), hier nach Kopien im LWV-Archiv. Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 276; May, Heilanstalt (1996), S. 78, S. 80. BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 76, Vm. d. Reichsjustizministeriums (16.11.1940), unter auszugsweiser Zitierung eines Berichts d. OLG-Präs. Stuttgart (06.11.1940) (darin werden Klagen angeführt, „daß da und dort auch Kriegsteilnehmer, die durch Kriegsverletzung am Geist gelitten haben und anstaltsbedürftig geworden sind, von diesen Maßnahmen betroffen worden sind“, zudem existiere das Gerücht, jetzt „gehe es an die Alten und Gebrechlichen“). 176 BA, R96 I/2, Bl. 127398 f., „Entscheidungen der beiden Euthanasie-Beauftragten hinsichtlich der Begutachtung (unter Einbeziehung der Ergebnisse der Besprechung in Berchtesgaden am 10. 3. 1941)“ (o. D. [1941]); siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 32, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 113 (danach wurden die Ausnahmebestimmungen auch im März 1941 auf der in Kap. IV. 3. a) dargestellten Ärztekonferenz bei „T4“ in Berlin mitgeteilt); Friedlander, Weg (1997), S. 284 f. 177 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 14, Bl. 18 f., Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 147, Zeugenaussage Katharina Sch. im Eichberg-Prozess, 7. HvTag (12.12.1946); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 141; Winter, Geschichte (1991), S. 93; Friedlander, Weg (1997), S. 274. 178 In LWV, Best. 19/14 u. 19/16 (Hauptkrankenverzeichnisse d. LHA Weilmünster) finden sich während der Hadamarer Gasmorde Eintragungen zu 14 Frauen u. 45 Männern, die aus der Anstalt Hadamar aufgenommen wurden; es handelte sich um Menschen, die zuvor aus den „Zwischenanstalten“ Andernach, Herborn, Scheuern, Weilmünster, Wiesloch nach Hadamar verlegt worden waren: vgl. dazu Archiv d. Heime Scheuern, HKV d. HEPA Scheuern (Eintragungen zu 1941); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 17, Verlegungsliste Herborn; LWV, Best. 19/14, LHA Weilmünster, HKV. – Offenbar sammelte der BV Nassau die Zurückgestellten dem Grundsatz nach in der LHA Weilmünster, während Verlegungen in andere Anstalten wie die LHA Herborn nicht oder nur in Ausnahmefällen stattfanden: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 188, Aussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (zu Weilmünster); ebd., Bd. 2, Bl. 190 f., Aussage Dr. Paul Schiese ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (28.02.1946), Durchschr., hier Bl. 190 (zu Herborn); Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 139. – Zur Organisation von Zurückverlegungen von Weilmünster ins Land Hessen: StA Da, Abt. H 13 Darmstadt, Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 7, Korrespondenz LHA Weilmünster – LHPA Goddelau – LHPA Heppenheim (03.–10.09.1941). 179 Die Malerin Clara Sch. wurde aus unbekannten Gründen (und obwohl keine der Ausnahmebestimmungen auf sie zutrafen) in Hadamar zurückgestellt: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 153–156, Protokoll d. Zeugenvernehmung Klara 174 175 468 IV. Zeit der Gasmorde Im Keller der Anstalt Hadamar, wohin das Pflegepersonal die kranken und behinderten Menschen – angeblich zum Zwecke des Duschens – brachte, wurden die Opfer „von den Pflegern mit Gewalt in den Gasraum getrieben“180 und dort auf zwölf Quadratmetern Raum in Gruppen von bis zu rund 100 Menschen durch Kohlenmonoxyd erstickt, das der Arzt vom Nachbarraum aus einströmen einließ.181 In Hadamar besichtigte eine Reihe von Mitgliedern des in der Anstalt tätigen Personal das Sterben durch ein eingebautes Sichtfenster;182 auch Dr. Mennecke reiste eigens einmal an, um der Tötung beizuwohnen.183 Nach der Ermordung entnahmen Mitarbeiter der „T4“-Anstalt in einem benachbarten Sezierraum ausgewählten Opfern das Gehirn, um es der Forschung zur Verfügung zu stellen.184 Über eine Lorenbahn schafften die Tatbeteiligten die Leichen zum ebenfalls im Keller gelegenen Krematorium, wo in zwei Öfen die Einäscherung (von jeweils mehreren Toten zugleich) stattfand.185 Die Verwaltung der Mordanstalt mit dem schon erwähnten Sonderstandesamt, einer so genannten „Trostbriefabteilung“ und einer Nachlassabteilung übernahm die Formalien, die mit den Todesfällen einhergingen: die Beurkundung des Todes mit falschen Angaben zur Todesursache, zum Todesdatum und teilweise auch zum Sterbeort, die Abrechnung mit den Kostenträgern und insbesondere die Versendung von Todesmitteilungen an die Angehörigen; Ascheurnen wurden auf Anforderung an die zuständigen Heimatfriedhöfe geschickt, während man den Familienmitgliedern Nachlassgegenstände mit dem Hinweis auf deren angeblich geringen Wert vielfach gar nicht zusandte.186 [= Clara] Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 63, Zeugenaussage Clara Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Wiesbaden (23.05.1946); vgl. auch ebd., Bd. 4, Bl. 29, Aussage Dr. Walter Schmidt als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). – Das Schicksal des als Ausländer von Hadamar über Weilmünster nach Württemberg zurückverlegten Walter K., der bis 1974 lebte, dokumentiert May, Gaskammer (1997). 180 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 181–182, Aussage Benedikt Härtle ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Oberweyer (09.03.1946), begl. Kopie einer Durchschr., hier Bl. 181 (Zitat „[...] mit Gewalt [...]“); ebd., Bd. 44, Bl. 5, Aussage Erich Moos ([kein Datum angegeben, ca. 1946/47]), hier n. Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 305; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 91. 181 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 182; ebd., Bd. 7, Bl. 14 f., Bl. 19 f., Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 91; Winter, Geschichte (1991), S. 89. – Der Raum der Gaskammer misst ca. 4,85 x 2,45 m. 182 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 181–182, Aussage Benedikt Härtle ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Oberweyer (09.03.1946), begl. Kopie einer Durchschr., hier Bl. 181; ebd., Bd. 7, Bl. 104 bzw. Bl. 106 bzw. Bl. 106 f., Aussagen d. Angeklagten Paul H., Hubert Gomerski u. Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945), hier Bl. 38; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie. – Vgl. auch analog zu Bernburg: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, D, o. Bl.-Nr., Edith D., Bonn, an LG Ffm (22.11.1965), Kopie. 183 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 13–16, „Text der mündlich erhobenen Anklage“, Anlage zum Protokoll d. Eichberg-Prozesses, 1. Hv-Tag (02.12.1946), hier Bl. 14; ebd., Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); ebd., Bl. 122, Zeugenaussage Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Bd. 2, Bl. 81–85, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Beschuldigter ggü. d. StAnw Ffm in Ffm (28.05. 1946), hier Bl. 84; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 147. 184 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 107, Aussagen d. Angeklagten Hubert Gomerski u. Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947). – Zur geplanten Forschung an diesen Gehirnen im Jahr 1942 in Heidelberg siehe Kap. V. 1. b). 185 Ebd. (HStA), Bl. 15, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 106, Aussage d. Angeklagten Hubert Gomerski im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, D, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Karl Werner Dubois ggü. d. LG Ffm in Schwelm (15.09.1965), Kopie; Schmidtvon Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 92; zur entsprechenden Existenz von Krematorien in allen KZs dieser Zeit siehe Broszat, Konzentrationslager (1984), S. 127. – Die einzige bekannte Aussage zur Lorenbahn in Hadamar findet sich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im EichbergProzess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); bauarchäologische Befunde aus dem Jahre 1990 zur ehem. Lorenbahn in Hadamar sind dokumentiert bei Cramer, Spuren (1991), S. 204, S. 208; zur Existenz einer entsprechenden Lorenbahn zum Leichentransport in der „T4“-Anstalt Bernburg siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 60. 186 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 218; ebd., Bd. 7, Bl. 15, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bl. 134, Bl. 138, Bl. 141 f., Bl. 147, Aussagen d. Angeklagten Paula S. bzw. Johanna Sch. bzw. Hildegard R. bzw. Ingeborg S. geb. W. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 229, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 48, Bl. 34, Aussage eines Verwaltungsmitarbeiters der „T4“-Anstalt Hadamar, zit. b. Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 96; HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, Bl. 237 f., Bl. 242 f., 239 f., Aussagen Elfriede H. bzw. Hildegard „F.“ [= R.] bzw. Ingeborg S. (alle 1949), hier n. d. Zitierung bei Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 207–209; Winter, Geschichte (1991), S. 95; Friedlander, Weg (1997), S. 171, S. 173. – Zu den sog. „Trostbriefen“ siehe auch Kap. IV. 3. c). 3. Kooperation während der Gasmorde 469 Ebenso wie der „T4-Gutachter“ Mennecke besuchten auch verschiedene „T4“-Hauptverantwortliche, aber auch andere Eingeweihte die Mordanstalt Hadamar oder die sonstigen „T4“-Anstalten. Beispielsweise informierten sich verschiedene Spitzenbeamte aus den Landesinnenministerien vor Ort über das Prozedere der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – besichtigten also die Tötung in der Gaskammer.187 Auch Reichsinnenminister Wilhelm Frick, sein Gesundheitsstaatssekretär Leonardo Conti, aber auch verschiedene Gauleiter suchten „T4“-Anstalten auf.188 Zum Teil hatten die Besuche in den Mordanstalten aber auch den Zweck, durch organisatorisches Eingreifen einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen; hierzu diente etwa die Anwesenheit des „T4“-Führungspersonals (so von Viktor Brack und Werner Blankenburg) in Hadamar.189 Auch Besuche des ärztlichen „T4“-Leiters Prof. Dr. Werner Heyde, der anscheinend unter anderem zur Auswahl von Leichen für die universitäre Forschung nach Hadamar kam, sind organisatorischen Zweckbestimmungen zuzuordnen.190 „T4“ nutzte die Gasmordanstalten auch als Versammlungsstätten für ihre so genannten „Büroleitertagungen“, bei denen die Verwaltungschefs der verschiedenen „T4“-Anstalten, meist unter Leitung des „T4“-Abteilungsleiters Friedrich Tillmann, sich über mögliche Verbesserung im Ablauf der Mordorganisation austauschten.191 Eine dieser Tagungen, zu der auch die ärztlichen Leiter der Mordanstalten hinzugezogen wurden, fand im Mai 1941 in Hadamar statt und diente dazu, aufgetretene Pannen, etwa beim Versand der Ascheurnen, abzustellen und darüber hinaus die Übermittlung der entnommenen Gehirne an Forschungsabteilungen zu optimieren.192 Die Todesbilanz der etwas über sieben Monate lang betriebenen Gasmordanstalt Hadamar ist erschreckend. Nach dem im Sommer 1945 entdeckten so genannten „Hartheim-Dokument“, einer der Realität sehr nahe kommenden193 statistischen Aufstellung von „T4“, waren bis Ende August 1941 in Hadamar 10.072 Menschen ermordet worden, in allen sechs Gasmordanstalten zusammen 70.273 Menschen.194 Verglichen mit den anderen fünf Gasmordanstalten hatte die Anstalt Hadamar im Sinne des Regimes bei weitem am effizientesten „gearbeitet“, also die meisten Menschen innerhalb eines vergleichbaren Zeitraums ermordet.195 Betrachtet man die Herkunft der 1941 in Hadamar ermordeten 187 Besichtigungen des Gasmordes sind bezeugt für folgende Personen: Den Leiter der „T4“-Büroabteilung Friedrich Tillmann: Klee, Ärzte (1986), S. 36; Friedlander, Weg (1997), S. 316, S. 556 (Anm. 31). – Den ärztlichen „T4“-Leiter Prof. Dr. Paul Nitsche: BA, DP 3, Strafprozessakten Nitsche, Bd. 1, Bl. 47, Aussage Paul Nitsche (26.03.1946), hier n. Schilter, Ermessen (1999), S. 81. – In Grafeneck für Dr. Herbert Linden vom RMdI, Dr. Eugen Stähle sowie Dr. Otto Mauthe vom MdI Württemberg u. Dr. Ludwig Sprauer vom MdI Baden, sowie mit Wahrscheinlichkeit für Gauleiter Murr: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 163; Friedlander, Weg (1997), S. 324. 188 Friedlander, Weg (1997), S. 315. – Z. B. ist der Besuch von Gauleiter Fritz Sauckel (Weimar) u. August Eigruber (Linz) in Hartheim bezeugt; zu Letzterem siehe auch Kap. IV. 2. a). Siehe ebd. auch zum Besuch von Gauleiter Sprenger in der Anstalt Eichberg 1941. 189 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965), Kopie; vgl. ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 30. – Zur Anwesenheit diverser „T4“-Abteilungsleiter usw. in der „T4“-Anstalt Pirna-Sonnenstein vgl. auch Schilter, Ermessen (1999), S. 80 f. 190 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 5, Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965), Kopie; Aussage Robert Jührs im „Heyde-Verfahren“ (15.02.1962), hier n. d. Zit. in Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 92. 191 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, T, o. Bl.-Nr., Aussage Friedrich Tillmann als Beschuldigter b. d. LG Dortmund (21.03.1961), S. 23, Kopie; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johannes H. b. d. LG Ffm (08.09.1965), S. 2, Kopie; Klee, Ärzte (1986), S. 36; Schilter, Ermessen (1999), S. 81 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 316. 192 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Aussage Dr. Heinrich Bunke als Beschuldigter b. d. AG Ffm (19.04.1962), Kopie; NARA, T-1021, Roll 12, Frame 128218, Vm. Prof. Nitsche an Allers (21.05.1941), Durchschr., auch in BA, All. Proz. 7/112 (FC 1807); Aly, Fortschritt (1985), S. 53. 193 Die weitgehende Zuverlässigkeit der dortigen Daten wird belegt durch alle anderen bekannten Dokumente. – Siehe dazu die Angaben über die Opferzahlen im Folgenden. 194 NARA, T-1021, Roll 18, Frame 94–145, so genanntes „Hartheim-Dokument“, auch in BA, All. Proz. 7/118 (FC 1813); Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 169–171; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 98; vgl. dagegen Friedlander, Weg (1997), S. 189. – Zur Unsicherheit über die Hadamarer Opferzahlen noch 1946 während des EichbergProzesses und des Hadamar-Prozesses Ffm („Schätzungen hinsichtlich der Zahl der Getöteten schwanken zwischen 12 – 40 000“) siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 32, sowie gleich lautend ebd., Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 184. 195 Berechnet man die durchschnittliche Zahl der Ermordeten pro Monat (Beginn- und Endmonat jeweils als halbe Monate angenommen), so ergibt sich für Hadamar die Zahl von 1.439 pro Monat, während die Vergleichszahlen für Grafeneck bei 894, für Pirna-Sonnenstein bei 856, für Bernburg bei 1.042, für Hartheim bei 1.075 und für Brandenburg bei 1.215 lagen: 470 IV. Zeit der Gasmorde Patientinnen und Patienten, so kommt die besonders aktive Rolle der „nassauischen“ Anstaltsverwaltung deutlich zum Ausdruck: Von den über 10.000 in Hadamar ermordeten Menschen waren (wobei die folgenden Zahlen dokumentengestützte Annäherungswerte darstellen196) allein fast 2.800 ursprünglich in Anstalten im Regierungsbezirk Wiesbaden, und das heißt fast ausschließlich: in Einrichtungen des Bezirksverbandes Nassau (oder in den Privatanstalten unter Leitung Bernotats) untergebracht gewesen.197 Mit einigem Abstand folgen die übrigen Herkunftsregionen: Mehr als 1.900 Menschen entstammten der Rheinprovinz,198 etwa 1.400 kamen aus dem Land Hessen.199 Für die Provinz Westfalen wurden über 1.300 Menschen als Hadamarer Mordopfer festgestellt.200 Der Regierungsbezirk Kassel (Bezirksverband Hessen) war die Heimatregion für annähernd 1.200 der Ermordeten gewesen;201 die Zahl der Opfer aus dem Provinzialverband Hannover lag in einer Größenordnung von 900;202 schließlich entstammten jeweils 260 bis 270 der Hadamarer Mordopfer des Jahres 1941 den Südwestländern Württemberg und Baden.203 Sowohl diese absoluten Zahlenangaben zu den Ermordeten als auch der jeweilige prozentuale Anteil der Ermordeten an allen Anstaltspatienten sind nur eingeschränkt aussagekräftig, will man verschiedene Regionen vergleichen. Es vermittelt sich jedoch der Eindruck, dass der Bezirk Wiesbaden sich zwar von der „Mordrate“ nicht signifikant von anderen vergleichbaren Reichsteilen unterschied, dass aber die hohe absolute Zahl von Ermordeten außergewöhnlich ist.204 Bei allen Einschränkungen, die die Errechnet aus den Daten des „Hartheim-Dokuments“ (s. o.) unter Berücksichtigung der Monatsangaben in Winter, Geschichte (1991), S. 76. 196 Eine noch exaktere Feststellung von Opferzahlen wären zwar im einen oder anderen Fall bei detaillierter Dokumentenauswertung möglich, würde jedoch für das Verständnis der Zusammenhänge keinen grundsätzlichen Erkenntniszugewinn erbringen. Eine Vollständigkeit könnte ohnehin nicht erreicht werden, da – wenn auch nur in geringem Ausmaß – einzelne hierzu erforderliche Unterlagen nicht mehr existieren (oder zumindest bislang nicht ausfindig gemacht werden konnten). 197 Zur Zahl der Opfer aus den LHAen Weilmünster (651), Herborn (774), Eichberg (784), der HEPA Scheuern (314) und der HEA Kalmenhof (232) als „Ursprungsanstalten“ siehe die Quellenangaben in Kap. IV. 3. a); hinzuzurechnen sind die 12 bis Aug. 1941 ermordeten Patient/inn/en aus der „Rumpf“-LHA Hadamar (Hofgut Schnepfenhausen): zu dieser Zahl siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82. – In wenigen Einzelfällen kamen Opfer auch ursprünglich aus anderen Anstalten im Reg.-Bez. Wiesbaden, nämlich 3 Personen (davon 2 jüdisch) aus dem Dr. Dr. Wolff’schen Sanatorium Katzenelnbogen u. 5 Personen aus dem „Monikaheim“ in Ffm: siehe AHS, HKV (Aufnahme 10.06.1941); ebd., LdsR Bernotat, gez. LVR Müller, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (05.06.1941); LWV, Best. 19/14, HKV d. LHA Weilmünster (Aufnahmen 04.02. u. 10.06.1941). – Insg. kommt man rechnerisch auf die Zahl von 2.775 Hadamarer Gasmordopfern, bei denen die ursprüngliche Anstalt im Reg.-Bez. Wiesbaden lag. 198 Siehe die Quellenangaben in Kap. IV. 3. a). – Legte man die ebd. zit. Zahlenangaben von Werner zugrunde, käme man allerdings nur auf eine Zahl von 1.845 aus der Rheinprovinz nach Hadamar verlegten Menschen (davon überlebten mind. 4), es wäre jedoch wohl die Zahl der 91 jüdischen Opfer aus der Anstalt Düsseldorf-Grafenberg – siehe weiter oben in diesem Kap. IV. 3. b) – hinzuzurechnen, während die Zahl der jüdischen Opfer aus Andernach bereits berücksichtigt wurde. – Die Daten addieren sich zur Zahl von 1.936 Mordopfern aus der Rheinprovinz. 199 Zur Quellengrundlage für die Angabe von 1.420 Menschen, die aus dem Land Hessen 1941 in „Zwischenanstalten“ d. Reg.-Bez. Wiesbaden verlegt (und von denen nur äußerst wenige zurückgestellt) wurden, siehe Kap. IV. 3. a). 200 Die Detailrecherchen von Bernd Walter ergaben die Zahl von 1.334 Menschen aus Heilanstalten d. PV Westfalen, die 1941 in der Gaskammer in Hadamar ermordet wurden: Provinzialverband (1996), S. 20. 201 Zur Quellengrundlage für die Angabe von 1.193 Menschen, die aus dem BV Hessen 1941 in „Zwischenanstalten“ d. Reg.Bez. Wiesbaden verlegt (und von denen nur äußerst wenige zurückgestellt) wurden, siehe Kap. IV. 3. a). 202 Feststellen lässt sich die Zahl von 381 Mordopfern aus den hannoverschen Anstalten Lüneburg u. Göttingen in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 17, Verlegungsliste Herborn; in ebd., Bd. 3, o. Bl.-Nr. (Bl. 38) (Verlegungsliste Weilmünster); in LWV, Best. 19/14; in AHS, HKV (mit Eintragungen 1941). – Hinzuzurechnen ist der allergrößte Teil der 572 Menschen, die im Apr. 1941 von Hildesheim, Osnabrück u. Wunstorf in die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ verlegt wurden, während die im Juli u. Aug. 1941 von Wunstorf u. Rotenburg/Wümme in den Reg.-Bez. Wiesbaden verlegten Menschen durch den „Euthanasie“stopp nicht mehr nach Hadamar weiterverlegt wurden; zu den Zahlen dieser Verlegungen siehe Sueße/Meyer (1988), S. 218. – Zum weiteren Schicksal der im Juli/Aug. 1941 nicht mehr nach Hadamar weiterverlegten Menschen siehe Kap. V. 2. a) u. V. 3. b). 203 Zu den Zahlen der 270 über die württembergische „Zwischenanstalt“ Weinsberg und der 265 über die badische „Zwischenanstalt“ Wiesloch nach Hadamar verlegten Menschen siehe die Angaben in Kap. IV. 3. a). – Diese relativ kleinen Zahlen erklären sich damit, dass die meisten badischen u. württembergischen „T4“-Opfer bereits 1940 in Grafeneck ermordet worden waren. 204 Für einen Vergleich mittels der aussagekräftigeren relativen Zahlen (Ermordete im Verhältnis zur Zahl der in Anstalten untergebrachten psychisch kranken u. geistig behinderten Menschen in einer Region) müsste als Bezugsgröße die Zahl der insgesamt (also in allen Mordanstalten) ermordeten Menschen herangezogen werden, da aus bestimmten Reichsteilen die Opfer in verschiedenen „T4“-Anstalten ermordet wurden. So gehen die hier genannten geringen Zahlen für Baden u. Württemberg wie erwähnt darauf zurück, dass die meisten der dortigen Opfer bereits in Grafeneck ermordet worden waren. Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 284–287, versucht eine solche Darstellung der regional unterschiedlichen Prozentanteile von Ermordeten (unter allen Anstaltspatienten) für 1940/41, wobei (je nach Berechnungsmodus) vielfach Zahlen in einer Größenordnung von 50 %, aber auch von unter 30 % (Westfalen) oder rund 20 % (Rheinprovinz) genannt werden. Selbst diese relativen Zahlen unterliegen starken Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft über die Aktivität des jeweiligen Anstalts- 3. Kooperation während der Gasmorde 471 Statistik gebietet, geben die immensen Opferzahlen, die der relativ kleine Regierungsbezirk Wiesbaden (mit 1,5 Millionen Einwohnern) gegenüber großen Provinzen wie etwa der Rheinprovinz oder Hannover (8,0 bzw. 3,5 Millionen Einwohner) aufweist,205 doch eine Ahnung davon, wie umfassend die psychisch kranken und geistig behinderten Menschen im Einflussbereich des Bezirksverbandes Nassau den Gasmorden zum Opfer fielen. Insoweit scheint sich Faulstichs These zu bestätigen, wonach „die Zahl der Opfer umso größer ist, je näher der oder die Verantwortlichen der Aktion T4 standen“.206 Die große Zahl der „nassauischen“ Opfer war auch durch die Überbelegungspolitik gefördert worden, die der Bezirksverband Nassau in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre betrieben hatte: Die beständigen Aufnahmen von behinderten und kranken Menschen, die zuvor in privaten Anstalten, etwa in konfessionellen Heimen, untergebracht gewesen waren, führte nun – im Zusammenspiel mit der restriktiven Praxis bei den Zurückstellungen – zu einer vergleichsweise sehr großen Zahl von Opfern aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden. Dagegen hatten anderswo die Menschen in kirchlichen Einrichtung vielfach größere Chancen auf eine Verschonung (wenn auch keineswegs eine sichere Gewähr). Ebenso wie die Aufnahmen aus den kirchlichen Anstalten hatten auch die in den 1930er Jahren durch den Bezirksverband forcierten Aufnahmen aus dem Bereich anderer Landesfürsorgeverbände (beispielsweise aus der Rheinprovinz oder aus dem Saarland) nun die Verlegung besonders vieler Menschen zur Ermordung nach Hadamar ermöglicht.207 Aufgrund bisheriger Forschungen zu einzelnen Provinzialverbänden dominierte die Vorstellung, die Verwaltungen seien beinahe ausschließlich durch die Organisation der Krankenverlegungen in die „Zwischenanstalten“ oder im Höchstfall durch den Betrieb solcher Durchgangsstationen in den Ablauf der Gasmordphase der nationalsozialistischen Krankenmorde involviert gewesen.208 Dies trifft zwar für einige Verbände zu, für den Bezirksverband Nassau aber ist angesichts der dortigen Befunde eine solche Auffassung zu revidieren. Um eine Einordnung der Rolle der Wiesbadener Zentralverwaltung in diesem Kontext zu ermöglichen, sei zunächst ein Blick auf die verfassungsrechtliche und die tatsächliche Situation der Kommunalverbände höherer Ordnung in dieser Zeit geworfen. Nach der Gleichschaltung durch das Oberpräsidentengesetz 1933/34209 hatten sich die preußischen Provinzial- und Bezirksverbände bis Kriegsbeginn eine relativ eigenständige Position im Gefüge des NS-Staats erhalten können. Durch die Unterstellung unter die Oberpräsidenten waren sie zwar formal an die Staatsverwaltung angenähert, in der Realität überließen die Oberpräsidenten als Behördenleiter die tatsächliche Führung der Verwaltung jedoch den Landeshauptleuten als ihren Vertretern. De facto hatten die Verwaltungen der Verbände durch die Einführung des „Führerprinzips“ sogar einen Autonomiezuwachs erlangt, da sie nach Abschaffung des Provinzial- bzw. Kommunallandtags jeglicher parlamentarischer Kontrolle enthoben waren.210 1939 nun plante Reichsinnenminister Frick einen weiteren tatsächlichen Schritt zur Anbindung der Provinzial- und Bezirksverbände an die Staatsverwaltung. Sämtliche höheren Beamten in diesen Körperschaften, also beispielsweise die Landesräte und selbst die Landeshauptträgers, denn zu berücksichtigen ist hier außerdem insb. das Datum der Erfassung. Je später der Reichsteil erfasst wurde, umso niedriger lag tendenziell die Mordrate. Kranke u. Behinderte aus bestimmten Reichsteilen (z. B. komplett aus Bremen u. Oldenburg, z. T. aus Hannover u. Westfalen) wurden durch den „Euthanasiestopp“ gar nicht mehr in eine Gasmordanstalt wie Hadamar verlegt; siehe dazu auch Kap. IV. 2. b). – Die Mordrate bei den Anstaltspatient/inn/en im Reg.-Bez. Wiesbaden lässt sich für 1941 (wg. nicht voll kompatibler Daten) nur annäherungsweise mit rund 45 % festzustellen, wenn man der a. a. O. (siehe oben) erwähnten Zahl von 2.775 Hadamarer „T4“-Opfern aus dem Bez. Wiesbaden die Zahl von 5.246 Anstaltspatienten (im März 1940) in den 4 LHAen gegenüberstellt, der noch eine Zahl der rd. 950 behinderten Menschen insb. in den Anstalten Scheuern u. Kalmenhof hinzugerechnet werden muss: BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 25; zur Zahl von 950 „Geisteskranken“, „Schwachsinnigen“ u. „Epileptischen“ in der HEA Kalmenhof u. in der HEPA Scheuern am 31.03.1939 siehe dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 24. 205 Einwohnerzahlen nach der Volkszählung (17.05.1939)/Personenstandsaufnahme (10.10.1941), hier n. Gemeindeverzeichnis (1944), S. 8. – Zu den jeweiligen Zahlen der in Hadamar ermordeten Opfer siehe oben. 206 Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 286. 207 Zur Ausschaltung der konfessionellen Anstalten u. zur Überbelegungspolitik d. BV Nassau vor dem Krieg siehe Kap. III. 1. a) bzw. III. 3. b); zu den Zurückstellungen in den „Ursprungs-“ u. „Zwischenanstalten“ siehe Kap. IV. 3. a). 208 Zum PV Hannover siehe Sueße/Meyer, Abtransport (1988); Seidel/Sueße, Vernichtung (1991). – Zum PV Rheinprovinz siehe Werner, Rheinprovinz (1991). – Zum PV Westfalen siehe Walter, Psychiatrie (1996), S. 704–744. 209 Preuß. Gesetzsammlung, Jg. 1933, Nr. 79 (19.12.1933), S. 477–479, „Gesetz über die Erweiterung der Befugnisse der Oberpräsidenten“ (15.12.1933); siehe Kap. II. 1. b). 210 Siehe dazu Kap. II. 1. b). 472 IV. Zeit der Gasmorde leute (zudem die Gauhauptleute in den Reichsgauen), bislang Zeitbeamte, sollten zu unmittelbaren lebenszeitlich angestellten Reichsbeamten gemacht werden, was deren Versetzung beispielsweise in die Reichsverwaltung ermöglicht hätte. Mit dieser – noch durch das Deutsche Beamtengesetz von 1937211 ausgeschlossenen – Regelung wollte man dem Mangel an Beamten entgegenwirken, der sich durch Erwerb und Okkupation neuer Territorien entwickelte und der sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs noch verstärkte. Letztlich wurde dieser Plan Fricks jedoch bis zu dessen Ausscheiden aus dem Amt 1943 und darüber hinaus bis Kriegsende nicht realisiert, sodass die Beamten der Provinzialund Bezirksverwaltungen ihre selbstständige Stellung behielten.212 Dies begünstigte, dass die leitende Beamtenschicht dieser Behörden eine jeweils eigenständige, durchaus von Region zu Region divergierende Haltung gegenüber der Mordaktion der „T4“ entwickeln konnte – weit eigenständiger, als sie es als Reichsbeamte, die dem Innenministerium unterstellt gewesen wären, gekonnte hätten. Der Personalmangel in der Verwaltung machte sich auch im Bezirksverband Nassau deutlich bemerkbar. Phasenweise war rund ein Drittel der Gesamtbelegschaft zum Militärdienst einberufen, wovon sowohl die Wiesbadener Zentralverwaltung als auch die Außenverwaltungen und Einrichtungen betroffen waren.213 Darüber hinaus sah der Bezirksverband sich auch einer Vielzahl von freiwilligen Abordnungen und Meldungen zu anderen Dienststellen und Einsätzen gegenüber, beispielsweise auch Meldungen für den „Verwaltungsdienst in den Kolonien (Afrika)“.214 Verwaltungsmitarbeiter, die sich für den Dienst in Russland gemeldet hatten, wurden tatsächlich ins Generalgouvernement oder zum Regierungspräsidenten in Posen abgeordnet, sodass der Bezirksverband sich Anfang 1942 gegenüber dem Innenministerium zu dem Hinweis veranlasst sah, nunmehr sei die „Personallage des Bezirksverbandes [...] derart, dass [...] kein Ersatz gestellt werden“ könne, falls noch zusätzliche Abordnungen nach Russland erforderlich werden sollten.215 Die neue Situation im Krieg brachte karrieremäßige Einschränkungen für die am Heimatort verbliebenen Verwaltungsmitarbeiter mit sich, was mitunter Unmut hervorrief. So setzte der Bezirksverband mit der Begründung, man wolle die einberufenen Soldaten nicht benachteiligen, die Beförderung von Mitarbeitern, die aufgrund einer U.-k.-Stellung in Wiesbaden Dienst taten, aus. Ein betroffener Verwaltungsangestellter bemühte sich, wenn auch vergeblich, dennoch seine Höhergruppierung mit dem Hinweis zu erreichen: „Es ist ja nicht meine Schuld, dass ich nicht den grauen Rock trage, wie die einberufenen Berufskameraden. Ich hatte ja bereits zwei Mal die Einberufung in Händen und nur durch die Verwaltung wurde meine Einberufung vereitelt.“ Im Bezirksverband entschloss man sich daraufhin, den Betreffenden für den Dienst in der Wehrmacht freizugeben.216 Der Personalmangel hatte zur Folge, dass nun, 1939/40, selbst politisch unliebsame Mitarbeiter wiedereingestellt wurden, die 1934 nach dem „Berufsbeamtengesetz“ in den Ruhestand 211 RGBl., Jg. 1937, Nr. 9 (27.01.1937), S. 39–70, „Deutsches Beamtengesetz (DBG)“ (26.01.1937); siehe dazu Kap. II. 2. a). Zu dieser Diskussion siehe Teppe, Provinz (1977), S. 146 f., S. 152 f. – Zu Fricks Ausscheiden und zur weiteren Stellung der Selbstverwaltungsverbände siehe auch Kap. V. 4. b). 213 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 1 (danach waren bis etwa Juni 1940 894 Mitarbeiter des gesamten BV Nassau zur Wehrmacht einberufen worden); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 111, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Schlüter, an Leutnant G. B., Feldpost-Nr. 19209 B (28.08.1941, ab: 28.08.1941) (nunmehr „fast 800 Einberufungen zur Wehrmacht und Abordnungen in die besetzten Gebiete“); ebd., Pers.Akten Zug. 1986, Bo., Wi., Teil 2, Bl. 72, BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Polizeipräsident, Kommando der Schutzpolizei, Wiesbaden (20.05.1943), Abschr. (allein die Einberufungen zur Wehrmacht hatten einen Stand von 985 erreicht); zum Gesamtpersonalbestand d. BV Nassau von 2.836 am 01.04.1939 siehe Tab. 12); zur Einberufung von Anstaltspersonal siehe auch BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 23; dto. (01.04.1940–31.03.1941). 214 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1990, Mü., Ot., Pers.-A., Teil 2, Bl. 63, BV Nassau, gez. Kranzbühler i. V. d. LH, an RMdI, betr. „Meldung des Landesinspektors Otto M[...] für den Kolonialdienst“ (25.02.1942), Abschr., mit Hinweis auf RMBliV., 5. (101.) Jg., Nr. 27 (03.07.1940), Sp. 1303–1304b, RMdI, RdErl. II SB 2171 II/40–6755, betr. „Kolonialdienst“ (29.06.1940). – Laut Schreiben vom 25.02.1942 hatte der BV Nassau „unterm 4. Oktober 1940 [...] eine Liste derjenigen Gefolgschaftsmitglieder [...] vorgelegt, die sich damals für eine Verwendung im Kolonialdienst gemeldet hatten.“ – Tatsächlich wurde der Betreffende dann an das Generalgouvernement nach Krakau abgeordnet: ebd. (LWV), Teil 3, Bl. 3, RMdI, Az. P 9 – 78 M[...]/42, Schnellbrief an OP in Kassel (10.04.1942), hier als Abschr. von OP in Kassel an BV Nassau (14.04.1942). – Im Mai 1943 waren dann 106 Mitarbeiter d. BV Nassau „zu anderen Verwaltungen, insbesondere nach dem Osten, abgeordnet“: ebd., Pers.-Akten Zug. 1986, Bo., Wi., Teil 2, Bl. 72, BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Polizeipräsident, Kommando der Schutzpolizei, Wiesbaden (20.05.1943), Abschr. 215 Ebd., Pers.-Akten Zug. 1990, Mü., Ot., Pers.-A., Teil 3, Bl. 4, Vfg. zum Bericht BV Nassau durch OP in Kassel an RMdI (20.04.1942). 216 Ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Fa., Jo., Bl. 168, Josef F., Wiesbaden, an BV Nassau (28.08.1941); ebd., Bl. 170, Vfg. z. Schr. BV Nassau, gez. Kranzbühler, an Wehrmeldeamt Wiesbaden (09.10.1941). 212 3. Kooperation während der Gasmorde 473 versetzt worden waren.217 Wie die Sparmaßnahmen im Fürsorgebereich nun unmittelbar nutzbar gemacht werden konnten, um Personalengpässe in der Verwaltung zu schließen, zeigt die Verwendung des Personals der 1939 geschlossenen Frankfurter Landesgehörlosenschule des Bezirksverbandes: Als der Unterricht im September eingestellt worden war, wurden die verbliebenen Gehörlosenlehrer kurzerhand von Frankfurt nach Wiesbaden abgeordnet und für mehrere Monate als Verwaltungsmitarbeiter in der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes verwendet.218 Es ist nach wie vor zumindest in der Akzentuierung umstritten, welchen Anteil „normale“ öffentliche Verwaltungsapparate und ihr Personal an der Umsetzung der Mordaktionen des „Dritten Reiches“ hatten oder haben konnten. Friedlander vertritt die Auffassung, die Federführung der „T4“ bei den Krankenmorden habe den Zweck gehabt, jene „Behinderung der Aktion zu vermeiden, die eine Beteiligung des üblichen Beamtenapparates automatisch mit sich gebracht hätte.“219 Diese hinsichtlich der Intention der Aufgabenverteilung gewiss richtige Einschätzung lässt jedoch die Tatsache in den Hintergrund treten, dass die Staats- und Kommunalverwaltungen durchaus eigenständige Tatbeiträge zu liefern in der Lage waren und dass eine „Beteiligung des üblichen Beamtenapparates“ zumindest sektoral jedenfalls gegeben war. Cording führt mit Bezug auf die Krankenmordaktion aus: „Für die Durchführung der nationalsozialistischen Verbrechen waren die zentralistisch organisierten Verwaltungsstrukturen und das streng hierarchisch gegliederte Beamtentum, bei dem niemand in eigener Verantwortung handelte, sondern stets nur ‚im Auftrag‘, günstige Voraussetzungen, zumal die psychiatrischen Anstalten ohnehin ganz überwiegend in staatlicher Hand waren. Auf diese Weise konnten ursprünglich positive deutsche Beamtentraditionen wie Loyalität, Disziplin, Gehorsam, Fleiß und Korrektheit ohne weiteres auch für die Organisation der Krankentötungen ausgenutzt werden. Die Aktion T4 war in eine Vielzahl scheinbar unbedeutender Einzelhandlungen unterteilt worden, so dass niemand sich für das Ganze verantwortlich fühlen musste, jeder einzelne war nur ein winziges Rädchen in einem mörderischen Apparat.“220 Ähnlich stuft auch Teppe für den westfälischen Provinzialverband das Verhalten der Verwaltungsbeamten (und Ärzte) gegenüber den NS-„Euthanasie“-Verbrechen ein, ohne allerdings dabei „eine uniforme Typologie“ der Mitarbeiter zu postulieren: „Ihre Mitwirkung und Einbeziehung in das bürokratisch tiefgestaffelte Tötungssystem vollzog sich auf verschiedenen Ebenen und in abgestufter Verantwortlichkeit. Aber charakteristisch und überall spürbar ist das Bestreben, die gestellte Aufgabe ordentlich, regelhaft, nachprüfbar, eben bürokratisch abzuwickeln. Nicht allein der Tatbestand der Pflichterfüllung ist es, der auffällt. Es ist das Bemühen um möglichst effiziente, beanstandungsfreie Pflichterfüllung, was auch den vorauseilenden Gehorsam einschloß.“221 Wie ausschlaggebend dabei die Haltung insbesondere der leitenden Beamten letztlich für die kollektive Haltung des gesamten Verwaltungsapparates sein konnte, ergibt sich aus Schilters Einschätzung zur Abteilung „Volkspflege“ im sächsischen Innenministerium in Dresden, wo der Abteilungsleiter eigenständige Entscheidungen zur reibungslosen Umsetzung der Mordaktion traf, mit der Folge, dass die Ministerialbeamten „von Anfang an über Zweck und Ziel der ‚Aktion T4‘ informiert“ waren und „rückhaltlos für deren Umsetzung“ eintraten.222 Unübersehbar übernahm innerhalb der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes Nassau der Anstaltsdezernent Fritz Bernotat die Führungsrolle in allen Bereichen, die einen Bezug zu den Krankenund Behindertenmorden hatten.223 Mit dieser Sonderstellung war eine Vielzahl von Einzelvorgängen verbunden, die erst in ihrer Gesamtheit die Bedeutung Bernotats und des ihn tragenden Bezirksverban217 Ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Ur., Ma., Bd. I, Teil 1, Bl. 20–28, Korresp. BV Nassau – RMdI, Provinzialaufsicht, Berlin – Betroffener Max U. (10.07.–18.11.1939). – Obwohl die befragte Gauleitung die Einstellung des ehem. SPD-Mitglieds abgelehnt hatte, wurde diese vollzogen, nachdem man festgestellt hatte, dass eine Zustimmung in diesem Fall gar nicht einzuholen gewesen sei. – Zum 31.12.1940 wurde Max U. wegen des „Freiwerden[s] von Kräften an anderen Stellen“ wieder entlassen: ebd., Bl. 34, Vfg. zum Schreiben BV Nassau an Max U. (20.11.1940, ab: 27.11.1940). 218 Ebd., Pers.-Akten Zug. 1985, Th., Ph., Bd. I, Bl. 105 f. Vfg. d. BV Nassau (09.09.1939), Abschr., hier Bl. 105; ebd., Bl. 108, BV Nassau an Taubstummenoberlehrer T., z. Zt. Wiesbaden (02.12.1939), Abschr. 219 Friedlander, Weg (1997), S. 199. 220 Cording, Psychiatrie (2001), S. 14. – Hervorhebung (kursiv) im Orig. 221 Teppe, Massenmord (1989), S. 30. 222 Schilter, Ermessen (1999), S. 84–89 (Zitat auf S. 84). 223 Siehe dazu die bisherigen Darstellungen in Kap. IV. 2. u. IV. 3. 474 IV. Zeit der Gasmorde des auch für jenen Zeitraum offenbaren, in dem eigentlich „T4“ die Krankentötungen in eigener Regie durchführte. Dies gilt beispielsweise für die Unterstützung von Menneckes Tätigkeit als „Gutachter“ für „T4“, wovon Bernotat (wie gezeigt) frühzeitig informiert war.224 Bernotat deckte diese Aktivitäten Menneckes, die zum Teil mit erheblichen Fehlzeiten an dessen Dienstsitz einhergingen: Als der Eichberger Direktor beispielsweise im August 1940 im „T4“-Auftrag zu einer umfangreichen Reise durch die Anstalten in den fränkischen Bezirken von Bayern aufbrach, genügte eine mündliche Zustimmung Bernotats, um die dadurch entstehenden organisatorischen Erfordernisse (wie Urlaubs- und Vertretungsregelungen) verwaltungsintern zu legitimieren und abzusichern.225 Frühzeitig machte Bernotats Anstaltsdezernat von den Kenntnissen über die Mordaktion Gebrauch und zog fürsorgepolitische Konsequenzen daraus. So lehnte der Dezernent Mitte Oktober 1940 (also bevor überhaupt Patientinnen und Patienten aus dem Bereich des Bezirksverbandes durch „T4“ ermordet worden waren)226 die weitere Unterbringung von Kranken aus Anstalten in Familienpflegestellen ab mit einer Begründung, welche die Tötungen gewissermaßen planerisch vorwegnahm: „Nachdem wieder genügend Unterbringungs- und Arbeitsmöglichkeiten in den Landesheilanstalten vorhanden ist [!], wird die Aufhebung der Familienpflegestellen für Geisteskranke im Regierungsbezirk Wiesbaden in nächster Zeit allgemein durchgeführt werden.“ Während Bernotat verklausuliert auf die „Notwendigkeit dieser grundsätzlichen Ordnung des Pflegewesens“ hinwies, begründete auch Mennecke in derselben Angelegenheit gegenüber Antragstellern die Ablehnung der Zuweisung von „Familienpfleglingen“ damit, dass „sowieso eine Neuregelung des Anstaltsfürsorgewesens zu erwarten ist“.227 Während der Zeit der Hadamarer Gasmorde ab Januar 1941 kümmerte Bernotat sich – über die Informierung und Einschwörung des Personal hinaus228 – in vielfacher Hinsicht um die Absicherung der Mordaktion. In umfangreichem Maße befasste das Anstaltsdezernat sich damit, die Verlegungen in die „Zwischenanstalten“ zu organisieren und zu koordinieren: Bernotat oder seine Mitarbeiter kündigten gegenüber den „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden an, zu welchem Zeitpunkt wie viele Menschen mit „Transporten“ aus auswärtigen Anstalten zu erwarten und aufzunehmen seien.229 Wo Menschen aus einzelnen kleinen (nicht konfessionellen) Privatanstalten im „nassauischen“ Bezirk in „Zwischenanstalten“ zu verlegen waren, delegierte Bernotat die Vornahme der Verlegung an Einrichtungen wie die Anstalt Scheuern, nicht ohne bis ins Detail Vorgaben für die Erledigung zu machen: Das Anstaltsdezernat führte die Namen der Betroffenen einzeln auf, setzte Fristen für die Verlegung und überwachte die Erledigung des Auftrags, indem es sich über dessen Durchführung Bericht erstatten ließ.230 Bernotats Anstaltsdezernat fungierte auch als zuständige Instanz für die Festlegung, in welche der „Zwischenanstalten“ die ankommenden Patientinnen und Patienten aus anderen Regionen geleitet werden sollten; zu diesem Zweck setzte Bernotat sich mit den dortigen Anstaltsträgerverwaltungen wie beispielsweise dem Provinzialverband Westfalen in Verbindung, um die jeweilige „Zwischenanstalt“ mitzuteilen.231 Um stets einen aktuellen Überblick über die Aufnahmekapazitäten der fünf „Zwischenanstalten“, für die er zuständig war, zu gewährleisten, ließ der Anstaltsdezernent sich wöchentlich durch die Einrichtungen die Zahl der freien Plätze melden; erst nach dem Ende der Hadamarer Gasmorde hob Bernotat diese Meldepflicht auf.232 224 Siehe dazu Kap. IV. 2. a). HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an BV Nassau, Personalabteilung (18.08.1940), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 160 f. (Dok. 52). – Zur Rolle der Personalabteilung siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. b). 226 Mit Ausnahme der jüdischen Patient/inn/en aus den LHAen Hadamar u. Herborn: siehe dazu Kap. IV. 2. a). 227 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12528, o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. Dir. Dr. Mennecke, an „Frau Rudolf B[...]“, Diethardt (16.10.1940, ab: 16.10.1940); ebd., BV Nassau, Az. A (S II) 4113/2, gez. i. A. LdsR Bernotat, an Johann J., Hausen v. d. H. (16.10.1940), hier als Abschr. an LHA Eichberg. 228 Siehe dazu Kap. IV. 3. a). 229 AHS, div. Schreiben von LdsR Bernotat (z. T. gez. LVR Müller), Wiesbaden, an HEPA Scheuern (05.06./14./28.07./ 04./11./21.08./27.10./01.12.1941). 230 Siehe z. B. zur Organisation der Verlegungen aus dem Dr. Dr. Wolff’schen Sanatorium Katzenelnbogen in die HEPA Scheuern: AHS, LdsR Bernotat, gez. LVR Müller, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (05.06.1941). 231 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (04.08.1941) („Ich habe angeordnet, dass der Transport [aus Eickelborn, P. S.] nach der dortigen Anstalt [= Scheuern, P. S.] geleitet wird“); vgl. auch Walter, Psychiatrie (1996), S. 721. 232 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (13.10.1941). 225 3. Kooperation während der Gasmorde 475 Die verantwortliche Rolle der einzelnen Anstalten im Rahmen der Verlegungen hatte dazu geführt, dass diese auch selbstständig – am Anstaltsdezernat vorbei – mit „T4“ korrespondierten. Das Bestreben des Anstaltsdezernenten, innerhalb des Bezirksverbandes die Schlüsselposition in diesem Bereich zu behalten, lässt sich daran ablesen, dass Bernotat nach Abschluss der Gasmorde die anschließende, Abwicklungsfragen dienende Korrespondenz zwischen den Anstalten und „T4“ in seiner Anstaltsabteilung monopolisierte: „Jeglicher unmittelbare Schriftverkehr zwischen der dortigen Anstalt und den in Berlin mit der Durchführung der Aktion befassten Dienststellen hat in Zukunft unbedingt zu unterbleiben. Dieser Schriftwechsel wird allein von mir geführt. Alle Vorgänge, deren Weitergabe nach Berlin nach pflichtgemässem Ermessen wünschenswert erscheint, sind daher zunächst an mich zu senden. Ich erwarte, dass diese Verfügung zukünftig genau beachtet wird, damit sich die weitere Abwicklung der Aktion reibungslos vollzieht.“233 Generell liefen auch sämtliche Kontakte der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes zu „T4“ über deren „Sonderbeauftragten“ Bernotat. Während der Gasmorde führte er in organisatorischen Fragen Verhandlungen mit der Mordorganisation,234 hielt sich hierzu mitunter auch in der Gasmordanstalt Hadamar auf und sprach dort mit den „T4“-Verantwortlichen Brack, Blankenburg und Kaufmann.235 Soweit „T4“ schriftlich mit Bernotat verkehrte, bediente die Organisation sich teilweise der Privatadresse des Landesrats in der Wiesbadener Eichendorffstraße.236 Ansonsten telefonierte Bernotat eher mit „T4“; beispielsweise in Personalfragen wandte die Kanzlei des Führers sich fernmündlich an ihn.237 Obwohl Bernotat, der „Tatmensch“,238 offenbar eine Vielzahl von Verwaltungsvorgängen im Zusammenhang mit der „T4“-Mordaktion persönlich erledigte, darf nicht der Eindruck entstehen, er habe in der Verwaltung des Bezirksverbandes allein gewirkt. Außer seiner Sekretärin stand ihm neben den Mitarbeitern der (relativ kleinen) Anstaltsabteilung239 des Bezirksverbandes besonders seit dem Jahr 1941 auch der Hilfsdezernent des Landesfürsorgeverbandes, der Jurist Landesverwaltungsrat Kurt Müller, zur Seite, der in Fragen der Mordaktion auch eine Reihe von Schreiben in Bernotats Vertretung unterzeichnete. Besonders als Bernotat im Herbst 1941 krankheitshalber zeitweise ausfiel,240 avancierte Müller zu dessen ständigem Vertreter, der nun selbstständig Abwicklungsarbeiten im Zusammenhang mit der Krankenmordaktion übernahm.241 233 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, Dir. Todt (27.10.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist). 234 Vgl. LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 44, Vm. d. LHA Hadamar, gez. LS Klein (15.09.1941). 235 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965), Kopie. 236 LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 6, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Der Personalchef, Berlin, an LdsR Bernotat, Wiesbaden, Eichendorffstraße 1 (28.04.1941), hier als Abschr. von Bernotat, Wiesbaden, Landeshaus, an LHA Hadamar (02.05.1941). 237 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 16, Vm. d. BV Nassau bzw. Entwurf zum Schreiben BV Nassau an Kanzlei des Führers (o. D. [Juli 1941] bzw. 16.07.1941) („Die Kanzlei des Führers hat Herrn Landesrat Bernotat angerufen“ bzw. „Auf den fernmündlichen Anruf vom 8. Juli 1941“); siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 182 f., Zeugenaussage [d. Sekretärin v. Bernotat] Therese H. geb. D. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), hier Bl. 183. 238 In BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Bernotat, Fritz, SS-Personalbericht (28.09.1943), antwortete der Führer des SSOberabschnitts Rhein/Westmark, Berkelmann, auf die Frage nach Bernotats Fähigkeit des Vortragens: „genügt. Mehr Tatmensch“. 239 Zur Anstaltsabteilung „S II“ siehe Kap. III. 3. a). 240 Zu Bernotats Erkrankung siehe Kap. V. 1. b). 241 AHS, Einschreiben LdsR Bernotat, Wiesbaden, gez. LVR Müller, an HEPA Scheuern (01.12.1941) (zur Entlassung verbliebener „Zwischenanstalts“patienten); HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12618, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S/II) 1002/3, gez. i. A. LVR Müller, an LHA Eichberg (02.12.1941) (Mitteilung über die Befugnisse des neuen Reichsbeauftragten für die Heilund Pflegeanstalten); ebd., Nr. 12513, o. Bl.-Nr., LdsR Bernotat, Landeshaus Wiesbaden, gez. i. A. LVR Müller, an LHA Eichberg (24.12.1941) (betr. Verlegung ehem. „Zwischenanstalts“patienten); ebd., Nr. 12607, o. Bl.-Nr., Der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten, Az. 15/41 – 5107, Rundschreiben, hier an LdsR Bernotat, betr. „Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ (22.12.1941), hier als Abschr. von BV Nassau, gez. Müller, an LHA Eichberg (08.01.1942); LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 133, BV Nassau, Az. A (S II) 1002/3, gez. i. A. LVR Müller, an LHA Hadamar, betr. „Planwirtschaftliche Maßnahmen“ (21.11.1941). – Die Korrespondenz betraf u. a. die Frage der Verlegung der (durch den sog. „Euthanasiestopp“) in den Einrichtungen verbliebenen „Zwischenanstalts“patienten oder bezog sich auf die Ernennung des neuen „Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten“; siehe dazu auch Kap. V. 1. – Zu Kurt Müller (1908– 1954) siehe biogr. Anhang. 476 IV. Zeit der Gasmorde Die Krankenmorde wurden innerhalb der Leitungsebene der Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes nicht als Geheimnis behandelt. Über Bernotats Anstaltsabteilung hinaus waren nämlich auch weitere Abteilungen des Verbandes mit der Flankierung der Aktivitäten von „T4“ oder mit den Auswirkungen der Morde befasst. Das gilt insbesondere für die Dezernate der Landesräte Kranzbühler (Allgemeine Verwaltung und Personal) und Schlüter (Finanzen), eingeschränkt auch für Landesrat Johlen (Landesfürsorgeverband). Jeweils auf ihrem Gebiet sorgten diese Oberbeamten mit ihren Abteilungen dafür, dass die „T4“-Morde reibungslos erfolgen konnten oder dass sie sich für den Bezirksverband, auch in finanzieller und machtpolitischer Hinsicht, zuträglich auswirkten. Eine herausgehobene Funktion kam Landesrat Max Kranzbühler242 als Abteilungsvorstand für die Allgemeine Verwaltung und den Personalbereich zu. Besonders da Landeshauptmann Traupel sich nach dem verlorenen Kampf gegen Sprenger de facto auf seinen Kasseler Behördenteil beschränken musste und erst recht, nachdem Traupel im April 1941 zur Wehrmacht gegangen war,243 erlangte Kranzbühlers Funktion als stellvertretender Landeshauptmann in Wiesbaden mehr Bedeutung denn je. Das Spektrum der Absicherungsleistungen, die Kranzbühler in seiner uneingeschränkten Loyalität gegenüber den expliziten und impliziten politischen Vorgaben erbrachte, betrifft verschiedene (zum Teil auch bereits dargestellte) Bereiche. Die Meldebogenausfüllung durch die Anstalten im Juli 1940 scheint der erste Berührungspunkt Kranzbühlers mit der Krankenmordaktion gewesen zu sein, wobei er die in Weilmünster zeitweise aufgetretenen Probleme durch eine rasche Einschaltung der verbandseigenen „Experten“ – Bernotat und Mennecke – behob.244 Seine Mitwirkung hinderte Kranzbühler, der sein Image als „korrekter Beamter“ pflegte, nicht daran, 1946 jedes Wissen abzustreiten und zu behaupten, ihm sei „die Abgabe von Meldebogen und die Durchführung von Verlegungen gänzlich unbekannt [geblieben], zumal es sich hierbei um rein interne Anstaltsfragen handelte.“ Kranzbühlers angebliche Unwissenheit ging sogar noch weiter: „Mir waren die Vorgänge in den Heilanstalten während des Krieges überhaupt weder dienstlich noch ausserdienstlich irgendwie bekannt geworden. [...] Von den Vorkommnissen in Hadamar habe ich nie etwas erfahren. L[andes-]R[at] Bernotat hüllte sich in tiefstes Schweigen und sprach sich über diese Dinge nie aus.“245 Dass all dies nicht der Wahrheit entsprach, ergab sich allein schon aus Funktion und Handeln Kranzbühlers und seines Dezernates im Bezirksverband. Bereits die offenen Mitteilungen des Eichberger Direktors Mennecke an die Wiesbadener Personalabteilung über einen „Sondereinsatz“, zu dem er im „Rahmen der mir zugewiesenen Sonderaufgaben [...] durch die ‚Kanzlei des Führers‘ in Berlin [...] berufen“ worden sei,246 legen nahe, dass Kranzbühler und darüber hinaus weitere Mitarbeiter der Personalabteilung über Menneckes Tätigkeit als „T4“-„Gutachter“ zumindest dem Grundsatz nach informiert waren. Vollends deutlich wird dies bei einer Betrachtung des Vertuschungssystems, mit dem Kranzbühler (als stellvertretender Landeshauptmann oder als Personaldezernent) gegenüber Dritten die Ermordung von Kranken verbal zu verschleiern suchte. Zwei Wochen nach Beginn der Hadamarer Morde im Januar 1941 lehnte Kranzbühler gegenüber der Stadt Frankfurt die von dort beantragte und noch im Vormonat bewilligte „Verlegung geisteskranker Personen aus den Landesheilanstalten in die Nervenklinik der Stadt und Universität in Frankfurt a/M. zur erbbiologischen Untersuchung“ nun aus „besonderen Gründen [...] für die Dauer des Krieges“ ab. Damit verhinderte er, dass die zur Verlegung und Ermordung vorgesehenen Menschen möglicherweise am geplanten Verlegungstag nicht in den „Zwischenanstalten“ anwesend gewesen wären. So hatte Kranzbühler auch „nichts dagegen einzuwenden, wenn die Nachuntersuchungen [...] durch einen Arzt der Universitäts-Nervenklinik in den Landesheilanstalten vorgenommen werden.“247 242 Zur Biografie von Max Kranzbühler (1878–1964) siehe insb. Kap. I. 2. a); siehe auch biogr. Anhang; zu seiner Stellung im Bezirksverband während der NS-Zeit siehe Kap. II. 1. a). 243 Zum Kampf Sprenger – Traupel und zu Traupels Einberufung im Apr. 1941 siehe Kap. IV. 1. b). 244 Siehe dazu Kap. IV. 2. a). 245 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 226, Zeugenaussage Max Kranzbühler ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Ffm (17.09. 1946). 246 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an BV Nassau, Personalabteilung (18.08.1940), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 160 f. (Dok. 52). 247 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12541, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 1, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an OB Ffm, Fürsorgeamt, betr. „Verlegungen von Geisteskranken aus den Landesheilanstalten in die Nervenklinik Frankfurt a/M. und zurück“ (25.01.1941), hier als Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (25.01.1941); vgl. auch ebd., o. Bl.-Nr., Nervenkli- 3. Kooperation während der Gasmorde 477 Im Januar 1941 bemühte sich Kranzbühler als Personaldezernent darum, außerhalb des Bezirksverbandes einen neuen Posten für Dr. Peter Masorsky248 zu finden. Masorsky, seit 1938 Direktor der Landesheilanstalt Hadamar, jedoch seit Kriegsbeginn zur Marine einberufen, galt im Bezirksverband mittlerweile als überzählig, da man von einer dauerhaften Abtretung der Anstalt Hadamar an „T4“ ausging und daher dort keinen Direktor mehr benötigte. Der Verband hatte Masorsky zwar formal an die Anstalt Herborn versetzt (und damit auch den Umzug von dessen Ehefrau dorthin veranlasst), konnte jedoch auch darin keine Lösung für die Zeit nach dem erwarteten Kriegsende sehen, da ja die Anstalt Herborn mit Dr. Paul Schiese bereits einen Direktor hatte. Daher schlug Kranzbühler den Arzt Masorsky nun Ende Januar 1941 dem Reichsinnenminister für eine Verwendung im Reichsdienst, etwa als Amtsarzt, vor. Dass Kranzbühler die Sprachregelungen zur Verschleierung der Morde durchaus geläufig waren, bewies er in diesem Bericht an das Ministerium: Bezug nehmend auf die „[p]lanwirtschaftliche[n] Massnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten“ formulierte er nämlich dort, die Anstalt Hadamar sei „anderen Zwecken im Rahmen der aufbauenden Gesundheitsfürsorge zur Verfügung gestellt worden“.249 Der Bezirksverband Nassau unterstützte „T4“ in einem nicht unwichtigen Punkt, indem er Widerspruch oder unbotmäßiges Verhalten seiner Mitarbeiter mit Macht einzudämmen versuchte. Während sich unter den Verwaltungsbeamten und -angestellten der Wiesbadener Zentralverwaltung – soweit bekannt – in keinem Fall250 Verweigerungen oder Kritik an den Krankenmorden offenbarten, ließ sich dies in den Anstalten des Verbandes in Einzelfällen feststellen. Die Art und Weise, wie die zuständigen Abteilungsleiter des Verbandes (Personaldezernent Kranzbühler und Anstaltsdezernent Bernotat), zum Teil auch die örtlich Verantwortlichen, diesen Formen von Resistenz begegneten, gestaltete sich von Fall zu Fall unterschiedlich.251 Gleich zu Anfang der Krankenverlegungen statuierte der Bezirksverband Nassau ein Exempel an Karl K., einem 35-jährigen Mitarbeiter der Landesheilanstalt Weilmünster. Kraftfahrer K. hatte bereits 1940 in Hadamar, wo er bis zum Oktober (also noch vor der „T4“-Zeit) in der Landesheilanstalt gearbeitet hatte, die Vorbereitungen zum Umbau der Anstalt wahrgenommen.252 Als er nun im Januar 1941 die Verlegungen von Weilmünster nach Hadamar beobachtete, äußerte er (nach eigener Erinnerung) in Weilmünster: „die kommen nach Hadamar in den Backofen, die werden verbrannt.“ Anwesende bezeugten später K.s sarkastisches Wort von der Hadamarer „Brezelbäckerei“. Kurz nach Karl K.s Ausspruch ließ der Bezirksverband ihn durch den ersten Verwaltungsbeamten der Anstalt Weilmünster, Karl F., verhören und entließ den Mitarbeiter dann fristlos aus dem Dienst. Anstaltsdezernent Bernotat nahm den Vorfall zum Anlass für drohende Bemerkungen beim Betriebsappell gegenüber der übrigen Belegschaft in Weilmünster, während er Karl K. der Gestapo überließ, die ihn festnahm und zehn Tage lang in Frankfurt in Haft hielt.253 nik d. Stadt u. Universität Ffm, gez. Kleist, an Verwaltung der Klinik, Ffm (07.11.1940), hier als Abschr. von Verwaltung d. Klinik Ffm an LHA Eichberg (13.11.1940); vgl. auch ebd., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 567, gez. i. A. LdsR Johlen, an Nervenklinik d. Stadt u. Univ. Ffm, betr. „Verlegung von Geisteskranken in die dortige Klinik“ (02.12.1940), hier als Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (02.12.1940). 248 Zu Dr. med. Peter Masorsky (1887–1966) siehe auch biogr. Anhang. 249 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 9, BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an RMdI, betr. „Planwirtschaftliche Massnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten“ (29.01.1941), Abschr.; einer neuen Verwendung Masorskys diente auch eine Initiative Bernotats, der den Arzt ggü. d. KdF als „Chefarzt für die Ostgebiete“ namhaft machte: ebd., Bl. 16, BV Nassau an Kanzlei des Führers (16.07.1941), Entwurf. 250 Abgesehen von der unten genannten Wilhelmine R., die allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Zentralverwaltung tätig war. 251 Zur kritischen Diskussion von Begriffen wie „Widerstand“, „Resistenz“, „Dissens“ siehe z. B. Kershaw, Widerstand (1986), S. 780 f., S. 785 f.; siehe auch insg. Mehringer, Widerstand (1997). 252 Siehe dazu Kap. IV. 2. b). 253 Zu Karl K. (* 1906) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie u. zum Vorfall: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 874 (10.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 203 f., Zeugenaussage Hans L. im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (auf Bl. 204 Zitat „Brezelbäckerei“); ebd., Bl. 219–221, Zeugenaussage Karl K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (auf Bl. 220 Zitat „[...] Backofen [...]“); ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 129, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (Zitat „Brezelbäckerei“); vgl. auch ebd., Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 61, Aussage Ottilie V. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946) (V. sagte allerdings, sie u. K. seien 478 IV. Zeit der Gasmorde Ein ähnliches Schicksal traf im Juni 1941 die Verwaltungsmitarbeiterin der Landesheilanstalt Eichberg, Wilhelmine R. Die 46-Jährige war erst im März 1941 von der Wiesbadener Zentralverwaltung zum Büro der Anstalt Eichberg versetzt worden, um dort Abschriften der „T4“-Verlegungslisten anzufertigen. Da die Tätigkeit sie seelisch sehr belastete, beantragte sie telefonisch bei Personaldezernent Kranzbühler und persönlich bei Anstaltsdezernent Bernotat ihre Rückversetzung nach Wiesbaden, was beide ihr jedoch abschlugen. Daraufhin meldete sie sich krank, was Bernotat mit den Worten quittierte: „Nach meiner Ansicht hat Frau R[...] keine Lust mehr, in der Anstalt Eichberg weiterzuarbeiten.“ Wie schon bei Karl K. in Weilmünster wurde auch bei Wilhelmine R. bekannt, dass sie über die Geschehnisse in der Landesheilanstalt Eichberg gesprochen hatte, wenn auch nur im privaten Kreis. Als R. nach vierwöchiger Krankschreibung zum Eichberg zurückkehrte, erschien Bernotat in Begleitung zweier Gestapobeamter, die Wilhelmine R. verhafteten, verhörten und wegen angeblicher „Verbreitung unwahrer Geruechte ueber die Landesheilanstalt Eichberg“ zehn Tage lang in Haft behielten. Bernotat nutzte auch diesen Fall zur Abhaltung eines Betriebsappells in der Anstalt, während der Bezirksverband der Angestellten R. fristlos kündigte mit der Begründung, ihre Äußerungen stellten „eine grobe Verletzung des Dienstgeheimnisses und damit [i]hrer Dienstpflichten“ dar. Mit demselben Argument – sie habe 1941 „gegen die Verschwiegenheitspflicht verst[o]ßen“ – lehnten 1951 bis 1958 der Bezirkskommunalverband Wiesbaden und dann der Landeswohlfahrtsverband Hessen die Wiedereinstellung von Wilhelmine R. ab.254 Nicht zwangsläufig endete eine Verweigerungshaltung mit Festnahme und Entlassung. Nach allen bekannten Unterlagen wurde allein wegen einer Arbeitsverweigerung im Zusammenhang mit den Mordaktionen niemand belangt, sondern immer nur beim Vorwurf eines Geheimnisverrats. Unter anderem damit ist zu erklären, dass die Eichberger Oberärztin Dr. Elfriede C., die Stellvertreterin Menneckes, sich im März 1941 ebenfalls krank melden konnte und ihre dortige Arbeitsstelle im April ohne einen Eklat sogar ganz verlassen konnte. Aber auch andere Faktoren spielten dabei eine Rolle, so das gute Verhältnis zu den Vorgesetzten. Dadurch war es ihr sogar gelungen, eine Versetzung im Einvernehmen mit ihrem Chef Mennecke und mit Anstaltsdezernent Bernotat, den sie persönlich angesprochen hatte, zu erreichen. Man traf die Sprachregelung, ihr sei „das Klima im Rheingau nicht zuträglich“ und sie müsse aus Gesundheitsgründen an einem anderen Ort arbeiten. Mit Anklängen von Sarkasmus urteilte eine Zeugin später, nicht jeder habe „sich [e]inen Lungenspitzenkatarrh zulegen“ können. Schließlich waren Mennecke und Bernotat wohl am Freiwerden von C.s Planstelle interessiert, denn dadurch konnten sie diese mit einem Befürworter der Mordaktion besetzen. Dr. C. arbeitete fortan in verschiedenen Einrichtungen, meist in Kinderheimen des Bezirksverbandes; sie wurde jedoch auch noch mehrere Monate in Anstalten eingesetzt, wo sie mit der Krankenmordaktion in Berührung kam (wie 1941 in der Landesheilanstalt Weilmünster als „Zwischenanstalt“ oder 1942 in der Idsteiner Heilerziehungsanstalt Kalmenhof als Einrichtung der so genannten „Kindereuthanasie“). 1946 schließlich kehrte Dr. Elfriede C. zur Landesheilanstalt Eichberg zurück.255 Nach allen Unterlagen wird man an C.s bereits vor Beginn der Morde wegen Aussagen zum Krematorium durch die Gestapo vernommen worden). – Zum Betriebsappell in Weilmünster im Jan. 1941 siehe Kap. IV. 3. a). 254 Zu Wilhelmine R. (* 1895) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie u. zum Vorfall: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.Akten Zug. 1981, Ga., Wi., Bl. 1, Personalbogen (o. D. [ca. ab 1937]); ebd., o. Bl.-Nr., Fragebogen d. Military Government of Germany (10.07.1946); ebd., Teil 1, Bl. 69–86, div. Dok. (1941), insb. Bl. 74, BV Nassau, Bernotat an Personalabteilung (26.05.1941) (Zitat „Nach meiner Ansicht [...]“), sowie Bl. 83, BV Nassau an Wilhelmine R. (20.06.1941), Durchschr. (Zitat „eine grobe [...]“); ebd., Teil 2, Bl. 116 f., Vfg. zum Schreiben KV Wiesbaden an LG Wiesbaden, Wiedergutmachungsstelle (07.06.1951, ab: 11.06.1951), hier Bl. 116 („Verletzung der von ihr eingegangenen Schweigepflicht“); ebd., o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LWV Hessen, Kassel, an die Betroffene (14.10.1958, ab: 14.10.1958) (Zitat „gegen die [...]“); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 134 f., Aussage Katharina K. als Beschuldigte durch die Kriminalpolizei Ffm im Gerichtsgefängnis Wiesbaden (20.03.1946), hier Bl. 134; ebd., Bd. 2, Bl. 189, Zeugenaussage Wilhelmine G. geb. R. b. Polizeipräsidium Wiesbaden (23.08.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 191, Aussage Dr. R. ggü. StAnw Ffm (Protokollfragment o. D. [ca. 1946]); ebd., Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 508, Aussage Karl Sch. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (21.08.1946), Abschr. (zum Betriebsappell, der hier jedoch auf Mai 1941 datiert wird); HStA Wi, Abt. 486, Karteikarte der Gestapo Ffm zu R., Wilhelmine (Eintrag: 05.07.1941) (Zitat „Verbreitung unwahrer [...]“); Sandner, Eichberg (1999), S. 191. 255 Zu Dr. med. Elfriede („Frieda“) C. (1894–1966) siehe biogr. Anhang. – Quellen: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Co., El., Dr., o. Bl.-Nr., Personalbogen (13.12.1947); ebd., o. Bl.-Nr. Fragebogen d. Military Government of Germany (08.08.1945); ebd., Teil 2, Bl. 22–24, div. Dok., insb. Teil 2, Bl. 24, LHA Eichberg an BV Nassau (15.03.1941) (Zitat „das Klima [...]“), sowie weitere Dok. in d. Akte; LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 109, Entwurf zum Schrei- 3. Kooperation während der Gasmorde 479 ehrlichem Bemühen, sich dem Mordsystem zu entziehen, kaum zu zweifeln haben, auch wenn sie die Tätigkeiten in Weilmünster und Idstein in ihren Nachkriegsaussagen wohlweislich verschwieg. Mitunter müssen behauptete Widerstandshaltungen oder Ausstiegsbemühungen zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. So behaupteten in den „Euthanasie“prozessen 1946/47 die beiden – dann wegen Mordes verurteilten – Oberschwestern der Anstalten Hadamar und Eichberg, sie hätten sich beim Bezirksverband vergeblich um eine Entlassung oder Versetzung bemüht. Die Eichberger Oberschwester Helene Schürg berichtete, sie sei hierzu sogar nach Kassel zu Landeshauptmann Traupel gefahren, den sie von einer früheren Tätigkeit her persönlich kannte.256 Dagegen wollte die Hadamarer Schwester Irmgard Huber unter anderem mit Bernotat wegen eines möglichen Ausscheidens gesprochen haben, der sie jedoch mit den Worten vertröstet habe: „Wir müssen damit bis nach dem Krieg warten, und die Soldaten im Felde müßten noch mehr leisten“.257 Während in diesen beiden Fällen die behaupteten Haltungen zwar nachträglich bezeugt wurden, aber ohne zeitgenössische Belege bleiben und Motive prozesstaktischer Natur daher nicht ausgeschlossen werden können, kennen wir in umgekehrten Fällen nicht die Hintergründe für ein bestimmtes, belegtes Handeln: So meldete sich der Herborner Pfleger Wilhelm H. im Februar 1941 (einen Monat nach den ersten Verlegungen von Herborn nach Hadamar) krank und bemühte sich dann nach über dreimonatiger Krankheitsdauer, gleich seinen Resturlaub von 1940 anhängen zu können.258 In einem Fall wie diesem wäre man aus heutiger Perspektive auf Spekulationen angewiesen, wollte man die Hintergründe für das Verhalten (ob Verweigerung wegen der „T4“-Verlegungen oder tatsächliche Krankheit) benennen. Besser nachvollziehbar ist der Fall des Oberarztes der Landesheilanstalt Herborn, Dr. William Altvater.259 Dieser nahm zwar für sich in Anspruch, er habe sich „krank gemeldet [...], um aus dieser Geschichte rauszukommen“;260 im Mai 1945 übertrug der Bezirksverband ihm als Unbelastetem dann auch die Leitung der Anstalt Hadamar, und 1956 befürwortete man im Landeswohlfahrtsverband Hessen die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an ihn, da er eine „strikte Ablehnung des Euthanasieprogramms“ gezeigt habe.261 Tatsächlich hatte Altvater sich 1941 für zwei Monate krank gemeldet, ben LHA Hadamar an Reichsgesundheitsamt, Berlin (13.05.1939, ab: 13.05.1939); HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12826, o. Bl.Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an Staatl. Gesundheitsamt Rüdesheim (08.03.1941), Durchschr.; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 15 f., Aussage Helene Schürg b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (08.05.1946), hier Bl. 16; ebd., Bl. 57 f., Zeugenaussage Dr. Elfriede C. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 40 f., Aussage Helene Schürg als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946), hier Bl. 41; ebd., Bl. 111 f., Bl. 114, Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Bl. 122, Zeugenaussage Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (Zitat „[...] Lungespitzenkatarrh zulegen“); Sandner, Eichberg (1999), S. 191; McFarland-Icke, Nurses (1999), S. 312 (Anm. 73) (die Autorin betrachtet Elfriede C. jedoch fälschlicherweise als Krankenschwester). – Zur Besetzung der Stelle mit Dr. Walter Schmidt (1911–1970) siehe Kap. V. 1. b); zu Schmidt siehe auch biogr. Anhang. 256 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 15 f., Aussage Helene Schürg b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (08.05.1946), hier Bl. 16; ebd., Bl. 57 f., Zeugenaussage Dr. Elfriede C. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946), hier Bl. 57; ebd., Bd. 4, Bl. 41 bzw. Bl. 83, Aussagen Helene Schürg als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. bzw. 5. Hv-Tag (05. bzw. 09.12.1946); ebd., Bl. 111, Bl. 114, Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Bl. 122, Zeugenaussage Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946). 257 Möglicherweise ist die angebliche Kündigung auf die Zeit ab 1942 zu datieren. – HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 873 (08.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 51, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947) (Zitat „Wir müssen [...]“); ebd., Bl. 227, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 254, RAin u. Notarin Dr. A. S., Ffm, an LG Ffm (06.03.1947), Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 258–263, Zeugenaussage Maria K. geb. R. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 258, Bl. 260; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Huber, Irmgard, Teil 1, Bl. 9 f., Min. f. polit. Befreiung in Bayern, München, an LH in Wiesbaden (23.01.1952). – Irmgard Huber (* 1901) war ab 1942 kommissarisch u. ab 1944 definitiv Oberschwester der LHA Hadamar; siehe auch biogr. Anhang. 258 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1984, He., Wi., Bl. 7 f., Wilhelm H. an LHA Herborn (03.06.1941), von dort weitergeleitet an BV Nassau (06.06.1941); Vfg. zur Antwort BV Nassau durch LHA Herborn an Wilhelm H. (12.06.1941, ab: 17.06.1941) (die Personalabt. d. BV Nassau genehmigte den Resturlaubs nicht, da dieser nur nachgeholt werden könne, wenn er aus dienstlichen Gründen nicht habe genommen werden können). – Die krankheitsbedingte Abwesenheit begann am 26.02.1941, also einen Tag nach der fünften „T4“-Verlegung nach Hadamar: vgl. dazu Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). 259 Zu Dr. med. William Altvater (1880–1961) siehe biogr. Anhang. 260 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 236–238, Zeugenaussage Dr. Wilhelm [= William] Altvater im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 238. 261 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Altvater, William, Dr., Teil 2, Bl. 113, Schreiben LWVZweigverwaltung, Wiesbaden, an LWV-Hauptverwaltung, Kassel (11.05.1956). 480 IV. Zeit der Gasmorde hatte sich deshalb erheblichen Ärger mit Anstaltsdezernent Bernotat eingehandelt und war schließlich in einen gesundheitsbedingten Vorruhestand gegangen, bevor man ihn im Mai 1945 reaktivierte. Die Krankmeldung datierte jedoch erst vom August, also einem Zeitpunkt, als die „T4“-Verlegungen aus der „Zwischenanstalt“ Herborn bereits abgeschlossen waren und als Altvater wegen der geplanten Schließung der Landesheilanstalt zur Anstalt Eichberg versetzt werden sollte.262 Ohne dass dies eine Aussage über seine Haltung zu den Krankenmorden zuließe, scheint seine Krankmeldung zu diesem Zeitpunkt doch eher davon beeinflusst gewesen zu sein, dass der 60-jährige stellvertretende Anstaltsleiter nach langjähriger Ansässigkeit in Herborn einen Wechsel zur rund 90 Kilometer entfernten Landesheilanstalt Eichberg nicht mehr auf sich nehmen wollte, zumal er die Versetzung als Degradierung empfand. Wie Dr. Altvater selbst bestätigte, hielt er es „mit [s]einem Dienstalter und [s]einen langjährigen Erfahrungen für unvereinbar“, nun auf dem Eichberg „als einfacher Oberarzt [...] den jungen SSÄrzten Dr. Mennecke und Schmidt unterstellt“ zu werden.263 So sehr im Einzelfall auch die Motivationen der handelnden Personen divergieren konnten, so war doch übereinstimmend die Handlungsweise von Anstalts- und von Personaldezernat des Bezirksverbandes dem Ziel untergeordnet, die Krankenmordaktion nicht durch eine wie auch immer ablehnende Haltung aus der Mitarbeiterschaft heraus behindern zu lassen. Scharf sanktioniert wurde das Publikmachen der Morde, während man in den – allerdings wohl äußerst seltenen – Fällen, in denen Belegschaftsangehörige die weitere Mitarbeit zu umgehen versuchten, flexibel reagierte: nach Möglichkeit, indem man das Ansinnen einfach ablehnte, und wenn das nicht aussichtsreich erschien, indem man lösungsorientiert nachgab. Oberstes Ziel war nicht die Disziplinierung oder der Zwang zur Mitwirkung des Einzelnen, sondern die Beteiligung der ganz überwiegenden Mehrheit der Betreffenden264 und damit die möglichst reibungslose Fortführung der Mordaktion von „T4“, welche der Bezirksverband durch dieses Vorgehen gegenüber dem Personal seiner Anstalten aus eigenem Antrieb unterstützte. Kranzbühlers Agieren als stellvertretender Landeshauptmann und als Verwaltungs- und Personaldezernent (seine Kenntnis über die Verpachtung der Anstalt Hadamar an „T4“, seine Mitwirkung in Personalfragen, etwa bei den Abordnungen der Bezirksverbandsmitarbeiter an „T4“, bei den Versetzungen265 und Disziplinierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Mordaktion) lassen ihn als eine Führungskraft im Bezirksverband erscheinen, die sich zwar nie als fanatischer Antreiber der „T4“Morde positionierte, aber jederzeit zugunsten einer Förderung, Aufrechterhaltung und Absicherung des Mordsystems eintrat. Wenngleich Kranzbühlers innerste Haltung in diesem Kontext letztlich nicht zu ergründen ist, so spielte sie auch insofern keine entscheidende Rolle, als sie den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Bezirksverbandes nicht offenbar wurde. Die Haltung Kranzbühlers lässt annehmen, dass der Landesrat die Anforderungen im Zusammenhang mit den „T4“-Krankenmorden nicht etwa aufgrund rassenideologischer Ansichten so perfekt erfüllte, sondern weil er sich mit der von ihm geleiteten Behörde identifizierte und die „T4“-Krankenmorde als ein Projekt verstand, das die Bedeutung des Bezirksverbandes im Gefüge des „Dritten Reiches“ zu stärken versprach. Die von Landesrat Ludwig Johlen geleitete Abteilung „Volksfürsorge“266 war zwar mit der organisatorischen Vorbereitung oder Begleitung der Krankenmordaktion innerhalb des Bezirksverbandes überhaupt nicht befasst267 – hierfür sorgte Bernotat, der in dem Kollegen Johlen zunehmend einen Konkurrenten sah, dessen Hauptarbeitsgebiet er über kurz oder lang zu übernehmen trachtete (was 1943 gelang).268 Aber mit der Nachbereitung der Morde, mit der nachträglichen Verschleierung und mit der 262 Ebd., Teil 1, Bl. 1–23. – Die Versetzung galt zum 01.08.1941, wurde jedoch durch die Krankmeldung nicht vollzogen. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 64 f., hier Bl. 64, Aussage Dr. [William] Altvater ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946). 264 Zu dieser Art von Kollektivauftrag vgl. auch Browning, Männer (1993), S. 241 f. (in Bezug auf das Ersatzpolizeibataillon 101), wonach der Tötungsbefehl nicht an den Einzelnen, sondern an die Gruppe erging, mit der Folge, dass 80–90 Prozent sich beteiligten. 265 Siehe dazu Kap. IV. 2. b) bzw. IV. 2. c). 266 Zu Ludwig Johlen (1885–1960) siehe biogr. Anhang; zum Neuzuschnitt seiner Abt. II („Volksfürsorge“) ab 1933, worin der Landesfürsorgeverband die Unterabteilung IIa bildete, siehe Kap. II. 1. a); siehe auch Tab. 6. 267 Z. B. sind Dokumente aus dem Jahr 1941, die Kontakte zwischen Johlen und „T4“ belegen würden, nicht bekannt. 268 Zum gespannten Verhältnis zwischen Bernotat u. Johlen bereits in den 1930er Jahren siehe Kap. III. 1. a). – In HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 24451, Bl. 7, Willy E., Lager Darmstadt, Eidesstattliche Erklärung für Ludwig Johlen im Verfahren b. d. 263 3. Kooperation während der Gasmorde 481 Bearbeitung der finanziellen Auswirkungen, hatte Johlens Abteilung durchaus zu tun. Beim dortigen Landesfürsorgeverband, über den innerhalb des Bezirksverbandes die Zahlung der Pflegekosten für die Anstaltsunterbringung abgewickelt wurde, schlugen sich nun die Einsparungen durch die dezimierte Krankenzahl nieder und führten 1941 zu einer „erhebliche[n] finanzielle[n] Entlastung“.269 Letztlich war nicht der pekuniäre Nutzen, sondern die rassenideologische Utopie eines gesunden deutschen „Volkskörpers“ das Hauptmotiv für den Kranken- und Behindertenmord.270 Der wirtschaftliche Aspekt bildete aber einen „willkommene[n] Nebeneffekt“,271 und besonders aus der Perspektive der Kriegswirtschaft wurde die Einsparung von kriegswichtigen Ressourcen (besonders von Lebensmitteln und Arbeitskraft) intern mehrfach herausgestellt.272 Auch im Bezirksverband hatte die Wegverlegung und Ermordung einer großen Zahl von Patienten und Patientinnen, die zuvor durch den Wiesbadener Landesfürsorgeverband unterstützt worden waren, zur Folge, dass den Anstalten nun weit weniger Pflegekosten als zuvor überwiesen wurden.273 Ebenso wie der Wiesbadener Landesfürsorgeverband reduzierten auch die entsprechenden Institutionen aus anderen Regionen ihre Überweisungen an die Anstalten; in der Gewissheit, dass viele der von ihnen bislang unterstützten Patientinnen und Patienten mittlerweile tot waren, stellten Landesfürsorgeverbände in Einzelfällen „[z]ur Vermeidung von Überzahlungen“ die bisher üblichen Abschlagszahlungen sogar ganz ein, so geschehen durch den Landesfürsorgeverband Saarbrücken gegenüber der Landesheilanstalt Eichberg.274 Die Vorgänge verweisen darauf, dass die Kostenträger, und zwar sowohl die auswärtigen Landesfürsorgeverbände (Länder und Provinzialverbände) als auch die Bezirksfürsorgeverbände (Kommunen) in der eigenen Region, häufig nicht zeitnah über die Verlegungen in „Zwischenanstalten“ und den Tod in der Anstalt Hadamar informiert wurden.275 Dabei war die Vorgehensweise jedoch seitens „T4“ zunächst nicht koordiniert und unterschied sich daher von einer Region zur anderen. Während die bayerische Landesregierung die Kostenträger auffordern ließ, die Pflegekostenüberweisung nach der Verlegung der Kranken zunächst einzustellen, bis eine Anforderung von der neuen Anstalt – der „Zwischenanstalt“ – erfolgte,276 ließ der Provinzialverband Hannover sich die Pflegekosten auch für die wegverlegten Patientinnen und Patienten zunächst weiterhin durch die Bezirksfürsorgeverbände (die Kreise und Städte) erstatten, als sei nichts geschehen, und erst als sich „in der Praxis verwaltungs- und auch kassentechnisch Schwierigkeiten herausgestellt haben“ (als nämlich durch die Schlussabrechnungen der Tod der Kranken implizit bekannt wurde), instruierte der Provinzialverband seine Anstalten, die Bezirksfürsorgeverbände vom Ableben der Betreffenden zu informieren.277 Das Vorgehen vereinSpruchkammer Wiesbaden (09.06.1946), wird über „erhebliche Spannungen“ zwischen Bernotat u. Johlen ab Feb. 1941, „die auch nach außen hin in Erscheinung traten“, berichtet (wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass es sich bei dem Dokument um einen sog. „Persilschein“ handelt). – Zur zwangsweisen Pensionierung Johlens und zum Neuzuschnitt von Bernotats Dezernat 1943 siehe Kap. V. 4. a). 269 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 15. – Zu dieser Darstellung im Verwaltungsbericht sowie zur Verschleierung insg. siehe ausführlicher weiter unten in diesem Kap. IV. 3. b). 270 Friedlander, Weg (1997), S. 250. – Vgl. auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Heft mit Aufzeichnungen von Fritz Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad Schwalbach, über die Entwicklung auf dem Eichberg (15.10.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 917–938 (Dok. 246), hier S. 924. 271 Friedlander, Weg (1997), S. 120. 272 Z. B. in NARA, T-1021, Roll 18, Frame 94–145, sogenanntes „Hartheim-Dokument“, auch in BA, All. Proz. 7/118 (FC 1813); vgl. Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (19.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 293–299, hier S. 299 („[...] unerträglich, daß während eines Krieges hunderttausende für das praktische Leben gänzlich ungeeignete Menschen [...] mitgeschleppt werden [...].“). 273 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12506 (Akte d. LHA Eichberg „Anforderung der Abstandszahlung auf Pflegegelder“, Laufzeit 1937–1942). – Die Formulare des Jahres 1941 dokumentieren, wie der Zahl der Orts- u. Landeshilfsbedürftigen sowie der gerichtlich Eingewiesenen sich z. B. vom 31.10.1940 bis zum 30.06.1941 jeweils etwa halbierte; zugleich halbierten sich in etwa die vom LFV angeforderten Abschlagszahlungen. 274 Ebd., Nr. 12511, o. Bl.-Nr., Reichsstatthalter in der Westmark u. CdZ in Lothringen, Saarbrücken, an LHA Eichberg, betr. „Pflegekostenabrechnung III. u. IV. Vierteljahr 1940“ (03.07.1941). 275 Zum Vorgehen der „Zwischenanstalten“ im Bez. Wiesbaden siehe Kap. IV. 3. a). 276 NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-1134, Staatsministerium des Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.1941), hier n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. 277 Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 63, S. 87, dort Hinweis auf HStA Hannover, Hannover 155 Göttingen Acc. 58/83 Nr. 4, PV Hannover, gez. Dr. Andreae, Vfg. an die Anstalten des PV Hannover (26.07.1941) (darin das Zitat); vgl. auch HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, Bl. 152, Aussage Landesamtmann a. D. B., ehem. Anstalt Göttingen 482 IV. Zeit der Gasmorde heitlichte sich erst, als „T4“ das Abrechnungswesen mit Einrichtung seiner „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ vereinheitlichte. Um die nun erforderlichen Angaben an „T4“ weiterleiten zu können, bemühte Anstaltsdezernent Bernotat sich im Sommer 1941 bei den verschiedenen ihm unterstehenden Anstalten, ausfindig zu machen, welcher Kostenträger für welchen ermordeten Menschen zuständig gewesen ist.278 Gerade da die Landesfürsorgeverbände als überörtliche Träger der Fürsorgekosten überwiegend in denselben Behörden angesiedelt waren, die auch die Anstaltsträgerschaft in der jeweiligen Region innehatte, war die Mordaktion dort dem Grund nach bekannt,279 selbst wenn die tatsächlichen Aufenthaltsorte oder der schließliche Tod der von ihnen unterstützten Menschen erst verspätet mitgeteilt wurde. Für den von Landesrat Ludwig Johlen geleiteten Landesfürsorgeverband im Bezirksverband Nassau steht diese Kenntnis der Mordaktion außer Frage. Doch auch den Bezirksfürsorgeverbänden, beispielsweise in Preußen den Kreisen oder kreisfreien Städten, konnten die Krankenmorde nicht lange verborgen bleiben, selbst wenn die jeweilige Kommune nicht zum Kreis derer gezählt haben sollte, deren Vertreter im April 1940 durch „T4“ informiert worden waren.280 Spätestens wenn ihnen der zahlreiche Tod der in psychiatrischen Anstalten untergebrachten Menschen mit den Pflegekostenschlussabrechnungen bekannt wurde, legte dies nahe, was geschehen war. Der für das Abrechnungswesen zuständige „T4“-Mitarbeiter Hans-Joachim Becker räumte später diese anfängliche Tarnungslücke ein: „Selbst dem Einfältigsten mußte anhand dieser Rechnungen auffallen, was hier vor sich ging, daß es eine planmäßige Aktion war.“281 Zwar wurden die Fürsorgeträger durch „T4“ teilweise mithilfe der Angabe falscher Sterbedaten um die Pflegekosten für einige Unterbringungstage betrogen,282 doch letztlich versuchte „T4“ nicht unzutreffend, „die Kommunen selbst als Nutznießer der Aktion erscheinen zu lassen.“283 Auf längere Sicht nämlich sparten die Kreise und kreisfreien Städte summa summarum erhebliche Ausgaben, nachdem ein großer Teil der Empfänger der Leistungen der „außerordentlichen Fürsorge“ ermordet worden war, denn – wie „T4“ den Kommunen gezielt vermittelte – „es fallen bei jedem einzelnen Falle [die] künftigen Unterhalts[-] und Pflegekosten weg.“284 Bereits Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky weisen darauf hin, dass „Hinweise auf Anfragen, Proteste oder gar Versuche von Widerstand aus diesen Institutionen“ bislang nirgends aufzufinden waren.285 Im Gegenteil bemühte man sich beispielsweise im Fürsorgeamt der Stadt Frankfurt sogar, kritische Nachfragen von Seiten Dritter ins Leere laufen zu lassen. Offenbar auf die zahlreichen Todesfälle von Anstaltspatienten 1941 aufmerksam geworden, hatte nämlich Wilhelm Avieny286 im Januar 1942 eine Anfrage an die Stadt gerichtet. Avieny war in Frankfurt kein Unbedeutender: als ehemaliger Leiter der Nassauischen Landesbank in Wiesbaden und aktueller Vorstandsvorsitzender der Metallgesellschaft in Frankfurt war er zugleich Wehrwirtschaftsführer und Provinzialrat der Provinz Hessen-Nassau. Als er nun von der Stadt wissen wollte, welche Krankheitsursachen bei den auf Frankfurter Kosten verpflegten Menschen in Anstaltsunterbringung vorlägen, zeigte man sich im Fürsorgeamt alles andere als Willens, den von Avieny zugespielten Ball aufzunehmen und – wenn auch vielleicht nicht offen – auf die NS-„Euthanasie“-Verbrechen einzugehen. Nachdem die städtische Fürsorgestelle für Daueranstalts(18.08.1948), hier n. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 106 („Wir bekamen vor allem Kenntnis von dem Ableben der Patienten durch Pflegekostenabrechnungen“). 278 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (08.08.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt und einzelne Zahlen nachträglich eingesetzt sind). – Zur „Zentralverrechnungsstelle“ siehe auch Kap. IV. 2. a) u. V. 3. b). 279 Siehe die Ausführungen zur Informierung der regionalen Stellen in Kap. IV. 2. a). 280 Siehe dazu ebenfalls Kap. IV. 2. a). 281 Aussage Hans-Joachim Becker (12.05.1966), hier zit. n. Aly, Fortschritt (1985), S. 26. 282 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Aussage Robert Lorent als Angeschuldigter b. d. LG Ffm (18.–29.10.1965), hier S. 15 (19.10.1965); Friedlander, Weg (1997), S. 131; 283 Walter, Psychiatrie (1996), S. 671 f. 284 Stadtarchiv Plauen, Vm. d. OB, Plauen, „Geheime Reichssache“ (04.04.1940), hier n. d. Faks. b. Aly, Medizin (1985), S. 32 f.; siehe auch ders., Aktion (1989), S. 50–52; zur Sitzung am 03.04.1940 auf Einladung d. DGT u. dem dortigen Vortrag von Brack siehe auch Kap. IV. 2. a). 285 Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 117. – Dieser Befund ist heute weiter gültig. – Zu den finanziellen Auswirkungen der Morde z. B. für die Stadt Ffm u. zu Reaktionen seitens der Stadt (allerdings erst nach der Phase der Gasmorde) siehe Kap. V. 2. b). 286 Zu Wilhelm („Willi“) Avieny (* 1897) siehe biogr. Anhang. 3. Kooperation während der Gasmorde 483 pflege erst kurz zuvor viel sagend konstatiert hatte, dass „in den Landesheilanstalten am 13. 1. 1942 noch [!] 1 003 Personen auf unsere Kosten (Spezialpflegekosten) untergebracht“ waren, bemerkte Amtsleiter und Stadtrat Dr. Werner Fischer-Defoy287 intern summarisch: „Diese Personen sind sämtlich als chronisch Kranke zu bezeichnen. Wieviel unheilbar sind, läßt sich nicht feststellen!“ Unterdessen scheint der Amtsjurist und stellvertretende Amtsleiter Dr. Rudolf Prestel288 nach Ausflüchten gesucht zu haben: die gegenwärtigen Krankheiten könne man gar nicht herausfinden, sondern nur diejenigen, die einst zur Anstaltsunterbringung geführt hätten, aber auch mit deren Ermittlung sei „eine ganz erhebliche Verwaltungsarbeit verbunden“, da man „die Durchsicht aller bei der Fürsorgestelle für Daueranstaltspflege geführten Akten anordnen“ müsste. Abschließend empfahl Prestel, Avieny solle sich an den Bezirksverband Nassau wenden, wo man „in der Lage [sei], [...] die gewünschte Auskunft zu erteilen.“ Davon, dass Avieny dort eine den Tatsachen entsprechende Auskunft über die Vorgänge in den Anstalten am allerwenigsten erhalten würde, konnte man auch im Frankfurter Fürsorgeamt ausgehen.289 Insgesamt zeigt die Behandlung der Anfrage durch das Fürsorgeamt den Unwillen, die Angelegenheit um die in Anstalten untergebrachten Menschen näher beleuchten zu lassen. Dann nämlich wäre unweigerlich zum Vorschein gekommen, dass innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes im Jahr 1941 auch mehr als tausend Anstaltspatienten plötzlich verstorben waren, für welche die Stadt Frankfurt fortan keine Pflegekosten mehr zu zahlen brauchte.290 Avienys Beharrlichkeit (und möglicherweise auch die Unterstützung des Frankfurter Oberbürgermeisters Krebs) sollten dazu führen, dass die kritischen Anmerkungen des Provinzialratsmitgliedes nicht völlig im Sande verliefen.291 Die Einsparungen infolge der „T4“-Mordaktion des Jahres 1941 ermöglichten dem Bezirksverband unter Federführung seines Finanzdezernenten Willi Schlüter292, sich (ebenso wie schon durch die radikale Sparpolitik im Anstaltswesen der 1930er Jahre293) auf Kosten seiner Träger, der Kreise und kreisfreien Städte, weiter zu sanieren, Rücklagen zu bilden und Schulden zu tilgen. Überdies nutzte der Verband die Ausnahmesituation dazu, die Haushaltssatzung 1941/42 festzustellen, ohne diese zuvor ordnungsgemäß durch das Innenministerium genehmigen zu lassen. Nunmehr machte die dortige Kommunalabteilung (die eher als konservativ denn als nationalsozialistisch galt)294 ihr Kontrollrecht geltend und schwang sich zum Verteidiger der Interessen der kommunalen Kostenträger des Bezirksverbandes auf. Im August 1941, noch vor dem so genannten „Euthanasiestopp“, erteilte die Abteilung daher dem Bezirksverband eine deutliche Rüge: Man bemängelte, dass die Haushaltssatzung erst nach ihrer Feststellung vorgelegt worden sei, dass die „geforderte Übersicht über die gesamte Finanzwirtschaft des Bezirksverbands im abgelaufenen Rechnungsjahr“ (also 1940/41) fehle und dass darüber hinaus auch der „Vermögens- und Schuldenstand zum Jahresende 1940 nicht pflichtgemäß mitgeteilt“ worden sei. Die Kommunalaufsicht forderte nun, die fehlenden Unterlagen nachzureichen. Zu Recht nahm man in Berlin an, „daß sich im abgelaufenen Rechnungsjahre auf dem Gebiete der Anstaltsfür287 Zu Dr. med. Werner Fischer-Defoy (1880–1955) siehe biogr. Anhang. Zu Dr. jur. Rudolf Prestel (1898–1979) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 406; Heibel, Prestel (1999), S. 261–264, S. 297, S. 301–303. 289 IfStG Ffm, Mag.-A. 8.974, Fürsorgeamt Ffm, interner Vm. der „Fürsorgestelle für Daueranstaltspflege, Wanderer und Auswärtige“ an die Fürsorgeleitung (14.01.1942); ebd., Generaldirektor W. Avieny, Ffm, an Mag. d. Stadt Ffm (26.01.1942); ebd., Magistratsrat Prestel an Hauptverwaltungsamt Ffm (12.02.1942); ebd., Vm. Stadtrat Fischer-Defoy (ca. 15.02.1942). – In HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 917 f., Aussage Dr. Anneliese P., Ffm, b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (22.01.1947), wird bestätigt, dass man in der Stadtverwaltung Ffm bereits frühzeitig „gerüchtweise [!] erfahren hatten, dass in den Heilanstalten Pfleglinge beseitigt würden“. 290 Zur Anzahl der Opfer von 1941 in bisheriger Kostenträgerschaft der Stadt Ffm vgl. die o. g. Zahl von 1.003 Frankfurter Ortshilfsbedürftigen (Anfang 1942) mit der Zahl von 2.290 Ortshilfsbedürftigen aus Frankfurt (Anfang 1937): zu letztgenannter Zahl siehe IfStG Ffm, Mag.-A. 4.051, Bl. 70–72, BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an Stadt Ffm (01.03.1937), hier Bl. 71. – Zur grundsätzlichen Kostenträgerkonstruktion in Preußen zwischen Landesfürsorgeverband (hier BV Nassau) u. Bezirksfürsorgeverbänden (Kreisen usw.) siehe Kap. I. 2. b), III. 1. a) u. III. 3. b). 291 Die Intervention Avienys wurde schließlich nicht im Hinblick auf die Hadamarer Gasmordaktion weiterverfolgt, sondern mit Bezugnahme auf Beköstigungssätze und Hungersterben in den Anstalten des BV Nassau: siehe dazu Kap. V. 2. b). 292 Zu Willi Schlüter (* 1884) siehe auch biogr. Anhang. 293 Siehe dazu Kap. III. 3. b); zur ihrer Fortsetzung bis 1945 siehe auch Kap. V. 2. 294 Nach Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 502, galt der Leiter der Kommunalabteilung, Surén, bei „den Gauleitern [...] als der typische Exponent der Ministerialbürokratie, die durch immer neue sachliche Bedenken und Hinweise auf Verwaltungsvorschriften dem ungezügelten Aktionismus der Parteiinstanzen entgegentrat“; siehe auch ders., Verwaltung (1985), S. 771. – Zu Dr. Friedrich Karl Surén (1888–1969) siehe auch biogr. Anhang. 288 484 IV. Zeit der Gasmorde sorge wieder erhebliche Überschüsse ergeben haben“, der Bezirksverband sollte hierzu „besonders Stellung nehmen“. In erster Linie missfiel der Kommunalabteilung, dass der Bezirksverband die Implikationen der Krankentötungen völlig unberücksichtigt gelassen hatte und bei den Ausgaben des Landesfürsorgeverbandes „trotz der inzwischen durchgeführten planwirtschaftlichen Maßnahmen [also der „Euthanasie“-Morde, P. S.] noch von den Ansätzen des Rechnungsjahres 1940“ ausging, anstatt „die seit Jahren notwendig gewordene Senkung der Pflegesätze“ vorzunehmen.295 Landesrat Willi Schlüter sah sich nunmehr zu einer Rechtfertigung genötigt. Mit Hinweis auf mündliche Absprachen mit dem Ministerium versuchte er, die Vorwürfe der verspäteten Vorlage zu entkräften, um dann auf die „Ergebnisse der Landesheilanstalten“ einzugehen: „Die Frage, wie sich als Folge der Planwirtschaft die Verwertung der freiwerdenden Anstalten für den Bezirksverband finanziell auswirken wird, ist noch vollkommen offen. Eine Entscheidung kann vor dem Abschluß der Planwirtschaft und vor Kriegsende nicht getroffen werden. Bei den Überlegungen über die Pflegegeldfestsetzung für 1941 mußte auch dieser Unsicherheitsfaktor angemessen berücksichtigt werden. Nach der Gesamtlage erschien es daher für richtig, die bisherigen Pflegegeldsätze für 1941 noch unverändert beizubehalten.“296 Der Finanzbericht, den der Bezirksverband nun nachreichte, bestätigte die Vermutungen des Ministeriums, „dass sich die Finanzlage des Bez.-Verb. Nassau im R[echnungs-]J[ahr] 1940 weiter erfreulich gestaltet hat.“ Einsparungen und Mehreinnahmen – „vor allem im Fürsorgehaushalt“ – hätten es dem Verband ermöglicht, außerplanmäßig 300.000 RM an Schulden zu tilgen, 1,5 Millionen RM zusätzliche Rücklagen zu bilden (die unter anderem für den künftigen Straßenbau reserviert wurden) und schließlich noch einen Überschuss von annähernd 400.000 RM in das folgende Haushaltsjahr zu übertragen.297 Von diesen Mitteln stammten allein „700 000,-- RM aus Mehreinnahmen der 4 Landesheilanstalten“, es handelte sich also um Summen, die bis Ende März 1941 zu einem erheblichen Teil durch Unterbringung der „Zwischenanstalts“patienten hatten erwirtschaftet werden können. Auf der anderen Seite war nach Darstellung des Bezirksverbandes an „dem Minderaufwand des Landesfürsorgeverbandes [...] mit rd. 295 600,-- RM am weitaus stärksten [...] die Fürsorge für Geisteskranke pp.“ beteiligt.298 In aller Offenheit bekannte Kämmerer Schlüter im Behördenschriftverkehr: „Die Massnahmen zur Durchführung der Planwirtschaft auf dem Gebiete der Irrenpflege haben auch in Nassau einen weiteren erheblichen Rückgang der Krankenzahl und damit eine Entlastung der öffentlichen Fürsorge zur Folge gehabt.“299 Das Ministerium akzeptierte die Erläuterungen zunächst einmal, bestand aber selbst angesichts (angeblich) unklarer Verhältnisse hinsichtlich der so genannten „planwirtschaftlichen Massnahmen“ darauf, es könne im folgenden Jahr 1942 nicht länger auf eine Prüfung der Pflegesätze verzichtet werden.300 Doch auch 1942 akzeptierte die Kommunalabteilung die Position des Bezirksverbandes, dass weder eine Senkung der Pflegesätze noch der Bezirksumlage möglich sei.301 In der Argumentation von Finanzdezernent Schlüter musste nun gerade die Ermordung so vieler Menschen als Begründung dafür dienen, dass den Anstalten kein Minus bei ihren Einnahmen zugemutet werden könne: „Die Zahl der 295 BA, R1501/50506, o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17. 2. 41 – 2800, Vfg. zum Schreiben an OP in Kassel, BV Nassau (15.08. 1941, ab: 20.08.1941). – Zur Debatte um die Reduzierung der Pflegesätze siehe Kap. III. 3. b); zur Tarnbezeichnung „planwirtschaftliche Maßnahmen“ siehe Kap IV. 2. a). 296 Ebd. (BA), o. Bl.-Nr., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. B (IVa) 651, gez. LdsR u. Kämmerer Schlüter i. V. d. LH, durch OP, Kassel, an RMdI, betr. „Haushaltssatzung für das Rechnungsjahr 1941. Zum Erlaß vom 15. 8. 41 – V b 17. 2. 1941 – 2800“ (18.09. 1941). – Hervorhebungen im Orig. durch Unterstreichung. 297 Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17. 2. 41 – 2800, Vfg. zum Schreiben an OP in Kassel, BV Nassau (22.10.1941, ab: 27.10. 1941). 298 Ebd., o. Bl.-Nr., „Finanzbericht“ d. BV Nassau (18.09.1941), hier S. 4 (Zitat „700 000,-- RM [...]“), S. 7 (Zitat „dem Minderaufwand [...]“), hier als Anlage zum Schreiben BV Nassau, Az. B (IVa) 651, gez. LdsR u. Kämmerer Schlüter i. V. d. LH, durch OP, Kassel, an RMdI, betr. „Haushaltssatzung für das Rechnungsjahr 1941. Zum Erlaß vom 15. 8. 41 – V b 17. 2. 1941 – 2800“ (18.09.1941), beides weitergereicht mit Anschreiben von OP, Kassel, Az. I D Nr. 357/41, gez. Philipp Prinz von Hessen, an RMdI (07.10.1941). – Hervorhebungen im Orig. durch Unterstreichung. 299 Ebd. („Finanzbericht“ v. 18.09.1941), hier S. 7. 300 BA, R1501/50506, o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17. 2. 41 – 2800, Vfg. zum Schreiben an OP in Kassel, BV Nassau (22.10. 1941, ab: 27.10.1941). 301 Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17 1. 42 – 2800, Vm. (25.06.1942). – Zum Dissens zwischen dem BV Nassau u. der Stadt Ffm über die Pflegesätze im Allgemeinen (u. die Beköstigungssätze im Speziellen) in den Jahren 1942–1944 siehe Kap. V. 2. b). 3. Kooperation während der Gasmorde 485 vom Landesfürsorgeverband Nassau in bezirkseigenen Anstalten untergebrachten Geisteskranken pp. beträgt nur noch rd. 1.200 gegenüber annähernd 3.000 zu Beginn des Rechnungsjahres 1941.“ Schlüter malte das Szenario aus, dass die Landesheilanstalten unter bestimmten Bedingungen infolge „starker Unterbelegung, aber mit allgemein unveränderten Generalunkosten, mit erheblichen Einnahmeausfällen rechnen müssen.“302 Dies freilich konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem „Bez.-Verb. Nassau [...] nach wie vor recht gut“ ging, wie das Innenministerium vermerkte. Auch das Rechnungsjahr 1940/41 konnte mit einem deutlichen Überschuss von 1,2 Millionen RM abgeschlossen werden. Die Rücklagen hatten sich innerhalb zweier Jahre von 5,2 Millionen (März 1940) über 6,7 Millionen (März 1941) auf nunmehr acht Millionen RM (März 1942) erhöht; das Mehraufkommen steckte man zu einem großen Teil in die Straßenbaurücklage, um nach Kriegsende das in diesem Bereich Versäumte nachzuholen. Ganz wie vom Bezirksverband gewünscht akzeptierte das Ministerium auch 1942, dass die „Senkung des Anstaltspflegesatzes [...] noch einmal zurückgestellt worden [ist], weil sich die weitere Entwicklung des Betriebes der Landesheilanstalten im Augenblick noch nicht übersehen lässt.“303 Die unklare Übergangssituation von den in Hadamar beendeten Gasmorden der „T4“ hin zu den Medikamentenmorden304 gab dem Bezirksverband Veranlassung, in haushalterischer Hinsicht alles beim Alten zu lassen und die Sanierung seiner Finanzen weiterhin unvermindert zu betreiben.305 Mit der Veröffentlichung seiner Verwaltungsberichte und mit den dortigen Ausführungen veranschaulichte der Bezirksverband, dass die Krankenmorde innerhalb der Verwaltung allgemein bekannt waren. Für die Zusammenstellung dieser jährlich publizierten Berichte zeichnete die von Landesrat Kranzbühler geleitete Abteilung „Allgemeine Verwaltung“ verantwortlich, wobei jedoch die Texte für die einzelnen, nach Aufgabengebieten gegliederten Kapitel durch die zuständigen Fachabteilungen erstellt wurden.306 Gerade der im Sommer 1941 fertig gestellte Bericht über das Rechnungsjahr 1940/41 weist eine gewisse Unentschiedenheit über den Grad der möglichen Offenheit auf: Passagen, in denen gezielt bestimmte Informationen fehlen und die verschleiernde Aussagen enthalten, stehen neben kaum noch verhüllten Mitteilungen, die jedem auch nur gerüchteweise über die Krankenmorde orientierten Zeitgenossen kundtaten, was tatsächlich in den Anstalten vor sich ging. Die von Landesrat Johlen geleitete Unterabteilung IIa (Landesfürsorgeverband) hatte schon 1940, also vor der Mordaktion, ihre bisherige Praxis aufgegeben, die Unterbringungsanstalten für die auf ihre Kosten betreuten kranken und behinderten Menschen im Verwaltungsbericht aufzuschlüsseln.307 Lässt dies sich vielleicht noch mit Personalmangel erklären, so ist der ein Jahr später zu bemerkende zusätzliche Verzicht auf die Darstellung von Sterberaten in den Anstalten wohl auf Verschleierungsbestrebungen zurückzuführen.308 Trotzdem stellte die Abteilung die Konsequenzen der Mordaktion recht deutlich heraus, freilich ohne die Tötungen als solche zu benennen: „Die Zahl der auf Kosten des Landesfürsorgeverbandes Nassau in den zur Unterbringung benutzten Anstalten der Bezirksverbände Nassau und Hessen sowie der beiden der Weisung des Bezirksverbandes Nassau unterstehenden Privatanstalten in Idstein und Scheuern untergebrachten Personen ist erheblich zurückgegangen. [...] durch eingetretene 302 Ebd. (BA), o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. OP Philipp Prinz von Hessen, Az. B (IVa) 278, an RMdI, betr. „Haushaltssatzung und Voranschlag 1942“ (11.06.1942). – Wie sich dem Az. (IVa) entnehmen lässt, stammt das Schreiben aus der Finanzabteilung Schlüters. – Zu Hintergründen dieser Argumentation, besonders zur weiteren Unterbringung auswärtiger Patient/inn/en in den Anstalten des BV Nassau, siehe auch Kap. V. 1. b). 303 Ebd. (BA), o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17 1. 42 – 2800, Vm. (25.06.1942); siehe auch IfStG Ffm, Mag.-A. 4.053, Bl. 38, Stadtrat Dr. Müller, Ffm, „Niederschrift über die Besprechung mit Landesrat Schlüter am 27. Mai 1942“ (02.06.1942). 304 Zur Übergangssituation siehe Kap. V. 1.; zu den Medikamentenmorden siehe insb. Kap. V. 2. a) u. V. 3. a). 305 Zu weiteren Konflikten um Haushalt (und Pflegesätze) des BV Nassau ab 1942 siehe Kap. V. 2. b). 306 Vgl. dazu z. B. HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12845, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. S/II, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg, betr. „Verwaltungsbericht für 1940“ (16.05.1941). – Bernotat weist darin auf eine Vfg. der von Kranzbühler geleiteten Abt. hin (Az. B (Ia) 1/2/4 vom 06.05.1941), wonach u. a. das Kapitel der Anstaltsverwaltung bis zum 10.06.1941 vorzulegen sei. Damit die Anstaltsabteilung in ihr Kapitel die Mitteilungen der LHAen noch einarbeiten konnte, mussten die Anstalten ihre jeweiligen Beiträge bis zum 05.06.1941 dorthin senden. 307 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940); dto. (01.04.1940–31.03.1941); zur Praxis der Vorjahre vgl. dto. (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 18 f.; dto. (Anfang 1936–31.03.1937), S. 25 f.; dto. (01.04.1937–31.04.1938), S. 25 f.; dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 24. 308 Dto. (01.04.1940–31.03.1941); zur Praxis der Vorjahre siehe dto. (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 35; dto. (Anfang 1936– 31.03.1937), S. 43; dto. (01.04.1937–31.03.1938), S. 39; dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 39; dto. (01.04.1939–01.04.1940), S. 27. 486 IV. Zeit der Gasmorde Sterbefälle ist ein erheblicher Abgang des bisherigen Bestandes an Geisteskranken usw., die auf Kosten des Landesfürsorgeverbandes Nassau in Anstalten untergebracht waren, eingetreten. Jedenfalls waren die Abgänge im abgelaufenen Berichtsjahr höher als die Zugänge. Es ist dadurch eine erhebliche finanzielle Entlastung des Landesfürsorgeverbandes in diesem Fürsorgezweige zu verzeichnen.“309 Auch die Berichte der von Bernotat geleiteten Anstaltsabteilung wurden durch die Folgen der Mordaktion beeinflusst. Zum Rechnungsjahr 1940/41 gab die Abteilung (im Gegensatz zu den Vorjahren) nur noch rudimentäre Durchschnittsbelegungszahlen bekannt.310 Bernotat hatte die Einrichtungen zuvor ausdrücklich aufgefordert, ihre Beiträge zu dem Gesamtbericht „in einfachster gekürzter Form einzureichen. Von der Verwendung des bisherigen Berichtsschemas ist abzusehen. Statistiken und Übersichten sind nach Möglichkeit fortzulassen.“311 In diesem Fall war nun keinesfalls die Notwendigkeit der Arbeitsersparnis ausschlaggebend, sondern die Absicht der Vertuschung. Als nämlich die Anstalt Eichberg dennoch den (bereits fertig gestellten) ausführlichen statistischen Bericht in der seit Jahren üblichen Form schickte, sandte Bernotat diesen postwendend zurück: „Unter Berücksichtigung der in der heutigen Kriegszeit gebotenen Einschränkung soll in dem geforderten Verwaltungsbericht nur das unbedingt Notwendige aufgenommen werden. Erbeten wird ein kurzer Bericht von etwa 2 Schreibmaschinenseiten, der Entwickelung [!], wirtschaftliche Gestaltung u. Krankenbewegungen in knappen Worten aufzeichnet. Er soll, wie gesagt, nur das Allerwesentlichste enthalten u. nicht wie bisher an eine bestimmte Form gebunden sein. Ich bitte, den nach dem vorjährigen Schema gefertigten Bericht entsprechend zu ändern.“312 Die Anstalt Eichberg legte daraufhin einen neuen Entwurf vor, der schließlich Eingang in den gedruckten Verwaltungsbericht des Bezirksverbandes fand. Ebenso wie der erste Entwurf enthielt allerdings auch der zweite den Hinweis darauf, dass die Belegungszahl des Landesheilanstalt Eichberg sich vom Anfang bis zum Ende des Rechnungsjahres 1940/41 beinahe halbiert hatte. Die Hintergründe für diese drastische Reduzierung deutete der lapidare Satz an: „Die Abgangszahlen erhöhten sich infolge der Verlegung von Kranken in andere Anstalten auf höhere Anordnung.“313 Ähnliches galt auch für die Anstalt Herborn, über die dem Verwaltungsbericht des Bezirksverbandes schließlich zu entnehmen war: „Der Krankenbestand betrug am 1. April 1940 [...] 1 665 Personen, stieg zeitweise auf über 1 700 Personen und verringerte sich bis zum 31. März 1941 im wesentlichen durch Verlegungen in andere Anstalten auf [...] 853 Personen.“314 Die Landesheilanstalt Weilmünster schließlich ließ verlauten: „Eine starke Krankenbewegung trat im Kalenderjahr 1941 infolge der Kriegsmaßnahmen des Herrn Reichsverteidigungskommissars ein. In der Zeit vom 1. Januar 1941 bis 31. März 1941 fanden 994 Abgänge und 647 Zugänge statt.“315 Der veröffentlichte Gesamtbericht aus Bernotats Anstaltsabteilung konnte den Stolz über die Leistungen bei der verwaltungsmäßigen Begleitung und Koordination der NS-„Euthanasie“ nicht verleugnen: „Bei der Anstaltsverwaltung kommt im abgelaufenen Geschäftsjahr eine straffe Ausrichtung auf die Kriegserfordernisse zum Ausdruck. [...] Trotz größter Belegung der Landesheilanstalten – die Zahl der Geisteskranken hat sich durch Ueberweisung von anderen Anstalten annähernd verdoppelt – und großer Personalausfälle sind die Aufgaben mustergültig gemeistert worden. Hier ist der elastische Aufgaben- und Arbeitseinsatz, eine Art Wendigkeit im guten Sinne, das Hilfsmittel gewesen. Daß der Paragraph zuweilen etwas unter pari stand, hat sich dabei nirgends als hemmend erwiesen. Jedenfalls 309 Dto. (01.04.1940–31.03.1941), S. 15. Ebd., S. 21 f. (es fehlen Zahlen für Herborn u. Hadamar); zur Praxis in den Vorjahren siehe dto. (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 36; dto. (Anfang 1936–31.03.1937), S. 44; dto. (01.04.1937–31.03.1938), S. 39; dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 39; dto. (01.04.1939–31.03.1940), S. 27. 311 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12845, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. S/II, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg, betr. „Verwaltungsbericht für 1940“ (16.05.1941). 312 Ebd., o. Bl.-Nr., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. i. V. Dr. Schmidt, an BV Nassau, betr. „Verwaltungsbericht“ (21.05.1941), mit dem Jahresbericht als Anlage, urschr. zurückgesandt, Az. A (S II) 1102/8, gez. i. A. Bernotat (27.05.1941). – Die LHA Eichberg hatte den Bericht erstmals bereits mit Schreiben v. 21.04.1941 an den BV Nassau gesandt und schickte nun (21.05.1941) eine Zweitschrift. 313 Ebd., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. i. A. W., an BV Nassau, betr. „Verwaltungsbericht“ (21.06.1941), Durchschr. – Angegeben sind die Belegungszahlen von 1.428 (01.04.1940) u. 762 (31.03.1941) (dabei sind die „Zwischenanstaltspatienten“ nicht mitgerechnet); dieselben Daten u. das Zitat auch in BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 21. 314 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 22. 315 Ebd. 310 3. Kooperation während der Gasmorde 487 ist trotz aller Personalschwierigkeiten nirgends ein Stillstand oder auch nur ein Abbau der Arbeit festzustellen gewesen, im Gegenteil: trotz des Uebermaßes an Arbeiten wurde durch Bereitstellung von Gebäuden und Einrichtungen die Planung des gesamten Anstaltswesens unterstützt und zum wesentlichen Inhalt der Arbeit gemacht.“316 Für die Anstalt Hadamar berichtete man darüber hinaus, die Einrichtung sei „[s]eit dem 1. November 1940 [...] an die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege verpachtet.“317 Gerade diese Passagen machen das Dilemma deutlich, in dem sich die beteiligten Abteilungen des Bezirksverbandes sahen: einerseits hätten sie ihre Organisationsleistungen bei den Krankentötungen und ihre sonstigen Beiträge dazu gerne publik gemacht, ja man war sogar bereit zu konzedieren, dass man sich mit den ergriffenen Maßnahmen außerhalb der Rechtsvorschriften bewegte (dass „der Paragraph zuweilen etwas unter pari stand“), andererseits gebot die Geheimhaltung, dass die ganze Wahrheit nicht dargestellt werden konnte. Dennoch mussten die Ausführungen denen, die bereits auf anderem Wege von der Hadamarer Mordaktion gehört hatten, nun als volle Bestätigung der umlaufenden Gerüchte gelten. Das Dilemma zwischen Verkünden und Verheimlichen löste sich schließlich vom Rechnungsjahr 1941/42 an dadurch auf, dass der Bezirksverband die Publikation seines Verwaltungsberichtes gänzlich einstellte, offiziell „aus Gründen der Papier- und Arbeitsersparnis“. Von nun an nahm man die „Berichte in gekürzter Form“ nur noch zu den Akten, um weiterhin „einen urkundlichen Nachweis über die Tätigkeit der Gesamtverwaltung des Bezirksverbandes Nassau zu erhalten“.318 Selbst die Aktenabgabe an das Staatsarchiv – als potenzielle Geheimhaltungslücke – wurde 1942 ins Visier genommen und in Bernotats „politischer Abteilung“ S/I monopolisiert. Während bislang die „Geschäftsabteilungen unmittelbar mit dem Staatsarchiv Wiesbaden verkehrt und ihre Akten selbständig an dasselbe abgegeben“ hatten, blieb diese Aufgabe nun – wie es hieß – im „Interesse einer einheitlichen Handhabung der Aktenabgabe und einer zentralen Kontrolle“ Bernotat vorbehalten.319 Dies betraf zwar in erster Linie ältere Akten und wohl noch nicht die Unterlagen aus der Zeit der Mordaktion, doch man wird darin eine Vorkehrung sehen können, die die Geheimhaltung stärken sollte. In beiden Fällen, sowohl beim Verzicht auf den gedruckten Verwaltungsbericht als auch bei der Aktenabgabe, lässt sich der Zusammenhang mit der Krankenmordaktion und den damit einhergehenden Verschleierungsbemühungen zwar nur vermuten. Gleichwohl hatten die Verheimlichungsmaßnahmen, insbesondere das Ausbleiben der Verwaltungsberichte, zur Konsequenz, dass die tief greifenden Änderungen infolge der „T4“Gasmorde sich für die Öffentlichkeit nicht anhand konkreter Daten nachvollziehen ließen. Deren Veröffentlichung nämlich hätte sichtbar gemacht, dass im Jahr 1940 noch über 5.000 Menschen in den Landesheilanstalten des Bezirksverbandes untergebracht waren, während die Zahl zwei Jahre später deutlich unter 3.000 gesunken war.320 Wenn auch derart konkrete Zahlen nun nicht (mehr) an die Öffentlichkeit weitergegeben wurden, so hatte sich dennoch die Kenntnis über die Morde in Hadamar längst bis in weiteste Bevölkerungsschichten ausgebreitet.321 * Die Funktionsweise der „T4“-Mordanstalt Hadamar unterschied sich nicht von der der übrigen fünf Gasmordanstalten. An den Gasmorden 1941 war der Bezirksverband vor Ort, also in Hadamar selbst 316 Ebd., S. 21. Ebd. HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12845, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S II) 1102/8, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg, betr. „Verwaltungsbericht 1941“ (10.07.1942) (der Verzicht auf die Drucklegung basierte auf einer Vfg. der Abt. Ia vom 13.05.1942). – Dem entspricht, dass im damaligen Bestand der Nassauischen Landesbibliothek in Wiesbaden (heute in der Bibliothek d. HStA Wi, Sign. XXXI 759) die Überlieferung mit dem Bericht über das Rechnungsjahr 1940/41 endet und dass sich jüngere Exemplare aus der NS-Zeit bislang nirgends auffinden ließen. 319 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12838, o. Bl.-Nr., Rund-Vfg. d. BV Nassau, Az. Ia/10/3 H., gez. Kranzbühler i. V. d. LH, betr. „Aussonderung von entbehrlichem Aktengut“ (19.08.1942), hier das Exemplar d. LHA Eichberg. 320 Stöffler, Krankenhäuser (1957), S. 60, Schaubild Nr. 13 („Belegung der kommunalen psychiatrischen Krankenhäuser im Reg.-Bezirk Wiesbaden [1912–1957]“). – Die (vermutlich jeweils auf den Stichtag 31. März bezogenen) Belegungszahlen betrugen danach 4.355 (1939), 5.038 (1940), 2.935 (1941), 2.846 (1942); siehe Tab. 8. 321 Siehe dazu Kap. IV. 3. c). 317 318 488 IV. Zeit der Gasmorde (über die Vorbereitungen und die Personalabordnung hinaus) nicht beteiligt. Seine besondere Rolle erwies sich aber dadurch, dass mehr als ein Viertel – annähernd 2.800 der mehr als 10.000 zwischen Januar und August 1941 in Hadamar ermordeten Menschen – aus dem Zuständigkeitsgebiet des Bezirksverbandes Nassau kam; erst die Überbelegungspolitik der Vorjahre hatte dies möglich gemacht. Die Wiesbadener Zentralverwaltung allerdings war während der Gasmordaktion umfassend mit dieser befasst, indem etwa Bernotat und sein Anstaltsdezernat als permanente Kontaktstelle für „T4“ fungierten und u. a. die Verteilung der auswärtiger Patienten auf die „Zwischenanstalten“ organisierten. Die übrigen Abteilungsleiter – nicht zuletzt der Kämmerer – waren bestrebt, für den Bezirksverband einen Nutzen aus der Mordaktion zu ziehen. Der Verband bemühte sich, gegenüber der Öffentlichkeit seine eigene Bedeutung herauszustellen, ohne die Maßgaben der Geheimhaltung zu konterkarieren. c) Konfrontation mit Angehörigen und Öffentlichkeit Während der „T4“-Gasmorde in Hadamar übernahm der Bezirksverband Nassau in vielen Fällen eine Mittlerposition und damit auch eine Pufferfunktion zwischen den Angehörigen der verlegten und ermordeten Menschen einerseits und „T4“ andererseits. Sowohl durch seine „Zwischenanstalten“ als auch durch die Zentralverwaltung in Wiesbaden versuchte der Verband so, der größten Schwachstelle im Geheimhaltungssystem von „T4“ – dem Wissen der Familien – durch verwaltungstechnische und andere Maßnahmen ihre Brisanz zu nehmen. Wenn auch die Geheimhaltung im Endeffekt 1941 komplett scheiterte und zur vorübergehenden Einstellung der Morde in Hadamar führte, so waren die Bemühungen des Bezirksverbandes zur Fernhaltung und Irreführung der Angehörigen doch bis dahin vielfältig und wurden flexibel angewandt. Ein erstes Mittel hierzu war im Januar 1941 die Verhängung einer Besuchssperre für sämtliche Anstalten des Verbandes und für die von Bernotat geführten Privatanstalten, die alle zugleich nun als „Zwischenanstalten“322 für „T4“ bereit gemacht wurden. Neun Tage nachdem die ersten Krankenverlegungen von den „Zwischenanstalten“ nach Hadamar stattgefunden hatten, ordnete Anstaltsdezernent Bernotat – anscheinend im Benehmen mit dem Reichsinnenministerium323 – aus „Gründen der Reichsverteidigung [...] während der Dauer des Krieges die Aufhebung der Besuchstage in den Anstalten an.“ Lediglich noch in „besonders dringenden Fällen“ durfte „nach vorheriger schriftlicher Vereinbarung eine Einzelausnahme durch die Anstaltsleitung zugelassen werden.“324 Der Kalmenhof übermittelte den Angehörigen diese „durch höhere Verfügung“ verhängte Besuchssperre mit der Begründung, es müsse „die Reichsbahn unter allen Umständen entlastet bleiben [...]. Räder müssen rollen für den Sieg!“ Man appellierte an die Familien, den Kalmenhof „mit unerfüllbaren Anträgen zu verschonen“; schließlich sei es „[e]rste Pflicht für jeden Volksgenossen [...], das Seine zum endgültigen Sieg beizutragen! Für dieses Ziel“, so hieß es in dem Formbrief an die Angehörigen, „müssen eben Opfer gebracht werden!“325 In Wirklichkeit bezweckte die Besuchssperre nicht die Entlastung des Bahnverkehrs, sondern die Sicherstellung eines störungsfreien Ablaufs der so genannten „Transporte“ für „T4“. Wohl um Nutzen und Schaden der Beschränkung abwägen zu können, forderte das Reichsinnenministerium im Monat nach Beginn der Hadamarer Morde bei Bernotat einen Bericht „über die seither mit der Besuchssperre gemachten Erfahrungen“ an.326 Die Erkenntnisse schienen einer Fortführung nicht im Wege zu stehen. Zwangsläufig fügten die Familienmitglieder sich meist in die neuen Vorschriften, wenn 322 Zu Funktion u. Tätigkeit der „Zwischenanstalten“ 1941 siehe Kap. IV. 3. a). Vgl. HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12618, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S/II), gez. i. A. LdsR Bernotat, an LOI W., LHA Eichberg, betr. „Besuchssperre“ (18.02.1941). 324 AHS, Der Vorsitzende der HEPA Scheuern, LdsR Bernotat, an HEPA Scheuern (22.01.1941). – Wie die weitere Handhabung zeigt, trifft diese Anordnung auch auf die LHAen des BV Nassau zu. 325 Formbrief d. HEA Kalmenhof, Idstein, an Angehörige, gez. i. V. Großmann, zit. n. d. Faks. b. Orth, Transportkinder (1989), S. 44, bzw. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 73. 326 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12618, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S/II), gez. i. A. LdsR Bernotat, an LOI W., LHA Eichberg, betr. „Besuchssperre“ (18.02.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den der Personenname u. die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist). 323 3. Kooperation während der Gasmorde 489 die Maßnahme doch auch von den Angehörigen, wie ein Eichberger Arzt im Februar 1941 berichtete, „vielfach beklagt“ wurde.327 Dennoch erreichte die Vorschrift offenbar zunächst ihr Ziel, denn nur wenige Patientinnen und Patienten erhielten – wie etwa für die Landesheilanstalt Weilmünster festgestellt – nun noch Angehörigenbesuch.328 Schon nach kurzem aber wurde unübersehbar, dass die Anordnung, die „die Besuche der Angehörigen in den Anstalten verbietet, [...] Misstrauen in der Bevölkerung erregt habe.“329 „T4“ hatte zunächst kein einheitliches Konzept entwickelt, wann und durch welche Behörde im Rahmen der Mordaktion die Angehörigen über Verlegung und/oder Tod ihres Familienmitgliedes informiert werden sollten. Anfangs übte man die Praxis, eine Verlegung überhaupt nicht mitzuteilen und die Angehörigen erst durch ein Schreiben aus der „T4“-Anstalt, also nach der Ermordung, zu informieren, das beispielsweise mit folgenden Worten beginnen konnte: „Wie Ihnen sicherlich bereits bekannt ist, wurde Ihre Schwester [...] vor kurzem aus verwaltungstechnischen Gründen in unsere Anstalt überführt.“330 An diesen Satz schloss sich dann die Mitteilung über den plötzlichen Tod an. Derartige böse Überraschungen hatten sich angesichts der damit häufig verbundenen Schockwirkung aus „T4“-Sicht als negativ erwiesen. Deshalb führte man spätestens mit Einrichtung des Systems der „Zwischenanstalten“ ein dreistufiges Informationsschema ein. Dieses sah zumeist eine erste Information der Angehörigen über die Verlegung von der ursprünglichen Unterbringungsanstalt in die „Zwischenanstalt“ vor, die zweite Information betraf die Wegverlegung aus der „Zwischenanstalt“ einige Wochen später, und die dritte Information bestand in der Todesfallmeldung aus der „T4“-Anstalt. Die erste Information über die Verlegung in die „Zwischenanstalt“ geschah – so ist es für das „Einzugsgebiet“ der Gasmordanstalt Hadamar 1941 dokumentiert – nicht durch die ursprüngliche Anstalt,331 sondern erst durch die „Zwischenanstalt“ selbst. Diese Beauftragung der „Zwischenanstalten“ bedeutete, dass „T4“ die Federführung für diese wichtige erste Benachrichtigung der Angehörigen den regionalen Kooperationspartnern, so auch dem Bezirksverband Nassau, überließ. Darüber hinaus übernahmen die „Zwischenanstalten“ auch die zweite Benachrichtigung über die Weiterverlegung aus der Anstalt einige Wochen später. Der Weilmünsterer Anstaltsdirektor Dr. Schneider bestätigte, „dass die Anstalt Weilmünster formularmässig angehalten war, den Angehörigen eines aus der Anstalt Weilmünster abtransportierten Kranken Nachricht zu geben.“332 Zusammengenommen bedeutete der Auftrag für die fünf „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden, die dem Anstaltsdezernenten Bernotat unterstanden, dass zwischen Januar und August 1941 in der Summe über 12.000 Benachrichtigungsschreiben an die Familienangehörigen zu schreiben und zu versenden waren.333 327 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 197), Dr. Bernhard R., Eichberg, an Dr. Friedrich Mennecke (14.02.1941), Abdr. teilweise auch b. Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 331 (Dok. 191). 328 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 217–219, Zeugenaussage Jakob J. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03. 1947), hier Bl. 217. – Lediglich noch über einzelne Besuche im Jahr 1941 wurde berichtet: ebd., Bl. 215–217, Zeugenaussage Georg Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 216 (Weilmünster); BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 130 f., Abschriften von 3 Schreiben von Prof. Dr. L., Mainz, an AG Wiesbaden, betr. „Pflegschaft Maria E[...], geb. L[...]. 4b VII 15609“ (Daten der Originalschreiben: 05./13./17.02.1941, Abschrift o. D. [1941]) (der dort erwähnte Besuch in der LHA Eichberg fand allerdings am 19.01.1941 u. damit vor Einführung der Besuchssperre statt). 329 Dies wurde als Information der Univ.-Klinik Ffm im Jan. 1942 über den RP Wiesbaden an das RMdI gemeldet: NARA, T-1021, Roll 12, Frame 612–619, [„T4“,] Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, „Zusammenfassender Bericht über das Ergebnis der Berichte der Oberpräsidenten, Landesregierungen usw. zum Rundschreiben des Reichs-Innenministeriums vom 6. I. 42 – IV g 8410/41 – 5114.“ (Bericht: 11.07.1942), hier zit. n. der Kopie in BA, R96 I/2, Bl. 128145–126152, hier Bl. 128147, als Kopie auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1807) [im Folgenden zit.: „‚T4‘-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942)“]. 330 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 295, [„T4“,] „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. H.“, an Monika T., Freistadt (10.06.1940), Fotokopie. 331 Für die Prov. Hannover: Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 78, mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, PV Hannover, gez. Andreae, an Anstalt Wunstorf (28.03.1941). – Für das Land Hessen: StA Da, Abt. H 13 Darmstadt, Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 4, Zeugenaussage Peter M. ggü. d. StAnw Ffm in Goddelau (11.08. 1948) (Verlegungsinformation nur bei konkreten Anfragen). 332 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 24 f., Aussage Dr. Ernst Schneider ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), Abschr, hier Bl. 25. 333 Die Zahl (12.297) ergibt sich rechnerisch aus der Summe der ca. 4.761 auswärtigen (nicht „nassauischen“) „Zwischenanstalts“patient/inn/en in „nassauischen“ Anstalten (erste Verlegungsmitteilung) und der ca. 7.536 insgesamt aus „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ nach Hadamar verlegten Menschen (zweite Verlegungsmitteilung). – Zur Zahlenangabe von 7.536 siehe 490 IV. Zeit der Gasmorde Um diese Verwaltungsarbeit der Anstalten zu rationalisieren, ließ der Bezirksverband in seiner Hausdruckerei, die der Beschaffungsstelle in Bernotats Dezernat angegliedert war,334 die Mitteilungsschreiben als Formbriefe herstellen. Derartige Sammelaufträge waren zu anderen Betreffen bereits seit einigen Jahren im Bezirksverband üblich geworden und wurden von diesem 1938 in seine Rationalisierungsund Sparbestrebungen eingeordnet: „Durch gemeinsame Herstellung und Vereinheitlichung von Vordrucken, insbesondere für die Bezirksanstalten, konnten nicht unerhebliche Ersparnisse erzielt werden.“335 Nun, 1941, erstellte die Druckerei die Formbriefe an die Angehörigen, anscheinend in zehn verschiedenen Varianten: Von jeder der beiden genannten Versionen der Verlegungsmitteilung (in die/ aus der „Zwischenanstalt“) scheint es fünf Fassungen, nämlich jeweils mit den unterschiedlichen Briefköpfen der fünf Anstalten, gegeben zu haben; die Anstalten konnten dann im Bedarfsfall Nachschub bei Bernotat bestellen.336 Aufgrund der Formularform brauchten die Anstalten nur noch die jeweiligen Namen und Daten auszufüllen. Bei der Aufnahme in die „Zwischenanstalt“ teilte man den Angehörigen mit relativ kurzen Worten mit: „D... Kranke ............. geboren am ...... in .......... ist am ........... unserer Anstalt zugeführt worden. Die Verlegung erfolgte auf Grund einer Anordnung des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars. Der Anstaltsdirektor.“337 Teilweise waren auf den DIN-A5-großen Schreiben noch maschinenschriftlich oder per Stempel die Worte „Besuch ist auf weiteres gesperrt“ eingefügt.338 Bei der Weiterverlegung war die Darstellung umfangreicher und das Blatt doppelt so groß (DIN A4), wie beispielsweise in diesem von den Anstalt Weilmünster verwandten Formular: „Auf Grund eines Erlasses des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars wurde ................. am ......... durch die Gemeinnützige Kranken-Transport-G. m. b. H., Berlin W 9, Potsdamer Platz 1, in eine andere Anstalt verlegt, deren Name und Anschrift mir nicht bekannt ist. Die aufnehmende Anstalt wird Ihnen eine entsprechende Mitteilung zugehen lassen. Ich bitte Sie, bis zum Eingang dieser Mitteilung von weiteren Anfragen abzusehen. Sollen sie jedoch innerhalb 14 Tagen von der aufnehmenden Anstalt keine Mitteilung erhalten haben, so empfehle ich Ihnen, sich bei der Gemeinnützigen Kranken-TransportG. m. b. H. unter Angabe der genauen Personalien und des Tages der Verlegung aus Weilmünster zu erkundigen. Den etwaigen sonstigen Angehörigen des Kranken bitte ich, erforderlichenfalls hiervon Mitteilung zu geben. Heil Hitler! Der Anstaltsdirektor“339 Formulierungsdetails dieser Benachrichtigungsschreiben blieben wohl den jeweiligen regionalen Stellen, welche „Zwischenanstalten“ unterhielten (etwa den Provinzial- und Bezirksverbänden), überlassen; so wich beispielsweise der Text des Provinzialverbandes Brandenburg von dem des Bezirksverbandes Nassau in Nuancen ab. Die Hauptbestandteile jedoch waren 1941 in der jeweils zweiten Verlegungsmitteilung überregional einheitlich, größtenteils wortgleich, und somit offenbar von „T4“ die Daten in Kap. IV. 3. a). – Die Zahl 4.761 ist die Differenz zwischen eben dieser Gesamtzahl (ca. 7.536) und der Zahl für die ursprünglich in „nassauischen“ Anstalten untergebrachten Hadamarer Opfer des Jahres 1941 (ca. 2.775); zu dieser Zahl von ca. 2.775 siehe die Daten in Kap. IV. 3. b). 334 Die Druckerei zählte zu Bernotats Abt. S/III: siehe Kap. III. 3. a). 335 BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1937–31.03.1938), S. 74. 336 Zu einzelnen überlieferten Originalexemplaren siehe die folgenden Anmerkungen. – Zur Bestellung von Vordrucken beim BV Nassau siehe z. B. AHS, Dir. d. HEPA Scheuern an den Vorsitzenden, LdsR Bernotat, Wiesbaden (18.07.1941), Durchschr. (es wird darum gebeten, „dass uns von den mitfolgenden Formblättern eine Anzahl – vielleicht 1 000 Stück von jeder Sorte – beschleunigt zugesandt werden“). 337 AHS, Vordruck (nur teilweise ausgefüllt mit Datum 24.06.1941), hier als Rückseite eines anderen Dokuments (dieses vom 10.07.1941); siehe auch Zentralarchiv d. Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, 03/47, S. 30, HEPA Scheuern an Franz O., Mainz (30.04.1941), zit. b. Hofmann, Dokumentation (1974–1993), hier Bd. 8,1 (Bd. 43, 1992), S. 142; HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 4, LHA Weilmünster an Alexander B., Ffm (24.02.1941) (dort z. B. Hinweis auf Besuchssperre); wortgleich auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, zu Bl. 566, LHA Eichberg, gez. Mennecke, an Juliane L., Lampertheim (22.04.1941); siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 136. 338 Z. B. in der Mitteilung d. LHA Weilmünster (siehe vorausgehende Anm.). 339 Zwei Schreiben d. LHA Weilmünster, gez. Dr. Schneider, an den Vater von Hans Frank (30.07.1941) bzw. an dessen Mutter (07.08.1941), hier zit. n. d. Faks. b. Frank, Bruder (1994), S. 15 bzw. S. 20; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 136. – In der Substanz wortgleiche Formulare sind auch überliefert für die LHA Eichberg u. die HEA Kalmenhof/Idstein: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, zu Bl. 566, LHA Eichberg, gez. i. V. Dr. Schmidt, an Juliane L., Lampertheim (20.05.1941); ebd., Bd. 6, o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 887), HEA Kalmenhof, ausgefülltes Formular zu Heinz S. (angegebenes Verlegungsdatum 29.04.1941), siehe auch das b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 75, abgedruckte Formular. 3. Kooperation während der Gasmorde 491 zentral vorgegeben: nämlich die Adresse der „Gekrat“, die Verlegung in eine angeblich „unbekannte“ Anstalt, die 14-tägige Benachrichtigungsfrist und die Empfehlung, im Falle der Nichtbenachrichtigung eine Erkundigung bei der „Gekrat“ einzuholen.340 Zu einer solchen Anfrage sollte es jedoch in den allermeisten Fällen gar nicht mehr kommen, da die Mordanstalt Hadamar noch innerhalb der zweiwöchigen Wartezeit den Angehörigen den Tod durch Übersendung von zwei Sterbeurkunden und einem – von den „T4“-Mitarbeitern selbst so genannten – „Trostbrief“ mitteilten; dies war in der Regel die dritte Mitteilung an die Angehörigen. Anstatt des wirklichen Todestages wurden dabei erfundene Daten genannt, die im Allgemeinen zwischen zehn und 14 Tagen nach dem Tag des Mordes lagen.341 Dies gab „T4“ die Möglichkeit, für die Spanne zwischen tatsächlichem und angeblichem Todesdatum Millionenbeträge unrechtmäßig von den Kostenträgern zu kassieren und damit die Ausgaben für die Mordaktion zu refinanzieren.342 Sogar den „Selbstzahlern“ (wenn also der erkrankte Mensch oder dessen Angehörige die Kosten der Anstaltsunterbringung selbst trugen) wurden durch „T4“ sowohl die Pflegekosten für den „Aufenthalt in Hadamar“ als auch die so genannten „Nebenkosten“ (das waren die angeblichen Kosten der Einäscherung) in Rechnung gestellt.343 Die gewählte Zeitspanne von meist knapp zwei Wochen schien aus „T4“-Sicht einen Kompromiss darzustellen zwischen dem Bestreben, möglichst lange noch die Pflegekosten für den ermordeten Menschen kassieren zu können, und dem Anliegen, nicht durch übermäßiges Hinauszögern den Verdacht der Angehörigen zu erregen. Die Todesmitteilung aus Hadamar war nicht wie die vorausgegangenen Verlegungsmitteilungen ein ausgefülltes Formular, sondern eine maschinenschriftliche Ausfertigung, die eine DIN-A4-Seite füllte und den Eindruck eines individuell verfassten Schreibens erwecken konnte. Tatsächlich waren die „Trostbriefe“ inhaltlich jedoch eine Aneinanderreihung von Textbausteinen, die sich mit relativ geringen Änderungen von Brief zu Brief stets wiederholten. „Die Trostbriefe wurden nach einem bestimmten Schema geschrieben; die Arbeit war ziemlich stur“,344 wie eine der Hadamarer Schreibkräfte zusammenfasste. Man teilte zunächst den Todesfall mit, äußerte Bedauern, warb aber dafür, den Tod als eine Erlösung aufzufassen. Dann ging man zu den Formalitäten über und thematisierte die bereits stattgefundene Einäscherung, die mögliche Urnenübersendung und die Regelung des Nachlas340 Vgl. den Wortlaut der weitgehend einheitlichen Schreiben aus den „Zwischenanstalten“ im PV Brandenburg: Stiftung Archiv Parteien und Massenorganisationen, V/227/1/19, Dir. d. Anstalt Teupitz an Angehörige [1940/41], hier n. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 85. 341 Da die angeblichen Todesdaten sich bislang meist nur aus den Sterbeurkunden und „Trostbriefen“ an die Angehörigen (oder ggf. aus Unterlagen bei den Heimatstandesämtern) ermitteln lassen, liegen hierzu nur relativ wenige Daten vor. Für Menschen, die 1941 in Hadamar ermordet wurden, lassen sich folgende Spannen zwischen der Verlegung in die Mordanstalt Hadamar (= im Allgemeinen tatsächliches Morddatum) und dem angeblichen Sterbedatum ermitteln: 8 Tage bei Johann D. (am 27.01.1941 verlegt von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 04.02.1941), 10 Tage bei Karl L. (am 16.06. 1941 verlegt von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 26.06.1941), 11 Tage bei Ernst U. (am 13.03.1941 verlegt von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 24.03.1941), 12 Tage bei Erich Sch. (am 16.02.1941 verlegt von Herborn nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 28.02.1941, angebl. Sterbeort Hartheim), 12 Tage bei Karoline F. (am 08.05.1941 verlegt nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 20.05.1941), 12 Tage bei Ilse K. (am 01.07.1941 verlegt von Scheuern nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 13.07.1941, angebl. Sterbeort Bernburg), 14 Tage bei Minna Sch. (am 20.06.1941 verlegt von Herborn nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 03.07.1941), 14 Tage bei Lina W. (am 24.03.1941 verlegt von Herbon nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 07.04.1941, angebl. Sterbeort Hartheim), sogar 18 Tage bei Willi E. (am 03.04.1941 verlegt von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 21.04.1941) u. 19 Tage bei Inge G. (verlegt von Scheuern nach Hadamar am 01.04.1941, angebl. Sterbedatum 20.04.1941), möglicherweise sind diese beiden Verzögerungen bedingt durch den bis 20.04.1941 dauernden Osterurlaub – siehe dazu Kap. IV. 3. b). – Quellen: LWV, Best. 19/14, HKV d. LHA Weilmünster (Eintragungen 1941); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1050 f., Ludwig G., Ffm-Griesheim [an den vors. Richter im Hadamar-Prozess Ffm] (28.02.1947); ebd., Bd. 17 (Verlegungsliste Herborn); Hadamar (1991), S. 108 (Kat. Nr. 84); Lilienthal, Opfer (2001), S. 289; priv. Unterlagen (der Gedenkstätte Hadamar/dem LWV Hessen von Angehörigen überlassen). 342 Ginge man allein von einer 10-tägigen Frist und einem Pflegesatz von RM 2,50 aus, so errechnete sich bei ca. 70.000 Toten der Jahre 1940 und 1941 ein Gewinn 1,75 Mio. RM, hinzuzurechnen wären die vereinnahmten „Nebenkosten“ von 30 RM pro Totem (für die angebl. Einäscherung), also 2,1 Mio RM, was sich zu einer Gesamteinnahme von RM 3,85 Mio RM addiert. – In den Aussagen und Darstellungen zu dieser Frage sind häufig sogar noch weitaus größere Summen angeführt, die jedoch zum Teil den Zeitraum bis 1945 mit abdecken: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Aussage Robert Lorent als Angeschuldigter b. d. LG Ffm (18.–29.10.1965), Kopie, hier S. 15 (19.10.1965), S. 39 (26.10.1965); Aly, Fortschritt (1985), S. 26 f., u. a. mit Hinweis auf Aussagen H. J. Becker (15.02.1963 u. 12.05.1966); Friedlander, Weg (1997), S. 135. 343 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1050 f., Ludwig G., Ffm-Griesheim [an den vors. Richter im Hadamar-Prozess Ffm] (28.02.1947). 344 Ebd., Bd. 7, Bl. 134, Aussage d. Angeklagten Paula S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947). 492 IV. Zeit der Gasmorde ses.345 Durch diese „Trostbriefe“ rundete „T4“ das Täuschungssystem ab, an dem sich auch die Einrichtungen des Bezirksverbandes als „Zwischenanstalten“ durch ihre Schreiben über die ersten beiden Verlegungen beteiligt hatten.346 Die Zuständigkeit der „Zwischenanstalten“ kam jedoch dann noch einmal zum Tragen, wenn Patientinnen oder Patienten bereits während ihres dortigen Aufenthalts, also vor der geplanten Verlegung nach Hadamar, verstarben. Dies traf angesichts der Situation in einigen „Zwischenanstalten“ nicht selten zu.347 Offenbar war dieser Fall in den Szenarien von „T4“ nicht vorbedacht worden, sodass sich bei einigen Beteiligten hier Klärungsbedarf ergab. So versicherte sich der Anstaltsreferent des Bezirksverbandes Hessen in Kassel bei den „Zwischenanstalten“ im Bezirk Wiesbaden, „daß im Falle des Ablebens eines Kranken in der dortigen Anstalt, ebenso wie bei der Landesheilanstalt Hadamar, die Benachrichtigung der Angehörigen alsbald durch die dortige Anstalt erfolgt.“ Um den Anschein von Normalität bemüht, bemerkte die Leitung der Anstalt Eichberg daraufhin zwar intern: „War noch nie anders!“348, doch indem Bernotat den Fall noch im August 1941, kurz vor Unterbrechung der Mordaktion, einer grundsätzlichen Regelung für Wert hielt, dokumentierte er die Unsicherheiten, die es in dieser Frage gegeben haben muss.349 Eine wichtige Funktion bei der Täuschung der Angehörigen hatte die Erwähnung „des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars“ als des angeblichen Urhebers sämtlicher Verlegungen in der überwiegenden Zahl der Verlegungsmitteilungen.350 Allein für das „Einzugsgebiet“351 der Hadamarer Mordanstalt des Jahres 1941 betraf diese Nennung insgesamt sechs Gauleiter,352 die ihr Zusatzamt als Reichsverteidigungskommissar mit Kriegsbeginn übernommen hatten, darunter auch die Gauleiter Sprenger,353 Murr354 und Jordan,355 in deren NS-Gauen sich 1940/41 jeweils eine „T4“-Gasmordanstalt befand.356 Generell war jenen 16 Gauleitern, die ab September 1939 das Amt eines Reichsverteidigungskommissars ausübten,357 „die vollziehende Gewalt in den Wehrkreisen“358 übertragen worden. 345 Siehe z. B. das in Privatbesitz der Familie befindliche Schreiben von [„T4“,] „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar“, an Mathilde U., Duisburg-Hamborn (25.03.1941), hier n. d. Faks. in Hadamar (1991), S. 108 (Kat. Nr. 84); siehe auch Winter, Geschichte (1991), S. 97; Friedlander, Weg (1997), S. 178–184. – Zur „Trostbriefabteilung“ der „T4“-Anstalt Hadamar siehe auch Kap. IV. 3. b). 346 Zur Täuschung der Angehörigen durch die Anstalten im Bezirk Wiesbaden siehe auch die Beispiele bei Friedlander, Weg (1997), S. 290–296. 347 Zur Funktion der „Zwischenanstalten“ siehe Kap. IV. 3. a). 348 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12505, o. Bl.-Nr., BV Hessen, Az. A (IB) 13/14, gez. i. A. PVR Rücker, an LHA Eichberg (05.06.1941); ebd., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. i. V. Dr. Schmidt, an BV Hessen (09.06.1941, ab: 09.06.1941), Durchschr. – Das Zitat d. LHA Eichberg entstammt einer internen Notiz, während man offiziell antwortete, „daß die Angehörigen der in der hiesigen Anstalt Verstorbenen stets benachrichtigt werden.“ 349 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, betr. „Benachrichtigung bei Todesfällen“ (11.08.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist). – Bernotat bestimmte, dass die „Zwischenanstalt“ beim Tod von „Zwischenanstalts“patient/inn/en zu benachrichtigen habe: „1) die Abgabeanstalt, 2) diejenigen Angehörigen des Kranken, die vermittels des von Berlin vorgeschriebenen Formulars über die Aufnahme des Kranken in die dortige Anstalt verständigt worden sind.“ 350 Z. B. für den PV Brandenburg siehe ebd.; zum Reg.-Bez. Wiesbaden siehe die obige Zitierung der Verlegungsmitteilungen. 351 Zu diesem sog. „Einzugsgebiet“ siehe Kap. IV. 2. b). 352 Außer den drei im Folgenden Genannten handelte es sich um Karl Kaufmann (Wehrkreis X [Hamburg]), Josef Terboven (Wehrkreis VI [Münster]) und Fritz Sauckel (Wehrkreis IX [Kassel]). – Zum Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann (1900– 1969) siehe biogr. Anhang. – Josef Terboven war Gauleiter in Essen, ab 1935 OP d. Rheinprovinz in Koblenz, ab Apr. 1940 zusätzl. Reichskommissar für Norwegen; Fritz Sauckel (1894–1946) war Gauleiter und Reichstatthalter in Thüringen, ab März 1942 zusätzl. Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz (insb. Zwangsarbeitereinsatz), ab Apr. 1944 zusätzl. beauftragt mit den Geschäften des OP für den Reg.-Bez. Erfurt. 353 Ab 1939 RVK im Wehrkeis XII (Wiesbaden). – Zu Jakob Sprenger (1884–1945) siehe biogr. Anhang. 354 Ab 1939 RVK im Wehrkeis V (Stuttgart). – Zu Wilhelm Murr (1888–1945) siehe biogr. Anhang. 355 Ab 1939 RVK im Wehrkreis XI (Hannover). – Zu Rudolf Jordan (1902–1988) siehe biogr. Anhang. 356 Zur Einrichtung der Gasmordanstalten siehe Kap. IV. 2. b). 357 Die Zahl 16 addiert sich aus den 12 Gauleitern im „Altreich“, die 1939 Reichsverteidigungskommissare wurden, siehe Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 f. (Anm. 52), zwei österreichischen Gauleitern als Reichsverteidigungskommissaren für die Wehrkreise Wien und Salzburg sowie nach Kriegsbeginn den beiden Gauleitern in Danzig und Posen als Reichsverteidigungskommissaren in den dortigen Wehrkreisen. – Zur Zahl von 17 Reichsverteidigungsbezirken siehe Ämter (1997), S. 86–89; einer der Gauleiter (Adolf Wagner) war in zwei Bezirken (Wehrkreisen) Reichsverteidigungskommissar. – RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 158 (02.09.1939), S. 1565 f., „Verordnung über die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren“ (01.09. 1939); ebd., Nr. 190 (27.09.1939), S. 1937 f., „Anordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung zur Durchführung der Verordnung über die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren“ (22.09.1939); Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 278 f.; vgl. auch ders., Provinz (1977), S. 121. – Ab Nov. 1942 entsprachen die RVK-Bezirke nicht mehr den 3. Kooperation während der Gasmorde 493 Der Reichsverteidigungskommissar war somit „kein Instrument der Kriegsführung im militärischen Sinne“, sondern ihm kam beispielsweise die Aufgabe zu, „die Kriegsanstrengungen im Innern zu koordinieren und bis zu einem Höchstmaß zu steigern“; dabei konnten die Amtsinhaber nach Einschätzung Teppes „der ihnen zugedachten Rolle [...] mit erheblichem Erfolg gerecht [...] werden.“359 Doch nicht nur gegenüber Angehörigen, sondern auch in anderer Beziehung diente der Hinweis auf den Reichsverteidigungskommissar zur Legitimation der Verlegungen oder anderer Maßnahmen im Zusammenhang mit den Morden. So beriefen sich ebenso die übergeordneten Behörden und sogar „T4“ bei schriftlichen Verlegungsverfügungen oder -mitteilungen gegenüber den Anstalten oder Anstaltsträgern vielfach auf eine Anordnung des zuständigen Reichsverteidigungskommissars.360 Auch mündlich bekundete die „T4“-Leitung gegenüber Verwaltungen wie dem Provinzialverband Hannover, „die Reichsverteidigungskommissare hätten Anweisung, dem Landeshauptmann und den Heilanstalten den Befehl zur Auslieferung der Geisteskranken zu geben“.361 Beinahe kurios erscheint das Vorgehen in Bayern, wo das Innenministerium sich gegenüber den seiner Aufsicht unterstehenden Anstalten auf eine Weisung des Reichsverteidigungskommissars berief, wobei Innenminister Adolf Wagner selbst in Personalunion dieses Amt ausübte.362 Schließlich diente dem Eichberger Anstaltsdirektor Mennecke gegenüber seinen Angestellten der Hinweis auf den Reichsverteidigungskommissar zur Begründung für die Geheimhaltung: „wohin diese Transporte gingen, sei Sache des Reichsverteidigungskommissars und gehe niemanden sonst etwas an.“363 Teilweise notierten 1941 die Schwestern und Pfleger der „Zwischenanstalten“ im Bezirk Wiesbaden auch in die Krankengeschichten der nach Hadamar verlegten Patientinnen und Patienten anstelle – wie sonst üblich – des Verlegungszieles nun: „Auf Anordnung des H. Reichsverteidigungskommissars überführt.“364 Ebenfalls mit dem Hinweis, dass „der Reichsverteidigungskommissar anderweitig über die Anstalt“ verfüge, verweigerte die Landesheilanstalt Hadamar 1942 dem Reichsgesundheitsamt die von dort geforderten statistischen Angaben über die Einrichtung.365 Bislang ist nicht mit Sicherheit bekannt, ob die Reichsverteidigungskommissare von Anfang an als Gewährsträger für die Krankenverlegungen galten oder ob dieser Bezug erst im Laufe des Jahres 1940 hergestellt wurde.366 Während frühe „Trostbriefe“ aus den „T4“-Anstalten im Jahr 1940 zum Teil noch Wehrkreisen, sondern den NSDAP-Gauen, sodass sämtliche Gauleiter in ihren Gauen RVKe wurden: RGBl. I, Jg. 1942, Nr. 117 (17.11.1942), S. 649–656, „Verordnung über die Reichsverteidigungskommissare und die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverwaltung“ (16.11.1942), mit Anlage; siehe auch Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 764; ders., Führerstaat (1989), S. 278; Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 287. 358 Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 326. 359 Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 300 f. 360 Z. B. der PV Hannover in Verlegungsverfügungen von Ende März 1941 ggü. seinen Anstalten: Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 63 f.; ebenso das württembergische MdI ggü. den württ. Anstalten: Stöckle, Aktion (1996), S. 18; entsprechend auch das RMdI im Juni/Juli 1941 ggü. den Anstalten d. PV Westfalen: Walter, Psychiatrie (1996), S. 719 f.; ebenso „T4“ (Gekrat) 1941 ggü. dem PV Sachsen: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 76 f. – Dasselbe gilt auch für Verlegungsankündigungen an Dritte, z. B. aus Berlin an auswärtige Anstalten: StA Potsdam, Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Reinickendorf der Reichshauptstadt Berlin, Wittenauer Heilstätten, an Landesanstalt Neuruppin (07.09.1940), hier n. d. Faks. b. Hühn, Psychiatrie (1989), S. 190. 361 HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, Bl. 20 f., Aussage Dr. Georg Andreae (11.05.1948), hier zit. n. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 56. – Andreae bezog sich auf eine Aussage des ärztl. „T4“-Leiters Heyde. 362 NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-1134, Staatsministerium des Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.1941), hier zit. n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. (das MdI erteilte dort die Direktive, falls „in der Zwischenzeit ein Angehöriger bei der Abgabeanstalt anfragen“ sollte, sei diesem zu antworten, „der Kranke sei im Auftrage des zuständigen Reichsverteidigungskommissars verlegt worden“). 363 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 508, Aussage Karl Sch. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (21.08.1946), Abschr. (Mennecke-Aussage dort auf Mai 1941 datiert). 364 So z. B. in der LHA Eichberg: BA, R179/2065, Eintrag in die Krankengeschichte (26.02.1941); analog auch ebd., 2209; ebd., 2225. – Entsprechend in der HEPA Scheuern: BA, R179/8998, Eintragung in die Krankengeschichte (01.04.1941): „N. wird auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars in eine andere Anstalt verlegt.“ 365 LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 142, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Präs. d. RGA, Berlin, betr. „Diagnosenstatistik für das Jahr 1941“ (23.01.1942), Durchschr. 366 Allerdings behauptete Dr. Gerhard Bohne (Anfang 1940 für einige Monate Leiter von „T4“) in einer späteren Vernehmung, jede Krankenverlegung habe auf Vorschlag von Gekrat-Leiter Vorberg mit Hinweis auf eine entsprechende Weisung des Reichsverteidigungskommissars durchgeführt werden sollen: vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964), Kopie, hier S. 19 (03.12.1964). 494 IV. Zeit der Gasmorde keinen Hinweis auf den Reichsverteidigungskommissar enthalten,367 ist diese Bezugnahme 1941 in den Briefen aus Hadamar gegeben.368 Es ist nicht einmal sicher, ob die Reichsverteidigungskommissare tatsächlich eine eigenständige Rolle im Rahmen der Verlegungsaktion spielten.369 Bis heute scheint kein schriftliches Dokument bekannt geworden zu sein, in dem ein Reichsverteidigungskommissar in dieser Funktion tatsächlich eine Anordnung im Zusammenhang mit den „T4“-Verlegungen erteilt hätte – sämtliche Erwähnungen sind nur Bezugnahmen darauf, ohne dass jedoch dabei nähere Angaben wie Datum oder Aktenzeichen der angeblichen Anordnungen genannt worden wären.370 Nach all dem können wir davon ausgehen, dass die entsprechenden Gauleiter in erster Linie ihren Namen hergaben, dass also lediglich mit ihrem Wissen und mit Verweis auf sie den Verlegungen eine scheinbare Legitimation verliehen wurde. Eine entsprechende legitimatorische Wirkung hatte es auch, als Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Sprenger seinem Günstling Bernotat im Frühsommer 1941 erlaubte, an dessen Dienstzimmer als Anstaltsdezernent ein Schild mit der Aufschrift „Der Reichsverteidigungskommissar [/] Bernotat [/] Landesrat“ anzubringen.371 Generell diente die Erwähnung des „Reichsverteidigungskommissars“ hauptsächlich dazu, insbesondere nach außen hin – gegenüber Bevölkerung und Angehörigen – eine scheinbar schlüssige Begründung für die Massenverlegungen zu konstruieren: Die Bezugnahme auf den Reichsverteidigungskommissar sollte und konnte den Eindruck erwecken, es gehe um eine Maßnahme im Zusammenhang mit Kriegsnotwendigkeiten (denkbar war etwa die Beschlagnahme der Heilanstalt zu Lazarettzwecken). Damit verband sich zugleich zweierlei: erstens sollte diese Zweckbenennung eine Harmlosigkeit der Verlegung vermitteln, zweitens sollte damit verdeutlicht werden, dass etwaige Einsprüche nicht möglich seien. Trotz aller Bemühungen um den Schein der Normalität gelang den Organisatoren des Mordes die gewünschte Ruhigstellung der Angehörigen nicht lückenlos, wenn auch nach neueren Untersuchungen372 offenbar ein nicht unerheblicher Teil der Familien bereit war, den – wie auch immer erfolgten – Tod des psychisch kranken Angehörigen zumindest mit Gleichgültigkeit oder sogar mit Erleichterung zu registrieren. Doch es gab durchaus Angehörige, die gegen die Verlegungen oder gegen das Besuchsverbot protestierten und die in Einzelfällen sogar die bevorstehende Ermordung verhindern konnten. Es war keineswegs in erster Linie ein Ausdruck von Antisemitismus, dass im Deutschen Reich solche Proteste gegen die NS-„Euthanasie“-Verbrechen deutlich umfangreicher waren als die gegen die Ermordung der Juden, sondern es lag nach Friedlander daran, dass „die Angehörigen der behinderten Opfer an der Spitze derer [standen], die gegen die Morde opponierten“, während eine derartige familiäre Solidarität bei den jüdischen Opfern meist nicht möglich war.373 Auch im Bereich des Bezirksverbandes Nassau konnten 1941 einzelne Angehörige durch beharrlichen Einsatz die Rettung ihres Familienmitglieds erreichen, das sich bereits in der „Zwischenanstalt“ befand und damit kurz vor der Verlegung nach Hadamar stand. So gelang es dem Juristen Dr. Wilhelm F. aus dem Odenwald – wohl auch aufgrund seiner professionellen Kenntnisse –, die Verschonung seines Onkels Heinrich F. zu erreichen. Nach dessen Verlegung in die „Zwischenanstalt“ Weilmünster erschien der Neffe dort persönlich, da er bereits „einige Zeit zuvor gehört hatte, es würden jetzt unheilbar Geisteskranke [...] als unnütze Esser durch Tötung beseitigt“. In Weilmünster drohte F. – nach eigener Aussage – einem der Ärzte, er werde sich „unter keinen Umständen“ damit abfinden, dass sein 367 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 295, [„T4“,] „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. H.“, sog. „Trostbrief“ an Monika T., Freistadt (10.06.1940), Fotokopie. 368 Siehe z. B. in Privatbesitz der Familie befindliche Schreiben von [„T4“,] „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar“, an Mathilde U., Duisburg-Hamborn (25.03.1941), hier n. d. Faks. in Hadamar (1991), S. 108 (Kat. Nr. 84). 369 Eine solche wird angenommen bei Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 291; siehe auch Beddies, Heil- und Pflegeanstalt (1998), S. 87. 370 Auch die Nachkriegsbehauptung von LH Gessner u. Anstaltsdezernent Andreae in Hannover, „der wirkliche Befehl des Reichsverteidigungskommissars Jordan“ zur Krankenverlegung sei eingetroffen, wirkt eher wie eine Schutzbehauptung ggü. den Justizbehörden und bleibt unbelegt: Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 56 f. (Zitat auf S. 56). – Sueße/Meyer stellen diesen „Befehl“ jedoch als Tatsache dar. 371 Zu den näheren Umständen dieses Vorgangs siehe Kap. IV. 1. b). 372 Siehe dazu die Forschungen von Petra Lutz zu den Angehörigen der NS-„Euthanasie“-Opfer. 373 Friedlander, Weg (1997), S. 306 f., hier S. 307. 3. Kooperation während der Gasmorde 495 Onkel „umgebracht werden solle“, vielmehr würde er „die Angelegenheit notfalls unter Aufopferung [s]einer eigenen Person und [s]einer Existenz, publi[k] machen“. Als der Arzt daraufhin zugab, die Verlegung habe „zum Zweck der Beseitigung“ stattgefunden, und behauptete, dies aber sei inzwischen gesetzlich erlaubt, ließ Richter F. sich nicht täuschen oder beirren. Er erreichte, dass die Landesheilanstalt Weilmünster den Fall der vorgesetzten Dienststelle (wahrscheinlich dem Anstaltsdezernenten) vorlegte, die sich deshalb mit „T4“ verständigt haben muss. Wenig später jedenfalls erfolgte die Rückverlegung des Onkels in die ursprüngliche Anstalt, das „Philippshospital“ bei Goddelau.374 Im Sinne einer Schadensbegrenzung scheint man bei „T4“ die Verschonung von Heinrich F. als weniger gravierend eingeschätzt zu haben als die Gefahr, dass dessen Neffe den Fall öffentlich gemacht hätte. Mit Hilfe eines leitenden Juristen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt gelang es auch einem Sinto oder Rom, seinen Bruder, der wegen hitlerfeindlicher Äußerungen als forensischer Psychiatriepatient durch das Sondergericht Frankfurt eingewiesen worden war, aus einer der „Zwischenanstalten“ zu befreien und damit vor der Verlegung nach Hadamar zu bewahren.375 Dagegen versuchten andere Angehörige vergeblich, sich zu wehren, so auch eine Mutter aus Westfalen. Als ihr Sohn nach Weilmünster verlegt worden war, fuhr sie trotz der Besuchssperre dorthin. Nachdem man ihr zunächst den Einlass in die Anstalt verwehrt hatte, erreichte sie durch Beharrlichkeit doch noch Zugang zum Anstaltsdirektor und eröffnete diesem, sie werde ihren „Sohn wieder mitnehme[n] nach Hause“ und habe deswegen „schon nach Berlin geschrieben zur Reichskanzlei.“ Zwar durfte sie ihren Sohn daraufhin noch einmal besuchen, doch konnte sie die Entlassung nicht durchsetzen; im Folgemonat erhielt sie die Todesnachricht aus Hadamar.376 Überwiegend delegierte Bernotat den Kontakt mit den Angehörigen an die Anstalten, aber in Einzelfällen trat er auch selbst in Aktion, wenn er sein Eingreifen für unentbehrlich hielt. Paradigmatisch ist seine Anweisung an die Einrichtungen: „Falls Sie glauben, mit den Angehörigen nicht allein fertig werden zu können, sind diese an mich zu verweisen.“377 Eine Frau, die nach ihren beiden aus der Landesheilanstalt Marburg abgeholten Töchtern suchte, hatte im Frühjahr 1941 bereits eine Odyssee – von der Marburger Anstalt über das heimische Fürsorgeamt und den Bezirksverband Hessen in Kassel – hinter sich, bevor man sie nach Wiesbaden verwies, wo sie auf Bernotat traf: „Dort sprach ich mit einem Landesrat, der sehr unfreundlich war. Ich sagte ihm, ich hätte meine Tochter immer besucht und wollte es weiter tun. Er redete erst über Überlastung der Eisenbahn, ich verwies auf neueingelegte Personenzüge und schließlich gab er mir einen Erlaubnisschein.“ Die Mutter konnte mit der Sondergenehmigung eine der Töchter zwar noch in Weilmünster besuchen, doch eine Entlassung hatte sie offenbar, möglicherweise aus Unkenntnis der Konsequenzen, anscheinend gar nicht zu erreichen versucht. Beide Töchter wurden Mitte 1941 in der Gaskammer in Hadamar ermordet.378 374 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 240, Dr. Wilhelm F., Fränkisch-Crumbach i. Odenwald, an OStAnw b. d. LG Ffm (08.06.1946), Abschr. – Heinrich F. wurde am 19.04.1941 von der LHPA Goddelau nach Weilmünster verlegt u. am 21.05.1941 zurückverlegt, während die übrigen am 19.04.1941 mit ihm verlegten Männer (bis auf 3 Ausnahmen – 2 Verstorbene in Weilmünster u. 1 Zurückgestellter) zwischen dem 29.05. u. 19.06.1941 nach Hadamar verlegt u. dort ermordet wurden: LWV, Best. 19/14, HKV Weilmünster (Eintragungen 1941). 375 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 379–382, Protokoll d. Zeugenvernehmung Fritz R. im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947). – R. war bei der GenStAnw Ffm zuständig für die Überprüfung der nach § 42 b StGB Eingewiesenen; da nun der Angehörige zusagte, den Bruder mit nach Gleiwitz/Oberschlesien zu nehmen, wagte R. nach eigenen Angaben die Entlassung. – Zur Ermordung der nach § 42 b Eingewiesenen im Rahmen der Mordaktion der „T4“ siehe Scheer, Paragraph (1986), S. 245; Friedlander, Weg (1997), S. 282. 376 Teppe, Massenmord (1989), S. 27/30 (dort auf S. 30 auch das Zitat). – Walter, Psychiatrie (1996), S. 732, weist auf einzelne Patienten aus dem PV Westfalen hin, die 1941 teilweise auf Intervention der Angehörigen aus der „Zwischenanstalt“ Weilmünster entlassen wurden. 377 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, Dir. Todt (27.10.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist). – Der Beleg stammt aus der Zeit nach Unterbrechung der „T4“-Gasmorde, als jedoch deren endgültiges Ende noch nicht feststand und daher Entlassungen noch nicht genehmigt werden sollten. – Auch in späterer Zeit, z. B. 1943, lassen sich noch Besuche von Angehörigen bei Bernotat nachweisen, die dort sogar z. T. Entlassungen erreichen konnten: Otto, Heilerziehungs- und Pflegeanstalt (1993), S. 330. 378 Aussage Elise K. ggü. d. OStAnw in Marburg (16.12.1946), hier zit. n. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 314; siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 284–287; Klüppel, „Euthanasie“ (1985), S. 44 f. – Susanne K. wurde ermordet am 13.06.1941 nach der Verlegung von Weilmünster, Ilse K. am 01.07.1941 nach der Verlegung von Scheuern: HStA Wi, Abt. 461 Nr 32061 Bd. 3 (Liste Weilmünster); Archiv d. Heime Scheuern, HKV (Eintragungen 1941). 496 IV. Zeit der Gasmorde „T4“ überließ den Kontakt mit den Angehörigen der noch nicht ermordeten Patientinnen und Patienten weitgehend seinen regionalen Kooperationspartnern, wohingegen nach dem Tod die „T4“-Anstalt in Aktion trat. Die Bestrebungen von „T4“ gegenüber den Angehörigen war ganz offensichtlich von dem Ziel gekennzeichnet, die Familien zu verwirren und das Mordsystem so weit wie möglich nach außen hin abzuschotten. Dennoch war man bereit, flexibel und undogmatisch zu reagieren, wenn andernfalls essenzielle Bedingungen des Mordprogramms wie die Geheimhaltung in Gefahr zu geraten drohten. Die Handlungsträger im Bezirksverband Nassau übernahmen diese Leitlinie und machten sie sich zu Eigen. Sie unterstützten das Geheimhaltungssystem, indem sie nach Möglichkeit versuchten, die Angehörigen fern zu halten und deren Wünschen nur dann nachzugeben, wenn diese mit ausreichender Vehemenz artikuliert wurden. Mit dieser Strategie leistete der Bezirksverband seinen Beitrag dazu, für möglichst wenige der bereits zur Ermordung vorgesehenen psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen eine Rettung zu ermöglichen. Die Gründe für den „Stopp“ der Gasmordaktion im August 1941, der lediglich eine Unterbrechung bis zum (binnen weniger Monate erwarteten) Kriegsende darstellen sollte, fußen auf der weiten Verbreitung der Kenntnisse über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen bis zu diesem Zeitpunkt. Die beabsichtigte Geheimhaltung war weitgehend gescheitert;379 ein Anklagevertreter charakterisierte im Nürnberger Prozess das „Hinschlachten der Alten und Schwachsinnigen“ von 1940 und 1941 als „das Thema von Gassengesprächen in ganz Deutschland“.380 Reichsfinanzminister von Krosigk charakterisierte Anfang 1941 „die Methoden, die bei der Räumung von Anstalten (Irrenhäuser, konfessionelle Anstalten) angewandt werden“ als nicht stimmungsfördernd.381 Ausländische Medien wie der britische Rundfunk berichteten im Januar 1941 über „das Hinmorden von etwa 100 000 deutschen Insassen von Irrenanstalten“, „das wachsende Verschwinden von Invaliden“ und die Beschneidung „der Rechte unnützer alter Leute“.382 Mittels Flugblättern, die die Royal Air Force im Juni 1941 über Deutschland abwarf, erhielten die Kenntnisse über die Kranken- und Behindertenmorde eine zusätzliche Verbreitung.383 Derartige Hinweise lieferten vielfach nur noch die Bestätigung für das, was ohnehin weitgehend bekannt war. Gerade im Umkreis der Heil- und Pflegeanstalten verdichteten sich die Gerüchte über die Morde häufig bald zur Gewissheit. Das Personal auswärtiger Anstalten, etwa aus den Provinzen Hannover oder Westfalen, wusste entweder schon vor den Verlegungen in die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ von dem Schicksal, das den Verlegten bevorstand,384 oder das Begleitpersonal erfuhr davon spätestens auf Weg in Richtung Hessen-Nassau – beispielsweise durch Mitreisende oder Passanten, die genau wussten, was eine Massenverlegung von psychisch kranken Menschen in dieser Zeit zu bedeuten hatte.385 Besonders im Umkreis der Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau waren die Krankenmorde der Bevölkerung sehr schnell bekannt. Notorisch sind Berichte über die Kinder in Eltville (nahe der Landesheilanstalt Eichberg), die um die „Gekrat“-Omnibusse tanzten und riefen, „die Berliner Mord379 Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 266 f., S. 276–278; Walter, Psychiatrie (1996), S. 670, S. 679. Sir Harley Shawcross (27.07.1946), zit. n. Prozeß (1984), Bd. XIX, S. 573. BA, R2/24245, Bl. 58, Reichsfinanzminister Schwerin v. Krosigk an Göring (01.01.1941), hier zit. n. Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 464 (Anm. 289). 382 BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 92 f., deutsche Geheimdienstberichte über BBC-Rundfunkmeldungen in dt. u. engl. Sprache vom 18. u. 19.01.1941 (Abschrift: 19.01.1941); vgl. auch Friedlander, Weg (1997), S. 191, S. 525 (Anm. 4); zu späteren BBCSendungen siehe a. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 258, S. 334. 383 Brit. Flugblatt, im Juni 1941 über dt. Großstädten abgeworfen, mit der Überschrift „LUFTPOST. Von der Royal Air Force abgeworfen. No. 5. 23. Juni 1941. 200 000 ‚Unbrauchbare‘“, abgedr. als Faks. b. Aly, Aktion (1989), S. 81. 384 Z. B. das Personal der westfälischen PHA Eicklborn, das die zu verlegenden Kranken im Juli/Aug. 1941 informierte: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 54, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 4. Hv-Tag (06.12.1946) (das Personal habe „über die Aktionseinzelheiten nach außen hin geplaudert“); ebd., Bd. 2, Bl. 98 f., LHA Eichberg, gez. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm (04.06.1946), hier Bl. 99, dort zit. Schreiben Mennecke an Bernotat (18.02.1942) („die bekannten Vorgänge in Eickelborn – Ausplauderung durch Eickelborner Pflegepersonal –“); siehe auch ebd., Bd. 1, Bl. 44 f., Zeugenaussage Ferdinand H. b. d. Kriminalpolizei Wiesbaden (13.08.1945), hier Bl. 45 (der am 23.08.1941 von Eickelborn zum Eichberg verlegte Patient sagte aus, „dass es ihm und auch den meisten denkfähigen Kranken bekannt war, was mit diesen Transporten geschah“). – Zu den Daten der „T4“-Verlegungen von Eickelborn in die „Zwischenanstalt“ Eichberg (02.07.–23.08.1941) siehe ebd., Bd. 1, Bl. 118, LHA Eichberg, Übersicht „Zugänge aus anderen Anstalten [in den Jahren 1941–1944]. Männliche Patienten“ (o. D. [wahrscheinlich Feb./März 1946]). 385 Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 119 f. (Verlegungen aus Lüneburg). 380 381 3. Kooperation während der Gasmorde 497 karre ist wieder da“.386 In Herborn, nahe der dortigen Landesheilanstalt, sprach man darüber, „daß die Anstaltsinsassen, die in den Omnibussen abtransportiert wurden, alle in den ‚Backofen‘ kämen“.387 Insbesondere am Ort der Gasmorde selbst „war es“ – also das Morden – nach Aussagen des pensionierten Anstaltsdirektors Dr. Henkel „jedem Hadamarer Einwohner bekannt.“388 Der dortige Amtsgerichtsdirektor stellte im Juni 1941 fest, dass „die Tätigkeit der neuen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar eine er[h]ebliche Beunruhigung in die Bevölkerung getragen“ habe.389 Klee fasst das Klima in der Kleinstadt so zusammen: „Die überwiegend katholische Bevölkerung des Ortes, die über die Rußablagerungen auf den Fensterbänken schimpft, lebt selbst in Angst [...]“390 Zur Kenntnis über die Mordaktion trug in Hadamar – neben den permanent passierenden Bussen und dem rauchenden Schornstein – auch bei, dass die Mitarbeiter der „T4“-Anstalt in Einzelfällen mehr preisgaben als erlaubt, wie etwa der Nachlassverwalter K., der nach Alkoholkonsum in einer Hadamarer Gastwirtschaft über seine Tätigkeit schimpfte und danach „verschwand“.391 In Diez, rund zehn Kilometer von Hadamar entfernt, war 1941 festzustellen, „dass jedes Kind es wusste, was in Hadamar geschah, dass Bauern bereits Beschwerde geführt haben, dass ihre Gemüseanlagen durch den ewigen Qualm beschädigt würden“, dass aber niemand wagte, etwas dagegen zu unternehmen, da „es doch klar sei, dass der Führer dieses selbst angeordnet habe.“392 Das Wissen blieb jedoch nicht auf den unmittelbaren Umkreis der Anstalten beschränkt, sondern breitete sich – auf verschiedenen Wegen – auch in den beiden Großstädten im Regierungsbezirk Wiesbaden aus, teilweise anscheinend sogar schneller als auf dem Lande. Selbst Personal der Anstalt Weilmünster konnte 1941 über den Umweg Frankfurt die Bestätigung des Zieles der Krankenverlegungen erfahren – „die ganzen Leute wussten es in Frankfurt, dass die Kranken in Hadamar umgebracht würden.“393 Im Wiesbadener Stadtgebiet wurden die Gerüchte sehr schnell, nämlich bereits im Februar und März 1941, virulent. Zwar hatte Mennecke anscheinend bereits 1940 im Wiesbadener Gesundheitsamt vereinzelt „davon gesprochen, daß demnächst [...] die unheilbaren Geisteskranken getötet werden sollten“,394 doch jetzt verbreitete sich diese Kenntnis auch in weiteren Bevölkerungskreisen.395 Man kann nur vermuten, dass die relativ frühe und genaue Information in Wiesbaden auch dadurch begünstigt wurde, dass der Bezirksverband Nassau (mit einer Vielzahl informierter Beamter und Angestellter) 386 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenfragung Dr. Hans Quambusch durch RA P. im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 377. 387 HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1155, Bl. 114–123, Herbert B., Guxhagen-Breitenau, an StAnw d. IV. Strafkammer Ffm (30.12. 1946), hier Bl. 117. 388 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 116, Zeugenaussage Dr. Otto Henkel im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (Henkel, der selbst nicht mehr in Hadamar wohnte, wusste dies durch Besuche dort); vgl. auch ebd., Bd. 2, Bl. 178, Aussage Dr. Otto Henkel ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (22.08.1946). 389 Ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 251, Amtsgericht Hadamar an Präs. d. LG Limburg, Bericht (11.06.1941), hier begl. Abschr. (o. D. [ca. 1947]), Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947). 390 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318, dort zit. eine Äußerung d. OStAnw Wiesbaden. 391 Es handelte sich um den Nachlassverwalter K., der ins KZ eingewiesen worden und verstorben sein soll, wobei „T4“ intern offenbar als KZ-Einweisungsgrund vorschob, K. habe sich an Nachlassgegenständen bereichert: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 122 f., Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (Angaben zum Vorfall in der Gastwirtschaft, zum angebl. Haftgrund, zur Einweisung nach Oranienburg [Sachsenhausen] u. zum Tod im KZ); ebd., Bd. 3, Bl. 99, Aussage Ingeborg S. geb. W. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946) (K. sei „angeblich wegen Unregelmäßigkeiten nach Berlin gebracht [worden] und später im KZ verstorben“). – Zu K.s Tätigkeit für „T4“ in Hadamar siehe auch die Erwähnung in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); siehe auch das von K. unterzeichnete Schreiben in HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., [„T4“,] LHPA Hadamar, gez. i. A. K., an LHA Eichberg (29.01.1941). – Es lässt sich bislang nicht überprüfen, ob die Angaben zum Tod im KZ lediglich auf Gerüchten beruhten; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318, berichtet im Kontext Hadamar über „zwei Krankenpfleger“, die „wegen Bruchs der Schweigepflicht eine Zeitlang ins KZ“ kamen, „aber später weiter für T4“ arbeiteten. – Zu Kenntnissen der Bevölkerung durch „Kontakte mit T4-Angestellten in der Stadt, besonders bei deren abendlichen Trinkgelagen“, siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 120. 392 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. HvTag (13.03.1947), hier Bl. 373. 393 Ebd., Bd. 2, Bl. 192–196, Aussage Maria [= Marie] Z. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (05.03.1946), Durchschr., hier Bl. 193. – Bekannte teilten der Oberschwester d. LHA Weilmünster dies in Ffm mit. 394 Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 119, Zeugenaussage Elisabeth M. [Fürsorgerin in Wiesbaden] im Eichberg-Prozess, 6. HvTag (10.12.1946). 395 Ebd., Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 502 f., Bericht von Ober-Reg.- u. -Med.-Rat Dr. Schrader auf Ersuchen der amerikanischen Militärregierung in Wiesbaden (o. D. [angefordert am 21.04.1945]), Abschr., hier Bl. 503. 498 IV. Zeit der Gasmorde in der Großstadt seinen Sitz hatte. Bis spätestens Mitte Februar 1941 tauchte in Wiesbaden das Gerücht auf, man sei „in den öffentlichen Irrenanstalten auf höhere Weisung seit einiger Zeit dazu übergegangen [...], unheilbare Geisteskranke zu beseitigen.“ Genannt wurde „insbesondere die Landesheil- u. Pflegeanstalt Hadamar“, wo die Kranken „angeblich durch Vergasung getötet“ würden. Zwar konstruierte der Wiesbadener Landgerichtspräsident in einem internen Bericht (wahrscheinlich eher aus tatsächlicher denn aus vorgeblicher Unkenntnis) noch die Erklärung, es habe „den Anschein, als ob um Mitte Januar in der Landesheilanstalt Eichberg unter dort untergebrachten Geisteskranken eine Infektionskrankheit aufgetreten sei, die deren alsbaldige Isolierung durch Verlegung in eine andere Anstalt erforderlich machte, und daß dort ein Teil dieser Kranken bald danach der Krankheit erlegen ist. Der Versuch, dies geheimzuhalten, mag die Entstehung des Gerüchts befördert haben.“ Zugleich empfahl der Gerichtspräsident justizintern eine „dringend gebotene Aufklärung“, die allerdings wohl nur über die Aufsichtsbehörden „der beteiligten Anstalten“ zu erlangen sei, „da die Anstalten selbst offenbar zur Geheimhaltung verpflichtet“ seien.396 Der davon informierte Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident ergänzte gegenüber dem Reichsjustizministerium mit Bezugnahme auf die Wiesbadener Erkenntnisse: „Ein gleiches Gerücht ist auch in Frankfurt a. M. feststellbar.“397 Schon bald – im März 1941 – wurden sehr exakte Kenntnisse über die Gasmorde auch in evangelischen Kreisen in Wiesbaden verbreitet: „Diese armen Menschen kämen in einen großen Saal und würden da zusammen durch das Giftgas ins Jenseits geschickt werden.“398 „Alle Verwaltungs-, Justiz-, Polizeistellen, die Bevölkerung, jedermann wusste es, dass in Hadamar Kranke getötet wurden“,399 so fasste es der Wiesbadener Oberstaatsanwalt zusammen. Angesichts einer derart weiten Verbreitung der Kenntnisse erscheint die Informiertheit auch der Verwaltungsspitzen im Gebiet des Regierungsbezirks Wiesbaden geradezu als eine Selbstverständlichkeit. In aller Offenheit kam die Thematik der Krankentötungen beispielsweise während einer Dienstreise in einem Dreiergespräch zwischen dem Bezirksverbandskämmerer Willi Schlüter, dem Wiesbadener Regierungspräsidenten Fritz von Pfeffer und dem Frankfurter Oberbürgermeister Friedrich Krebs zur Sprache.400 Von Pfeffer habe (laut Schlüter) die „Sterbehilfe [...] als eine Erlösung für die Kranken“ bezeichnet, „die er zudem für vertretbar und ungefährlich hielt, weil die Auswahl der hierfür in Betracht kommenden Kranken durch ärztliche Kommissionen nach eingehender Untersuchung erfolge.“ Krebs dagegen habe dem Sinne nach entgegnet, „er bedanke sich für diese Untersuchung, wenn diese Kommission aus SS-Aerzten bestünde, so sei diese für ihn keine Beruhigung, es könne ihm dann passieren, dass er in 3 Tagen auf dem Eichberg sei und 8 Tage später in einer Aschenurne nach Frankfurt zurückkehre.“401 Spätestens im Sommer 1941 wurde deutlich, dass das dreistufige, durch die „Zwischenanstalten“ und durch „T4“ durchgeführte Benachrichtigungssystem402 den gewünschten Effekt der Beruhigung ver396 BA, R3001/alt R22/3364, Bl. 45 f., LG-Präs. Wiesbaden, gez. Hefermehl, an OLG-Präs. Ffm (15.02.1941), Abschr.; Abdr. auch b. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 134 f. (D[ok.]51 a), teilw. zit. b. Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 268 (dort mit Hinweis auf die [nicht mehr existente] Sign. BA, R22/20019), b. Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 331 f. (Dok. 192), hier S. 332, b. Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 118 f. 397 BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 43 f., OLG-Präs. Ffm an Reichsminister d. Justiz, betr. „Bericht über die allgemeine Lage im Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt a. M.“ (03.03.1941), hier Bl. 43. – Die vorgenannte Abschr. d. Wiesbadener Schreibens (15.02.1941) wurde beigefügt. 398 Zentralarchiv d. Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, 0605/26 D, SD-Hauptaußenstelle Wiesbaden an SD-Abschnitt Darmstadt betr. „Heil- und Pflegeanstalten. Stimmungsmäßige Auswirkung von Meldungen über Todesfälle“ (22.03.1941), hier zit. n. Hofmann, Dokumentation (1974–1993), hier Bd. 8,1 (Bd. 43, 1992), S. 141 f., hier S. 141 (der SD schrieb diese Darstellung einer „staatsfeindliche[n] Zelle [...] im Diakonissenheim der evang. Pflegeschwestern in Biebrich“ zu). 399 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Protokoll d. Zeugenvernehmung Dr. Hans Quambusch im HadamarProzess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 379. 400 Zu Willi Schlüter (* 1884), RP Fritz von Pfeffer (1892–1961) u. OB Dr. jur. Friedrich Krebs (1894–1961) siehe biogr. Anhang. 401 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 184, Zeugenaussage Willi Schlüter ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946). – Zur Einstellung v. Pfeffers vgl. die dem widersprechende Annahme (vermittelt durch den obersten Medizinalbeamten beim RP, Dr. Erich Schrader), „dass Herr v. Pfeffer nach Berlin gefahren sei[,] um gegen diese Sache zu protestieren“: ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03. 1947), hier Bl. 377. 402 Siehe dazu weiter oben in diesem Kap. IV. 3. c). 3. Kooperation während der Gasmorde 499 fehlte und sogar teilweise das Gegenteil bewirkte, wie der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident Ende Juni 1941 (etwa vier Monate nach seinem ersten Bericht) dem Reichsjustizministerium darlegte: „Als besonders unerträglich wird empfunden, daß den Angehörigen schon vor der Liquidierung vorläufige Nachrichten zugehen, die angesichts der nachgerade bei der gesamten Bevölkerung bekannten Vorgänge nicht anders gedeutet werden können, als eine Mitteilung des bevorstehenden Todes [...]“.403 Gerade der Hinweis auf diesen Missstand schreckte die (über das Justizministerium informierte) „T4“ auf und rief eilige Bemühungen hervor, dem Problem auf den Grund zu gehen.404 Eine „Scheu vor den Heil- und Pflegeanstalten“, das Bestreben von Angehörigen, ihre psychisch kranken Familienmitglieder „entweder möglichst lange in der Klinik [= einer Universitäts-Nervenklinik, P. S.] zu belassen oder sie [...] in der eigenen Familie unterzubringen“, war während der Zeit der Gasmorde weithin bekannt geworden.405 Das Innenministerium versuchte (wohl stellvertretend für „T4“) Anfang 1942, dem Ausmaß dieser Abwehr mit Hilfe einer Umfrage bei den Anstaltsträgern auf den Grund zu gehen. Im Bezirksverband Nassau ließ Fürsorgedezernent Johlen die Landesheilanstalten daraufhin berichten, „ob im Verhältnis zu früheren Jahren die Aufnahme von Geisteskranken in die dortige Anstalt gleichgeblieben, abgenommen oder zugenommen hat.“ Dabei gab Johlen möglicherweise indirekt zu verstehen, dass er – anders als es sein zu diesem Zeitpunkt erkrankter Landesratskollege Bernotat tat – die Mordpolitik nicht rückhaltlos unterstützte. So erbat Johlen von den Anstalten ohne Not eine „Stellungnahme zu der Frage, wie sich“ eine möglicherweise „geringere Aufnahmeziffer erklärt“, und legte damit eine Stellungnahme zur NS-„Euthanasie“ nahe. Als der sprichwörtliche „Wink mit dem Zaunpfahl“ könnte sein expliziter Hinweis verstanden werden, dass die Aufnahmekapazitäten in Landesheilanstalten des Bezirksverbands Nassau sich mittlerweile nur noch auf die Einrichtungen Eichberg und Weilmünster beschränkte. Dies nämlich nahm den befragten Direktoren die Möglichkeit, eine eventuelle Zunahme der Aufnahmezahlen in diesen verbliebenen Anstalten automatisch als Ausdruck einer unbedenklichen Entwicklung zu interpretieren.406 Tatsächlich kam Dr. Fritz Mennecke als Direktor der Landesheilanstalt Eichberg zu dem Ergebnis, dass die Aufnahmen in seiner Anstalt sich zwar angesichts des Ausfalls der anderen Aufnahmeanstalten deutlich erhöht hatten, dass aber die Steigerung eigentlich noch weitaus größer hätte ausfallen müssen. Er umging jedoch geschickt jede Stellungnahme zu den Gründen für die Veränderungen.407 Damit unterschied er sich deutlich von vielen anderen Anstaltsdirektoren in Deutschland, die über Misstrauen der Bevölkerung berichteten. So ergab sich auch für die Anstalt Weilmünster, die Aufnahmen seien „relativ seltner [!] geworden möglicherweise infolge von Gerüchten“, was Bernotat zu der Bemerkung veranlasste, er wolle „den vorgebrachten Gründen gegen die Anstaltsaufnahmen nachgehen und die gehegten Besorgnisse zerstreuen lassen“, im Übrigen empfahl er, „bei Weigerungen polizeiliche Einweisungsverfügungen [zu] erlassen“.408 Offenbar am deutlichsten wurde der Marburger Landesheilanstaltsdirektor Prof. Dr. Albrecht Langelüddeke, der ausdrücklich ein gesunkenes Vertrauen in der Bevölkerung darstellte, das eindeutig 403 BA, R3001/alt R22/3364, Bl. 55 f., OLG-Präs. Ffm, Az. 313 II E – III 35/41. 352gRs., an Reichsminister d. Justiz, betr. „Bericht über die allgemeine Lage im Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt a. M.“ (26.06.1941), hier Bl. 55; auszugsweiser Abdr. auch b. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 136 (D[ok.]51 b); vgl. auch Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 334 (Dok. 195); vgl. auch Hadamar (1991), S. 227 (Dok. 136). 404 BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 122, Oberdienstleiter Viktor Brack an Staatssekretär Dr. Freisler, Reichsjustizministerium, Berlin (04.08.1941) (Brack bat Freisler, ihm Benachrichtigungsschreiben zu besorgen, die der OLG-Präs. aus Ffm als „ungeschickt“ empfunden habe). 405 So formuliert im angeblichen Schreiben eines nicht namentlich bekannten Leiters einer Univ.-Nervenklinik, zit. in HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12513, o. Bl.-Nr., RMdI, Erl. IVg 8410/41–5114, an die Reichsstatthalter (Landesregierungen) u. Preuß. Oberpräsidenten (Provinzialverbände) (06.01.1942), hier als Abschr. von BV Nassau, Az. A (IIa) 4, gez. i. A. LdsR Johlen, an LHA Eichberg (17.01.1942). 406 Ebd., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 4, gez. i. A. LdsR Johlen, an LHA Eichberg (17.01.1942). – Als Aufnahmeanstalten ausgefallen waren weitgehend die LHA Hadamar (zunächst ab 1939 als Lazarett, dann ab 1940 als „T4-Anstalt“) sowie die ab Juli 1941 die LHA Herborn; zu deren weitgehender Stilllegung mangels Bedarfs infolge der Mordaktion siehe Kap. V. 1. a). – Zu Ludwig Johlen (1885–1960) siehe auch biogr. Anhang. 407 HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12513, o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dr. Mennecke, an BV Nassau (27.01.1942), Durchschr. 408 „T4“-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942), a. a. O., hier Bl. 128148 (Auskünfte Weilmünster), Bl. 128150 (Stellungnahme Bernotat), als Kopie auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1807). 500 IV. Zeit der Gasmorde „mit den ‚Verlegungen‘ der Kranken in andere Anstalten zusammen[hängt]; was dort mit den Kranken geschieht, ist im Volke praktisch ein offenes Geheimnis.“409 Anscheinend hatte das Wissen über Hadamar auch deshalb vielfach zu Unruhe in der Bevölkerung geführt, weil man befürchtete, der Personenkreis der Mordopfer solle ausgeweitet werden. So thematisierte der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident im Sommer 1941 auch die befürchtete Ausdehnung auf alte Menschen und „sieche Kranke“;410 teilweise wurden sogar allgemeinmedizinische Krankenhäuser gemieden, „weil man befürchtet, dass unheilbare Kranke, z. B. Krebskranke, dieselbe Behandlung erfahren wie unheilbare Geisteskranke.“411 Auch die Angst, hirnverletzte oder psychisch erkrankte Soldaten könnten ebenfalls von den Tötungen erfasst werden, bewegte 1941 die Bevölkerung.412 Wie der SD 1941 in abgemilderten Worten formulierte, wurde in „der Bevölkerung [...] häufig nicht verstanden“, dass die betreffenden Soldaten „in bereits vorhandenen Heil- und Pflegeanstalten untergebracht“ wurden.413 Die Angst vor der Einbeziehung der Soldaten in die Krankenmorde war wohl noch dadurch beflügelt worden, dass die Royal Air Force im Juni 1941 per Flugblatt in deutschen Großstädten verbreitet hatte: „Auch die Soldaten? Ausserordentliche Beunruhigung erregt das Gerücht, dass auch ein Teil der Schwerverwundeten dieses Krieges jenen ‚Unbrauchbaren‘ gleichgestellt wird [...]“.414 Darüber hinaus sandte der britische Geheimdienst anscheinend Briefe an Hinterbliebene von verstorbenen Soldaten, worin eine angebliche Krankenschwester mitteilte, der Angehörige sei durch eine Spritze getötet worden, damit der Lazarettplatz für andere Soldaten mit besseren Heilungsaussichten frei werde.415 Zugleich verbreiteten sich die Gerüchte und Kenntnisse über die Krankentötungen im Sommer 1941 schnell bei den Wehrmachtssoldaten an der Ostfront, wobei Schreiben der Familien aus der Heimat entweder erste Informationen oder bestätigende Gewissheit bringen konnten. Beispielsweise bestätigte 1941 der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Frankfurt-Oberrad, Friedrich K., seinem in Russland eingesetzten Sohn brieflich die „Gerüchte“ über die „Euthanasie“ in Hadamar, die „nicht durch eine Spritze“ geschehe, „sondern auf eine sehr humane Art mit einem besonderen Gas“; des weiteren erwähnte der Vater den rauchenden Schornstein. Beschwichtigend wies er die bei den Truppen umlaufenden Gerüchte über die Ermordung „geisteskranker“ Soldaten als „Unsinn“ zurück: „Was beiseite geschafft wird, ist nur das Erbkranke“.416 Ein Briefwechsel zwischen der Zentralverwaltung des Bezirksverbands Nassau und einem Wehrmachtssoldaten, dessen Vater in einer Anstalt des Bezirksverbandes tätig war, beleuchtet die Unsicherheit, wie man mit seinem Wissen angesichts der Auflage zur Geheimhaltung umzugehen habe. Eigentlich ging es lediglich um die Versetzung des Vaters, als der Bezirksverband dem Sohn im August 1941 schrieb: „Ich bedaure [...] ausserordentlich, dass Sie und Ihr Bruder als Soldaten noch mit Sorgen, die 409 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 28 f., Dir. d. LHA Marburg, gez. L[angelüddeke], Bericht auf die Anfrage d. RMdI, „IVg 8410/41 – 5114“ vom 06.01.1942 (Bericht: 20.01.1942), Abschr., hier Bl. 28; ebd., hier Bl. 29, schlug der Autor vor, „dass man von Verlegungen der Geisteskranken so lange absieht, bis psychologisch die Möglichkeit gegeben ist, in offener Weise ein entsprechendes Gesetz zu erlassen und durchzuführen“; das Schreiben vom 20.01.1942 ist auch vorhanden in LWV, Best. 16/63; siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 296 f.; zum Gesamtergebnis der Rundfrage siehe „T4“-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942), a. a. O. 410 BA, R3001/alt R22/3364, Bl. 55 f., OLG-Präs. Ffm, Az. 313 II E – III 35/41. 352gRs., an Reichsminister d. Justiz, betr. „Bericht über die allgemeine Lage im Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt a. M.“ (26.06.1941), hier Bl. 55; vgl. auch Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 334 (Dok. 195); vgl. auch Hadamar (1991), S. 227 (Dok. 136). 411 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 28 f., Dir. d. LHA Marburg, gez. L[angelüddeke], Bericht auf die Anfrage d. RMdI, „IVg 8410/41 – 5114“ vom 06.01.1942 (Bericht: 20.01.1942), Abschr. (der Akte um 1945 beigefügt), hier Bl. 29. 412 Zu entsprechenden Gerüchten bereits 1940 im Umkreis der „T4“-Anstalt Grafeneck siehe auch BA, R3001/alt R22/ 5021, Bl. 76, Reichsjustizministerium, Vm. (16.11.1940), mit auszugsweiser Zitierung eines Berichts d. OLG-Präsidenten Stuttgart (06.11.1940); siehe auch Beil-Felsinger, Soldaten (2000), S. 23. 413 SD, Meldungen aus dem Reich (Nr. 222) (22.09.1941), zit. n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 8, S. 2787–2795, hier S. 2790. 414 Britisches Flugblatt, im Juni 1941 über deutschen Großstädten abgeworfen, mit der Überschrift „LUFTPOST. Von der Royal Air Force abgeworfen. No. 5. 23. Juni 1941. 200 000 ‚Unbrauchbare‘“, abgedr. als Faks. b. Aly, Aktion (1989), S. 81. 415 Beddies, „Ost-Einsatz“ (2002), S. 35, mit Hinweis auf Delmer, Deutschen (1962), S. 543. 416 HStA Wi, Abt. 483 Nr. 8196, Bl. 32 f., Ortsgruppenleiter Friedrich K., Ffm, an seinen Sohn Richard [bei der Wehrmacht] (18.10.1941), Abschr.; Abdr. auch bei Müller, Adler (1966), S. 311–313 (Dok. 227); vgl. dazu auch Reibel, NSDAPOrtsgruppen (1999), S. 66 f. 3. Kooperation während der Gasmorde 501 uns hier in der Heimat drücken, belastet werden.“417 Der Sohn witterte offenbar hinter dieser Formulierung den versteckten Vorwurf, die Eltern hätten ihre einberufenen Söhne (mit einem ablehnenden Tenor) über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen informiert. Der Sohn, offensichtlich um Schadensbegrenzung bemüht, versuchte seine Eltern in Schutz zu nehmen: „Aus Ihrem Schreiben entnehme ich, daß man dort der Ansicht ist, als ob uns von Seiten unserer Eltern beunruhigende Nachrichten zugeleitet wurden. Es ist für mich eine Ehrensache[,] diesen Irrtum im Interesse meiner Eltern richtig zu stellen. Man hat uns natürlich einige Tatsachen mitteilen müssen, aber meine Eltern haben uns dann unsere Gedanken auszureden versucht und vor allem mit keinem Wort geklagt.“418 Die wachsende Unruhe und Unsicherheit in der Bevölkerung, die sich freilich nicht zu Protestaktionen ausweitete, konnte insbesondere deshalb zum so genannten „Euthanasiestopp“ vom August 1941 führen, weil sie mittels bestehender institutioneller Apparate bis zur Regimespitze transportiert wurde. Als Katalysatoren können dabei in jedem Fall Teile der Justiz und der Kirchen gelten; eine mögliche Rolle der Wehrmacht ist bislang ungeklärt. Die Justizbehörden wurden, ohne dass zuvor systematische Informationen ergangen wären, schnell mit den Krankentötungen konfrontiert419 – sei es in Vormundschaftssachen, wegen der Nachlassverwaltung, durch die Ermordung der forensischen Patienten oder in Einzelfällen auch mittels Strafanzeigen wegen Mordes.420 Da es verschiedentlich zu Unklarheiten kam, wie Gerichte und Staatsanwaltschaften reagieren sollten, informierte das Justizministerium im Verbund mit „T4“ schließlich im April 1941 bei einer Konferenz in Berlin offiziell die Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten, darunter auch den für Hadamar zuständigen Generalstaatsanwalt Dr. Kurt Wackermann (Frankfurt) und vermutlich ebenfalls den Frankfurter Oberlandesgerichtspräsidenten Ungewitter. Den leitenden Juristen wurde zur Auflage gemacht, sämtliche Vorgänge in ihrem Bezirk, durch die die Justiz mit der so genannten „Euthanasie“ in Berührung kam, zur Chefsache zu erklären und mögliche Strafanzeigen unkommentiert an das Reichsjustizministerium weiterzuleiten.421 Generalstaatsanwalt und OLG-Präsident unterrichteten unmittelbar nach der Berliner Sitzung die ihnen zugeordneten Oberstaatsanwälte beziehungsweise Landgerichtspräsidenten, welche wiederum teilweise sogar die Amtsgerichtsjuristen im Bezirk – beispielsweise auch den Leiter des Amtsgerichts Hadamar – instruierten, dass der „Führer und Reichskanzler [...] angeordnet“ habe, „dass unheilbaren Kranken und Geisteskranken letzte Hilfe gewährt werden“ könne.422 Eine derart weite Streuung von offiziellem Wissen über Hitlers „Gnadentoderlass“ wird eher dazu beigetragen haben, die Kenntnisse der Öffentlichkeit über die Krankenmorde zu vergrößern, als dass dadurch die Geheimhaltung gestärkt 417 LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 111, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Schlüter, an Leutnant G. B., Feldpost-Nr. 19209 B (28.08.1941, ab: 28.08.1941). 418 Ebd., Bl. 112, Leutnant G. B., Feldpost-Nr. 19209 B, an BV Nassau („Herr Landesrat“) (14.09.1941). 419 Zur Haltung aus Kreisen der Justiz zu den NS-„Euthanasie“-Verbrechen siehe z. B. Friedlander, Weg (1997), S. 199–209. 420 Zu Nachlass- u. Vormundschaftssachen vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 228–230, Zeugenaussage Eduard K. [Leiter d. AG Hadamar] im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 376; siehe auch die Vorgänge im Fall des brandenburgischen Amtsrichters Lothar Kreyssig, der die Verlegung seiner Mündel untersagte: z. B. beschrieben bei Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 245–248, S. 252 f.; Klee, „Euthanasie“(1983), S. 209; zu den (nach § 42b RStGB untergebrachten) forensischen Patienten siehe Friedlander, Weg (1997), S. 201, S. 528 (Anm. 42 f.), mit Hinweis auf BA, R3001/alt R22/5021, diverse Dokumente (1940–1941). 421 Am 23.04.1941 in Berlin, es nahmen u. a. für „T4“ Viktor Brack u. Werner Heyde sowie für das Reichsjustizministerium Roland Freisler u. Franz Schlegelberger teil, außerdem der Volksgerichtshofspräsident Georg Thierack: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 162 f. (Aussage Dr. Hans Quambusch); ebd., Bd. 5, Bl. 510–514, Aussage GenStAnw a. D. Dr. Wackermann, Ffm, ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.10.1946), Durchschr. (falsche Datierung der Sitzung); ebd., Bd. 7, Bl. 312–332, Zeugenaussage Kurt Wackermann im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 312–315, Bl. 317–320, Bl. 328 f. (falsche Datierung der Sitzung); ebd., Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 333 f., Bl. 337, Bl. 340, Bl. 356; edb., Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 373, Bl. 377; IfZ, Stichwortprotokoll d. OLG-Präs. Dr. Alexander Bergmann, Köln, über die Referate von Brack u. Heyde auf der Tagung (23.04.1941), abgedr. b. Aly, Medizin (1985), S. 26 f., u. b. dems., Aktion (1989), S. 56 f.; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 126–129; Friedlander, Weg (1997), S. 208 f.; Kramer, Oberlandesgerichtspräsidenten (1984). 422 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 312–332, Zeugenaussage Kurt Wackermann im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 314 f., Bl. 332; ebd., Bl. 228–230, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 228 (dort das Zitat). 502 IV. Zeit der Gasmorde worden wäre.423 Als der Darmstädter Oberlandesgerichtspräsident die ihm zugeordneten Landgerichtspräsidenten informierte, berichteten diese ihm über die Gerüchte in ihren Bezirken im Land Hessen; zudem „habe aus den Formen der Todesanzeigen in verschiedenen Fällen entnommen werden können, daß eine solche Aktion tatsächlich durchgeführt werde.“ Während der Besprechung wurde die Auffassung vertreten, die Tötungen sollten doch besser – nach Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes – öffentlich erfolgen. Dieser Position aus dem Kreis der Gerichtspräsidenten zufolge wäre eine „offene Durchführung der Maßnahmen [...] umsoweniger Schwierigkeiten [begegnet], als die Maßnahmen von dem weitaus überwiegenden Teil des Volkes als völlig berechtigt und notwendig anerkannt würden.“424 Zwar ohne eine konkrete Widerstandsposition einzunehmen, trug der Wiesbadener Oberstaatsanwalt Dr. Hans Quambusch, der schon vor dem Krieg nicht bedingungslos der Parteilinie gefolgt war,425 doch durch seine Haltung dazu bei, die Kenntnisse über die Verbrechen in den Anstalten zu verbreiten. Nachdem er relativ früh die in Wiesbaden umlaufenden Gerüchte gehört hatte und dann durch eine Nachlassangelegenheit mit den Vorgängen in Hadamar konfrontiert worden war, verschaffte er sich (nach eigenen Angaben) „nicht in amtlicher Eigenschaft, wohl aber unter Benutzung meiner amtlichen Machtmittel“ Klarheit. Unter anderem bestätigte der oberste Medizinalbeamte beim Wiesbadener Regierungspräsidium, Dr. Erich Schrader, ihm die Morde. Im Gegensatz zu den Gerichtspräsidenten im OLG-Bezirk Darmstadt kam Quambusch zu der Einschätzung, dass in der Bevölkerung „die überwiegende Mehrheit die Tötung der Kranken aufs schärfste verurteilt, und zwar [aus] religiösen, rechtlichen, medizinischen, sozialen Gründen. Nur eine geringe Minderheit hält die Tötung unheilbar Geisteskranker für tragbar.“ Der Wiesbadener Oberstaatsanwalt informierte daraufhin – noch vor der Berliner Konferenz – den Frankfurter Generalstaatsanwalt Dr. Kurt Wackermann.426 Wie Quambusch aussagte, wurde er innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, des Landgerichtsbezirks Wiesbaden, in keinem einzigen Fall mit einer Strafanzeige wegen der Krankenmorde befasst. Allerdings wandte sich der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, über einen Mittelsmann an den früher in Münster tätigen Quambusch und ließ ihn zur Verlegung der Psychiatriepatienten befragen. Von Galen erkundete, ob eine „Anzeige wegen Vorhabens eines Mordes“ zulässig oder empfehlenswert sein könne; Quambusch konnte darauf nur antworten, dass eine solche Anzeige zwar erstattet werden könne, jedoch „voraussichtlich nicht beantwortet werden“ würde. Unmittelbar nach 1945 sah Quambusch sich Angriffen durch die Presse ausgesetzt, da er von den Tötungen Kenntnis gehabt habe, ohne dagegen vorzugehen, während er selbst doch „ganz im Gegenteil“ glaubte, sich durch die interne Weitergabe seiner Erkenntnisse „ein bescheidenes Verdienst erworben zu haben.“427 423 Siehe dazu auch Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 275. BA, R3001/alt R22/3361 [= ehem. Nr. 20019], Bl. 40–44, OLG-Präs. Darmstadt, Dr. Scriba, an Reichsjustizministerium (10.05.1941), hier Bl. 43 (Zitat „habe aus [...]“), Bl. 44 (Zitat „offene Durchführung [...]“). 425 Nachdem sich die Kanzlei des Führers in zunehmendem Maße in Gnadenangelegenheiten eingeschaltet hatte, beurteilte auf eine Rundfrage des Reichsjustizministeriums über die Erfahrungen damit allein der Wiesbadener Oberstaatsanwalt „die Lage allgemein negativ und bezeichnete die Einschaltung der Kanzlei des Führers als nachteilig. Das an sich schon komplizierte Gnadenwesen sei dadurch noch komplizierter und langwieriger geworden“: Noakes, Bouhler (1986), S. 215, u. a. mit Hinweis auf BA, R3001/alt R22/1230, Bericht OStAnw in Wiesbaden an Reichsjustizminister (05.01.1939). 426 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 502 f., Bericht von Ober-Reg.- u. -Med.-Rat Dr. Schrader auf Ersuchen der amerikanischen Militärregierung in Wiesbaden (o. D. [angefordert am 21.04.1945]), Abschr., hier Bl. 502; ebd., Bl. 510–514, Aussage GenStAnw a. D. Dr. Wackermann, Ffm, ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.10.1946), Durchschr., hier Bl. 514 f.; ebd., Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 372 f., Bl. 376, Bl. 379; ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946) (Zitate „[...] amtlichen Machtmittel“ u. „[...] überwiegende Mehrheit [...]“). 427 Ebd., Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 163, Aussage Dr. Hans Quambusch (keine Anzeige); ebd., Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 374 (Zitat „[...] bescheidenes Verdienst [...]“; Quambusch fragte rhetorisch: „Oder aber hätte die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen Adolf Hitler einleiten sollen?“); ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946) (Zitate zum Kontakt mit v. Galen). – Zu Quambuschs Amt als OStAnw in Münster siehe Handbuch (1935), S. 714; zu Quambuschs Rolle bei der juristischen Verfolgung von Korruption in der HEA Kalmenhof u. der LHA Eichberg 1943/44 siehe Kap. V. 2. b). 424 3. Kooperation während der Gasmorde 503 Tatsächlich erstattete Bischof von Galen Ende Juli 1941 in Münster Anzeige und protestierte zugleich beim westfälischen Provinzialverband, nachdem eine an die Provinzialheilanstalt Münster gerichtete Verlegungsaufforderung an ihn weitergegeben worden war. Wie zu erwarten erhielt er weder von der Polizei noch vom Landeshauptmann eine Reaktion.428 Die Initiative von Galens fügte sich zunächst ein in eine zwar grundsätzlich ablehnende Haltung der christlichen Kirchen gegenüber den NS-„Euthanasie“-Verbrechen – eine Haltung, die sich jedoch lange Zeit nicht öffentlich artikulierte. Bereits Mitte 1940 hatten der Vizepräsident des Centralausschusses der Inneren Mission, Pastor Paul Gerhard Braune,429 und der württembergische Landesbischof Theophil Wurm430 in Denkschriften und Briefen an die Regimespitze gegen die Morde protestiert, auch Vertreter der katholischen Kirche wie Bischof Adolf Bertram als Vorsitzender der Bischofskonferenz äußerten 1940 schriftlich ihre Ablehnung, wenn auch mit äußerst abgemilderten Worten.431 Erst Anfang Juli 1941 machte die katholische Kirche ihre Haltung durch einen Hirtenbrief öffentlich, wenn sie auch in diesem (in den Gottesdiensten verlesenen) Schreiben insgesamt die antikirchliche NS-Politik kritisierte und weiterhin nur „recht verschlüsselt auf die Krankentötungen“ einging: „Nie, unter keinen Umständen, darf ein Mensch, außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“432 Doch da die Zuhörer vielfach verstanden, was gemeint war, kam es nach SD-Einschätzung zu „einer außerordentlichen Beunruhigung der Bevölkerung infolge der Verlesung dieses Hirtenbriefes.“433 Insofern konnte die Predigt, die Bischof von Galen vier Wochen später in Münster hielt und in der er die Tötungen nun deutlich als „Mord“ an „armen wehrlosen Kranken“ anprangerte, bereits auf fruchtbaren Boden fallen.434 Dieses Bischofswort – für Goebbels „eine unverschämte und provozierende Rede“435 – erlangte nicht zuletzt durch die tausendfache Verbreitung in hektografierter Form eine enorme Massenwirkung; der Abwurf des Predigttextes auf Flugblättern durch die Royal Air Force, auch über dem Stadtgebiet von Wiesbaden,436 tat ein Übriges. Dass von Galen infolge der Predigt nicht vor dem Volksgerichtshof wegen Landesverrates angeklagt und verurteilt wurde, war offenbar nur darauf zurückzuführen, dass es dem NS-Regime trotz zeitweilig anders lautender Überlegungen Hitlers „wohl im Augenblick psychologisch kaum tragbar“ erschien, „ein Exempel [zu] statuieren“.437 Dies wiederum wirkte auf Teile der Bevölkerung geradezu als Bestätigung der Worte Galens, denn da sich bis 1942 „keine Behörde gefunden [hatte ...], die gegen den Bischof von Münster entsprechend vorgegangen wäre“, schlussfolgerte man: „Seine Anklage muss also wohl stimmen.“438 Der Limburger Bischof Antonius Hilfrich nutzte die Stimmungslage im August 1941 und äußerte sich zehn Tage nach der Galenpredigt ebenfalls in deutlichen Worten gegen die Morde, während ihm zwei Jahre zuvor durch den SS-Geheimdienst noch ausdrücklich das Bemühen attestiert worden war, 428 Walter, Psychiatrie (1996), S. 733. BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 3–14, P. G. Braune, Denkschrift an Hitler (09.07.1940), hier n. d. Abdr. in Aly, Aktion (1989), S. 23–32; siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 210–213. – Zu Paul Gerhard Braune (1887–1954) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 381. 430 Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 200, S. 213 f.; Benz/Pehle, Lexikon (1994), S. 178–181 (Artikel „Bekennende Kirche“), hier S. 180. 431 Ebd. (Klee), S. 221 f., dort auf S. 222 ein Zitat aus dem Schreiben Bertrams („Der Episkopat bittet, [...] soweit erforderlich, dafür Sorge tragen zu wollen, daß die [...] Besorgnisse und Gerüchte keinerlei Begründung in entsprechenden Tatsachen finden“); Höllen, Episkopat (1989), S. 86; Friedlander, Weg (1997), S. 196. 432 Ebd. (Klee), S. 334, danach auch das Zitat aus der die am 06.07.1941 verlesenen Erklärung der Bischöfe (26.06.1941); siehe auch Höllen, Episkopat (1989), S. 89. 433 SD, Meldungen aus dem Reich (Nr. 204) (21.07.1941), zit. n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 7, S. 2545–2559, hier S. 2549. – Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung, in der Edition durch Kursivdruck. 434 Zu der Predigt am 03.08.1941 siehe u. a. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 334 f.; Kershaw, Widerstand (1986), S. 793; Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201; v. Norden, Widersetzlichkeit (1994), S. 76 f.; Walter, Psychiatrie (1996), S. 679, S. 734–736. 435 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (14.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 229–234, hier S. 232. 436 Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 244; vgl. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 335. 437 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (14.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 229–234, hier S. 232; vgl. auch dto. (19.08.1941), nach ebd. (Fröhlich), S. 255–272, hier S. 258, S. 266. 438 Beschwerde der Angehörigen eines Patienten an das Erbgesundheitsgericht Bochum, Az. 6 XIII 40/42 (08.06.1942), hier zit. n. d. Faks. b. Teppe, Massenmord (1989), S. 32; zum Dilemma der Justiz, die generell etwa auch durch Heimtückeverfahren nur noch zur weiteren Verbreitung der Kenntnisse über die geheime Mordaktion beigetragen hätte, siehe Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 263. 429 504 IV. Zeit der Gasmorde „sich den nat.soz. Ideen anzupassen, indem von einem kirchlichen Antisemitismus, einer ‚positiven‘ Rassenlehre usw. gesprochen wurde.“439 Hilfrichs Stellungnahme im August 1941 geschah allerdings wie frühere Kirchenäußerungen nicht öffentlich, sondern in einem Schreiben an den Reichsjustizminister (mit Durchschriften an den Innen- und den Kirchenminister), das in der Regierung umfangreiche Beachtung fand. Plastisch schilderte Hilfrich die Kenntnisse, die über die Mordanstalt Hadamar in deren Umgebung vorlagen, sowie die damit verbundenen Ängste der Bevölkerung. Er forderte den Minister auf, „weitere Verletzungen des fünften Gebotes Gottes verhüten zu wollen.“440 Das Bischöfliche Ordinariat in Limburg verbot wenig später den Ordensleuten jede Tätigkeit, die eine aktive Mitwirkung an der Verlegung behinderter Menschen in eine Mordanstalt hätten bedeuten können.441 Wenn auch die Kirchen und noch mehr die Justiz weit davon entfernt waren, als Institutionen insgesamt eine oppositionelle Rolle im Hinblick auf die Krankenmorde zu übernehmen,442 so trugen doch Einstellungen und Handlungen einiger Protagonisten dazu bei, auf wirksame Weise Sand ins Getriebe eines zunächst reibungslos laufenden Mordapparates zu streuen. Entsprechende Beiträge aus der Disziplin der Medizin blieben dagegen weitgehend aus. Vernehmbar ablehnende Stimmen aus Medizinerkreisen wie die des Göttinger Ordinarius Prof. Dr. Gottfried Ewald443 zählten zu den Ausnahmen.444 Als solche gelten können auch der Direktor der Anstalt Lübeck-Strecknitz, Dr. med. Johannes Enge, der 1941 in einem Fachaufsatz öffentlich gegen die Krankentötungen Stellung nahm,445 sowie der 80-jährige Prof. Dr. Georg Ilberg, langjähriger Direktor der Anstalt Pirna-Sonnenstein, der 1942 kurz vor seinem Tod im Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie innerhalb einer Rezension zu Enges Aufsatz ausführte: „Wenn man heutzutage [...] die Erbkranken und mit ihnen oft die Geisteskranken [...] herabwürdigt, ja für die Vernichtung schwerer Fälle eintritt [...,] so ist dies ein großes Unrecht.“446 Derartige Äußerungen spielten anscheinend so gut wie keine Rolle für den Abbruch der Gasmorde in Hadamar am 24. August 1941 – übrigens nur in Hadamar (und möglicherweise in Pirna-Sonnenstein), denn in den übrigen noch bestehenden „T4“-Anstalten gingen die Gasmorde weiter, wenn auch nicht mehr an Psychiatriepatienten, so doch nun an KZ-Häftlingen (sog. „Sonderbehandlung 14f13“).447 Die Hintergründe für den „Euthanasiestopp“ waren in der Forschung lange unklar. Die zeitweise vertretene These, der „Stopp“ sei erfolgt, da ein ursprüngliches „Planziel“ von 70.000 Toten erreicht gewesen 439 1. Vierteljahresbericht 1939 des Sicherheitshauptamtes, zit. n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 2, S. 215–330, hier S. 229. 440 BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 92–94, Bischof von Limburg, Dr. Hilfrich, an Reichsjustizminister (13.08.1941), abgedruckt b. Stöffler, „Euthanasie“ (1961), S. 322 f., sowie b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 92–94, sowie teilweise (erste Seite) b. Euthanasie (1991), S. 36 (Dok. III. 27); vgl. auch BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 163, Reichsminister f. d. kirchlichen Angelegenheiten, gez. Kerll, an Reichsleiter Bouhler, Chef d. Kanzlei d. Führers, „persönlich!“ bzw. an Reichsminister u. Chef d. Reichskanzlei [Lammers] (beides 04.09.1941), hier als Abschr. von Reichsminister f. d. kirchlichen Angelegenheiten an Reichsminister d. Justiz (04.09.1941); siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 336 f.; Schatz, Geschichte (1983), S. 284 f.; Rebentisch, Revolution (1983), S. 242 f. 441 Rundschreiben d. Bischöflichen Ordinariats Limburg, Ad. N. O. E. 4883 (08.10.1941), abgedr. b. Stöffler, „Euthanasie“ (1961), S. 323 f., u. b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 94 f. – Ausdrücklich untersagt wurde 1.) die Kennzeichnung der Betreffenden, 2.) die medikamentöse Ruhigstellung u. 3.) die Aufforderung, sich zum Transportwagen zu begeben, erlaubt wurden dagegen „alle Liebesdienste, die nur auf das seelische und leibliche Wohl des Kranken hinzielen.“ 442 Aly, Medizin (1985), S. 44, übt scharfe Kritik an den Darstellungen von Gruchmann, Euthanasie (1972), wonach „die Justiz [...] die ‚Euthanasie‘ ‚eingedämmt‘ [habe], wenn es ihr auch nicht gelungen sei, das ‚Euthanasie‘-Verfahren mit ‚allen nötigen Sicherungen normativ einzuhegen‘.“ (Hervorhebung bei Aly gesperrt). – Grundlegend für die Kritik an der Haltung der Justiz im Zusammenhang mit den „Euthanasie“verbrechen ist der Aufsatz von Kramer, Oberlandesgerichtspräsidenten (1984). 443 Siehe dazu Kap. IV. 2. a). 444 Vgl. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 219. 445 Enge, Zukunft (1941); bereits im Vorjahr hatte er das Recht psychisch kranker Patient/inn/en auf medizinische Behandlung betont: Enge, Heilanstalt (1940), zur Haltung von Enge (1877–1966) siehe auch Ptok/Dilling, Psychiatrists (1999), S. 325 f.; siehe auch Kap. III. 3. c). 446 Ilberg (1942), S. 382, hier zit. n. Lienert, Ilberg (2000), S. 72 f., dort auch mit Hinweis auf Masuhr/Aly, Blick (1985), S. 93. – Prof. Dr. Georg Ilberg (1862–1942) war 1910–1928 Dir. d. Anstalt Sonnenstein. 447 Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201. – Zur Ermordung der KZ-Häftlingen im Rahmen der sog. „Sonderbehandlung 14f13“ siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 345–352; Grode, „Sonderbehandlung“ (1987); Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 217–219; in Bezug auf Bernburg siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 70 f., S. 127–133; in Bezug auf Pirna siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 158–166 (dort Hinweis auf nur unsichere Belege für eine evtl. vereinzelte Fortführung der Morde in Pirna nach dem Aug. 1941). – Zur Frage weiterer Gasmorde in Hadamar im Winter 1941/42 siehe Kap. V. 1. a). 3. Kooperation während der Gasmorde 505 sei,448 kann als widerlegt gelten. Inzwischen ist eindeutig erwiesen, dass es sich um einen ungeplanten, vorzeitigen Abbruch der „T4-Aktion“ handelte.449 Der „Stopp“befehl kam für die Mitwirkenden vor Ort völlig überraschend. In der Anstalt Hadamar hieß es, der „Stopp“ sei durch „ein Blitzgespräch aus Berlin“ übermittelt worden, in einem Betriebsappell sei mitgeteilt worden, dies geschehe „[g]emäß einem Erlaß des Führers“.450 Die „Zwischenanstalten“ der Mordanstalt Hadamar wurden ebenfalls telefonisch informiert, „die Aktion wird abgebrochen, abgeschlossen“, dabei erfolgte die Nachricht so überraschend, dass beispielsweise in Weilmünster eine Gruppe von potenziellen Opfern (ein so genannter „Transport“) bereits zur Verlegung nach Hadamar zusammengestellt worden war, dann jedoch nicht mehr abgeholt wurde.451 Die Unterbrechung der Morde erklärt Aly mit „außen-, aber auch innenpolitische Gründen“.452 Letztlich scheint allein die Beunruhigung der Bevölkerung und die damit verbundene Gefahr für eine erfolgreiche Kriegsführung die entscheidende Messgröße gewesen zu sein: die Führung des „Dritten Reiches“ wollte oder konnte „in einer solchen militärisch und politisch heiklen Situation unerwünschte Auswirkungen auf die Massenloyalität“ nicht in Kauf nehmen.453 Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass auch die Wehrmacht – mehr um die Moral der Truppe besorgt als um die psychisch kranken Menschen in der Heimat – die Entscheidung zum „Stopp“ mit beeinflusst hat.454 Im Bereich des Bezirksverbandes Nassau verbreitete sich die Information, der „Stopp“ sei erfolgt, „weil die Wehrmacht sich dagegen ausgesprochen hätte.“455 Nach einer Kolportage des „T4-Gutachters“ Mennecke besagte ein zeitgenössisches Gerücht, Hitler persönlich habe von seinem Sonderzug aus im nordöstlichen Bayern die ablehnende Reaktion der Bevölkerung auf eine Deportation psychisch kranker Menschen in Zügen miterlebt und daraufhin die Entscheidung zum „Stopp“ getroffen.456 Man kann annehmen, dass der 1941 noch vielfach ungebrochene „Hitler-Mythos“457 die Grundlage für ein derartiges Gerücht gebildet hat. Bei ihrer Interpretation der Haltung der Bevölkerung setzte die NS-Führung diese – wohl nicht völlig zutreffend – mit den kirchlichen Protesten weitgehend in eins.458 Bemerkenswert ist insofern auch, dass beinahe zeitgleich mit dem einstweiligen Stopp der Krankenmorde auch die (bis dahin nach wie vor in Gang befindliche) Beschlagnahme und Verstaatlichung von Kirchen- und Klösterbesitz459 nach „sehr 448 Aly, Aktion (1989), S. 11; vgl. Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 211; vgl. Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 53 f. (dort bereits Gegenargumente). 449 Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 287; ders., Hungersterben (1998), S. 272–275 (dort auch Ausführungen zur Genese der „Planerfüllungs-Hypothese“); Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 408 f.; Harms, Hungertod (1996), S. 21; Walter, Psychiatrie (1996), S. 678 f.; siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 350 (dort schätzt Heyde die Zahl der Menschen, die ohne den „Stopp“ noch ermordet worden wären, auf „vielleicht 25 000–30 000“). 450 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 59, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947) (Zitat „ein Blitzgespräch [...]“); ebd., Bl. 129, Protokoll d. Vernehmung d. Angeklagten Judith T. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (Zitat „Gemäß einem [...]“). 451 Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 127, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (Zitat „die Aktion [...]“); ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 189, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. HvTag (04.03.1947). 452 Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201. 453 Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 54 (dort das Zitat); Friedlander, Weg (1997), S. 249. 454 Zur Kenntnis unter den Soldaten siehe oben in diesem Kap. IV. 3. c). – Goebbels notierte, wenn auch einen Monat nach dem „Stopp“, nun „wendet sich auch schon die Wehrmacht an mich und bittet mich um Maßnahmen gegen Bischof Graf Galen in Münster“: Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (27.09.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 501–506, hier S. 504. 455 So in der LHA Weilmünster: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 127, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); entsprechend auch ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 189, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). 456 Ebd., Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 142; ebd., Bd. 4, Bl. 25, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im EichbergProzess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). – Mennecke nannte eine Fahrt Hitlers von München nach Berlin und lokalisierte den Vorfall in der „Gegend der bayrischen Ostmark“ bzw. „auf der Höhe von Hof“. 457 Siehe u. a. Kershaw, Popularität (1988), S. 42. 458 Im direkten Zusammenhang mit dem „Euthanasiestopp“ bemerkte Goebbels: „Die Kirchenfrage ist nach dem Kriege mit einem Federstrich zu lösen. Während des Krieges läßt man besser die Finger davon; da kann sie nur als heißes Eisen wirken“: Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (23.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 293–299, hier S. 299. 459 Zu den entsprechenden Initiativen unter Beteiligung von Mitarbeitern des BV Nassau siehe Kap. III. 1. 506 IV. Zeit der Gasmorde strikten Anweisungen“ Hitlers ausgesetzt wurden, um „jetzt alle Maßnahmen [zu] unterlassen, die unseren politisch-konfessionellen Gegnern es ermöglichen, Unruhe in die Bevölkerung zu tragen“.460 Bis in heutige Tage hat sich vielfach der „Mythos aus der Nachkriegszeit“461 erhalten, nach den kirchlichen Protesten sei durch den „Euthanasiestopp“ im August 1941 das Morden tatsächlich beendet worden.462 Dabei hatte bereits das Landgericht Frankfurt 1947 in seinem Urteil im „Hadamar-Prozess“ in sehr eindeutiger Form zur Situation nach dem so genannten „Euthanasiestopp“ festgestellt: „Die Vernichtung von Menschen wurde [...] in noch hemmungsloserer Art und Weise durch Einzeltötungen mit Hilfe überdosierter Giftmengen fortgesetzt. Eingestellt wurde lediglich die Massentötung durch Vergasung, die sich trotz aller Anstrengungen in der Bevölkerung nicht hatte verheimlichen lassen, die Unruhe und Empörung in ihr erweckte und vor allem hervorragende Vertreter der Kirchen beider Konfessionen veranlaßt hatte, bei den höchsten Stellen des Staates und zum Teil auch in aller Öffentlichkeit gegen diese Tötungen, die als Mord bezeichnet wurden, Einspruch zu erheben. Das ist nach Überzeugung des Gerichts [...] der alleinige Grund für den Wechsel in der Methode.“463 Die damalige Einschätzung des Gerichts bedarf auch nach heutigem Forschungsstand keiner Korrektur. Von vornherein schien den „T4“-Organisatoren klar, dass es sich nur um eine Unterbrechung – eventuell bis nach Kriegsende – handeln sollte.464 Entsprechendes lässt sich auch aus Goebbels’ Bemerkungen entnehmen, der Mitte August 1941 noch mit Hitler klären wollte, ob dieser „im Augenblick in der Öffentlichkeit eine Debatte über das Euthanasie-Problem“ wünsche, dann jedoch gut eine Woche später – angesichts des nunmehr beschlossenen „Stopps“ der Gasmorde – die Position vertrat: „Das Volk ist jetzt mit so schweren Sorgen beladen, daß man auch schon aus Gerechtigkeitsgründen bestrebt sein muß diese Sorgen nicht noch künstlich zu vergrößern und zu vermehren. Ob es überhaupt richtig gewesen ist, die Frage der Euthanasie in so großem Umfang, wie das in den letzten Monaten geschehen ist, aufzurollen, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls können wir alle froh sein, wenn die daran angeknüpfte Aktion zu Ende ist. Notwendig war sie. [...] Trotzdem aber vertrete ich den Standpunkt, daß man nach Möglichkeit den offenen Konflikt vermeiden soll. Wir haben jetzt auch nicht genügend Zeit und Nerven, um ihn bis zur letzten Konsequenz durchzusetzen. Das wollen wir uns lieber für bessere Zeiten aufsparen.“465 Die schon bald geplante Weiterführung hatte auch zur Folge, dass „T4“-Vertreter Dr. Herbert Linden aus dem Reichsinnenministerium 1941 weiterhin auf der Ausfüllung von Meldebogen insistierte Ende und prospektiv von dem Personenkreis sprach, „der in die planwirtschaftlichen Maßnahmen einbezogen werden soll“.466 In der Berliner „T4“-Zentrale, wo man die eingehenden Bogen unverändert bear- 460 BA, NS22/714, Schreiben Martin Bormann an Robert Ley (03.09.1941), hier zit. n. Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 226 f.; ebd., auch Hinweis auf BA, R1501/alt R18/3080, Anordnung d. Parteikanzlei, gez. Bormann, an die Gauleiter (30.07.1941), Abschrift („Der Führer hat angeordnet: Ab sofort haben Beschlagnahme von kirchlichem und klösterlichem Vermögen bis auf weiteres zu unterbleiben“); zum konkreten Anlass der Unruhe (NSV-Übernahme konfess. Kindergärten) siehe auch Kap. V. 4. a). – Vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, Karl Mennecke [Bruder von Fritz Mennecke], Landau, an Eva u. Fritz Mennecke, z. Zt. Schacksdorf (19.12.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 281 f. (Dok. 94), hier S. 281 („[...], daß einstweilen Eure Tätigkeit abgestoppt werden soll zur allgemeinen Beruhigung, ferner auch das Einziehen geistlicher Anwesen“). – Zum angebl. Einsatz von OP Philipp Prinz von Hessen für die Aussetzung der antikirchlichen Aktionen 1941 vgl. HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Hauptakten Bd. I, Bl. 85, Aussage Dr. Hans St. in Kassel ggü. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager im Verfahren gegen Philipp Prinz von Hessen (28.03.1947), Abschr. – Zur vorübergehenden Beschwichtigung ggü. den Kirchen siehe auch SD, Meldungen aus dem Reich (Nr. 237) (13.11.1941), hier n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 8, S. 2970–2994, hier S. 2972. 461 Friedlander, Weg (1997), S. 249. 462 Dies gilt zwar nicht mehr für die direkt mit dem Thema befasste Fachliteratur, aber doch für weite Kreisen einer interessierten Fachöffentlichkeit, wie sich vielfach bei Diskussionen zum Thema feststellen lässt. 463 HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [Verkündung: 26.03.1947]), hier Bl. 1296. 464 Siehe z. B. NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-426, 8-seitiges Protokoll d. eidesstattl. Vernehmung Viktor Brack (12.10.1946, Unterschrift: 14.10.1946), hier n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. (S. 6). 465 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (23.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996), S. 293–299, hier S. 299. 466 BA, R96 I/2, Bl. 127387 f., RMdI, gez. i. A. Dr. Linden, Erl. IV g 8336/41–5106, an PV Rheinprovinz (03.11.1941); vgl. auch Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 415. – Eine Bestandsaufnahme über den Stand der Meldebogenerfassung hatte „T4“ unmittelbar nach dem sog. „Euthanasiestopp“ vorgenommen: BA, R96 I/6, Bl. 125291–125334, Liste der Heil- und 3. Kooperation während der Gasmorde 507 beitete,467 „lief der Apparat auf vollen Touren“, wie deren Wirtschaftschef Friedrich Lorent bemerkte: „Man war überzeugt, daß die Euthanasie sich irgendwie fortsetzen würde, und mit der Ausarbeitung von neuen Plänen und Vorschlägen über die prakt. Durchführung der Euthanasie befasst.“468 Ohnehin war die so genannte „Kindereuthanasie“, die Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher „niemals von den Stoppbefehlen Hitler[s] betroffen worden.“469 Bernotat sah sich zwei Monate nach dem „Euthanasiestopp“ veranlasst, gegenüber den ihm unterstellten Anstalten organisatorische Vorkehrungen zu treffen, „damit sich die weitere Abwicklung der Aktion reibungslos vollzieht.“470 Und der an den Gasmorden beteiligte Arzt Hans Bodo Gorgaß blieb in den folgenden Monaten zunächst in Hadamar, da es „hieß, es könne jeden Tag wieder weiter gehen.“471 Dass die „Euthanasie“-Verbrechen in Hadamar schließlich ohne weitere Verwendung der Gaskammer fortgesetzt werden sollten, kristallisierte sich unter den Beteiligten erst im folgenden Jahr 1942 heraus.472 *** Während der Gasmorde 1941 in Hadamar beteiligte der Bezirksverband Nassau sich mit verschiedenen Maßnahmen an der Desinformation von Angehörigen der Psychiatriepatientinnen und -patienten. Eine allgemeine Besuchssperre diente der Fernhaltung der Familienmitglieder, um die ungestörte Verlegung der Opfer in die Mordanstalt zu gewährleisten. Durch Tausende von Verlegungsmitteilungen, die der Bezirksverband in seiner Wiesbadener Hausdruckerei fertigte, rationalisierte er die Irreführung der Angehörigen über den Aufenthaltsort der kranken und behinderten Menschen. Indem der Bezirksverband sich in den Verlegungsmitteilungen (gemäß einer in ganz Deutschland geübten Praxis) auf eine Weisung des Reichsverteidigungskommissars berief, täuschte er den Familien vor, die Verlegung sei eine kriegsbedingte Maßnahme; zugleich diente dem Anstaltsdezernenten Bernotat die Bezugnahme auf den Reichsverteidigungskommissar zur Steigerung seiner Autorität. Die von den Angehörigen in Einzelfällen dennoch unternommenen Rettungsversuche schmetterte der Bezirksverband nach Möglichkeit ab und gab ihnen nur nach, wenn die Geheimhaltung akut gefährdet schien. Dass trotzdem gerade in der Nähe der Mordanstalt Hadamar die Geheimhaltung binnen weniger Wochen als gescheitert gelten musste und später zur Unterbrechung der Mordaktion führte, war nicht auf ein mangelndes Engagement seitens des Bezirksverbands Nassau zurückzuführen, sondern auf grundsätzliche Fehleinschätzungen durch die „T4“-Mordorganisatoren insgesamt. Der Versuch einer Täuschung von Öffentlichkeit und Angehörigen war nur einer unter mehreren Beiträgen, die der Bezirksverband Nassau im Jahr 1941 zur Mordaktion von „T4“ leistete. Während diese zentrale Berliner Mordorganisation, eine Institution der Kanzlei des Führers, zwischen Januar und August 1941 in der Anstalt Hadamar die Gasmorde an mehr als 10.000 psychisch kranken und geistig behinderten Menschen beging, kümmerte sich die Wiesbadener Zentralverwaltung des Bezirksverbandes auch auf andere Weise um die Absicherung des Mordens und damit um eine aktive UnterPflegeanstalten im Deutschen Reich mit Angaben zu den ausgefüllten Meldebogen (o. D. [Stand: 31.08.1941]), Kopie; Datierung nach Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 368 f. 467 Zur weiteren Registrierung der Meldebogen siehe HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Kurt M. ggü. d. LG Ffm in Bremen (03.09.1965), Kopie; zur Meldebogenerfassung insg. siehe Kap. IV. 2. a). 468 Ebd. (HStA), Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Robert [Rufname nach 1945 geändert] Lorent ggü. d. LG Ffm in Eßlingen (08.01.1962), Kopie. – Die Darstellung bezieht sich auf die Zeit ab Lorents Antritt bei „T4“ im März 1942; zu den „T4“-Abteilungen und deren Leitern siehe Kap. IV. 2. a). 469 Ebd. (HStA), Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hans Hefelmann ggü. d. LG Ffm in München (18.05.1966), Durchschr. 470 AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, Dir. Todt (27.10.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist); die Staatsanwaltschaft Koblenz interpretierte dieses Schreiben dahin gehend, Bernotat habe geschrieben, „daß die Aktion nicht eingestellt sei“: ebd., OStAnw Koblenz an Strafkammer d. LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf T. (06.08.1948), Kopie, hier S. 7. 471 HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 5, Kopie. – Zum weiteren Werdegang von Hans Bodo Gorgaß (1909–1990er Jahren) siehe biogr. Anhang. – Zur Verwendung des Hadamarer „T4“-Personals nach dem sog. „Euthanasiestopp“ siehe Kap. V. 1. a). 472 Siehe dazu Kap. V. 3 a). 508 IV. Zeit der Gasmorde stützung von „T4“, beispielsweise durch die Durchsetzung strenger Geheimhaltungsauflagen gegenüber den Bezirksverbandsmitarbeitern. Zugleich betrieb der Verband die Abwicklung der verwaltungsmäßigen Folgen, die sich aus den Morden für den Bezirksverband selbst ergaben. Dazu zählte auch die Realisierung der dadurch erwirtschafteten Überschüsse: Da (zu Lasten der Kreise und Städte) weder der Umlagesatz noch der Pflegesatz gesenkt wurden, standen weiterhin hohe Einnahmen des Verbandes den sinkenden Kosten durch die Ermordung Tausender Anstaltspatienten gegenüber.473 Bereits seit Oktober 1940, im Vorfeld der Morde, hatte der Bezirksverband die Tötungsaktion in Hadamar gefördert, indem er seine dortige Anstalt kostenlos an „T4“ verpachtete.474 Darüber hinaus stellte der Verband einen Teil seines Hadamarer Personals (und später auch einige Mitarbeiter anderer Landesheilanstalten) auf dem Wege der Abordnung für eine Mitwirkung an den Morden bereit.475 Die Befunde für den Bezirksverband Nassau und seine Rolle bei der Umsetzung der Gasmordphase der „Euthanasie“verbrechen durch „T4“ lenken den Blick auf die Frage, inwiefern einer derartigen Behörde auf der mittleren Ebene insgesamt grundsätzlich eine entscheidende Funktion für den möglichst reibungslosen Ablauf der Krankenmorde bis 1941 zukommen konnte. Wie der Politologe Seibel in seinen Überlegungen zum interpretatorischen Nutzen einer „historisch-vergleichenden Institutionenanalyse zur Erforschung des Holocaust“ darstellt, kommt in „Mehrebenensystemen [...] Mittlerinstanzen zwischen den Systemebenen eine besondere Bedeutung zu. Diese Mittlerinstanzen sind sozusagen janusköpfig: Sie trennen Handlungsarenen, die zwar miteinander – über eine ‚Schnittstelle‘ – verbunden sind, die aber dennoch eigene Akteurskonstellationen, Interessenstrukturen, Konfliktlinien, Interaktionsmodi etc. aufweisen können. [...] Auf den Verlauf von Entscheidungsprozessen in Mehrebenensystemen nehmen diese Mittlerinstanzen [...] unter Umständen in entscheidender Weise Einfluß.“ Für Seibel stellt sich daran anschließend die Frage: „Werden sie durch die Doppel- oder Mehrfachrolle, die sie zu spielen haben, handlungsunfähig oder gewinnen sie, im Gegenteil, durch ihre Mittlerrolle zwischen zwei ‚Arenen‘ eine besondere Handlungsfreiheit oder gar eine ‚besondere Machtposition‘?“476 Im Kontext der Gasmordaktion der Jahre 1940/41 lässt sich dieses Modell beinahe unverändert auf eine Reihe von Mittelbehörden im Anstaltswesen anwenden, die sich zum Scharnier zwischen der zentralen Mordorganisation „T4“ und der Region mit den dortigen Anstalten, den dortigen Kostenträgern und der dortigen Bevölkerung machten und machen ließen. Diese Behörden wurden dadurch keineswegs handlungsunfähig, sondern gewannen im Gegenteil durch ihre Mittlerfunktion an Gewicht und Handlungsfreiheit.477 Ähnlich wie die von Seibel als Beispiel angeführte Vichy-Regierung478 verfügte auch der Bezirksverband Nassau über einen eingespielten Verwaltungsapparat und konnte mit dessen Hilfe sowohl gegenüber der zentralen Instanz (in diesem Fall der zentralen Organisation „T4“) als auch gegenüber den nachgeordneten oder abhängigen Akteuren einen erheblichen Handlungsspielraum geltend machen, nicht zuletzt, da „T4“ als ein relativ kleines, junges und unstrukturiertes Gebilde gerade im Kontakt mit der regionalen Basis Defizite aufweisen musste.479 Wie der Begriff des Handlungsspielraumes impliziert, lag dieser Rollenübernahme durch den Bezirksverband keineswegs ein Automatismus zugrunde. Es ist kein Zufall, dass einige Provinzialverbände und deren Fürsorgeverwaltungen der Forschung mitunter sogar als „Sand im Getriebe des organisierten Mordens“480 erscheinen, während andere als vehemente Befürworter des Mordprogramms auftraten. Der Bezirksverband Nassau sorgte 1941 – in Verbindung mit den Folgen seiner bisherigen Überbelegungspolitik – dafür, dass besonders viele Patientinnen und Patienten aus „nassauischen“ Anstalten nach Hadamar verlegt und in der Gaskammer ermordet wurden. Die abweichenden Haltun473 Siehe Kap. IV. 3. b). Siehe Kap. IV. 2. b). Siehe Kap. IV. 2. c). 476 Seibel, Staatsstruktur (1998), S. 556. – Hervorhebung (kursiv) im Orig. 477 Zur weiteren Stellung der bis 1941 herausragend beteiligten Institutionen, insbesondere des Bezirksverbandes Nassau, in den Jahren ab 1942 siehe insb. Kap. V. 2. Kap. V. 3. 478 Seibel, Staatsstruktur (1998), S. 566 (Anm. 93). 479 Insofern ließe „T4“ sich mit der ebd. genannten „– personell dünn besetzten – deutschen ‚Aufsichtsverwaltung‘“ in Frankreich vergleichen. 480 Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 98 f. (Anm. 63), hier S. 98, mit Hinweis auf Sueße/Meyer, Abtransport (1988), hier auf die Fakultätsfassung (Med. Diss. Hannover 1984). 474 475 3. Kooperation während der Gasmorde 509 gen der verschiedenen regionalen Stellen konnten beispielsweise auch solch unterschiedliche Stellungnahmen zur Frage der Wiederaufnahme der „Euthanasie“morde haben, wie sie aus dem Provinzialverband der Rheinprovinz und aus der württembergischen Landesverwaltung verlauteten: Während die Behörde in Düsseldorf Anfang 1942 vorschlug, „von der Wiedereinführung getarnter Verlegungsmassnahmen abzusehen“, hielt man es in Stuttgart „für sehr erwünscht, dass die planwirtschaftlichen Massnahmen vollends rasch zum Abschluss gebracht werden.“481 Eine Vielzahl von Einzelhandlungen und Unterstützungsleistungen des Bezirksverbandes Nassau bei der Vorbereitung und während der Umsetzung der Gasmorde 1940/41 belegen die Wichtigkeit regionaler Kooperationspartner für „T4“. Ohne ein bereitwilliges Engagement, wie es die Führungsspitze des Bezirksverbands an den Tag legte, wäre die Realisierung des Mordplanes zwar wohl auch möglich gewesen, wäre aber auf weitaus mehr praktische Schwierigkeiten gestoßen. Dennoch schmälert die Mitwirkung der regionalen Behörden zumindest in dieser Phase der Morde die Bedeutung der zentralen Organisation „T4“, die sich auf Hitler als Legitimator stützen konnte, nicht. Während der Gasmorde blieb „T4“ stets die lenkende Instanz, die sich der regionalen Unterstützung je nach Bedarf bediente; ein prinzipieller Widerspruch zwischen Zentrale und Region tat sich nicht auf.482 Aus der Perspektive von „T4“ erschien es nicht erforderlich, dass sämtliche regionale Mittelbehörden (als Anstaltsträger) in derselben Weise aktiv wurden wie der Bezirksverband Nassau. „T4“ war in der Lage, flexibel zu reagieren, wenn eine Behörde die Unterstützung nicht im gewünschten Maße lieferte: Als etwa durch die zuständige Provinzialverwaltung im Ruhrgebiet keine geeignete Mordanstalt bereitgestellt werden konnte, wich „T4“ in den Regierungsbezirk Wiesbaden aus, wo Anstaltsdezernent Bernotat die Verpachtung der Anstalt Hadamar problemlos ermöglichte.483 In welchem Maße ein regionaler Anstaltsträger Beiträge für die „T4-Aktion“ leistete, konnte aufgabenbezogen sehr stark differieren: Alle waren mehr oder weniger umfassend an der Meldebogenerfassung beteiligt;484 dasselbe gilt auch für die spätere Irreführung der Angehörigen, wobei solchen Anstaltsträgern, die wie der Bezirksverband Nassau „Zwischenanstalten“ unterhielten, in diesem Punkt eine weitaus größere Rolle für die Vertuschung zukam als den anderen.485 Die Bereitstellung von „Zwischenanstalten“ überhaupt war eine Leistung, zu der nicht alle Anstaltsträger gewonnen wurden (und auch nicht gewonnen werden mussten). So fanden sich beispielsweise weder in den Provinzialverbänden Westfalen und Hannover noch im Bezirksverband Hessen (Bezirk Kassel) derartige Institutionen, während der Bezirksverband Nassau (ebenso wie beispielsweise das Land Sachsen) seine Anstalten in umfassender Weise für diesen Zweck mitarbeiten ließ.486 Die Bereitstellung einer eigenen Heilanstalt als Gebäude für ein „T4“-Gasmordzentrum durch den regionalen Anstaltsträger lässt sich für den Bezirksverband Nassau und für die Länder Sachsen und Anhalt feststellen. Dies indizierte bereits ein sehr weit gehendes Maß an Kooperation zwischen Regionalbehörde und „T4“.487 Noch enger wurde das Zusammenwirken, wenn der Anstaltsträger darüber hinaus auch einen Teil seines Personals zur Mitwirkung in der Gasmordanstalt an „T4“ abordnete; dies trifft nach bisheriger Kenntnis allein auf den Bezirksverband Nassau zu.488 Ob ein regionaler Anstaltsträger überhaupt die grundlegenden Beiträge zur „T4“-Mordaktion lieferte (etwa die Meldebogenausfüllung und die Krankenverlegungen), scheint außerhalb einer Diskussion gestanden zu haben. Inwieweit aber die jeweilige Behörde darüber hinaus ein Engagement zur Unterstützung der „T4-Aktion“ entwickelte, lag in erheblichem Maße am politischen Willen und in der Macht der Entscheidungsträger in der Verwaltungsspitze. In dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten 481 „T4“-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942), a. a. O., hier Bl. 126151 f. – Hervorhebung im Orig.Schreiben v. 11.07.1942 durch Unterstreichung. 482 Insofern bestätigt sich zumindest hier (noch) nicht die Hypothese von Zimmermann, Euthanasie (1997), das Gewicht des Faktors Hitler nehme mit der „radikalisierende[n] Einflußnahme [...] auch regionaler Instanzen auf die Mordpolitik“ ab. – Vgl. dazu Kap. IV. 2. a). 483 Siehe dazu Kap. IV. 1. b). 484 Siehe Kap. IV. 2. a). 485 Siehe Kap. IV. 3. c). 486 Siehe Kap. IV. 3. a). 487 Siehe Kap. IV. 2. b). 488 Siehe Kap. IV. 2. c). 510 IV. Zeit der Gasmorde Bernotat fand „T4“ einen engagierten Mitstreiter, der aufgrund seiner Präsenz und Durchsetzungskraft den Bezirksverband Nassau insgesamt zu einem verlässlichen Partner der Mordorganisation formen konnte. Diese Ausrichtung wurde durch die Unterstützung seiner maßgeblichen Landesratskollegen (wie des Personaldezernenten Kranzbühler und des Finanzdezernenten Schlüter) begünstigt, die die Krankentötungen nicht aus ethischen Gründen ablehnten, denen vielmehr in erster Linie an einer Stärkung der macht- und finanzpolitischen Stellung des Bezirksverbandes als Institution gelegen war, mit dem sie sich durch ihre jeweils mehr als zwanzigjährige verantwortliche Tätigkeit als Landesräte identifizierten.489 Die Dominanz Bernotats war aber auch durch die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Bezirksverbandes im Jahre 1940 begünstigt, die dem Anstaltsdezernenten aufgrund der Unterstützung des Gauleiters Sprenger eine vermeintliche Allmacht bescherte.490 Insgesamt genügte es „T4“ also, dass sich einige regionale Behörden fanden, die sich, gefördert durch ihre Leiter (oder die zuständigen Abteilungsleiter), für herausragende Aufgaben als spezielle Kooperationspartner bei den Krankenmorden anboten: neben dem Bezirksverband Nassau hauptsächlich Länder wie Württemberg, Sachsen und Anhalt. Der Bezirksverband Nassau war derjenige unter den höheren preußischen Selbstverwaltungsverbänden, der sich am weitgehendsten auf die Unterstützung der „T4“-Mordpolitik einließ.491 Dass dies auf die übrigen Provinzialverbände nicht im selben Maße zutraf, mag an der bis in die Weimarer Zeit gewachsenen besonderen Struktur dieser Institutionen liegen, die ein gehöriges Eigengewicht durch ihre Selbstständigkeit gegenüber der Staatsverwaltung und durch das damit einher gehende Selbstbewusstsein ihrer Belegschaft entwickelt hatten. Möglicherweise spielte aber auch eine Rolle, dass die Verbände der Partei strategisch weniger wichtig erschienen als die Staatsverwaltung und daher tendenziell geringeren Einflussnahmen ausgesetzt waren. Diese Faktoren begünstigten allem Anschein nach ein stärkeres Beharrungsvermögen gegen NSInterventionen, als es bei mancher Länderverwaltung festzustellen war. „T4“ wählte sehr flexibel seine Kooperationspartner in der Region dort aus, wo der Mordorganisation die benötigte Unterstützung entgegengebracht wurde. Indem der Bezirksverband Nassau 1940/41 keine Wünsche von „T4“ unerfüllt ließ, wurde er zu einem der wichtigsten regionalen Partner, und unter den preußischen Provinzialund Bezirksverbänden nahm er dabei 1941 zweifellos die erste Stelle ein. 489 Siehe Kap. IV. 3. b). Siehe Kap. IV. 1. Das möglicherweise ebenso große Engagement im PV Pommern führte wegen der frühen Krankenmorde im Nordosten dann 1940/41 nicht mehr zu einer Kooperation mit „T4“: siehe dazu Kap. III. 3. c). 490 491