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IV. ZEIT DER GASMORDE 1. Verschiebung der Machtverhältnisse

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IV. ZEIT DER GASMORDE 1. Verschiebung der Machtverhältnisse
332
IV. ZEIT DER GASMORDE
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
a) Provinzialidentität versus Reichsgaumodell
Im Januar 1940 begannen im Deutschen Reich die seit 1939 konkret vorbereiteten systematischen
Morde an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen in Gaskammern: die groß angelegte
(später so genannte) „Aktion T4“.1 Allerdings wurde diese „Euthanasie“-Aktion nicht im gesamten
Reichsgebiet gleichzeitig, sondern zeitversetzt in den verschiedenen Ländern und Provinzen in die
Wege geleitet und umgesetzt. Die Agenda des Bezirksverbandes Nassau, in dessen Bereich mit den
Morden im Januar 1941 begonnen wurde, war Ende 1939 und während des gesamten Jahres 1940 von
einem gänzlich anderen Thema beherrscht: von den Plänen des Landeshauptmanns Traupel zur Vereinigung der beiden von ihm geleiteten Bezirksverbände („Nassau“/Wiesbaden und „Hessen“/Kassel) in
einem Provinzialverband der Provinz Hessen-Nassau, wogegen der Frankfurter Gauleiter Sprenger aufs
Heftigste opponierte, was zu einem erbitterten Machtkampf zwischen diesen beiden Exponenten des
„Dritten Reiches“ in der Region führte.2 Der Ausgang dieses Machtkampfes zugunsten des Gauleiters
und zuungunsten des Landeshauptmanns, welcher in der Folge weitgehend von der Bildfläche verschwand, sollte entscheidende Auswirkungen auch auf die Binnenmachtverhältnisse in den – schließlich weiter bestehenden – beiden Bezirksverbänden haben. Dieses Resultat der Auseinandersetzungen
zwischen Traupel und Sprenger schuf auch die Grundlage dafür, dass die beiden Bezirksverbände sich
im Hinblick auf die „Euthanasie“-Verbrechen deutlich unterschieden: In dem einen Verband (nämlich
im Bezirksverband Nassau) mit seinem nun unumschränkt waltenden Anstaltsdezernenten Bernotat
wurden die Krankenmorde wesentlich extensiver betrieben als im Reichsdurchschnitt, während dies für
den anderen (den Bezirksverband Hessen) ohne derart engagierte „Euthanasie“befürworter in zentraler
Position nicht zutraf. Dies lässt es angebracht erscheinen, die Voraussetzungen und den Verlauf des
Machtkampfes Traupel – Sprenger sowie die damit verbundenen unterschiedlichen Vorstellungen einer
territorialen Neugliederung des hessisch/hessisch-nassauischen Raumes einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen.
Der Ursprung der Querelen zwischen Traupel und Sprenger ist bereits in der zusätzlichen Übernahme des Kasseler Landeshauptmannamtes durch den Wiesbadener Amtsinhaber Traupel im Jahr 1936 –
und vor allem in der damit verbundenen Übersiedlung Traupels nach Kassel – zu suchen.3 Die Motive
für diesen Wechsel, die sich bislang nicht wirklich ergründen ließen, dürften zumindest auch in einer
beginnenden Entfremdung zwischen Traupel und seinem ehemaligen Mentor Sprenger zu suchen sein.4
Traupels Freund SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt5 sah später „die Hauptursache des Zerwürfnisses“ darin, dass Traupel 1936 „aus gewissen damals berechtigten Gründen nach Kassel“ gegangen sei.6
Sprenger wertete diesen Wechsel als eine Unterminierung seiner Macht als Gauleiter, da der von Traupel gewählte Dienstsitz Kassel nicht zu Sprengers Gaugebiet Hessen-Nassau zählte. Aus Sprengers
Sicht hatte es 1936 keinen sachlichen Grund für Traupels Wechsel gegeben, „da er die beiden Bezirksverbände auch von Wiesbaden hätte führen können.“ Sprenger will Traupel gebeten haben, in Wiesbaden zu bleiben, Traupel aber habe den Wechsel gegen den Willen des Gauleiters vollzogen, was dieser
1
Siehe dazu insb. Kap. IV. 2. u. IV. 3.
Die Grundzüge dieser Auseinandersetzung sind ausführlich dargestellt bei Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322–
325; auch bei dems., Führerstaat (1989), S. 219–223; siehe auch Zibell, Sprenger (1998), S. 283–288.
3
Zu Traupels Wechsel zum 01.01.1936 siehe Kap. III. 1. a).
4
Zu Differenzen mit Sprenger wegen Traupels SS-Beitritt 1933 siehe Kap. II. 1. a) u. Kap. II. 2. b).
5
Zu Richard Hildebrandt (1897–1951) siehe biogr. Anhang.
6
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471–2666474, [HSSPF SS-Gruppenführer] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SSOberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666471, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
2
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„ihm nie verzeihen könne.“7 Offenbar hatte Traupel einen Verbleib in Wiesbaden zu keiner Zeit ernsthaft erwogen – im Gegenteil hatte er ursprünglich sogar den Wiesbadener Posten ganz aufgeben wollen. Gemeinsam mit Hildebrandt schmiedete er 1935 den Plan, den damals als Führer des SSAbschnitts XI in Wiesbaden amtierenden Hildebrandt als neuen Landeshauptmann (und damit als
seinen Nachfolger) in Wiesbaden zu lancieren. Himmler aber verwarf dieses Vorhaben bereits im
Vorfeld: Er war nicht bereit, eine Personalunion der beiden Ämter – des Landeshauptmanns und des
SS-Abschnittsleiters – zuzulassen. Hildebrandt gab seinerzeit dem SS-Amt den Vorzug, sodass schließlich Traupel den Posten beim Bezirksverband Nassau (zusätzlich zu seinem neuen Kasseler Amt) beibehielt: Er habe nicht verantworten können, „von dem Amt zurückzutreten, ohne zu wissen, daß es in
die Hände eines guten SS-Führers übergehen würde.“8
Nach seinem Antritt als Landeshauptmann in Kassel wuchs bei Traupel mehr und mehr der Sinn für
die Gestaltungsspielräume, die ihm seine Position an der Spitze beider Selbstverwaltungsbehörden bot.
Mit Blick auf die (während der NS-Zeit allzeit im Raum stehenden) Pläne zu einer grundlegenden
„Reichsreform“9 prognostizierte er zum einen, dass die „Selbstverwaltung später einmal die einzige
Behörde sein wird“, in der man „Initiative entwickeln und selbstschöpferisch Aufgaben in Angriff
nehmen kann“.10 Zum anderen gewann er die Überzeugung, dass der Gau Kurhessen (und entsprechend
der Bezirksverband Hessen im Regierungsbezirk Kassel) wegen mangelnder Größe bei einer „Reichsreform“ nicht allein werde fortexistieren können: „Kurhessen allein bleibt zweifellos nicht bestehen
und es muß irgendwo hin ein Anschluß erfolgen, der sich natürlicherweise nach dem Süden richten
muß.“11 Insofern bezogen sich seine Projekte zur Stärkung einer landschaftlichen Identität auf das
Gebiet der gesamten Provinz Hessen-Nassau. Als Renommierprojekt mit Verklammerungsfunktion
diente beispielsweise die seit 1936 für die Bezirksverbände Nassau und Hessen gemeinsam zuständige
„Abteilung Erb- und Rassenpflege“12, mehr noch aber schien aus Traupels Sicht die Kulturpolitik seiner Verbände geeignet zu sein, von ihrem neuen Standort Marburg aus zu Schaffung und Ausbau einer
von der Bevölkerung mitgetragenen Provinzialidentität beizutragen.13
Zum natürlichen Mentor der neuen Traupel’schen Zielrichtung entwickelte sich der Oberpräsident
der Provinz Hessen-Nassau, der in Kassel amtierende Philipp Prinz von Hessen,14 der seit 1934 (durch
7
Sprengers Aussagen paraphrasiert in: NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666532 f., hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
8
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“
(06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame
2666420; vgl. auch ebd., Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(06.05.1940), hier Frame 2666416, beides hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Der Vorschlag, Hildebrandt zum LH zu machen, wurde Himmler von Traupel u. Hildebrandt in Hildebrandts Wiesbadener Wohnung unterbreitet; Ende 1939/Anfang 40 genehmigte Himmler – anders als 1935 – die Übernahme
des Amtes des LH in Stettin durch SS-Gruppenführer Mazuw, der dennoch die Führung des SS-Oberabschnitts Ostsee beibehielt; zu Emil Mazuw (* 1900) siehe auch biogr. Anhang.
9
Zu den Plänen einer „Reichsreform“, die während der NS-Zeit nicht diskutiert werden sollten, siehe weiter unten in diesem
Kap. IV. 1. a).
10
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666494 f., LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Hahn/Taunus
(11.12.1939), hier Frame 2666494, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
11
Ebd., hier Frame 2666495. – Siehe auch ebd., Frame 2666435 f., LH Traupel, Kassel, an RMdI, Staatssekretär Dr. Stuckart
bzw. Ministerialdirektor Surén, Berlin (18.04.1940), Abschr. als Anlage 7 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS
Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.
1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
12
Siehe dazu Kap. III. 2. b). – Die Zusammenfassung war allerdings nur für ca. ein Jahr wirksam.
13
Siehe dazu Kap. II. 3. b).
14
Zu Philipp Prinz (später Landgraf) von Hessen (1896–1980) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: BA, BDCUnterlagen (SA) zu Philipp Prinz von Hessen, Kopie aus SL 167/6/7, Liste der SA-Obergruppenführer; ebd., „Personalfragebogen für die Anlegung der SA-Personalakte“ (20.11.1937); BA, R43 II/660b; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 876–
880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt, vernommen im Internierungslager Darmstadt
(14.01.1947); HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Beiakten Bd. I, Bl. 120 f., Zeugenaussage der Mutter Margarethe Beatrice
Landgräfin von Hessen u. Prinzessin von Preußen in der Haftentlassungssache Philipp Prinz von Hessen (15.07.1946); ebd.,
weitere Dokumente in dieser Spruchkammerakte zu Philipp von Hessen; Frankfurter Zeitung, Jg. 1933, Nr. 374, 1. Morgenblatt (21.05.1933), „Der neue Oberpräsident von Hessen-Nassau“; ebd., Nr. 518, 1. Morgenblatt (15.07.1933), „Oberpräsident
Prinz Philipp von Hessen in den Staatsrat berufen“, beide vorgenannten Zeitungsausschnitte auch in IfStG Ffm, Mag.-A.
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das Oberpräsidentengesetz) nicht nur oberster Repräsentant der staatlichen (ursprünglich preußischen)
Verwaltung der Provinz, sondern formal auch Leiter der kommunalen Selbstverwaltungsverbände –
der Bezirksverbände in Kassel und Wiesbaden – war.15 Bei Philipp Prinz von Hessen, einem Neffen
des letzten Kaisers Wilhelm II., handelte es sich um den künftigen Chef des Adelshauses Hessen, das
mit seinen Landgrafen bis zur erzwungenen Abdankung 1866 die Kurfürsten in Kassel gestellt hatte.16
Dass Philipp von Hessen 1933 nationalsozialistischer Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau werden konnte, hatte er nicht etwa einer besonders exponierten Stellung in der Hierarchie der Partei zu
verdanken, der er allerdings bereits seit 1930 angehörte. Vielmehr ist er ein Beispiel für die Tendenz
des NS-Staates, gerade in den Westprovinzen zunächst bevorzugt Oberpräsidenten ins Amt zu bringen,
die „nach Karriere oder Stand eher den deutschnationalen Honoratioren zuzurechnen waren“.17 Während 1933 nur eine Minderheit der preußischen Oberpräsidenten zugleich Gauleiter war, nahm diese
Verquickung von Staats- und Parteigewalt dann binnen weniger Jahre rapide zu und wurde schließlich
beinahe zum Normalfall.18 Philipps Ernennung diente also dazu, im Anfang die Unterstützung konservativer Kräfte für die nationalsozialistische Herrschaft zu gewinnen. Seinen entschiedensten Förderer
fand Philipp von Hessen im preußischen Innenminister und Ministerpräsidenten Hermann Göring, der
seit Jahren freundschaftlich mit ihm verbunden war und der Philipps Ernennung zum Oberpräsidenten
1933 mit dem Hinweis veranlasste, dass auch Gründe der Machtbalance ihn zu dieser Wahl bewogen
hatten: „Die Provinz hätte zwei Gauleiter und jeder dieser beiden wollte Ober-Präsident werden.“
Göring, so erklärte Philipp von Hessen später, „wollte einen dritten dazu nehmen, da er keinen von den
beiden Gauleitern über den anderen setzen wollte.“19 Mit einer derartigen Einschätzung war auch von
Anfang an vorgezeichnet, dass der stärkere der beiden Gauleiter, der Frankfurter Jakob Sprenger, in
Prinz Philipp immer nur einen lästigen Konkurrenten würde sehen können, der seinen, Sprengers,
Machtbestrebungen im Wege stand.
Prinz Philipp war Anfang der 1920er Jahre nach Italien gegangen und hatte sich dort als Innenarchitekt betätigt. Seine Bewunderung für den italienischen Faschismus und für Mussolini, den „Duce“,
ließen ihn dann in Deutschland früh zur NSDAP stoßen; bereits zeitig pflegten auch andere Verwandte
Kontakt zu Hitler – nicht nur Philipps Vetter August Wilhelm Prinz von Preußen (genannt „Auwi“),
der den Nationalsozialismus lange vor 1933 aktiv unterstützte.20 Dank seiner Ehe mit Prinzessin Mafalda von Savoyen, der Tochter des italienischen Königs Viktor Emanuel III., verfügte Philipp von Hessen über beste Verbindungen zu den führenden Kreisen Italiens und wurde von Hitler seit 1936 häufig
für Sonderaufgaben als „Verbindungsmann des Führers zum Duce“ nach Rom entsandt.21 Im März
1938 etwa schickte Hitler ihn per Flugzeug nach Rom zu Mussolini, ließ ihn dort den am folgenden
Tag bevorstehenden deutschen Einmarsch in Österreich ankündigen und sich dann umgehend telefo4.054, Bl. 14 bzw. 26; Dülfer, Regierung (1960), S. 445; Klein, Beamte (1988), S. 22 f., S. 142; Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 303–305; Recker, Hessen (1997), S. 264; Grundriß (1979), S. 314; Philippi, Landgraf (1980/81);
Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 5 (1997), S. 1.
15
Zur Unterstellung der Verbände unter den staatlichen OP durch das „Oberpräsidentengesetz“ vom 15.12.1933 siehe Kap.
II. 1. b).
16
Siehe oben (Anm. mit biografischen Angaben); siehe auch Frankfurter Zeitung, Jg. 1933, Nr. 374, 1. Morgenblatt
(21.05.1933), „Der neue Oberpräsident von Hessen-Nassau“, Zeitungsausschnitt auch in IfStG Ffm, Mag.-A. 4.054, Bl. 14. –
Die Mutter Philipps, Margarethe Beatrice Landgräfin von Hessen u. Prinzessin von Preußen, war die Schwester Kaiser Wilhelms II.
17
Broszat, Staat (1979), S. 140. – Broszat zählt ausdrücklich auch Philipp von Hessen zu dieser Gruppe.
18
Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 263, der darauf hinweist, dass 1933 erst 4 der 10 Oberpräsidenten Gauleiter waren,
während diese Zahl bis 1939 auf 7 anwuchs.
19
HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Hauptakten Bd. II, Bl. 114–127, Aussage Philipp Prinz von Hessen b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager in seinem Verfahren (Verhandlung 1. Instanz) (15.–17.12.1947), hier Bl. 120 (Zitat); zur Protektion u.
Freundschaft Görings siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 303; Philippi, Landgraf (1980/1981); zum
Konkurrenzverhältnis mit den Gauleitern Weinrich u. Sprenger vgl. Rebentisch, Politik (1978), S. 204, bzw. Zibell, Sprenger
(1998), S. 176.
20
Ebd. (Aussage Philipp v. Hessen v. 15.–17.12.1947), hier Bl. 115; ebd., Beiakten Bd. I, Bl. 120 f., Zeugenaussage der
Mutter Margarethe Beatrice Landgräfin von Hessen u. Prinzessin von Preußen in der Haftentlassungssache Philipp Prinz von
Hessen (15.07.1946) (danach war Hitler 1931 u. 1932 je einmal am Sitz der Familie in Kronberg/Taunus „zum Tee“, 1933 traf
er mit der Familie im Haus von Philipps Bruder Wolfgang Prinz von Hessen in Ffm zusammen); vgl. auch Zibell, Sprenger
(1998), S. 175.
21
Philippi, Landgraf (1980/1981); Klein, Beamte (1988), S. 22 f., S. 142.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
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nisch über die Reaktion des „Duce“ unterrichten.22 Ähnliche Mittlerdienste übernahm Philipp auch vor
Interventionen in andere Länder: beim Einmarsch in Prag ein Jahr später oder beim deutschen Angriff
auf Frankreich im Zweiten Weltkrieg.23 Zeitgenossen beschrieben Philipp von Hessen als „kunst- und
feinsinnigen Menschen“24 – dieser Ruf eines Kunstliebhabers und -kenners führte den Oberpräsidenten
nach Kriegsbeginn im Rahmen eines weiteren Sonderauftrags von Hitler durch halb Europa (soweit es
von deutschen Truppen besetzt war), wo Philipp von Hessen Kunstschätze für Hitlers Projekt eines
überdimensionalen Kunstmuseums in Linz an der Donau zusammentrug.25
Die Spuren, die Philipp von Hessen in der von ihm bis 1943 geleiteten Provinz Hessen-Nassau hinterließ, sind als gering einzuschätzen – nicht zuletzt aufgrund seiner häufigen Abwesenheit. Als eine
der wenigen auf ihn zurückgehenden Initiativen gilt der Bau des Staatsarchivs in Marburg, durch den
er sich – wie es heißt – „ein steinernes Denkmal gesetzt“ habe.26 Die Historiographie wird in ihm kaum
eine starke Politikerpersönlichkeit erkennen. Die einzigen Pfunde, mit denen Philipp von Hessen wuchern konnte, waren die Unterstützung durch Göring, die er jahrelang genoss, sowie der „Zugang zum
Führer“, der ihm ebenfalls lange Zeit offen stand. Dass Landeshauptmann Traupel ab 1936 zunehmend
die Allianz mit Philipp von Hessen suchte, stieß bei Traupels Freund Richard Hildebrandt zumindest
auf Unverständnis, denn dieser hielt es für verhängnisvoll, dass Traupel seine Pläne „mit einer derart
traurigen Gestalt“ verkoppelte. Philipp von Hessen war aus seiner Sicht „im Grund [...] ein Mann [...],
mit dem man keine ernstzunehmende Politik auf die Dauer betreiben kann.“27 Als später sämtliche
Pläne Traupels zur Zusammenlegung der beiden Bezirksverbände gescheitert waren, urteilte Hildebrandt in einer Stellungnahme gegenüber Himmler: „Er [Traupel] hat sich zu stark auf die Versprechungen von Oberpräsident Prinz Philipp von Hessen verlassen, die sich dann im Ernstfalle als sehr
schwach und nicht durchführbar erwiesen haben. Bei den maßgeblichen Verhandlungen in Berlin war
der Oberpräsident von Kassel jedenfalls nicht in der Lage, seine Sache entsprechend stark und überzeugend zu vertreten.“28 Bis es 1940 zu dieser Niederlage kam, hatten die Pläne Traupels und Philipp
von Hessens zunächst Erfolg versprechende Fortschritte gemacht.
Traupel hatte begonnen, sich „für die Einheit der Provinz Hessen-Nassau zu erwärmen“.29 Tatsächlich ist der Landeshauptmann als Motor der Idee eines einheitlichen Provinzialverbandes der Provinz
22
Noch am Vorabend des Einmarsches telefonierte Philipp von Hessen mit Hitler und berichtete u. a.: „Der Duce hat die
ganze Sache sehr freundlich aufgenommen. Er laesst Sie sehr herzlich grüssen.“ – HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Hauptakten Bd. I, Bl. 141 f., Schriftliche Darstellung von Philipp Prinz von Hessen, Darmstadt (24.07.1947); ebd., Bl. 165/167,
Wortlaut des Telefonats zwischen Hitler und Philipp Prinz von Hessen, aufgezeichnet in Zürich (11.03.1938, 22.25–22.29
Uhr). – Der Wortlaut des abgehörten Telefonats kann als ein seltenes Textdokument gelten, das authentisch die nichtöffentliche Rede und Kommunikation Hitlers wiedergibt: Hitler ergeht sich in mehrfach wiederholten Dankbarkeitsbekundungen über
Mussolini (z. B. „[...] ich werede [!] ihm das nie vergessen. [...] Nie, nie, nie, es kann sein, was will. Ich bin jetzt noch (?)
[Fragezeichen im Original, P. S.] bereit, mit ihm eine ganz andere Abmachung zu gehen“), während Philipp von Hessen
unterwürfig Hitlers Worte entgegennimmt (mehrfach „Jawohl, mein Fuehrer“).
23
Ebd., Bl. 207, beglaubigte (auszugsweise) Abschr. aus: Graf Galeazzo Ciano: Tagebücher 1939–1943, Bern (1. Aufl.)
1946. – Philipp traf Ciano häufig in Rom.
24
Ebd., Beiakten Bd. I, Bl. 69, Erklärung d. 1. LdsR a. D. Max Kranzbühler, betr. „den ehemaligen Oberpräsidenten der
Provinz Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, z. Zt. Civil Internant. Camp 91, Darmstadt“ (25.07.1946), eingegangen mit
Anschreiben Kranzbühlers (26.07.1946) (= Bl. 68) beim Dt. Sicherheitsnachprüfungsamt Frankfurt a. M.
25
Ebd., Hauptakten Bd. I, Bl. 85, Aussage Dr. Hans Steegmann (zeitweise pers. Referent des OP) in Kassel ggü. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager im Verfahren gegen Philipp Prinz von Hessen (28.03.1947), Abschr.; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061
Bd. 7, Bl. 234, Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947);
zu Hitlers Plänen in Linz siehe Hamann, Wien (1996), S. 11, S. 13; zur sog. „Linzer Liste“ (genannt nach dem geplanten
Museum), welche generell durch den NS-Staat geraubte oder beschlagnahmte Kunst beinhaltet, siehe Frankfurter Rundschau,
56. Jg., Nr. 90 (15.04.2000), Ausgabe S, S. 28 (Kulturspiegel), „‚Linzer Liste‘. Mehr als 130 Werke in Hessens Museen“;
Hessische Allgemeine (HNA), Nr. 90 (15.04.2000), S. 27, „‚Linzer Liste‘. 260 Werke in Hessen“; Internet: www.lostart.de/
recherche (Stand 15.04.2000).
26
Klein, Beamte (1988), S. 22 f., hier S. 23.
27
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471–2666474, [HSSPF] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SS-Oberführer Traupel,
Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666472 u. -71, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film
Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
28
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig,
an RFSS u. Chef d. Deutschen Polizei im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel,
Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666535.
29
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322.
336
IV. Zeit der Gasmorde
Hessen-Nassau anzusehen; unzutreffend wäre es, hier die Initiative bei Oberpräsident Philipp von
Hessen und dessen vermeintlichen Abwehrbestrebungen gegen expansionistische Absichten des Gauleiters Sprenger zu sehen.30 Traupel war überzeugt, wenn nicht besessen von der Vorstellung, „daß der
landschaftliche Raum der Provinz Hessen-Nassau in einer einheitlichen Verwaltung weitergeführt werden“ müsse; es sei „gleichgültig, wo künftig der Sitz dieses Provinzialverbandes“ sein würde, „in Kassel, in Wiesbaden oder – was noch besser wäre – in der Mitte der Provinz, etwa in Marburg“.31 In einem ersten, inhaltlich sicher von Traupel konzipierten Geheimschreiben vom Juni 1939 unterbreitete
der Oberpräsident die Vorschläge dem Innenministerium. Vorab hatten bereits Gespräche Philipp von
Hessens zunächst mit Göring, dann mit Innenminister Frick stattgefunden, die beide signalisierten, dass
der Oberpräsident „die Verwaltungen vereinfachen und zusammenziehen darf.“ Formal sollten nicht
die beiden Bezirksverbände in Wiesbaden und Kassel fusioniert, sondern ihre jeweiligen Aufgaben dem
zwar bereits bestehenden, aber bislang relativ unbedeutenden Provinzialverband der Provinz HessenNassau (mit Traupel als Landeshauptmann) übertragen und ihr Personal dorthin versetzt werden.32
In intensiven Gesprächen versuchte Traupel fortan, weitere Unterstützung für seinen Plan zu gewinnen. Wie wichtig es war, Allianzen zu schmieden, war dem Landeshauptmann vollkommen klar, denn
er „wußte, daß hier personelle Schwierigkeiten mit dem einen oder auch mit beiden Gauleitern kommen würden.“ Traupel erlangte über den Leiter des persönlichen Stabs des Reichsführers-SS, SSGruppenführer Karl Wolff, die Zusage, Himmler selbst wolle versuchen, Staatssekretär Stuckart für die
Sache zu gewinnen. Stuckarts Votum erschien besonders wichtig, da dieser gute Beziehungen zu
Sprenger unterhielt.33 Gerade der dann beginnende Krieg schien Traupels Pläne zu begünstigen. Der
Landeshauptmann wies darauf hin, dass Hessen-Nassau als einzige Provinz über drei Selbstverwaltungsverbände (die beiden Bezirksverbände und den Provinzialverband) verfüge und dass dies bei dem
„ungeheuren Bedarf an Menschenmaterial [...] heute ein unverantwortlicher Luxus“ sei.34
Bei allen Bemühungen um Unterstützung hatte Traupel versucht, seine Pläne nicht bis zu Gauleiter
Sprenger dringen zu lassen. Offenbar hatte diese Geheimhaltetaktik auch Erfolg bis zum 18. November
1939, dem Termin, zu dem Oberpräsident Philipp von Hessen (unter Hinweis auf die „Fühlungnahme“
mit Göring und Frick) anordnete, die Verwaltungen der beiden Bezirksverbände in der Verwaltung des
Provinzialverbandes zusammenzufassen. Der Oberpräsident berief sich dabei auch auf den drei Tage
vor Kriegsbeginn ergangenen Führererlass über die Vereinfachung der Verwaltung und schlussfolgerte: „Die heutige Zeit erfordert gebieterisch, [...] von allen durch Verwaltungsvereinfachung möglichen
30
Dieser Eindruck könnte infolge der Darstellung ebd. entstehen; auch bei Zibell, Gauleiter (2001), S. 404, wird Philipp von
Hessen die Urheberschaft zugeschrieben.
31
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier
Frame 2666420, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
32
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., OP d. Provinz Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von
Hessen, an RMdI, „Geheim“, betr. „Organisatorische Zusammenfassung und Übertragung der Aufgaben der Bezirksverbände
Hessen und Nassau auf den Provinzialverband der Provinz Hessen-Nassau“ (20.06.1939), Abschr. – Zur Zustimmung Görings
u. Fricks: NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin,
„Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940),
hier Frame 2666420 f. (Zitat „die Verwaltungen [...]“), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407
[SS, verschiedene Provenienzen]; zu Görings u. Fricks Plazet auch BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter
Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschr. (1944); siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. – Zum
Nebeneinander der beiden Bezirksverbände und des Provinzialverbandes in Hessen-Nassau siehe Preuß. Gesetzsammlung,
Jg. 1885, Nr. 25 (01.07.1885), S. 242–246, „Gesetz über die Einführung der Provinzialordnung vom 29. Juni 1875 in der
Provinz Hessen-Nassau“ (08.06.1885); ebd., S. 246–272, „Bekanntmachung, betreffend die Provinzialordnung für die Provinz
Hessen-Nassau“ (08.06.1885), darin S. 247–270: „Provinzialordnung für die Provinz Hessen-Nassau“ [08.06.1885]; siehe
auch Darstellung in Kap. I. 1. b).; zu den 3 LH-Ämtern Traupels seit 1936 siehe Kap. III. 1. a).
33
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier
Frame 2666421, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen];
siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. – Zu Karl Wolff (1900–1984) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur
Biografie: Wistrich, Reich (1987), S. 381 f.; Stockhorst, Köpfe (1987), S. 453.
34
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier
Frame 2666420, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
337
Sparmaßnahmen auch im Interesse einer zweckmässigen Menschenökonomie Gebrauch zu machen.“35
Als Sprenger nun von den Plänen erfuhr,36 fühlte er sich als Führer seines Gaues düpiert. Über den
Umweg des Stellvertreters des Führers ließ er beim Reichsminister des Innern sogleich Protest einlegen; Frick fügte sich dieser Einflussnahme und formulierte Ende November 1939 an die Adresse Philipps von Hessen einen – wie dieser es nannte – „Stopperlass“.37 „Gauleiter Sprenger schießt natürlich
gegen den Beschluß des Oberpräsidenten“38 – das war Traupel im Dezember 1939 wohl bewusst; dennoch ließ er sich durch diesen Parteieinspruch nicht in seinem Vorhaben beirren.
Man könnte nun annehmen, Traupel habe damit die realen Machtverhältnisse im „Dritten Reich“
verkannt; sein weiteres Vorgehen wird aber dadurch nachvollziehbarer, dass Ministerpräsident Göring – ob bewusst oder unbewusst im Widerspruch zu Sprenger und Frick – den Oberpräsidenten Ende
November 1939 noch dazu aufforderte, über die Zusammenlegungsverfügung hinaus auch einen Gesetzentwurf mit demselben Ziel vorzulegen.39 Offenbar wollte Göring sich nicht damit begnügen, die
Aufgaben der Bezirksverbände in deren eigener Verantwortung – was das Gesetz zur Provinzialordnung von 1885 ausdrücklich ermöglichte40 – auf den Provinzialverband übertragen zu lassen. (Zu dieser
reinen Übertragung genügte nach der Einführung des Führerprinzips formal die entsprechende Entscheidung des Oberpräsidenten als Nachfolger der Kommunallandtage; die Bezirksverbände wären
dann als mehr oder weniger zweckentleerte Körperschaften bestehen geblieben.) Um aber eine grundsätzliche Neuregelung zu erreichen, brachte Traupel nun im Auftrag Philipp von Hessens trotz der
bekannten Einsprüche „einen Gesetzesentwurf [...] auf den Weg“, und zwar – wie Rebentisch meint –
„so geschickt, daß die Papiere bei Göring erst Ende Januar 1940 und bei Frick sogar erst im Februar
eingingen.“41 Wenn auch die Eigeninitiative Traupels in diesem Punkt wohl nicht so hoch anzusetzen
ist wie Rebentisch vermutet, so hatte die Zusammenfassungsidee sich in Traupels Vorstellung doch
bereits so weit verfestigt, dass er kein Zurück mehr hinnehmen wollte. In verschiedenerlei Hinsicht
hatte Traupel auch bereits begonnen, vollendete Tatsachen zu schaffen. Da trotz der zwischenzeitlichen
Gedankenspiele über einen zentralen Sitz in Marburg zumindest kurz- und mittelfristig doch nur die
Belassung des Provinzialverbandes in Kassel realistisch erscheinen konnte, hatte Traupel bereits vor35
IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 72, Beschluss d. OP der Provinz Hessen-Nassau als Leiter der Bezirksverbände Hessen und
Nassau (18.11.1939), hier als hektographiertes Rundschreiben d. RP Wiesbaden (25.11.1939); auch veröffentlicht in: Städtisches Anzeigeblatt [Frankfurt a. M.], Jg. 1939, Nr. 49 (08.12.1939), Letzteres auch vorhanden in ebd. (IfStG), Bl. 75. – Bezugnahme auf RGBl. 1939 I, Nr. 153 (30.08.1939), S. 1535–1537, „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Vereinfachung der Verwaltung“ (28.08.1939) (im Erlass vom 18.11.1939 wird statt auf das RGBl. als Quelle fälschlich auf die Preuß.
Gesetzsammlung verwiesen).
36
Der Beschluss des OP vom 18.11.1939 wurde auch Gauleiter Sprenger übersandt: vgl. NARA, T-175, Roll 138, Frame
2666459, Abschrift des Telegramms von LH Traupel, Kassel, an Gauleiter Sprenger, Ffm (08.03.1940), Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben
von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
37
Auf Sprengers Darstellung beruht die Datierung (30.11.1939) der entsprechenden Weisung Fricks: Eingabe von Sprenger an
RMdI Frick (17.04.1940), zit. im Schreiben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453–2666455, OP d. Prov. HessenNassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum
Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier Frame 2666453, hier n. d.
Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; ein weiterer Hinweis auf Sprengers Darstellung findet sich in BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Schreiben [wahrscheinlich des
Obersten Parteigerichts] an Wilhelm Traupel, Feldpost-Nr. 24097 (29.01.1942), hier Abschr. (1944); der „Stopperlass des
Reichsinnenministers“ wird (ohne Datierung) auch bestätigt durch Philipp von Hessen in ebd., o. Bl.-Nr., Protokoll von dessen
Zeugenvernehmung durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944); zur Einschaltung von Heß durch Sprenger siehe auch IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 73, Stadtrat Arntz, Ffm, an
OB, Ffm (28.11.1939); vgl. Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 220 f.
38
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666494 f., LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Hahn/Taunus
(11.12.1939), hier Frame 2666494, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
39
BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen
durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944).
40
Preuß. Gesetzsammlung, Jg. 1885, Nr. 25 (01.07.1885), S. 242–246, „Gesetz über die Einführung der Provinzialordnung
vom 29. Juni 1875 in der Provinz Hessen-Nassau“ (08.06.1885), hier S. 243 (Art. III. A. 3. IV): „Der Provinziallandtag ist
berufen, [...] den Provinzialverband in denjenigen Angelegenheiten zu vertreten, beziehungsweise über diejenigen Gegenstände zu berathen und zu beschließen, welche ihm durch Gesetze oder Königliche Verordnungen, oder durch übereinstimmenden
Beschluß der beiden Bezirksverbände überwiesen werden.“
41
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 220.
338
IV. Zeit der Gasmorde
gesorgt: Um Platz für die zusammengefasste (und damit am Ort vergrößerte) Verwaltung zu schaffen,
war das Ständehaus in Kassel, der Sitz des Bezirksverbandes Hessen, prophylaktisch um eine Etage
aufgestockt worden. Auch einzelne Versetzungen von Wiesbaden nach Kassel hatten bereits bis 1939
stattgefunden, wobei die jeweiligen Mitarbeiter mit Tätigkeiten für beide Bezirksverbände betraut wurden.42
Schlag auf Schlag schuf Traupel dann zwischen Januar und März 1940 vollendete Tatsachen durch
Veränderungen in der Geschäftsverteilung: Am 29. Januar ernannte er seinen SS-Genossen und „allernächsten Mitarbeiter“, den Kasseler Landesrat Dr. Paul Schlemmer zum Kulturdezernenten für die
beiden Bezirksverbände (der bisherige Wiesbadener Kulturreferent, SD-Mitglied Dr. Carl Sommer,
sollte stellvertretender Kulturdezernent mit Dienstsitz in Marburg werden); am folgenden Tag übertrug
Traupel Schlemmer zudem „die Verwaltung des Finanzdezernats einschließlich der Wirtschaftsangelegenheiten für beide Bezirksverbände“; schließlich übernahm Schlemmer auch für beide Verwaltungen
die Funktion des Justiziars.43 Den damit überzähligen Finanz- und Wirtschaftsdezernenten des Bezirksverbandes Nassau, Landesrat Willi Schlüter, lobte Traupel weg zur Nassauischen Landesbank in Wiesbaden, wo Schlüter die Geschäfte eines stellvertretenden Generaldirektors übernehmen sollte.44 Das
vereinigte Straßenbaudezernat übernahm ab Ende Februar 1940 der bisher allein für den Kasseler Bereich zuständige Dezernent Dr. Otto Kirsten, den der Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen
Fritz Todt empfohlen hatte; auch hier sollte für den bisher in Wiesbaden zuständigen Dezernenten
(Friedrich Kind) eine neue Verwendung gefunden werden (in diesem Fall durch die Vermittlung
Todts).45
Während in den genannten Fällen die von Traupel verfügten Änderungen zu einem Abbau der Wiesbadener Verwaltung zugunsten der in Kassel tätigen Dezernenten führen sollten, wollte der Landeshauptmann im Bereich des Anstaltswesens den umgekehrten Weg gehen: hier sah er den Wiesbadener
Landesrat Fritz Bernotat als Dezernenten dieses Bereichs für den gesamten Provinzialverband vor.
Bereits Anfang Januar 1940 hatte Traupel ihm das Gebiet übertragen, Anfang März bestimmte er, dass
Bernotat zusätzlich zum Anstaltswesen auch die vereinigte Fürsorgeabteilung der beiden Verbände
übernehmen und dazu seinen Dienstsitz nach Kassel verlegen sollte; anfangs war Bernotat anscheinend
auch zu dem Umzug von Wiesbaden nach Kassel bereit. Die beiden bisherigen Fürsorgedezernenten
Ludwig Johlen (Wiesbaden) und Dr. Otto Schellmann (Kassel), die allerdings seinerzeit nach Prag
abgeordnet bzw. zur Wehrmacht eingezogen waren, hätten ihre Positionen damit auf Dauer verlieren
sollen. Auch die Allgemeine Verwaltung und die Personalverwaltung beabsichtigte Traupel in Kassel
42
HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden,
schriftl. Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 93.
43
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666440, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau [vermutlich gez. i. V. Landeshauptmann Traupel], Kassel, an BV Hessen bzw. an BV Nassau (29.01.1940) [nur erste Seite des Dok. vorhanden]; ebd.,
Frame 2666441, Vfg. zum Schreiben PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV
Hessen bzw. BV Nassau sowie als Abschr. an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, u. an LdsR Dr. Schlemmer, Kassel
(30.01.1940), beide Dok. als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig, hier zit. n. d. Kopie: BA,
Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel,
Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., W. Traupel, LH d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, an SS-Gruppenführer Wolff, Chef d. Persönlichen Stabes RFSS, Berlin (10.02.1940) (Zitat „allernächster Mitarbeiter“). – Zu Dr. jur. Paul Schlemmer (* 1904) und zu Dr.
Carl Sommer (* 1900) siehe biogr. Anhang.
44
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666442, Vfg. zum Schreiben PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH
Traupel, Kassel, an Direktion d. Nass. Landesbank, Wiesbaden, sowie als Abschr. an OP d. Provinz Hessen-Nassau, Kassel, u.
an LdsR Schlüter, Wiesbaden (02.02.1940), hier als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig,
hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Willi Schlüter
(* 1884) siehe biogr. Anhang.
45
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666444, Vfg. zum Schreiben PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH
Traupel, Kassel, an BV Hessen u. an BV Nassau, sowie als Abschr. an OP d. Provinz Hessen-Nassau, Kassel, an Landesoberbaurat Dr. Ing. Kirsten, Kassel, an Landesoberbaurat Kind, Münster am Stein, u. an Landesverwaltungsrat Mai, Kassel
(26.02.1940), hier als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig, hier n. d. Kopie: BA, Film des
ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; vgl. auch BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel,
Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., W. Traupel, LH d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, an SS-Gruppenführer Wolff, Chef d. Persönlichen Stabes RFSS, Berlin (10.02.1940); zur Empfehlung durch Fritz Todt siehe NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–
2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666466,
hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Dr. Otto Kirsten
(* 1898) siehe biogr. Anhang; zu Friedrich Kind siehe die Angaben in Kap. II. 1. a).
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
339
unter Leitung des bisherigen Wiesbadener Landesrates Kranzbühler zu vereinigen. In Wiesbaden sollte
nur die als selbstständiges Institut verfasste Nassauische Brandversicherungskasse verbleiben, während
für die Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau insgesamt in Wiesbaden lediglich vorübergehend
noch eine Abwicklungsstelle unter Leitung von Dr. Hans-Joachim Steinhäuser vorgesehen war. Wirksam werden sollte die Zusammenlegung und der Umzug der Verwaltung von Wiesbaden nach Kassel
zum 1. April 1940, dem Beginn des neuen Wirtschaftsjahrs, wie Traupel am 2. März festlegte.46
Traupel konnte die Auflösung der Wiesbadener Verwaltung zugunsten einer gemeinsamen Aufgabenwahrnehmung in Kassel im ersten Quartal 1940 nur deshalb mit so großer Konsequenz – oder vielleicht
„Dreistigkeit“47 – vorantreiben, weil er sich trotz Widerspruchs des Innenministers Frick weiterhin
durch maßgebliche NS-Repräsentanten gestützt sah. Philipp von Hessen, der sich der Rückendeckung
durch Göring gewiss war, trug ausdrücklich sämtliche Verfügungen mit, mit denen Traupel zwischen
Januar und März die Verlegung von Wiesbaden nach Kassel betrieb. Infolge eines Gesprächs, das der
Oberpräsident nach dem Einhalt gebietenden Erlass Fricks mit dem Innenminister geführt hatte, sah
Philipp von Hessen sich erst recht ermutigt.48 Traupel war Anfang März 1940 überzeugt, dass „alle
einsichtigen Männer“ die „Maßnahmen für richtig“ halten, und zu diesen rechnete er Göring, Himmler,
Heydrich, Kultusminister Rust und Generalinspekteur Todt.49 Nicht bekannt war dem SS-Oberführer
Traupel zu diesem Zeitpunkt offenbar, dass ausgerechnet „sein“ Reichsführer-SS Heinrich Himmler im
Gespräch mit Sprenger nicht eindeutig für ihn Partei ergriff.50
Als wesentlichstes Pfund erschien jedoch eine günstige Äußerung Hitlers, zumal eine „Führerentscheidung“51 im Bewusstsein der Zeitgenossen gemeinhin als letztinstanzlicher Spruch bei Streitig46
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666439, Vfg. d. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel (03.01.1940),
hier als Abschr. in den Unterlagen des SS-Gruppenführers Hildebrandt, Danzig; ebd., Frame 2666508–2666511, LH Traupel,
Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508–2666510; ebd.,
Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster (01.03.1940), Abschr. hier
als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier Frame
2666464; ebd., Frame 2666445–2666447, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV
Hessen u. an BV Nassau, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel, sowie an diverse Empfänger innerhalb d. BV Hessen u.
Nassau (02.03.1940); ebd., Frame 2666475–2666477, LH W. Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (06.11.1940), hier Frame 2666476, alle vier vorgenannten Dok. hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; siehe auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders.,
Führerstaat (1989), S. 221. – Zu Fritz Bernotat (1890–1951), Ludwig Johlen (1885–1960), Max Kranzbühler (1878–1964),
Dr. jur. Hans-Joachim Steinhäuser (* 1906) und Dr. jur. Otto Schellmann (1880–1953) siehe biogr. Anhang. – Quellen zu
Schellmann: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1991, Schellmann, Otto, Dr.; ebd., Zug. 1981, Ma., Th., Bl. 25 f.,
LdsR a. D. Dr. Schellmann, Kassel, an KV Kassel (25.03.1946), hier Bl. 25; LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 11, Geschäftsverteilungsplan d. BV Hessen (o. D. [1936]); StA Mr, Best. 220 Nr. 712, Geschäftsverteilungsplan d. BV Hessen (o. D. [vor und
nach dem 29.08.1939]), auch vorhanden als Kopie in LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 13; IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 4,
42-seitiger „Bericht der Verwaltung des Bezirksverbandes Hessen über die Verwaltungsergebnisse im Rechnungsjahr 1937
(1. April 1937 bis 31. März 1938)“, hier S. 4; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 115 f., Aussage Otto Schellmann b. d.
StAnw in Kassel (04.07.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 167–174, Protokoll d. Zeugenvernehmung Otto Schellmann im HadamarProzess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947).
47
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 221. – Begriff hier bezogen auf Traupels
Berufung auf „die Billigung des Führers“ (siehe dazu unten).
48
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666429, OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an Gauleiter des Gaues HessenNassau, Sprenger, Frankfurt a. M. (14.03.1940), auszugsweise Abschr. als Anlage 4 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel,
an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(06.05.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA,
BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen durch das
Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944). – Die Formulierungen in BA, R43 II/1346b, RMdI, Frick, Schnellbrief an Preuß. Min.-Präs. (12.03.1940), deutet Rebentisch, Gau (1978), S. 151,
sogar als „kaum verschlüsselte Aufforderung an den Oberpräsidenten, die Zusammenlegung auf kaltem Wege weiterzutreiben.“
49
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666510, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407
[SS, verschiedene Provenienzen]. – Bernhard Rust (1883–1945) war 1925–1940 Gauleiter in Hannover und ab 1934 Reichsminister f. Wiss., Erziehung u. Volksbildung: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 355; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 217;
Wistrich, Reich (1987), S. 300 f.
50
Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323. – Zu Himmlers Indifferenz ggü. Traupel
siehe auch Kap. IV. 1. b) u. V. 4. b).
51
Zur Bedeutung der „Entscheidung“ Hitlers siehe z. B. Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 549, S. 551. – Die pointierte
Gegenposition stammt von Mommsen, Nationalsozialismus (1971), Sp. 702, der Hitler als einen „entscheidungsunwilligen,
häufig unsicheren, [...] in mancher Hinsicht schwachen Diktator“ charakterisiert.
340
IV. Zeit der Gasmorde
keiten oder Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Repräsentanten des „Dritten Reiches“
galt. Die Kenntnis über Hitlers Bemerkung zur Neugliederung der Selbstverwaltungsverbände in der
Provinz Hessen-Nassau beruht auf Auskünften des Oberpräsidenten Philipp von Hessen (und mittelbar
des Landeshauptmanns): Bevor Philipp von Hessen im Februar 1940 einen seiner häufigen Auslandsaufenthalte antrat, habe er – so seine Auskunft 1942 – „es für notwendig gehalten, auch den Führer
über die Zusammenlegung der Bezirksverbände zu unterrichten, ohne eine Entscheidung seinerseits
herbeiführen zu wollen. Ich bin an den Führer deshalb herangetreten, da die Möglichkeit bestand,
dass während meiner Abwesenheit der Fragenkomplex an ihn dienstlich herangetreten [!] würde. Der
Führer nahm diese Information zur Kenntnis und äusserte sich dahin, dass die beabsichtigten Massnahmen richtig und vernünftig zu sein schienen.“52 Nun war diese Aussage Hitlers (der Darstellung des
Oberpräsidenten entsprechend) kaum als „Führerentscheidung“ im eigentlichen Sinne zu verstehen,
anscheinend hatte Philipp von Hessen versäumt, Hitler die Gegnerschaft Sprengers zu dem Plan
kundzutun. Doch Traupel nutzte, nachdem der Oberpräsident ihn informiert hatte, die Bemerkung
Hitlers sowohl innerhalb der eigenen Wiesbadener Verwaltung als auch – wie es später hieß: „in der
Hitze des Gefechts“ – gegenüber Gauleiter Sprenger, um seine Position als (durch die angebliche Führerentscheidung) unangreifbar darzustellen.53 Diese Hitzigkeit war es wohl auch, die Traupel schon
kurz darauf zum politischen und karrieremäßigen Verhängnis werden sollte. Traupel selbst gestand
später seinen Fehler gegenüber Philipp von Hessen ein: „Ich habe [...] nicht jedes Wort auf die Wagschale [!] gelegt und das Wort ‚entschieden‘ gebraucht [...]; es hätte heißen müssen, daß der Führer
durch Sie, Herr Oberpräsident, informiert worden sei und Ihre Maßnahmen für richtig und gut befunden habe.“54
Dass Jakob Sprenger in der folgenden Zeit alles daran setzte, die Traupel’schen Absichten zu durchkreuzen, war auf den Plan des Gauleiters zurückzuführen, seinen NSDAP-Gau so bald wie möglich zu
einem „Reichsgau“ nach dem Vorbild der entsprechenden, 1938 in Österreich und im Sudetenland
sowie 1939 im besetzten Polen eingerichteten Reichsgaue umzugestalten. Dort waren die Territorien
der Partei- und Staatsverwaltung deckungsgleich, Partei- und Staatsherrschaft war in einer Hand, der
des Gauleiters und Reichsstatthalters, vereinigt, dem (nach dem preußischen Modell der Provinzialverbände) ein Landes- oder Gauhauptmann als Leiter der „Gauselbstverwaltung“ zugeordnet war. Entsprechende Reichsgaupläne waren auch für das „Altreich“ wiederholt geschmiedet, von Hitler jedoch –
52
BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Philipp Prinz von Hessen
durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (29.10.1942), hier Abschrift (1944). – Kurz
darauf berichtete der inzwischen informierte Traupel auch R. Hildebrandt u. K. Wolff über das Gespräch („Was aber das
wichtigste ist: Prinz Philipp hatte Gelegenheit, die Sache dem Führer persönlich vorzutragen, und er hat sich genauestens
unterrichten lassen und, ohne daß der Oberpräsident eine Entscheidung von ihm haben wollte, hat er von sich aus gesagt, er
halte diese Maßnahmen für absolut richtig.“ – bzw. „In der Frage der Zusammenlegung der Wiesbadener und Kasseler Verwaltungen hatte mein Oberpräsident Gelegenheit, dem Führer persönlich die Sachlage vorzutragen. Der Führer hat die von mir
betriebenen Maßnahmen als richtig anerkannt“): NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an
HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666510, bzw. ebd., Frame 2666424–
266426, LH W. Traupel, Kassel, an Chef d. Pers. Stabes RFSS, SS-Gruppenführer Wolff, Berlin, (05.03.1940), Abschr. als
Anlage 1 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel,
Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666426, beide vorgenannten Dok. hier zit. n. d.
Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
53
Eingabe von Sprenger an RMdI Frick (17.04.1940), zitiert im Schreiben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453–
2666455, OP d. Prov. Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940),
Abschr., hier Frame 2666453 (Zitat „in der Hitze [...]“); ebd., Frame 2666459, Telegramm von LH Traupel, Kassel, an Gauleiter Sprenger, Ffm (08.03.1940), Abschr., Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau,
Kassel (16.05.1940) (danach der Wortlaut von Traupels Äußerung: „Außerdem liegt Zustimmung vor [...] neuerdings vom
Führer persönlich“); ebd., Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster
(01.03.1940), Abschr., hier Frame 2666463, alle 3 vorgenannten Dok. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel,
an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr.
2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; Rebentisch, Gau (1978), S. 151; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323; ders., Führerstaat (1989), S. 221.
54
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel
(16.05.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(17.05.1940), hier Frame 2666456, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
341
um Unruhe zu vermeiden – vorerst immer wieder auf Eis gelegt worden, ja selbst die Diskussion über
diese – mit anderer Akzentsetzung – bereits zu Weimarer Zeiten propagierte Reichsreform hatte nach
einem „ausdrücklichen Wunsche des Führers“ zu unterbleiben.55
Neben dieser verfassungspolitischen Komponente der Reformdiskussion (also insbesondere der Frage nach der Machtverteilung zwischen Partei und Staat, zwischen Reichsgau und Reich) spielten immer auch die Überlegungen zur Raumordnung und territorialen Neugliederung eine erhebliche Rolle –
so auch in der Region Hessen/Hessen-Nassau. Im Grunde gingen sowohl Sprenger als auch Traupel
von der Prämisse aus, dass bei einer Reichsreform größere Einheiten als die bisherigen staatlichen
Territorien zu schaffen seien; in beider Vorstellung kristallisierten die Zusammenlegungsbestrebungen
sich an dem wirtschaftsstärksten Zentrum des Rhein-Main-Gebiets, dem Regierungsbezirk Wiesbaden
mit den Großstädten Frankfurt und Wiesbaden. Während Sprenger immer die Zusammenlegung des
Wiesbadener Bezirks mit dem Darmstädter Gebiet (dem Land Hessen) nach dem Muster seines
NSDAP-Gaus anstrebte (Rhein-Main-Lösung),56 bemühte sich Traupel, den Bezirk Wiesbaden – wie
gezeigt – im Rahmen der bestehenden preußischen Provinzgrenzen stärker als bisher mit dem allein zu
schwachen Kasseler Bezirk zu verklammern (Provinziallösung).
Als das nach Raumordnungsgesichtspunkten angemessenste Konzept hätte wohl eine dritte Variante,
die Zusammenfassung aller drei Teilgebiete (Kassel – Wiesbaden – Darmstadt) zu einem „Großhessen“ gelten können, so wie sie in groben Zügen dann im Oktober 1945 in der amerikanischen Besatzungszone mit der Gründung des entsprechenden Bundeslandes umgesetzt wurde.57 Derartige Pläne
hatten bereits früher bestanden: So sah ein erster, nicht realisierter Entwurf zur Weimarer Reichsverfassung Anfang 1919 die Zerschlagung Preußens und u. a. die Zusammenfassung von Hessen und
Hessen-Nassau zu einer gemeinsamen Selbstverwaltungskörperschaft vor.58 In staatlichen Teilbereichen wurde diese Zusammenfassung wenig später sogar Wirklichkeit: Beispielsweise umfasste der
Reichstagswahlkreisverband „Hessen“ seit 1924 sowohl die preußischen als auch die volksstaathessischen Teile der Region, ebenso deckte seit Mitte der 1920er Jahre der Landesarbeitsamtsbezirk
Hessen sowohl Hessen-Nassau als auch Hessen(-Darmstadt) ab.59 Als Traupels eigene Provinzialverbandspläne bereits zum Scheitern verurteilt waren und zunehmend die „Erörterung über die Reichsgaue in den neuen Gebieten seine Phantasie und nicht weniger seinen Ehrgeiz“ beflügelte,60 rückte
für ihn die Großhessenlösung verstärkt ins Blickfeld. Trotz aller Schranken, die der Reichsreformdiskussion auferlegt waren, fühlte Traupel sich im Frühjahr und Sommer 1940 bemüßigt, sowohl beim
Reichsinnenministerium als auch bei der Parteileitung in München Neugliederungspläne für die hessische Region zu unterbreiten: Bei der Reichsreform sollten seiner Vorstellung nach die seinerzeit
55
Siehe dazu Rebentisch, Führerstaat (1989), darin insb. S. 215 ff. (Kap. III. 3.), S. 231 ff. (Kap. IV. 1.), S. 273 ff. (Kap.
IV. 4.); Teppe, Provinz (1977), S. 202–245 (= Fünftes Kapitel); Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 749. – Während an der
Spitze der Gauselbstverwaltungen in den österreichischen Reichsgauen je ein „Landeshauptmann“ stand, wurden die Gauselbstverwaltungen in den Reichsgauen im Sudetenland und im besetzten Polen (einschließlich Danzigs) von je einem „Gauhauptmann“ angeführt. – In HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12840, o. Bl.-Nr., RuPrMdI, Rund-Erl. I 292/2155 (14.03.1935), hier als
Abschr. von OP in Kassel an BV Nassau (19.03.1935), hieß es explizit: „Nach einem ausdrücklichen Wunsche des Führers
sollen Erörterungen jeder Art über die Reichsreform nach wie vor unterbleiben. [...] Unter den Begriff der Reichsreform fällt
ebenso die Neugliederung des Reiches wie die Neuordnung in Verfassung und Verwaltung.“
56
Zuzüglich der ebenfalls zum NSDAP-Gau Hessen-Nassau zählenden Kreise Hanau (Stadt u. Land), Gelnhausen u. Schlüchtern, welche staatlich zum Reg.-Bez. Kassel zählten. – Zu Sprengers Bestrebungen siehe insb. Rebentisch, Gau (1978); siehe
auch Recker, Hessen (1997), S. 267 f.; Zibell, Gauleiter (2001), S. 401 f.
57
Nun allerdings ohne die in der französischen Besatzungszone liegenden Gebiete im Westerwald und an der Unterlahn sowie
die linksrheinischen (rheinhessischen) Gebiete des früheren Volksstaats. – Müller, Adler (1966), S. 358.
58
Dieser Entwurf von dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium und späteren Reichsinnenminister Hugo Preuß (1860–
1925) wurde verworfen, da die einheitsstaatliche Ausrichtung bei den Ländern auf Widerspruch stieß: Schön, Entstehung
(1972), S. X; Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 8 (1998), S. 65.
59
Demandt, Geschichte (1980), S. 592. – Am 05.01.1924 wurden die bisherigen Wahlkreise 19 (Provinz Hessen-Nassau ohne
Schmalkalden u. Schaumburg, zuzüglich des Landes Waldeck u. des rheinischen Kreises Wetzlar) und 33 (Volksstaat Hessen)
zu dem Wahlkreisverband zusammengefasst. – Zum Landesarbeitsamt Hessen mit Sitz in Ffm siehe auch Ämter (1997),
S. 186.
60
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322. – Zum Vorbild der neuen „Reichsgaue“ siehe unten in diesem Kap.
IV. 1. a).
342
IV. Zeit der Gasmorde
existierenden NSDAP-Gaue Kurhessen (Kassel) und Hessen-Nassau (Frankfurt) zusammengefasst
werden; als denkbare Gauhauptstadt favorisierte Traupel nun (wegen der geografischen Mittelpunktlage) entweder Marburg oder Gießen. Er fand sogar versöhnliche Worte über seinen Widersacher Sprenger: Wahrscheinlich hätte die Landschaft Hessen/Hessen-Nassau eine positive „Entwicklung genommen, wenn 1933 Gauleiter Sprenger Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau geworden wäre, wie er
das gewollt hat.“61 Ob zu Recht oder zu Unrecht, vermutete Traupel allerdings bei Sprenger mittlerweile, da dieser nicht mehr die Großhessenlösung verfolgte, eine gewisse Kurzsichtigkeit, denn – so Traupel – „wenn er [Sprenger] mitzöge, so wäre er der erste Anwärter als Reichsstatthalter für den Gau, der
sich hier bilden kann.“62
Andererseits dürften Sprenger wirtschaftspolitische Erwägungen und eine realistische Einschätzung
der eigenen Möglichkeiten dazu bewogen haben, die Rhein-Main-Lösung zu präferieren. Möglicherweise spielten dabei – trotz gelegentlicher Rivalität63 – auch gegenseitige Rücksichtnahmen mit seinem
Kasseler Gauleiterkollegen Karl Weinrich eine Rolle. Weinrich selbst hatte zwar intern die ursprüngliche Traupel’sche Initiative zur Zusammenfassung der Bezirksverbände für gut befunden, aber darauf
verzichtet, nach außen hin dafür Partei zu ergreifen, da er „als Gauleiter von Kurhessen nicht in Gegensatz zu Gauleiter Sprenger treten konnte und wollte“.64 Im Gegenzug beschränkte der Frankfurter
Gauleiter sich ebenfalls auf das eigene Zuständigkeitsgebiet. Er verstieg sich – offenbar mit Blick auf
die geringe Wirtschaftskraft, die Kurhessen hätte beitragen können – anscheinend sogar zu der Bemerkung, „Kassel interessiere ihn nicht und was damit würde, wäre ihm egal“.65
Auch zur Realisierung der durch Sprenger beständig und immer vehementer verfolgten Neugliederungsvariante in Mittel- und Südhessen hatte es bereits in der Weimarer Republik (vergebliche) Anläufe gegeben. Ende 1928/Anfang 1929 schlug der hessische Innenminister Wilhelm Leuschner vor, im
Rhein-Main-Gebiet ein „Musterland für die Reichsreform“ zu bilden, das sich aus dem bisherigen
Volksstaat und den südlichen Teilen Hessen-Nassaus zusammensetzen sollte; der preußische Innenminister Albert Grzesinski lehnte ein solches „Reichsland Hessen“ allerdings postwendend ab, da
der wirtschaftlich schwächere Kasseler Raum bei Preußen verblieben wäre, welches damit die Lasten
allein zu tragen gehabt hätte. Mit dem Gegenvorschlag Grzesinskis, das Land Hessen solle seine
Verwaltung (staatsvertraglich geregelt) dem Land Preußen übertragen, konnte sich wiederum die
Darmstädter Regierung nicht anfreunden.66 Wenn auch dieses Projekt ebenso wie andere Anläufe während der Weimarer Zeit zur Verklammerung des Rhein-Main-Gebietes nicht realisiert worden waren,
so konnte Sprenger doch nun darauf Bezug nehmen.67 Früh war die Zusammenfassung des RheinMain-Gebiets nach der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ in verschiedenen nicht staatlichen Bereichen gelungen: Die evangelische Kirche orientierte sich weitgehend an den Grenzen des
61
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666435 f., LH Traupel, Kassel, an RMdI, Staatssekretär Dr. Stuckart bzw. Ministerialdirektor Surén, Berlin (18.04.1940), Abschr. als Anlage 7 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS Himmler, Berlin
(06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame
2666436; ebd., Frame 2666539–2666542, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München,
„Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666541 f. (Zitat: Frame 2666542), hier als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), beide vorgenannten Dok. hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem.
ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
62
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666494 f., LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Hahn/Taunus
(11.12.1939), hier Frame 2666495, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
63
Zur Rivalität Sprenger – Weinrich siehe z. B. Reuling, Atlaswerkstatt (1997), S. 1196 f. (Anm. 136).
64
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., NSDAP, Gauleitung Kurhessen, gez. Gauleiter Weinrich, an RFSS Himmler (03.12.1940). – Zu Karl Weinrich (1887–1973) siehe biogr. Anhang.
65
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen]. – Danach hat Sprenger diese (hier von Traupel zitierte) Äußerung – vermutlich im August 1940 – gegenüber
Richard Hildebrandt gemacht.
66
Jeserich, Provinzen (1931), S. 41 f. (auf S. 41 Zitat „Musterland [...]“); Schön, Entstehung (1972), S. IX. – Zu Wilhelm
Leuschner (1890–1944) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 6 (1997),
S. 354 f. – Albert Grzesinski (1879–1947), SPD, war 1926–1930 preußischer Innenminister: ebd., Bd. 4 (1996), S. 230.
67
Grundlegend zu dieser Thematik ist der Aufsatz „Der Gau Hessen-Nassau und die nationalsozialistische Reichsreform“:
Rebentisch, Gau (1978); siehe auch ders., Revolution (1983), S. 239 f.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
343
Sprenger’schen NSDAP-Gaus, als sie im September 1933 (wie von der Gauleitung gewünscht) ihre
nassauische, ihre hessisch-darmstädtische und ihre Frankfurter Landeskirche zur evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen zusammenschloss.68 Auch Organisationen der Wirtschaft wie der „RheinMainische Industrie- und Handelstag“ oder der rhein-mainische Zeitungsverlegerverband hatten ab
1933 die hessisch-preußische Grenze im Rhein-Main-Gebiet ignoriert und ganz in Sprengers Sinne
„alle Hemmnisse, Rechtstraditionen und staatliche Schranken niedergerissen, an denen die Neugliederungspläne der Weimarer Republik noch gescheitert waren.“69 Für den staatlichen Bereich dagegen
hatte Sprenger langfristig zu beklagen, dass sich der „Gau Hessen-Nassau [...] verwaltungsmäßig noch
aus seinen vorrevolutionären Bestandteilen“ zusammensetzte, und es könne „wohl keiner der Beteiligten behaupten“, so meinte der Gauleiter, dass „dieser Zustand ein idealer sei“.70
Mindestens ebenso sehr wie auf die territorialen Aspekte nahm Sprenger auf die verfassungspolitischen Implikationen des avisierten Reichsgaumodells Bedacht. Da er im preußischen Teil seines Gaugebiets zunächst keine bedeutende staatliche Position innehatte, richteten seine ganzen Anstrengungen
sich anfangs auf das Land Hessen, den bisherigen Volksstaat, wo er seit 1933 als Reichsstatthalter in
Darmstadt amtierte und wo er bereits entscheidende Schritte auf dem Weg der Vereinigung von staatlicher und parteigebundener Herrschaft hatte machen können. Wie Rebentisch konstatiert, war Hessen
(neben Sachsen) dasjenige Land im Deutschen Reich, in dem „die Umstrukturierung der L[andes]verwaltung nach dem Reichsgaumodell“ am weitesten fortgeschritten war. Sprenger hatte das Führerprinzip so weit getrieben, dass er die Darmstädter Landesregierung, die ab 1935 weder einen Ministerpräsidenten noch Minister hatte, sondern nur noch von einem Staatssekretär repräsentiert wurde, „zu einer
Art Wurmfortsatz des Reichsstatthalterbüros“ gemacht hatte.71 Schreiben der Darmstädter Innenverwaltung (des ehemaligen Innenministeriums) tragen z. B. den Briefkopf „Der Reichsstatthalter in Hessen [/] – Landesregierung – [/] Abteilung III (Innere Verwaltung)“ – dies stellte eine reichsweit beinahe
einzigartige Subordination dar.72 Rebentisch stellt zusammenfassend die Modellhaftigkeit dieser Darmstädter Lösung heraus: „Die Personalunion von Gauleiter, Reichsstatthalter und Chef der Landesregierung, die im Machtbereich Sprengers allerdings nur für die hessischen Teile und nicht für die preußischen Gebiete des Gaus Hessen-Nassau galt, war ungefähr das, was allen Gauleitern als die Idealform
der nationalsozialistischen Verfassung vorschwebte. Auch Sprenger hat dies, wie seine engsten Mitarbeiter unabhängig voneinander bezeugen, so gesehen und alles daran gesetzt, die preußische Verwaltung in seinem Gau durch Unterminierung für die kommende territoriale Neugliederung und die Überführung in einen ‚Reichsgau‘ reif zu machen.“73
Vor diesem Hintergrund sah Sprenger im preußischen Bezirksverband Nassau die Keimzelle für eine
spätere Gauselbstverwaltung in seinem Gaugebiet Hessen-Nassau (d. h. Rhein-Main), zumal im Land
Hessen keine derartige überörtliche Selbstverwaltungskörperschaft (mehr) existierte.74 Die Tätigkeit
68
Ebd. (Revolution), S. 242 (dort auch Hinweis auf Wunsch der Gauleitung); Sauer, Widerstand (1996), S. 292 (Gründung der
Kirche am 12.09.1933); Demandt, Geschichte (1980), S. 596. – Die 1933 gegründete Landeskirche ist der Vorläufer der heutigen, etwa dasselbe Gebiet abdeckenden „Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau“, die sich jedoch nicht in die Tradition
der NS-Gründung stellt, sondern das Datum ihrer Neugründung am 30.09.1947 als ihren „Geburtstag“ ansieht: zu Letzterem
vgl. Dietze, Jahrhundert (1997), S. 12.
69
Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 218; zu den Zusammenschlüssen siehe auch ders., Gau (1978), S. 133–135.
70
HStA Wi, Abt. 1129 Nr. 6, o. Bl.-Nr., Druckschrift „‚Partei und Staat‘. Die Stellung des Beamten beim Umbau des Staates
unter besonderer Berücksichtigung des Gaues Hessen-Nassau. Gauleiter Sprenger vor dem Führerkorps der Partei und den
Behördenleitern von Staat und Gemeinden am 13. Januar 1943. Nur zum persönlichen Gebrauch“ (o. D.), S. 6. – Diese Sätze
sind in der Druckschrift (mit Bleistift) gestrichen, möglicherweise wegen des Gebotes, das Thema „Reichsreform“ öffentlich
nicht zu behandeln.
71
Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 751 f. (auf S. 751 Zitat „die Umstrukturierung [...]“, dort pluralisch: „Länderverwaltung“); ders., Führerstaat (1989), S. 218 (Zitat „zu einer Art [...]“); siehe auch Recker, Hessen (1997), S. 263.
72
Zu dem Briefkopf siehe z. B. LWV, Best. 14/169, o. Bl.-Nr., Schreiben an LHPA Heppenheim (03.03.1939).
73
Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 219. – Zur Frage der Kongruenz oder Inkongruenz von Reichsstatthalterbezirken/Gauen
und der Ähnlichkeit mit den Reichgauverhältnissen siehe auch ebd., S. 247.
74
Sprenger selbst hatte 1937 die drei Provinzen des Landes Hessen (Rheinhessen, Starkenburg, Oberhessen), die ähnlich den
bayerischen Bezirken sowohl staatliche Verwaltungsbezirke als auch Körperschaften der überörtlichen Selbstverwaltung
waren, aufgelöst; sein 1940 neu erwachtes Interesse für die Selbstverwaltung erweist sich dadurch als machtpolitisches Manöver zur „stille[n] Anpassung an die Struktur der Reichsgaue im Osten“ und nicht als die Förderung einer „vorbildliche[n] Verfassungskonstruktion“: Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 219.
344
IV. Zeit der Gasmorde
des Wiesbadener Verbandes hätte über kurz oder lang auf das darmstädtische Territorium ausgedehnt
werden sollen – so Sprengers Vorstellungen schon während der 1930er Jahre.75 Insofern durchkreuzte
das von Traupel beabsichtigte Aufgehen dieses Bezirksverbandes Nassau in einem größeren Provinzialverband (mit Sitz in Kassel und damit außerhalb des Frankfurter Gaugebiets) die machtpolitischen
Wunsch- und Zielvorstellungen Sprengers komplett. Der Reichsstatthalter versuchte dann 1940, eine
neue Selbstverwaltungskörperschaft im Land Hessen zu gründen, und führte dazu „sehr eingehende
Verhandlungen“ mit dem Reichsinnenministerium.76 Auf Initiative Sprengers war Minister Frick sogar
„neuesten Gedanken einer Trennung von Hessen und Nassau [gemeint war Provinz oder Provinzialverband Hessen-Nassau] und einer Vereinigung des Bezirksverbandes [Nassau] mit dem Lande Hessen“77 näher getreten. Dahinter steckte der bereits von Reichskanzleichef Lammers, von Parteikanzleichef Bormann und von Himmler abgesegnete Plan, dass der Wiesbadener Landeshauptmann – dies
sollte allerdings nicht mehr Traupel sein – „in Personalunion die neugebildete Selbstverwaltungskörperschaft des Landes Hessen übernehmen“ sollte.78 Dieses Vorhaben scheiterte 1940/41 u. a. daran,
dass die Verhandlungspartner nicht darüber einig werden konnten, wer von ihnen das Aufsichtsrecht
über den Darmstädter Selbstverwaltungsverband würde ausüben dürfen: der Reichsstatthalter in Darmstadt oder der Reichsminister des Innern.79 Dennoch macht das Szenario deutlich, dass Sprenger das
Instrument der Personalunion (hier im Bereich der Selbstverwaltung) als einen Umweg zu seinem
eigentlichen Ziel, einer späteren institutionellen Verschmelzung, verstand. Eben diesen Weg hatte er
auch schon früher mit einem ähnlichen Manöver im Bankwesen eingeschlagen: Sprenger als Reichsstatthalter ernannte Wilhelm Avieny,80 den Direktor der Nassauischen Landesbank (die dem Bezirksverband Nassau in Wiesbaden zugeordnet war), kurzerhand – und zwar ohne Traupel zu konsultieren
oder zu informieren – zugleich zum Kommissar für die Hessische Landesbank (Staatsbank) in Darmstadt; Avieny arbeitete daraufhin für Sprenger einen Plan zur Verschmelzung der beiden Institute aus.81
Mitte 1944, kurz vor Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, sollte Sprenger dann schließlich auch
im preußischen Teil seines NSDAP-Gaus die obersten staatlichen Machtpositionen erlangen. Er konnte
75
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig,
an RFSSuChdDtPol im RMdI, Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940),
Durchschr., hier Frame 2666533, zit. n. d. Kopie in BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen]. – Danach sollten Sprengers Vorstellungen zufolge „nach der Gründung der Reichsgaue die noch nicht zum
Bezirksverband [Nassau, P. S.] gehörenden Gebiete von Hessen [= Land, P. S.] ohne weiteres“ dazukommen. – Siehe auch
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322.
76
BA, R1501/alte Sign.: R18/1283, Bl. 30, RMdI, Vm. Ministerialdirigent Dr. Loschelder (02.08.1944). – Vgl. auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 321; ders., Führerstaat (1989), S. 277; zur weiteren Entwicklung dieses Planes 1944
siehe Kap. V. 4. b).
77
BA, R1501/50480, o. Bl.-Nr., Vm. RMdI, gez. Frick (12.06.1940). – In dem Dokument ist zwar der „Bezirksverband Hessen“ genannt, als Kandidat für die Vereinigung konnte jedoch nur der BV Nassau in Frage kommen.
78
Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Vm., gez. Dr. Stuckart, an Ministerialdirektor Dr. Surén (30.05.1940). – Ein Vm. von Himmler
(25.05.1940) mit entsprechendem Inhalt ist auch zit. b. Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 324, bzw. b. dems., Führerstaat (1989), S. 222: „Es herrscht Einigkeit darüber, daß man die beiden (sic!) Selbstverwaltungskörper teilen muß, einen
Selbstverwaltungskörper für Kurhessen, einen für Hessen-Nassau in Personalunion verbunden mit einem von Sprenger bereits
beantragten und zu genehmigenden für das Land Hessen-Darmstadt“. – Einfügung „(sic!)“ so bei Rebentisch.
79
BA, R1501/alte Sign.: R18/1283, Bl. 12 f., Vm. RMdI, Referent Ministerialdirigent Dr. Loschelder (10.06.1944), hier
Bl. 12.
80
Zu Wilhelm („Willi“) Avieny (* 1897) siehe biogr. Anhang. – Quellen: BV Nassau, Verwaltungsbericht (Anfang 1933–
Anfang 1934), S. 3; dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 4; LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 9, Geschäftsverteilungsplan d. BV
Nassau (02.10.1934); HStA Wi, Abt. 403 Nr. 1498, o. Bl.-Nr., Niederschrift über die Sitzung des Landesausschusses im
Landeshaus in Wiesbaden (Sitzungsdatum: 03.11.1933), Tagesordnungspunkte 18 u 19; ebd., o. Bl.-Nr., Wahlvorschlag d.
NSDAP zur Wahl des Landesausschusses, gez. Sprenger u. a. (o. D.), hier beglaubigte Abschrift (Beglaubigung: 08.11.1933);
Frankfurter Zeitung, Jg. 1935, Nr. 74 (16.03.1935), „Ernennung preussischer Provinzialräte“, hier n. d. Abschr. in IfStG Ffm,
Mag.-A. 4.056, Bl. 18; IfStG Ffm, Mag.-A. 4.056, Bl. 19–21, Bl. 62, Bl. 79 f., div. Verzeichnisse der Provinzialräte der Prov.
Hessen-Nassau (o. D. [ca. 1935 bzw. 1938 bzw. 1937]); ebd., Mag.-A. 8.974, Korrespondenz Avieny – Stadt Ffm (1942),
StA Da, Abt. G 24, Nr. 936, Bl. 40 f., „Namentliches Verzeichnis der Gauamtsleiter, Gauleitung Hessen-Nassau in Frankfurt
am Main“, hier als Abschr. innerhalb des Schreibens OLG-Präs. Darmstadt, gez. Dr. Scriba, an d. Gerichte d. OLG-Bezirks (08.01.1943), hier Bl. 40; Gimbel, Schilderungen (1941), S. 144; BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm,
Bd. II, o. Bl.-Nr., 16-seitiges Schreiben von W. Traupel, LH d. Provinz Hessen-Nassau, an Gauleiter d. Gaues Hessen-Nassau, Sprenger (11.03.1940), Abschr., hier S. 9 f.
81
Ebd. (Traupel-Schreiben), hier S. 9 f.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
345
die Verklammerung der beiden Territorien faktisch weit vorantreiben, ohne allerdings die integrierte
Lösung eines „Reichsgaus Rhein-Main“ formal je erreicht zu haben.82
*
Im Jahre 1939 wurden die (nicht deckungsgleichen) Territorien der preußischen Provinz und des
NSDAP-Gaus Hessen-Nassau zu einem regionalen Schauplatz der auch andernorts kontrovers geführten Reichsreformdebatte, die jedoch diese Bezeichnung wegen eines Hitler’schen Diskussionsverbotes
nicht tragen durfte. Diese Debatte ist einzuordnen vor dem Hintergrund der 1938 und 1939 an den Ostund Südosträndern des deutschen Machtbereichs bereits entstandenen Reichgaue, in denen – anders als
im „Altreich“ – Staats- und Parteimacht in einem Amt, dem des Gauleiters, vereinigt waren. Der Kasseler Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, versuchte gemeinsam mit
dem Landeshauptmann Wilhelm Traupel, welcher sowohl für den Bezirksverband Nassau in Wiesbaden als auch für den Bezirksverband Hessen in Kassel zuständig war, die Institutionen in der Provinz
enger miteinander zu verklammern. Im Widerspruch dazu war der Frankfurter Gauleiter und Darmstädter Reichsstatthalter Jakob Sprenger daran interessiert, die Gemeinsamkeiten zwischen den hessischen
und preußischen Teilen seines Gaugebietes (dem Land Hessen und hauptsächlich dem Regierungsbezirk Wiesbaden) weiter auszubauen. Der Konflikt entzündete sich an dem Bezirksverband Nassau, der
in beiden Konzepten eine zentrale Rolle spielte.
Nur vordergründig ging es für die Hauptkontrahenten, Traupel und Sprenger, um die sachliche Frage, wie sinnvollerweise die Zukunft des Wiesbadener Bezirksverbandes aussehen solle: ob dieser, wie
von Traupel angestrebt, zusammen mit seinem Kasseler Pendant in einem gemeinsamen Provinzialverband Hessen-Nassau aufgehen sollte, oder ob er, wie von Sprenger gewollt, in Personalunion mit
einem Darmstädter Selbstverwaltungsverband geführt werden und damit den Grundstein für einen
künftige „Gauselbstverwaltung“ im angestrebten Reichsgau Rhein-Main bilden sollte. Letztlich waren
es eher machtpolitische Bestrebungen und persönliche Differenzen zwischen den Kontrahenten als
wirklich sachliche Argumente, die den folgenden Konflikt heraufbeschworen. Unter raumordnungspolitischen Gesichtspunkten nämlich unterschieden die Vorstellungen von Landeshauptmann Traupel und
Gauleiter Sprenger sich nicht grundsätzlich. Zwar versuchte Traupel herauszustreichen, er selbst werde
vom Motiv der „Verwaltungsvereinfachung“ bewegt, während die Angelegenheit von Sprenger auf die
„Basis [...] der Reichsreform gebracht“ worden sei,83 in Wirklichkeit aber zielten doch beide Protagonisten darauf ab, im Rahmen der Reichsreform eine sinnvolle regionale Einheit zu kreieren. Dass zur
Begründung des jeweiligen Vorhabens der Landeshauptmann die Förderung einer landschaftlichen und
kulturellen Identität auf Basis der bisherigen preußischen Provinz in der Vordergrund stellte, während
der Gauleiter die Konzeption der neuen Reichsgaue zum Vorbild nahm, muss sekundär erscheinen –
zumal auch Traupel die Reichsgaulösung auf Dauer als die gegebene ansah. Anders als bei dem antikirchlichen Engagement oder der „rassenhygienischen“ Behindertenfeindlichkeit des Bezirksverbandes, denen tatsächlich ideologische Motive zugrunde lagen, war in diesem Fall die reine Machtfrage
ausschlaggebend. Sämtliche Konflikte – so sehr sie auch vordergründig mit Sachargumenten ausgefochten wurden – spitzten sich zu auf die Entscheidung, ob der Bezirksverband Nassau als eigenständige Selbstverwaltungsinstitution in Wiesbaden (und damit im Sprenger’schen Gau) bestehen bleiben
würde oder ob die Verwaltung nach Kassel verlegt und damit die überörtliche Selbstverwaltung für die
„nassauische“ Region künftig von dort aus (und damit von außerhalb des Sprenger’schen Einflussbereichs) betrieben werden sollte. Von Interesse war letztlich nur noch die Frage „Verlegung – ja oder
nein?“
82
Siehe dazu Kap. V. 4. b).
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier
Frame 2666421, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
83
346
IV. Zeit der Gasmorde
b) Entmachtung des Landeshauptmanns
In seinem Bestreben, die Aufgaben der beiden Bezirksverbände Nassau und Hessen unter dem Dach
des Provinzialverbandes Hessen-Nassau zusammenzufassen, hatte Landeshauptmann Wilhelm Traupel
im Jahr 1939 und in den ersten beiden Monaten des Jahres 1940 nur kleinere Hürden überwinden müssen, ansonsten aber hatte er seine Absichten unbehelligt verfolgen können. Nachdem Traupel und sein
Widerpart, der Frankfurter Gauleiter Jakob Sprenger, in dieser Phase überwiegend hinter den Kulissen
agiert hatten, kam es im März 1940 zum direkten Schlagabtausch, der sich schnell zu einem existenziellen Machtkampf ausweitete.84 Als Sprenger in den ersten Märztagen – durch einen Hinweis seines
Vertrauten im Bezirksverband Nassau, Fritz Bernotat – gewahr wurde, dass Landeshauptmann Traupel
sich trotz der Intervention der Aufsichtsbehörde und trotz des erkennbaren Willens der Partei nicht
davon hatte abhalten lassen, die Zusammenfassung seiner beiden Bezirksverbände zu forcieren, begann
Sprenger in aller Offenheit machtvoll gegen seinen Widersacher vorzugehen. Besonders dass Traupel
ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen versucht und damit Sprengers Stellung als Gauleiter nicht respektiert hatte, scheint diesen gekränkt zu haben: Traupel habe es „versäumt und nicht für notwendig
gehalten, ihn von der geplanten Zusammenlegung der beiden Verwaltungen nach Kassel pflichtgemäß
zu orientieren. Er [Sprenger, P. S.] habe von diesen Dingen erst dann erfahren, als sie ungefähr perfekt
waren und auch dann nur durch den ihm persönlich sehr ergebenen SS-Sturmbannführer Bernotat.“85
Sprenger hatte aber bereits kurz vorher (Ende Februar) bei „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler gegen Traupel agitiert. Während generell das Verhältnis der Gauleiter zur SS (und speziell auch dasjenige
Sprengers zu Himmler) zumindest als zwiespältig einzuschätzen ist, findet sich hier „ein temporäres
pragmatisches Zusammengehen“86, mit dem Sprenger die Ausschaltung seines Gegners bezweckte. Gegenüber Himmler denunzierte er Traupel, 1933 oder 1934, also nach der „Machtübernahme“, zum
Katholizismus konvertiert zu sein. Diese Verleumdung säte tatsächlich Misstrauen bei Himmler und
brachte Traupel ein Verfahren vor dem „kleinen Schiedhof beim Reichsführer-SS“ ein. Zwar konnte
der Landeshauptmann dort den Vorwurf entkräften und sich zumindest formal rehabilitieren, doch trug
die Angelegenheit dazu bei, seine Reputation innerhalb der SS zu schmälern.87
Am 8. März 1940 erklärte Sprenger dann dem Landeshauptmann offen die Feindschaft und ließ sich
zu einer – ansonsten nicht seinem Naturell entsprechenden – „fast pathologischen Verfolgungswut gegen Traupel hinreißen“.88 In einem mitten in der Nacht zugestellten Telegramm warf Sprenger seinem
Kontrahenten Traupel mit Hinweis auf die Zusammenlegungsmaßnahmen eine fortgesetzte Missachtung der Partei vor – dem Landeshauptmann sei schließlich Sprengers „entgegengesetzte Forderung
bekannt“ gewesen – und er verbot ihm das Betreten sämtlicher Dienstgebäude der NSDAP im Gau
84
Zum Ablauf dieses Schlagabtausches im März 1940 – soweit hier nicht wiedergegeben – siehe die ausführliche Darstellung
bei Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 322–325; auch bei dems., Führerstaat (1989), S. 219–223; kürzer bereits bei
dems., Gau (1978), S. 150–152.
85
Sprengers Position, wiedergegeben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen
SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666533, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Entsprechend auch Sprengers Anwurf, dass „überhaupt nicht der
Versuch gemacht wurde, mit mir als dem zuständigen Gauleiter in der Angelegenheit in Verbindung zu treten“: BA, BDCUnterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., Gauleiter Sprenger, Telegramm an OP d. Prov. Hessen-Nassau,
Philipp Prinz von Hessen (08.03.1940, 0.13 Uhr), Abschr.
86
Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 173. – Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221, weist darauf hin, dass „Sprenger de[n]
Reichsführer-SS [...] sonst gar nicht schätzte“.
87
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666504–2666507, LH Traupel, Kassel, an HSSPF Gruppenführer Hildebrandt, z. Zt.
Berlin (05.03.1940), hier Frame 2666505–2666507; ebd., Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich
Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier Frame 2666418 f.; ebd., Frame 2666424–266426, LH W. Traupel, Kassel,
an Chef d. Pers. Stabes RFSS, SS-Gruppenführer Wolff, Berlin (05.03.1940), die beiden zuletzt genannten Schreiben hier als
Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), alles n. Kopien: BA, Film des
ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm,
Bd. I, o. Bl.-Nr., Der kleine Schiedhof beim Reichsführer-SS, Berlin, an SS-Obergruppenführer LH Traupel, Kassel (30.08.
1940). – Es wurde festgestellt, dass der Übertritt zur kath. Kirche 1925 oder 1926 stattgefunden habe. – Zur Datierung des
Gesprächs Sprenger – Himmler auf Ende Feb. (22.02.1940) siehe Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221. – Zur antikonfessionellen Haltung des BV Nassau in den 1930er Jahren und zu Traupels ehemaligen Konfessionen siehe Kap. II. 3. c).
88
Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 222; vgl. auch ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 324.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
347
Hessen-Nassau.89 Darüber hinaus lehnte er jegliche weitere Zusammenarbeit mit Traupel persönlich
und mit ihm als Behördenleiter strikt ab, was schließlich zur Folge hatte, dass Parteistellen im Gau
Hessen-Nassau dem Bezirksverband Nassau behördliche Schreiben unbearbeitet zurücksandten, wenn
diese Traupels Unterschrift trugen.90 Zwar stellte Oberpräsident Philipp von Hessen sich voll und ganz
hinter Traupel und übernahm die Verantwortung für dessen Maßnahmen, doch Sprenger ließ sich davon nicht im Geringsten beeindrucken.91 Parallel zu seinen persönlichen Attacken gegen Traupel arbeitete Sprenger fieberhaft daran, die Zusammenlegung der Bezirksverbände zu stoppen, die er gegenüber
Oberpräsident Philipp von Hessen als „völlig ungesetzlich“ bezeichnete.92 In Gesprächen mit Göring
und Innenstaatssekretär Pfundtner gelang es dem Gauleiter Mitte März, die Front der Unterstützer
Traupels und Philipps zumindest aufzuweichen.93
Unterdessen betrieb Traupel die Zusammenlegung zunächst unbeirrt weiter. Nun allerdings, im März
1940, zeigte sich, dass Sprenger nicht sein einziger Widersacher war, sondern dass Traupel auch in
Wiesbaden selbst auf massive Widerstände traf. Von Anfang an hatte der Wiesbadener Bürgermeister
und ehemalige NSDAP-Kreisleiter Felix Piékarski versucht, den Umzug zu verhindern; hierzu hatte er
bereits Ende 1939 Gespräche in Berlin geführt und parallel eine Allianz mit der Stadt Frankfurt gesucht
in der Absicht, gemeinsam mit dieser zur Verhinderung der Verlegung „auf das grössere [...] Gewicht
des Rhein-Main-Gebietes und des Regierungsbezirkes Wiesbaden innerhalb der Provinz Hessen-Nassau hin[zu]weisen“. Die Stadt Frankfurt allerdings unterstützte die Wiesbadener Initiative ausdrücklich
nicht, sondern erhoffte sich von einer Verlegung der Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes
nach Kassel mittelbar sogar Vorteile: Der Umzug nämlich bedeute „einen Einbruch in die Stellung
W[iesbadens] als Regierungssitz“, der der Stadt Frankfurt „bei späteren Auseinandersetzungen vielleicht zum Vorteil sein“ könne.94 Zum Scheitern von Traupels Plänen trug aber viel entscheidender als
alle Einwände der Stadt Wiesbaden der Unwillen beim Gros der Wiesbadener Mitarbeiter des Bezirksverbands bei, die bei einer Zusammenlegung ihren angestammten Arbeitsplatz hätten aufgeben müssen
und bei denen die geplanten Versetzungen nach Kassel „große Erregung“ hervorriefen. Wie der Wiesbadener Landesrat Kranzbühler gegenüber Traupel ausbreitete, sahen viele der Wiesbadener Beamten
und Angestellten sich aus persönlichen Gründen (etwa wegen Familienbindung oder körperlicher Behinderung) nicht in der Lage, nach Kassel umzuziehen, zumal sie befürchteten, dort während des Krieges kaum geeignete Wohnungen finden zu können.95 Auch Sprenger wies auf die „tiefste Depression“
hin, die unter Beamten und Angestellten im Wiesbadener Landeshaus geherrscht habe; „tiefe Sorge um
ihr zukünftiges Schicksal“ hätten ebenso auch „mehrere[...] hundert im Felde stehende[...] Gefolg89
HStA Wi, Abt. 520 KZ Nr. 3217, Bl. 16, Telegramm von Gauleiter Sprenger an LH Traupel, Kassel (08.03.1940, 1.30 Uhr
nachts), Abschr. mit dem Zusatz „Original beim Obersten Parteigericht“; weitere Abschr. vorhanden in BA, BDC-Unterlagen
(SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr. – In der Abschr. in HStA Wi heißt es anstatt „entgegengesetzte“: „entgegensetzte“.
90
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666429, OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an Gauleiter des Gaues HessenNassau, Sprenger, Ffm (14.03.1940), auszugsweise Abschr. als Anlage 4 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an RFSS
Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(06.05.1940); ebd., Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666545, hier als Anlage zum
Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), beide vorgenannten Dok. hier n. d. Kopie:
BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
91
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666429, OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an Gauleiter des Gaues HessenNassau, Sprenger, Ffm (14.03.1940), auszugsweise Abschr.; ebd., Frame 2666430, NSDAP-Gauleitung Hessen-Nassau,
Gauleiter Sprenger, Frankfurt a. M., an OP der Prov. Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen, Kassel (23.03.1940), auszugsweise Abschr., beide vorgenannten Dok. waren Anlage 4 bzw. Anlage 5 zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an
RFSS Himmler, Berlin (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(06.05.1940), beide Dok. hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
92
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., Gauleiter Sprenger, Telegramm an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Philipp Prinz von Hessen (08.03.1940, 0.13 Uhr), Abschr.
93
Vgl. Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323. – Die Unterredung Sprenger –
Göring fand am 19.03.1940 statt.
94
IfStG Ffm, Mag.-A. 4.052, Bl. 73, Stadtrat Arntz, Ffm, an OB, Ffm (28.11.1939) (Zitat zur Initiative Piékarskis); ebd.,
Bl. 74, Vm. aus dem Hauptverwaltungsamt der Stadt Ffm (o. D. [29.11.1939]) (Zitat zur Haltung Frankfurts).
95
HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden,
schriftliche Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 93.
348
IV. Zeit der Gasmorde
schaftsmitglieder des Landeshauses [gehabt], die befürchteten, daß ihnen der Arbeitsplatz wegorganisiert wird, während sie mit der Waffe in der Hand das Vaterland verteidigen“.96
Möglicherweise hatte Traupel die geballte Macht, die von der Wiesbadener Mitarbeiterschaft ausging, unterschätzt, vielleicht war sie ihm persönlich tatsächlich verborgen geblieben. Zwar gestand er
ein, die geplante Zusammenlegung sei eine „Maßnahme, die [...] viele meiner Mitarbeiter in Wiesbaden persönlich schmerzlich berührt und berühren muß“ – doch von „einer ‚tiefsten Depression‘“ habe
er „nichts feststellen können.“97 Möglicherweise hatte Traupel auch versucht, die vorübergehende
Abwesenheit einzelner leitender Beamter auszunutzen, die mit den Verlegungsmaßnahmen aus persönlichen Gründen nicht einverstanden waren. Bernotat fiel Anfang 1940 mehrere Wochen krankheitsbedingt aus; nach einer Gallenoperation verbrachte er einige Zeit im Krankenhaus. Einerseits erfuhr er
dadurch von Traupels Maßnahmen erst mit Verspätung (und meldete sie auch erst verspätet an Sprenger), andererseits hatte er dadurch auch seiner Versetzung nach Kassel, die Bernotats in Wiesbaden
verwurzelte Ehefrau partout verhindern wollte, zunächst nichts entgegensetzen können.98 Ebenso
schien anfangs der nach Prag abgeordnete Landesrat Ludwig Johlen der Streichung seines Wiesbadener Amtes als Fürsorgedezernent machtlos ausgeliefert. Traupel setzte sich im Februar 1940 dafür ein,
dass der Reichsprotektor endgültig eine Beamtenstelle für Johlen in Prag schaffen möge – andernfalls
könne der Landesrat weiterhin für das Protektorat beurlaubt bleiben, Traupel jedenfalls habe „keine
Verwendung mehr für [ihn]“.99 Als Johlen dies gewahr wurde, setzte er alles daran, aus Prag loszukommen und „so schnell wie möglich wieder nach Wiesbaden zurückzukehren“, um zu verhüten, dass
er dort „aus der Verwaltung [...] herauskomme“; Mitte April 1940 schließlich gelang ihm die Rückkehr.100
In der Zwischenzeit hatte im Wiesbadener Landeshaus aber ausgerechnet Landesrat Max Kranzbühler, Traupels ansonsten immer so loyaler Stellvertreter, die Initiative ergriffen und Insubordination
geübt. Auch dem mittlerweile fast 62-jährigen Kranzbühler, in zweiter Ehe in Wiesbaden verheiratet,101
dürfte die in Aussicht genommene Versetzung nach Kassel wenig verlockend erschienen sein. Um den
Umzug zu verhindern, führte er jedoch niemals persönliche Gründe an, sondern seine abweichende
„Rechtsauffassung“, nach der für die Zusammenlegung die Genehmigung des Reichsinnenministers
96
Eingabe von Sprenger an RMdI Frick (17.04.1940), zit. im Schreiben in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453–
2666455, OP d. Prov. Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940),
Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier
Frame 2666453 f., hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
97
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster
(01.03.1940), Abschr., hier Frame 2666462 (Zitat „Maßnahme, die [...]“); ebd., Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP in Kassel (16.05.1940), Abschr., hier Frame 2666457 (Zitat „[...] ‚tiefsten Depression‘“), beide vorgenannten
Dokumente hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940),
hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
98
Bernotat befand sich im Februar im Wiesbadener Krankenhaus „Schöne Aussicht“, Anfang März war seine Gesundheit
noch nicht wieder hergestellt: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 4–8, Bl. 10, Protokoll d. Vernehmung Dr. Friedrich
Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946), hier Bl. 4; NARA, T-175, Roll 138, Frame
2666445–2666447, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel, Kassel, an BV Hessen u. an BV
Nassau, an OP in Kassel, sowie an diverse Empfänger innerhalb d. BV Hessen u. Nassau (02.03.1940), hier Frame 2666445;
ebd., Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“
(01.03.1940), hier Frame 2666508 u. 2666510, beide vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Fritz Bernotat (1890–1951) siehe auch biogr. Anhang.
99
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666448–2666451, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, gez. i. V. LH Traupel,
Kassel, an komm. Leiter d. Bodenamtes, Ministerium f. Landwirtschaft, z. H. Staatskommissär Groß, Prag (29.02.1940),
Abschr. als Anlage zum im Folgenden genannten Schreiben, hier Frame 2666450 f.; vgl. auch ebd., Frame 2666504–2666507,
LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, z. Zt. Berlin (05.03.1940), hier Frame 2666504 f., beide
vorgenannten Schreiben hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Ludwig Johlen (1885–1960) siehe biogr. Anhang.
100
NARA, T-81, Roll 41, Frame 3863–3866, SS-Sturmbannführer LdsR Johlen, [z. Zt. auf Urlaub in] Wiesbaden, an HSSPF
Danzig-Westpreußen, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (04.04.1940), hier Frame 3864 f.; siehe auch LWV, Best. 100,
Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Johlen, Ludwig, Teil 6, Bl. 22–24, hier Bl. 24, Ludwig Johlen, Anlage zum Fragebogen
d. Military Government of Germany (o. D. [1945]) (hier datiert Johlen sein „Loskommen“ aus Prag allerdings auf März
1940); siehe auch HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 24451, Bl. 12–16, Ludwig Johlen, Darmstadt [= Internierungslager], Lebenslauf
für Spruchkammer (15.04.1947), hier Bl. 13.
101
BA, BDC-Unterlagen (PK) zu Kranzbühler, Max, Personalblatt zu Kranzbühler ohne Urheberangabe [= BV Nassau für
RMdI-Personalakte Kranzbühler] (01.05.1944). – Zu Max Kranzbühler (1878–1964) siehe biogr. Anhang.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
349
notwendig sei. Als ihm kurz vor den Osterfeiertagen 1940 bekannt wurde, dass Landeshauptmann
Traupel für den Dienstag nach Ostern, den 26. März, bereits Möbelwagen hatte bestellen lassen, um
den Umzug der Wiesbadener Straßenbauabteilung nach Kassel zu vollziehen, griff Kranzbühler –
assistiert von seinem Landesratskollegen Bernotat – ein. Kranzbühler informierte Bernotat, der sich
(wohl noch als Rekonvaleszent) in seinem Jagd- und Wochenendhaus in Weilmünster aufhielt, über die
neuesten Entwicklungen. Bernotat empfing dann in Weilmünster den Gauleiter Sprenger und eröffnete
diesem im vertraulichen Gespräch die Neuigkeiten. Wie wohl von Kranzbühler erhofft, meldete Sprenger sich umgehend, noch am Karsamstag, telefonisch bei ihm und drohte an, er werde „alle seine
Machtmittel einsetzen [...], um die Abfahrt der Möbelwagen zu verhindern. Was dies heiße, würde
ich“ – so Kranzbühler – „ja wohl wissen.“ Die „Vermeidung eines öffentlichen Skandals in Wiesbaden, z. B. Abführung der beladenen Möbelwagen“, bot für Kranzbühler nun die willkommene Begründung, die Spedition postwendend abzubestellen. Zugleich wandte er sich unmittelbar an das Ministerium des Innern. Beides konnte er ohne Gewissensnöte und ohne formale Verletzung des Dienstweges
tun, da sowohl Landeshauptmann Traupel als auch Oberpräsident Philipp von Hessen über Ostern
verreist waren, sodass Kranzbühler selbst die verantwortliche Vertreterposition zufiel. Am Ostersonntag erreichte er über Umwege den Innenminister Frick, der sich – ebenfalls im Osterurlaub – am
Tegernsee aufhielt. Kranzbühler erfuhr, dass Frick bereits kurz zuvor den Kasseler Oberpräsidenten
angewiesen hatte, die Zusammenlegung zu stoppen. Damit – so Kranzbühler – habe sich seine Vermutung bestätigt, dass es sich bei der geplanten Verlegung „lediglich um eine Gewaltmaßnahme des Landeshauptmanns Traupel gehandelt hatte“.102 Kranzbühler rühmte sich später, dass „die Erhaltung der
Verwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden lediglich [s]einem Eingreifen [...] zu verdanken“103
gewesen sei.
Nachdem die Wiesbadener Landesräte den Gauleiter informiert hatten, konnte Sprenger nicht nur die
konkrete Umzugsmaßnahme Ende März verhindern – auch der bisherige Landesrat Willi Schlüter
wurde durch ihn um seine neue Stellung als stellvertretender Generaldirektor der Nassauischen Landesbank in Wiesbaden gebracht. Im Zuge der Traupel’schen Zusammenlegungspläne hatte Schlüter
Anfang März die Ernennungsurkunde des Oberpräsidenten für diese Position entgegengenommen.104 In
seiner neuen Stellung stand Schlüter sich von Status und Gehalt wesentlich besser als bisher, sodass er
die Wechselofferte gern akzeptiert hatte – zumal damit sein Verbleib in Wiesbaden gesichert schien.
Offenbar bei seinem Besuch bei Bernotat in Weilmünster kam Jakob Sprenger zu dem Entschluss, die
Ernennung Schlüters rückgängig zu machen, wozu er freilich formal gar keine Handhabe hatte. Wenngleich durch die Aushändigung der Ernennungsurkunde die Einweisung in die Stelle bereits rechtswirksam geworden war, setzte Sprenger nun alles daran, dies post festum rückgängig zu machen. Er
verlangte, dass Schlüter die Urkunde an den Oberpräsidenten zurücksende. Bernotat übernahm am
Karsamstag die telefonische Übermittlung der Sprenger’schen Forderung. Schlüter sah sich nun in
einer Zwickmühle: Gab er die Urkunde zurück, so gab er damit seine neue Stelle bei der Landesbank
auf – in seine alte Position als Landesrat des Bezirksverbandes hätte er damit allerdings nicht automatisch zurückkehren können, zumal Traupel bereits die Streichung der Stelle aus dem Stellenplan veranlasst hatte. Gab er die Urkunde dagegen nicht zurück, handelte er gegen den ultimativ geäußerten Willen des Gauleiters. In Telefonaten zunächst mit dem Sprenger-Stellvertreter Karl Linder, dann mit dem
Gauleiter selbst, versuchte Schlüter, Verständnis für seine Zwangslage zu vermitteln – letztlich jedoch
vergeblich. Sprenger verlangte von dem Exzentrumspolitiker schließlich: „die Urkunde muss Oster102
HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden,
schriftliche Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 93 f. – Dass die Information Sprengers
über Bernotat erfolgte, lässt sich aus Kranzbühlers Formulierung „[...] ließ ich ihm von der beabsichtigten Verwaltungsverlegung Kenntnis geben“ (ebd., Bl. 93) und aus der Tatsache schließen, dass Sprenger gerade zu diesem Termin Bernotat in
Weilmünster aufsuchte. – Zu diesem Besuch am Vormittag des Karsamstag (23.03.1940) oder kurz davor siehe HStA Wi,
Abt. 520 BW Nr. 4469, Bl. 84 f., Eidesstattliche Erklärung von Rosel W., ehem. Dezernatssekretärin, für Willi Schlüter
(22.09.1947), Kopie, hier Bl. 84. – Auf einen entsprechenden „Stopperlass“, den das RMdI in diesen Tagen nach Kassel
sandte, verweist auch Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 221; auch ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323.
103
HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 31–34, I. LdsR a. D. Kranzbühler an RP Wiesbaden, betr. „Einspruch gegen meine
Dienstentlassung“ (22.06.1945), hier Bl. 33.
104
Siehe dazu Kap. IV. 1. a). – Zu Willi Schlüter (* 1884) siehe biogr. Anhang.
350
IV. Zeit der Gasmorde
dienstag beim Oberpräsidenten auf dem Schreibtisch in Kassel liegen, Durchschlag des Anschreibens
bei mir, sonst sind Sie erledigt!“ Schlüter fügte sich diesem Druck. Immerhin konnte er dann allerdings
bald wieder als Finanz- und Wirtschaftsdezernent des Bezirksverbandes Nassau tätig werden, nachdem
Traupel die meisten Vereinigungsmaßnahmen mit dem Kasseler Verband hatte rückgängig machen
müssen. Der Vorgang belegt, in welch weit gehendem Maße Gauleiter Sprenger bereit war, seine
Machtinteressen über Recht und Gesetz – und selbst, wie in diesem Fall geschehen, über das von ihm
ansonsten hoch gehaltene Beamtenrecht – zu stellen.105
Durch Sprengers Eingriffe hatten sich die Fronten zwischen Gauleiter und Landeshauptmann weiter
verhärtet. Traupel war nun zusätzlich dadurch düpiert, dass Sprenger im Landeshaus durch seinen
Stabsamtsleiter (in Anwesenheit von Bernotat und Kranzbühler, aber ohne Wissen des Landeshauptmannes selbst) Vernehmungen von Mitarbeitern des Bezirksverbandes hatte vornehmen lassen, um
Argumente gegen Traupel zu sammeln.106 Nur noch ein für Mitte April 1940 angesetztes Spitzengespräch in Berlin schien Abhilfe zu ermöglichen. Eine Woche vor diesem Treffen gab Traupel sich
verhalten zuversichtlich, dass er seinen Zusammenlegungsplan doch noch werde durchsetzen können:
„Göring will die Sache durchführen, und ohne ihn wird die Sitzung nicht stattfinden, auch wenn sie
nochmals verschoben werden müßte.“ Anders als Göring gehörte Frick nicht mehr zu den Unterstützern des Plans; der Innenminister hatte sich inzwischen – so Traupels Einschätzung – von Sprenger
und Stuckart „einwickeln lassen“. Der Landeshauptmann glaubte indessen auch noch daran, bei der
Besprechung werde „die Aussöhnung mit Sprenger (auf Druck) erfolgen“ – anderenfalls schwebte
Traupel ein Rededuell zwischen ihm selbst und Sprenger vor, wobei Rudolf Heß als Schiedsrichter
über Sieg und Niederlage hätte entscheiden sollen.107 Das Gespräch am 16. April im Berliner Innenministerium – in seinem Verlauf von Rebentisch eindrücklich dargestellt – wurde für Traupel zum Fiasko,
wenn er auch später versuchte, das Ergebnis als „Kompromiss“ darzustellen. Anders als von ihm prognostiziert fehlte Göring (laut Traupel wegen „der Entwicklung in Norwegen“); auch der erwartete
Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, war nicht persönlich anwesend, sondern ließ sich durch den
Leiter seiner staatsrechtlichen Abteilung, Walther Sommer, vertreten. Während Oberpräsident Philipp
von Hessen nur wenig zur Verteidigung seines Landeshauptmannes vorzubringen vermochte, konnte
Gauleiter Sprenger sich fast auf der ganzen Linie durchsetzen. Traupel, der nicht einmal im Sitzungsraum selbst anwesend sein durfte, hatte sich anschließend nur noch von Frick das Ergebnis verkünden
zu lassen: Die Verwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden müsse wieder voll hergestellt werden,
und bis auf einzelne, schon früher vorgenommene Versetzungen habe auch der personelle Status quo
ante wieder zu gelten; sowohl Bernotat als auch Schlüter sollten ihre Ämter weiter bzw. wieder in
Wiesbaden ausüben.108
105
HStA Wi, Abt. 520 BW Nr. 4469, Bl. 14–17, Schriftl. Darstellung LdsR a. D. Willi Schlüter (ohne Adressat, wahrscheinlich für Spruchkammer Wiesbaden) (25.09.1946), hier Bl. 16 f.; ebd., Bl. 28, Bestätigung Landesbankdirektor F., Nass. Landesbank Wiesbaden, für LdsR a. D. Willi Schlüter (09.09.1946), Abschr.; Bl. 84 f., Eidesstattliche Erklärung von Rosel W.,
ehem. Dezernatssekretärin, für Willi Schlüter (22.09.1947), Kopie.
106
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov. Hessen-Nassau, Kassel
(16.05.1940), Abschr., hier Frame 2666458, hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer
Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen]. – Bei Sprengers Stabsamtsleiter handelte es sich um Dr. W. Hildebrandt (nicht zu verwechseln mit Richard
Hildebrandt).
107
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666500 f., LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer R. Hildebrandt, Danzig
(10.04.1940), hier Frame 2666500, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
108
BA, NS25/909, Bl. 38–40, NSDAP-Gauleitung Ffm, stv. Gauleiter, an Hauptamt für Kommunalpolitik, betr. „Zusammenlegung der Bezirksverbände Nassau und Hessen“ (29.05.1940); NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W.
Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an
SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666421 f. (in Frame 2666422 Zitat zu Norwegen); ebd.,
Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im
RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame
2666535, beide vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 220; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 323 f. – Außer den bereits
Genannten nahmen teil vom RMdI: Staatssekretär Stuckart, Ministerialdirektor Surén, Ministerialrat Jung u. Ministerialdirigent Medicus. – Zu Walther Sommer (1893–1946) siehe biogr. Anhang. – Quelle zur Biografie: Hansen, Wohlfahrtspolitik
(1991), S. 412 f.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
351
Was Traupel als angeblich festgelegte Kompromisslinie verstand, hielt er drei Tage später schriftlich
gegenüber dem Innenministerium fest – wobei sich nicht mit Sicherheit klären lässt, ob man sich tatsächlich auf diese Linie festgelegt hatte oder ob Traupel versuchte, sein Terrain neu abzustecken. Nun
nämlich bemühte sich auch der Landeshauptmann – wie in anderem Zusammenhang bereits Sprenger –
den Weg der Personalunion als Vorstufe zur Fusion zu gehen: Sowohl die Anstalts- als auch die Straßenbauverwaltungen beider Bezirksverbände sollten formal zwar getrennt, aber personell von jeweils
nur einem gemeinsamen Dezernenten betreut werden – ersteres Gebiet von Bernotat in Wiesbaden,
letzteres von Kirsten in Kassel. Traupel interpretierte das Besprechungsergebnis zudem dahingehend,
dass „die Angelegenheiten der provinziellen Kulturpflege, der Denkmalpflege, die Hochbauangelegenheiten und Baupflegesachen“ künftig auf den Provinzialverband Hessen-Nassau übertragen würden –
mit einem zentralen Dienstsitz für dieses Arbeitsfeld in Marburg.109 Dass das Innenministerium bereits
knapp zwei Monate später nicht – oder nicht mehr – bereit war, weitere Personalunionen zwischen den
beiden Bezirksverbänden zuzulassen, erwies sich anhand eines Präzedenzfalles. Als nämlich der für
Finanzen zuständige Kasseler Landesrat Schlemmer im Mai 1940 zum Dienst bei der Waffen-SS eingezogen werden sollte, beantragte der Oberpräsident für den Bezirksverband Hessen, dass vorübergehend der nun wieder als Finanzdezernent des Bezirksverbandes in Wiesbaden amtierende Schlüter
dessen Aufgaben mitversehen dürfe, da (nach Schlemmers Einberufung) in Kassel alle Landesräte
eingezogen seien. Vorsorglich bemerkte Philipp von Hessen „ausdrücklich, daß es sich hier um eine
vorübergehende Kriegsmaßnahme“ handele, die mit seinem „Beschluß [...] über die Bezirksverbände
nichts zu tun“ habe. Das Innenministerium aber verweigerte genau mit jenem Argument die Zustimmung: eine zusätzliche Beauftragung Schlüters mit den Kasseler Dienstgeschäften „würde einen weiteren Schritt in der Richtung einer Vereinigung der beiden Bezirksverbände bedeuten und somit den
seinerzeit gemeinsam erörterten Bestrebungen zuwiderlaufen.“110 Diese Haltung Fricks lässt die Traupel’sche Initiative zur Vereinigung bestimmter Kasseler und Wiesbadener Funktionen in einer Hand
als eigenmächtige Interpretation der Besprechungsergebnisse erscheinen; aber auch eine plötzliche
Abwendung des Ministeriums von einem „Kompromiss“ ist nicht auszuschließen. Traupel jedenfalls
wusste mit Bestimmtheit zu berichten, dass durch Frick zunächst noch einen Erlass unterzeichnet worden sei, der „den ersten Schritt für die Zusammenlegung“ vorgesehen habe. Göring habe diesen Erlass
im Mai/Juni 1940 gegengezeichnet, aber auf dem Weg zu Heß sei das Dokument dann „spurlos verschwunden“ – Sprenger dagegen behauptete, Göring habe in der betreffenden Frage ihm und nicht
Traupel Recht gegeben.111 Man darf wohl spekulieren, dass es Sprenger im Rahmen seiner im Mai und
Juni 1940 betriebenen Anstrengungen zur Bildung einer hessen-darmstädtischen Selbstverwaltungs109
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., BV Hessen, gez. i. V. LH Traupel, Az. A (S), Bericht
an RMdI, betr. „Verwaltung der Bezirksverbände Hessen-Nassau“ (19.04.1940), Durchschr. einer Abschr.
110
BA, R1501/50480, o. Bl.-Nr., OP in Kassel, gez. Philipp Prinz von Hessen, an RMdI, „Eigenhändig!“, betr. „U. K.-Stellung des Landesrats Dr. Schlemmer, Bezirksverband Hessen“ (29.05.1940); ebd., Vfg. zum Schnellbrief RMdI, gez. Frick, an
OP d. Prov. Hessen-Nassau (12.06.1940). – SS-Sturmbannführer Schlemmer wurde bald darauf (u. a. im August 1940) von
der Waffen-SS in Warschau eingesetzt: NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF
SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666466, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem.
ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
111
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig,
an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940),
Durchschr., hier 2666534 (dort gibt Hildebrandt die Aussage Sprengers wieder, im „übrigen seien die maßgeblichen Organe in
Berlin und München (Innenministerium, Göring und Bormann) alle gegen die Zusammenlegung der beiden Verbände“); ebd.,
Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier
Frame 2666469; vgl. auch ebd., Frame 2666471–2666474, Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SS-Oberführer Traupel,
Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666473 (in diesem Antwortschreiben äußert Hildebrandt Verwunderung über
die Unstimmigkeiten: „Sehr interessiert hat es mich zu hören, daß Göring in der ganzen Angelegenheit im Gegensatz zu der
Meinung von Sprenger einen anderen Standpunkt bezogen hatten, und das Heß – wie Du mir schreibst – überhaupt nicht über
die Sache orientiert sein soll. Damit würde die ganze Frage von Grund auf natürlich wesentlich anders aussehen. Ich kann aber
nicht verstehen, daß Sprenger mich so falsch unterrichtete. Er muß doch damit rechnen, daß diese falschen Ansichten sehr
bald berichtigt werden“; vgl. auch ebd., Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt,
Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666416 (hier gibt Traupel noch die Darstellung, Göring sehe diese Kompromissregelung
zwar „nur als vorläufig an“, habe aber den Erlass bereits Anfang Mai gegengezeichnet und an das Innenministerium zurückgegeben). – Alle 4 vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
352
IV. Zeit der Gasmorde
körperschaft und zu deren personeller Verklammerung mit dem Bezirksverband Nassau112 gelungen ist,
auch die letzten Zugeständnisse, die die Ministerialbürokratie – dem Willen Görings entsprechend – gegenüber Traupel und Philipp von Hessen gemacht hatte, mit Macht und Einfluss zu Fall zu bringen.
Im Frühjahr 1940 stand Landeshauptmann Traupel mit seiner Position relativ allein da – nur Oberpräsident Philipp von Hessen hielt weiterhin zu ihm. Dass Traupel derart ins Abseits geraten war, muss
auch auf den fehlenden Rückhalt in der eigenen Verwaltung – und schließlich auch bei seinen einstigen
Freunden und Mentoren in der SS zurückgeführt werden. Immerhin ist es bemerkenswert, dass weder
Himmler noch sonst ein hochrangiger SS-Repräsentant bei der Besprechung am 16. April im Innenministerium anwesend war, um für Traupel Partei zu ergreifen. Schon recht frühzeitig scheint Himmler in
der Auseinandersetzung auf vorsichtige Distanz zu Traupel gegangen zu sein, denn ein der SS zugehöriger Landeshauptmann, der sich – ob im Recht oder nicht – mit dem Gauleiter in seiner Region derart
massiv anlegte, konnte auf lange Sicht der SS insgesamt eher schaden als nützen. Traupel indessen
suchte Himmlers Nähe und trat auf fast pathetische Weise an diesen herantrat: „Als SS-Oberführer
bitte ich um Ihren Schutz, Reichsführer.“ Doch der SS-Chef hielt sich gegenüber Traupels Bemühungen um eine Kontaktaufnahme äußerst bedeckt – fast inständig wirken nach mehrwöchigem vergeblichen Warten die Bitten des Landeshauptmanns an Himmler, doch endlich sein „Urteil“ über ihn,
Traupel, bekannt zu geben. Traupels Wunsch, Himmler möge ihn „einmal für eine halbe Stunde empfangen“, scheint der Reichsführer-SS im Laufe der gesamten Auseinandersetzung nicht erfüllt zu haben.113 Traupel musste sich mit der dürren – über Philipp von Hessen ausgerichteten – Bemerkung
Himmlers begnügen, „er würde nach wie vor zu mir stehen.“114
Besonders dass sein langjähriger Adlatus und SS-Kamerad Fritz Bernotat ihm in den Rücken fiel und
„Verrat und Intrige“ übte, ging Traupel nahe – er fühlte sich persönlich enttäuscht von Bernotat, dem er
„immer nur Gutes getan und ihn gefördert“ habe.115 Selbst gegenüber Himmler persönlich klagte Traupel 1940, er habe eine „sehr traurige Erfahrung [...] mit [s]einem früheren Adjutanten [...] gemacht, der
sich von Gauleiter Sprenger vor den Wagen spannen ließ“.116
Wie war es konkret zu diesem „Verrat“ gekommen? Dass Bernotat Sprenger im März 1940 über
Traupels Pläne informierte, war eine deutliche Eskalation, doch das Verhältnis zwischen dem Landeshauptmann und seinem Adjutanten wies längst vorher Anzeichen der Zerrüttung auf. Die Unstimmigkeiten gingen zurück bis ins Jahr 1938 und gründeten in der Zeit, kurz nachdem Bernotat seine Ernennung zum Landesrat117 erhalten hatte. Den ersten Anlass für Missstimmigkeiten gab der „bekannte Fall
Pfeffer“, wie Traupel später rekapitulierte. Es dürfte sich dabei um die Kritik an der desolaten Situation
112
Siehe dazu Kap. IV. 1. a).
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666424–266426, LH W. Traupel, Kassel, an Chef d. Pers. Stabes RFSS, SSGruppenführer Wolff, Berlin, (05.03.1940), Abschr. hier als Anlage 1 zum folgenden Schreiben; ebd. Frame 2666418–
266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), Abschr., hier insb. Frame
2666419 (Bitte um „Urteil“) u. Frame 2666423 (Zitat „[...] halbe Stunde [...]“), beide vorgenannten Schreiben hier als Anlage
zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940) (dem Schreiben an Himmler
bzw. der Abschrift an Hildebrandt waren 8 Anlagen zur Dokumentation der gesamten bisherigen Auseinandersetzung beigefügt); ebd., Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS H. Himmler,
„Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666552 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel,
Kassel, an RFSS über SD-Hauptamt, z. H. SS-Brigadeführer Dr. Best, Berlin (06.08.1940), Abschr., hier insb. Frame 2666553
(dort Zitat „[...] Schutz [...]“), beide vorgenannten Schreiben als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), alle Schreiben hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS,
verschiedene Provenienzen] (das Schreiben an Himmler persönlich vom 06.08.1940 [keine Abschr.] findet sich auch in BA,
BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr.).
114
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666414, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(08.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
115
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Provinz Hessen-Nassau, W. Traupel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942); vgl. auch NARA, T-175, Roll 138, Frame
2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.05.1940), hier Frame 2666416; vgl.
auch ebd., Frame 2666452, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), Original aus
den Unterlagen von SS-Gruppenführer Hildebrandt, beide vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem.
ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
116
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., „Der Oberpräsident (Verwaltung des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, SS-Oberführer W. Traupel, an RFSS Heinrich Himmler, persönlich,
Berlin (06.08.1940).
117
Siehe Kap. III. 3. a).
113
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
353
im „nassauischen“ Anstaltswesen gehandelt haben, die der Wiesbadener Regierungspräsident Fritz von
Pfeffer118 im Frühjahr 1938 an das Innenministerium in Berlin weiterleitete, womit Bernotat als Anstaltsdezernent in die Bredouille zu geraten drohte.119 Bernotat hatte in diesem Zusammenhang Traupel – so dessen Darstellung – „übel genommen“, dass der Landeshauptmann im Berliner Innenministerium nicht wie Bernotat „gegen Pfeffer vorgeprescht“ sei. Weiterhin hatte Bernotat – wohl auch 1938 –
Sprenger zugetragen, dass Traupel das Marburger Schloss als Zentrum der Kulturarbeit der beiden
Bezirksverbände ins Auge gefasst hatte; dabei hatte Bernotat dem Gauleiter gegenüber den – im Nachhinein betrachtet gar nicht so falschen – Eindruck erweckt, Traupel wolle dort – in Marburg – die beiden Bezirksverbände zusammenziehen. Mit dieser Indiskretion hatte Bernotat das Vertrauen seines
bisherigen Mentors Traupel erstmals in eklatanter Weise gebrochen.120
Auf der Suche nach den Ursachen für Bernotats „Verrat“ im März 1940 kam Traupels langjähriger
Vertrauter Richard Hildebrandt121 in einem Brief an den Landeshauptmann zu folgender Analyse
der Bernotat’schen Persönlichkeit und von dessen Beweggründen: „Daß er sich vollkommen auf
die Seite von Sprenger geschlagen hat, hängt wesentlich damit zusammen, daß er sich von Dir in seiner
Autorität als Landesrat in Wiesbaden schwer angegriffen fühlte, wenn ich mir auch darüber klar
bin, daß hier die tiefere Ursache in der Tatsache liegt, daß er überhaupt je so viel geworden ist.“ Letztlich wies Hildebrandt damit Traupel die Verantwortung dafür zu, dass jener Bernotat zum Landesrat
hatte befördern lassen – ein Vorwurf, den auch Traupel selbst sich mittlerweile machte. Zugleich verwies Hildebrandt auf seine eigenen Bemühungen, schon die ersten Missstimmigkeiten zwischen Traupel und Bernotat auszuräumen, „vor allem, weil ich mir klar darüber war, daß Bernotat – wenn schon
eine Feindschaft besteht – dann nur in der seiner Bildung und seiner Art entsprechenden Weise reagieren kann. [...] Naturen wie Bernotat sind in Ihrer Zuneigung so extrem veranlagt, wie in ihrer Ablehnung.“ Schließlich erging Hildebrandt sich in schicksalsergebenen Deutungen: „Es ist sehr schade, daß
alles so gekommen ist, und, daß vielleicht letzten Endes die Verhältnisse und die Dinge stärker wurden, als die Menschen selber.“122 Traupel selbst in seiner gekränkten Ehre interpretierte es – bezogen
auf die Persönlichkeit Bernotats – als „ein Charakter-Manko, wenn man sich immer nur von Speichelleckern beeinflussen läßt, insbesondere auch gegen die Menschen, deren Freundschaft man erproben
konnte.“123
Die seit 1938 aufgekommenen Differenzen zwischen Traupel und Bernotat waren den übrigen Mitarbeitern des Bezirksverbandes Nassau nicht verborgen geblieben. In dieser Situation, als Bernotat
durch Ernennung zum Landesrat zwar einen entscheidenden Karriereschritt gemacht hatte, als er jedoch angesichts der Differenzen mit Traupel keine wirklichen Entfaltungsmöglichkeiten mehr sah, ließ
er sich im späten Frühjahr 1939, kurz nach der deutschen Okkupation der so genannten „Resttschechei“, in das dortige „Protektorat Böhmen und Mähren“ abwerben, welches (auch mit Unterstützung
des Bezirksverbandes) ausgebildete Verwaltungskräfte zum Aufbau einer „deutschen“ Verwaltung
suchte. Gemeinsam mit rund einem Dutzend weiterer Beamter und Angestellter des Bezirksverbandes
Nassau ging Bernotat nach Prag zum „Bodenamt“ des „Protektorats“. Bei einem Betriebsappell im
Wiesbadener Landeshaus zur Verabschiedung der dorthin abgeordneten Mitarbeiter hatte Traupel im
118
Zu Fritz von Pfeffer (1892–1961) siehe biogr. Anhang.
Siehe dazu Kap. III. 3. b).
120
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666467, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr.
2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zu Traupels Aktivitäten auf dem Gebiet der Kulturpflege siehe Kap. II. 3. b).
121
Zu Richard Hildebrandt (1897–1951) siehe biogr. Anhang.
122
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471-2666474, [HSSPF SS-Gruppenführer] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SSOberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666472, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Hervorhebung im Dokument durch Sperrung. – Vgl. ebd., Frame
2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier zit. n.
d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Dort (Frame 2666466)
bekennt Traupel: „Tatsache ist, – vielleicht der Vorwurf gegen mich –, dass Bernotat sein Hochkommen mir zu verdanken
hat.“
123
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666512 f., LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(08.06.1940), hier Frame 2666512, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
119
354
IV. Zeit der Gasmorde
Juni 1939 die verfahrene Situation mit guter Miene überspielt: gegenüber Bernotat habe er „alle Empfindungen unterdrückt und [...] ihn zusammen mit Johlen [...] in einer Art und Weise verabschiedet,
daß alle Redereien abgebogen wurden. Er wurde von mir als mein treuester Mitarbeiter und als mein
Freund bezeichnet.“ Ob Bernotat in Prag eine neue Perspektive suchte oder lediglich eine Erholungspause von der unerquicklich erscheinenden Situation in Wiesbaden – letztlich war ihm weder das eine
noch das andere vergönnt. Wie Traupel wusste, eckte Bernotat – erst einmal „[a]uf sich gestellt“ – „im
Protektorat überall an und überwarf sich mit allen Oberlandräten.“ Ob aus freien Stücken oder um
einer Entlassung zuvorzukommen (wie Traupel meinte) – in jedem Fall beantragte Bernotat bereits
nach nicht einmal drei Monaten die Aufhebung der Abordnung und kehrte im September 1939 nach
Wiesbaden zurück.124
Frustriert und offenbar völlig demotiviert nahm Bernotat seine Wiesbadener Tätigkeit im Bezirksverband wieder auf: „Seine Erlebnisse im Protektorat haben ihn ganz verbiestert“, resümierte Traupel.
Durch einen schweren Autounfall schien Bernotat nach Einschätzung des Höheren SS- und Polizeiführers in Wiesbaden, Erwin Rösener, „irgendwie einen Knacks bekommen“ zu haben, und auch Traupel
glaubte, dieser „Unfall und die kürzlich stattgefundene Gallenoperation haben ihm doch einen schweren Schlag versetzt.“125 Unterdessen war der Landeshauptmann empört, dass Bernotat in Wiesbaden –
anscheinend von seinem Krankenlager aus – „mit einigen Querulanten“ gegen die geplante Zusammenlegung der beiden Bezirksverbände agitierte. Traupel vertrat die Auffassung, Bernotat als Beamter
hätte „wenigstens befehlsgemäß mitziehen müssen.“ Um ihn kaltzustellen und weitestgehend aus seinem Blickfeld zu verbannen, bot Traupel Bernotat den Posten des Anstaltsdirektors in Weilmünster an,
„wo er seine Kräfte noch haushälterisch hätte einsetzen können“. Anscheinend trug sich der Landeshauptmann ohnehin mit dem Gedanken, den Weilmünsterer Anstaltsdirektor Dr. Ernst Schneider seiner
Direktorenfunktion zu berauben. Es wäre vorstellbar, dass ein weniger ehrgeiziger Beamter als Bernotat die Möglichkeit, an seinem Wochenendsitz eine verantwortliche Position zu übernehmen, zumindest in Erwägung gezogen hätte. Von dem Anstaltsdezernenten jedoch wurde diese – allerdings auch
recht durchsichtige – Offerte „glattweg ausgeschlagen.“126 Zuträgereien und Intrigen, in die sowohl der
gemeinsame Freund Georg Sauerbier als auch Bernotats Ehefrau Auguste involviert waren, brachten
neue Differenzen zwischen Traupel und Bernotat. Diese Konflikte im privaten Bereich taten ein Übriges, um die Situation Anfang 1940 zu verschärfen.127 Ohnehin war Traupel der Meinung, Bernotats
124
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666467, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407
[SS, verschiedene Provenienzen]; zur Aufhebung der Abordnung zum 30.09.1939 siehe auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.Akten Zug. 1981, Ma., Ot., Teil 1, Bl. 304, BV Nassau, gez. LH Traupel, an d. komm. Leiter d. Bodenamtes, Ministerium f.
Landwirtschaft, Sektion IX, Prag (02.09.1939), Abschr. – Außer den Landesräten Fritz Bernotat und Ludwig Johlen handelte
es sich bei den vom BV Nassau nach Prag Abgeordneten um LI Otto M., LOI K., LOI Sch., LI Heinz C., LS Ernst W., die
Verw.-Ang. H., Verw.-Ang. Eleonore Sch., Verw.-Ang. Gertrud Sch., den Verw.-Ang. R., Verw.-Ang. Witold M. sowie
Fahrmeister G.: siehe ebd., Bl. 299–314, Korresp. zwischen BV Nassau, Wiesbaden, u. Reichsprotektor Böhmen und Mähren,
Prag, bzw. dem dorthin abgeordneten LI M. (09.06.–09.11.1939). – Zur Abordnung Johlens nach Prag und zur Funktion des
„Bodenamtes“ siehe auch Kap. III. 1. b). – Mit Vfg. vom 14.06.1939 (Az. „Ia Bew. 39“) suchte der BV Nassau zudem „Arbeitskräfte, die im Büro- und Verwaltungsdienst geschult sind“, zum Einsatz in Heil- und Pflegeanstalten im „Protektorat“:
vgl. LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1984, Op., Ro., Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau durch LHA Herborn an Robert
O. (04.07.1939), Abschr. – Im Juli 1939 waren 4 Mitarbeiter des BV zur Dienstleistung im Sudetenland, 14 zur Dienstleistung
im Protektorat und 5 zur Dienstleistung im Verwaltungsdienst der Luftwaffe beurlaubt: Ebd., Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2,
Bl. 67 f., Vfg. zum Schreiben BV Nassau an SA-Gruppe Hessen, Ffm (27.07.1939), Abschr.
125
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508; ebd., Frame 2666484 f., HSSPF Wiesbaden, Rösener, Wiesbaden, an
HSSPF Danzig Westpreußen, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (28.08.1940), hier 2666485, beide vorgenannten Dokumente hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
126
Ebd. (Schreiben vom 01.03.1940) (Zitat „[...] Querulanten“ in Frame 2666508, Zitat „wenigstens befehlsmäßig [...]“ in
Frame 2666511). – Anfang 1941 scheint vorübergehend geplant gewesen zu sein, Dr. Ernst Schneider als Anstaltsdirektor in
Weilmünster durch Dr. Walter Schmidt (bisher LHA Eichberg) zu ersetzen; siehe dazu Kap. IV. 3. a).
127
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster
(01.03.1940), Abschr., hier Frame 2666460 f., hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer
Hildebrandt, Danzig (17.05.1940); ebd., Frame 2666415–266417, LH W. Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt,
Danzig (06.05.1940), hier Frame 266417; ebd., Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer
Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666467 f., alle 3 vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopien: BA,
Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; vgl. auch NARA, T-81, Roll 41, Frame
38342, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, an SS-Obersturmbannführer LdsR Bernotat, Wiesbaden (19.04.1940), Durch-
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
355
Frau übe „immer mehr einen unheilvollen Einfluß auf ihn [Bernotat, P. S.] aus und trägt viel zu einer
ohnehin vorhandenen starken Selbstüberschätzung seiner Person bei.“128
In diesem Moment wollte Traupel offenbar „Treue“ und „Gehorsam“ seines Adjutanten und SSGenossen Bernotat einer Feuerprobe unterziehen. Der Landeshauptmann wandte sich in einem ausführlichen, fünf Seiten langen Brief an den „[l]iebe[n] Berno!“ Man könnte den Brief vordergründig als
Versöhnungsangebot verstehen, doch er war zugleich mit einer Reihe von Vorhaltungen gegenüber
Bernotat und von Rechtfertigungen Traupels über die eigene Haltung gespickt. Traupel beschwor Werte wie „Pflicht“, „Treue und Kameradschaft“, enthielt sich aber auch nicht der Bemerkung, „daß eine
Leitung immer da war, vielleicht Dir gegenüber manchmal eine, die nicht straff genug war.“ Zumindest
zweischneidig wirkt es, wenn Traupel die langjährige Rückendeckung für Bernotat damit begründete,
dass er den „sauberen Charakter in Dir und Deine Treue höher einschätzte als die offensichtlichen
Fehler, mit denen Du behaftet bist.“ Die Fehler nannte Traupel unumwunden: dass Bernotat seinem
„Temperament freien Lauf“ lasse und dass er sich stark durch Leute beeinflussen lasse, die „nicht
immer die Besten“ gewesen seien. Schließlich wagte Traupel ein Vabanquespiel und setzte alles auf
eine Karte: Er gab dem (krankheitsbedingt noch nicht in den Dienst zurückgekehrten) Bernotat im
Einzelnen Kenntnis von den (oben dargestellten) Umzugsplänen zum 1. April 1940, die die endgültige
Auflösung der Wiesbadener Verwaltung nach sich gezogen hätten. Diese internen Information verband
er jedoch mit einem Schweigeangebot, dessen gegenseitige Einhaltung gleichzeitig als Aussöhnungsgeste und als Treueschwur hätte verstanden werden sollen: „Das in diesem Schreiben Gesagte betrachte ich als eine Angelegenheit zwischen uns beiden und gebe dementsprechend von dem Inhalt niemand [!] Kenntnis. Wenn Du es ebenfalls so handhaben wirst, so mag sich daraus für die Zukunft ein
korrektes, kameradschaftliches Verhältnis zwischen uns ergeben. Solltest Du es aber für nötig halten
oder Dich gebunden fühlen, anderen davon Kenntnis zu geben oder Einblick zu gewähren, so lasse
mich dies bitte vorher wissen, dann behandle ich dieses Schreiben auch nicht weiter vertraulich.“129
Bernotat ging auf Traupels Angebot nicht ein. Im Grunde muss Traupel dies geahnt haben, denn von
früheren entsprechenden Fällen war ihm bekannt, dass „[j]ede meiner Verfügungen [...] schnellstens in
Frankfurt“130 gelandet war. Entsprechendes geschah dann auch dieses Mal: Bernotat informierte Sprenger über das Traupel’sche Schreiben – mit den bekannten Folgen, die in Form des nächtlichen Sprenger-Telegramms vom 8. März 1940 nur ihren Anfang nahmen.131 Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als habe Traupel sich einen tragischen Helden des klassischen Dramas zum Vorbild
genommen und bewusst seinen ehrenhaften Untergang inszenieren wollen, denn damit läutete er das
Ende seiner Landeshauptmannschaft ein. Ein retardierendes Moment stellte Traupels neuerlicher Versuch dar, doch noch zu einer Verständigung mit Bernotat zu kommen. Man kann darin wohl ein letztes
Bemühen Traupels sehen, durch eine Aussöhnung mit dem mächtigen Widersacher Bernotat die eigene
schr., hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 3853 [NSDAP, SS, verschiedene Provenienzen]; siehe
auch BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., W. Traupel, LH d. Provinz Hessen-Nassau, Kassel,
an SS-Obergruppenführer Richard Hildebrandt, General der Polizei, Danzig (17.07.1942). – U. a. verdächtigte Auguste Bernotat den Provinzialgüterdirektor Georg Sauerbier, Informationen aus seinen Gesprächen mit den Bernotats an Traupel weitergetragen zu haben (Frame 2666461); zudem war Traupel überzeugt, Bernotat und dessen Frau hätten vor dem 01.03.1940
„üble Reden über mein Privatleben geführt“ (Frame 2666467). – Zu Georg Sauerbier (* 1886), der im Feb. 1940 vom BV
Nassau zum BV Hessen abgeordnet wurde, siehe biogr. Anhang.
128
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666508–2666511, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Vertraulich“ (01.03.1940), hier Frame 2666508, hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr.
2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
129
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666460–2666464, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an LdsR Bernotat, Weilmünster
(01.03.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(17.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. –
Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.
130
Ebd., hier Frame 2666464.
131
Siehe oben in diesem Kap. IV. 1. b). – NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666452, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), Original aus den Unterlagen von Hildebrandt, hier zit. n. d. Kopie: BA,
Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. Traupel beklagte das Verhalten Bernotats, der
„ohne daß er auf mein Schreiben überhaupt geantwortet hat, [...] es Sp[renger] zur Verwendung gegeben“ habe; entsprechend
auch erneut in NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard
Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666468, hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407
[SS, verschiedene Provenienzen].
356
IV. Zeit der Gasmorde
Stellung zu retten. Zu Bernotats 50. Geburtstag am 10. April 1940, kurz vor der für den Landeshauptmann desaströsen Berliner Sitzung bei Frick, schickte Traupel dem Anstaltsdezernenten Glückwünsche
und Blumen. Bei seinem nächsten Aufenthalt in Wiesbaden rief er ihn in sein Zimmer und wollte
sich – so Traupels eigene Worte – „mit ihm aussprechen“; dabei aber verlangte Traupel auch, Bernotat
müsse „sein unrichtiges Verhalten [...] einsehen“, davon hänge es ab, „ob unser altes Verhältnis weiter
bestehen kann oder nicht.“ Bernotat habe „schroff“ erklärt, „für ihn sei die Angelegenheit erledigt, er
wollte keine Versöhnung.“ Damit war das Tischtuch zwischen beiden endgültig zerschnitten. Traupel
entzog Bernotat die Funktion als Wiesbadener Adjutant des Landeshauptmanns, der die „persönlichen
Sachen bearbeitet[e]“, und verbannte ihn aus seinem Vorzimmer.132
So kann man es nur als Provokation und als neuerliche Kampfansage Sprengers interpretieren, dass
dieser nun wenige Tage später (ab dem 15. Mai 1940) Bernotat über das Amt für Beamte zum neuen
RDB-Fachschaftsgruppenwalter im Landeshaus ernennen und ihm damit eine Parteifunktion angedeihen ließ, durch welche er in die personellen Angelegenheiten des Bezirksverbandes eng einzubinden
war. Es war völlig gegen die Usancen, eine solche Personalie nicht im Einvernehmen mit dem Leiter
der Verwaltung zu treffen, weshalb Traupel klagte: „Die neuerdings eingesetzte Beamtenfachschaftsvertretung für meine Wiesbadener Verwaltung genießt nicht mein Vertrauen und ist mit Absicht gegen
mich so gewählt worden.“ Der Landeshauptmann sah sich infolgedessen in seinen Rechten als faktischer Behördenchef beschnitten. Ein interner Traupel-Vermerk diesen Inhalts wurde von einem parteihörigen Beamten gleich an die NS-Gauleitung weitergetragen, woraufhin Sprengers Gaupersonalamtsleiter Holländer bemerkte, dem Landeshauptmann sei „im Gau Hessen-Nassau ja das Betreten aller
nationalsozialistischen und parteiamtlichen Dienststellen untersagt“ und deshalb könne „in seinem Falle von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit überhaupt keine Rede mehr sein“. Traupels kritischer
Vermerk, so hieß es weiter, „schießt deswegen vollkommen am Ziel vorbei.“ Traupel aber wollte nicht
klein bei geben und meldete die Konflikte um die Ernennung Bernotats und das Geplänkel mit Holländer nun dem „Führer“-Stellvertreter Rudof Heß „persönlich“. Indem er sogar kleinlich die Unterrichtung und die Reaktion des Gaupersonalamtsleiters aufführte, demonstrierte Traupel, wie sehr er, in die
Ecke gedrängt, allmählich die Maßstäbe seines Handelns aus den Augen zu verlieren drohte.133
Bernotat und Sprenger trieben die Provokation auf die Spitze, indem sie durch die Beamtenfachschaft ausgerechnet den Gaupersonalamtsleiter Holländer, mit dem Traupel spätestens jetzt „verfeindet“ war, als Referenten zu einem „Schulungsabend“ der Partei einluden, welcher noch während der
Dienstzeit am Nachmittag im Wiesbadener Landeshaus stattfinden sollte. Zwar verbot Traupel sowohl
Zeit als auch Ort der Veranstaltung, er konnte dieses Verbot jedoch nicht mehr durchsetzen. Der in
Wiesbaden als Quasi-Hausherr anwesende Landesrat Kranzbühler hoffte zwar noch, Bernotat zu einer
Verlegung des Termins veranlassen zu können – doch vergeblich: Bernotat holte bei Sprenger die
telefonische Anordnung ein, Traupels Verfügung zu missachten. Kranzbühler sah sich damit in argen
Loyalitätskonflikten: Setzte er Traupels Verfügung durch, dann legte er sich mit dem Gauleiter an,
erlaubte er die Abhaltung der Schulung, widersetzte er sich den Weisungen seines Dienstvorgesetzten.
Für den „korrekten Beamten“ Kranzbühler erschien dies als „unlösbare[...] Zwangslage“, wie sie „in
einem geordneten Staat [...] für Beamte nicht vorkommen dürfte.“ Kranzbühler ging den Weg des
132
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666465–2666470, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08.1940), hier Frame 2666468 (Zitate „[...] aussprechen“, „schroff“, „[...] keine Versöhnung“); ebd., Frame
2666475–2666477, LH W. Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (06.11.1940), hier
Frame 2666475 f. (Zitate „sein unrichtiges [...]“, „ob unser [...]“), beide Dokumente hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem.
ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
133
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., NSDAP-Kreisleitung Wiesbaden, Amt für Beamte, an
[den bisher amtierenden und künftig stv. Fachschaftsgruppenwalter] Hans K. bzw. an Bernotat (15.05.1940), mit Erklärung
Bernotat (01.06.1940) u. Vm. Traupel (10.06.1940), alles in Abschr.; ebd., o. Bl.-Nr., H[ans] K. an LH Traupel, Kassel (18.06.
1940), Abschr. (dort die Zitate von Holländer), vorgenannte Dokumente auch vorhanden in NARA, T-175, Roll 138, Frame
2666549–2666551; NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH
Traupel, Kassel, an Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame
2666545 (auch Zitat „Die neuerdings [...]“, hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Zur
Funktion der RDB-Fachschaftsgruppe und des Fachschaftsgruppenwalters siehe auch Kap. II. 2. a).
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
357
geringsten Widerstandes und verzichtete darauf, die Weisung Traupels den Mitarbeitern des Landeshauses auch nur bekannt zu geben, um diese „nicht in einen Gewissenskonflikt mit ihren Pflichten
gegenüber ihrem Dienstvorgesetzten, dem Landeshauptmann, und denjenigen gegenüber der Fachschaft bezw. der Partei zu bringen.“ Kranzbühler meinte sein Missfallen über derartige Auswüchse der
polykratischen Herrschaft dadurch kundzutun, dass er während der Parteischulung „ostentativ in [s]einem Dienstzimmer“ blieb.134
Im Zuge des dramatisch verschlechterten Klimas begann ein weiterer „Skandal“ Kreise zu ziehen,
der bislang allein in Zwiegesprächen Platz gefunden hatte. Es handelte sich um eine Intrige mit übler
Nachrede zu Lasten des Oberpräsidenten Philipp Prinz von Hessen, dem seine Widersacher – Sprenger
und Bernotat, aber auch der SD – homosexuelle Kontakte zuschreiben wollten. Philipp selbst stellte
nach Kriegsende die Aktivitäten Bernotats in den Kontext des Sprenger’schen Kampfes gegen Traupel:
„Ich weiss, dass er einmal im Auftrag des Gauleiters Sprenger zu mir kam und versuchte, auch mich
unter Druck zu setzen, da er alle möglichen Sachen über mich wusste, die er an die große Glocke hängen wollte. Ich habe ihn festgenagelt. Ich sagte ihm, ich werde die Sache vor Hitler bringen. Darauf hat
er sich in feiger Weise zurückgezogen. Er äusserte sich, es wäre nicht so gemeint gewesen. Ich habe
mir mein Teil dabei gedacht.“135 Aufgekommen war das Thema innerhalb des Bezirksverbandes bereits
im Herbst 1939, kurz nach Bernotats Rückkehr aus Prag. Sowohl Traupel als auch Bernotat erhielten
von dem Kulturreferenten des Bezirksverbandes Dr. Carl Sommer, der zugleich SD-Mitarbeiter war,
den Hinweise auf angebliche SD-Ermittlungen, nach denen Philipp von Hessen wegen Verstößen gegen den Strafrechtsparagrafen 175 überführt werden könne; die „Angelegenheit sei aber von einer
höheren Warte abgeblasen.“ Traupel und Bernotat unterhielten sich auch über diese Mitteilung (wobei
allerdings im Detail ihre Darstellungen divergieren). Es war sogar auch die Rede davon, dass mittlerweile aus der Führungsriege des „Dritten Reiches“ ausgerechnet Göring, Philipps Mentor, über das
„SD-Geheimnis“ im Bilde sei, während Hitler nichts wisse. Die Umstände lassen nur den Schluss zu,
dass die Angelegenheit darauf abzielte, den Oberpräsidenten politisch auszuschalten (was schließlich
erst 1943 gelang). In dieses Bild passt auch, dass Bernotat wie schon in anderen Fällen den Gauleiter
Sprenger informierte. Sprenger, so scheint es, wollte den Fall nutzen, um einen Keil zwischen Philipp
von Hessen und Traupel zu treiben. Der Gauleiter ließ daher Bernotat nach Kassel zum Oberpräsidenten fahren und gegenüber diesem die Homosexualitätsvorwürfe als Behauptungen Traupels ausgeben.136 Sprenger legte es schließlich darauf an, Traupel mithilfe der Angelegenheit Schaden zuzufügen;
dieser musste sich 1942 auf Antrag Sprengers sogar vor dem Obersten Parteigericht verantworten, u. a.
weil „er seinen Vorgesetzten, den Oberpräsidenten Prinz von Hessen, wahrheitswidrig als homosexuell
bezeichnet habe.“ Nach den Ermittlungsergebnissen der Partei jedoch wurde Traupel als „wesentlich
entlastet“ angesehen.137
134
HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden,
schriftl. Klageerwiderung in seinem Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 92 f. (hier auf S. 93 Zitate „[...] Zwangslage [...]“, „[...] geordneten Staat [...]“, „[...] Gewissenskonflikt [...]“ u. „ostentativ [...]“); ebd., Bl. 6–14, Max Kranzbühler,
Anlage zum Meldebogen für die Spruchkammer Wiesbaden (o. D. [Meldbogen: 24.04.1946]), hier Bl. 8 (Zitat „verfeindet“);
ebd., Bl. 18, Erklärung von Gustel Sch. (ehem. Sekretärin) für LdsR a. D. Kranzbühler (02.04.1946), Abschr. – Die Sekretärin
Sch. datiert den ganzen Vorfall auf „Spätjahr 1940“. – Nach eigenen Angaben handelte sich Kranzbühler durch sein Verhalten
eine Rüge des Gauleiters ein, musste sein Parteibuch für eine Zeitlang abgeben, offenbar sah Sprenger aber von weiteren
Sanktionen ab, da ein Parteigerichtsverfahren unverhältnismäßig erschien und da Kranzbühler zudem im Bezirksverband den
Interessen des Nationalsozialismus gute Dienste leistete. – Traupel schrieb an anderer Stelle von „Personalamtsleiter Holländer, der mir die Schweinerei in dem Betriebsappell im Landeshaus verursacht hat“, woraus jedoch nicht ersichtlich wird, ob
der Schulungsabend gemeint ist oder – was wahrscheinlicher ist – ein früherer Vorfall: BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Prov. Hessen-Nassau, W. Traupel, an SS-Obergruppenführer R. Hildebrandt, General d.
Polizei, Danzig (23.07.1942).
135
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 234 f., Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. HvTag (06.03.1947).
136
BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Protokolle d. Zeugenvernehmungen Bernotat und Traupel
durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink, München (20.05.1942), hier Abschriften (1944) (in der
Bernotat-Aussage: Zitat „Angelegenheit sei [...]“).
137
Ebd., o. Bl.-Nr., Vm. ohne Urheberangabe [= RMdI], „Auszug aus den Akten des Obersten Parteigerichts über das Untersuchungsverfahren gegen Landeshauptmann Traupel“ (o. D. [Verfahren 1942, Auszug ca. 1944]).
358
IV. Zeit der Gasmorde
Noch im August 1940 waren die Vorwürfe gegen Philipp von Hessen selbst nach Kenntnis der Eingeweihten unbewiesen. Diese Unklarheit brachte die Beteiligten schier zur Verzweiflung. Richard Hildebrandt, der inzwischen in Danzig ansässige Traupel-Vertraute, bekannte: „Ich weiß [...] nicht mehr,
was ich von der ganzen Sache heute zu halten habe. Es wäre doch komisch, wenn es nicht gelänge, endlich einmal in diesen ganzen Dingen die Wahrheit zu ermitteln.“138 Selbst Gauleiter Sprenger hatte zu
diesem Zeitpunkt keine anderen Informationen als die durch Bernotat übermittelten Gerüchte und wollte auf „der Klärung dieser Angelegenheit [...] sowohl aus persönlichen als auch aus sachlichen Gründen bestehen.“139 Offenbar zogen die Anschuldigungen innerhalb der SS-Eliten immer weitere Kreise –
nach eigenen Angaben war Traupel zusätzlich auch von dem Kasseler Höheren SS- und Polizeiführer
Josias Erbprinz zu Waldeck140 sowie von SD-Chef Reinhard Heydrich darauf angesprochen worden. Dabei habe Heydrich aus „seiner persönlichen Meinung [...] kein Hehl gemacht und [...] erklärt, daß, wenn
er die Erlaubnis bekäme, er sowohl den Fall Prinz von Hessen wie den Fall Gründgens so erledigen
würde, wie sich dies gehörte.“141 Bis heute ist nicht geklärt, ob oder inwieweit die Homosexualitätsvorwürfe bei der späteren Verhaftung Philipps von Hessen im September 1943 (nach Zusammenbruch
der Achse Berlin – Rom) und bei seiner KZ-Einweisung nach Flossenbürg eine Rolle gespielt haben;
besonders die parallele Einweisung seiner Ehefrau Mafalda ins KZ Buchenwald rückt die außenpolitischen Motive in den Vordergrund. Nach dem Krieg gingen die Justizbehörden jedenfalls davon aus,
das „Gerücht, daß homosexuelle Neigungen des Prinzen der Grund zur Verhaftung gewesen seien“, sei
„offenbar lediglich aus der Absicht der Gestapo entstanden, einen Vorwand zu schaffen.“142
Bernotats Verhalten in der „175er-Affäre“ trieb dessen Zerwürfnis mit Traupel weiter voran und
brachte den Landeshauptmann dazu, „einen endgültigen Trennungsstrich [...] zu ziehen.“ Als Traupel
im Nachhinein – im Sommer 1940 – von Bernotats Intrigen in dieser Sache erfuhr – nach Traupels
Verständnis war es der Verrat eines SD-Geheimnisses an die Nicht-SS-Mitglieder Sprenger und Philipp von Hessen –, lehnte er jede weitere Zusammenarbeit mit dem Landesrat ab, zeigte ihn wegen
seines Vorgehens bei der SS an und bat den Oberpräsidenten als gemeinsamen Dienstvorgesetzten,
Bernotat aus dem Wiesbadener Landeshaus zu entfernen. Ganz um sein Selbstbild eines „Ehrenmannes“ bemüht, betonte Traupel zunächst noch, er habe „keine Rachegefühle und möchte auch Bernotat
nicht im Wege des Dienststrafverfahrens als Beamten entfernen, weil er von früher her immerhin nicht
unerhebliche Verdienste um die Bewegung“ habe. Der Landeshauptmann gab sich der Hoffung hin,
Sprenger könne Bernotat in die hessische Staatsverwaltung in Darmstadt übernehmen. Parallel setzte
Traupel dann aber doch auf das Disziplinarverfahren, welches Philipp von Hessen noch im August
1940 beim Innenministerium gegen Bernotat beantragte (das das Innenministerium aber aufgrund der
Protektion u. a. von Staatssekretär Wilhelm Stuckart nie eröffnete). Gegenüber Hildebrandt spekulierte
Traupel über die Gründe für Bernotats Verhalten, wertete es aber letztlich als „nebensächlich“, ob „nun
Krankheit oder übersteigerter Ehrgeiz vorliegt“.143
138
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666471–2666474, [HSSPF SS-Gruppenführer] Richard Hildebrandt [Danzig] an LH SSOberführer Traupel, Kassel (28.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666474, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA
Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
139
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig,
an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940),
Durchschr., hier Frame 2666534, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen] (es werden Sprengers Äußerungen vom August 1940 gegenüber Hildebrandt wiedergegeben).
140
Zu Josias Erbprinz zu Waldeck-Pyrmont (1896–1967) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 436;
Wistrich, Reich (1987), S. 369 f.; Weiß, Lexikon (1998), S. 477 f.; Schmeling, Erbprinz (1993); IfStG Ffm, Mag.-A. 4.051,
Bl. 79 f., „Verzeichnis der Provinzialräte der Provinz Hessen-Nassau“ (o. D. [1937]).
141
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Prov. Hessen-Nassau, W. Traupel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942).
142
HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Beiakten Bd. II, Bl. 1–3, Beschluss d. Kammer II d. Haftprüfungsamtes Kassel in d.
Haftsache Philipp Prinz von Hessen (26.07.1946), hier Bl. 1. – Zur Entmachtung Philipps von Hessen als OP u. zur KZEinweisung siehe Kap. V. 4. b). – Zum italienischen Hintergrund vgl. Recker, Hessen (1997), S. 269; vgl. auch Zibell, Sprenger
(1998), S. 280.
143
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666557 bzw. 2666556 bzw. 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau,
LH Traupel, Kassel, an SS-Oberabschnitt Wiesbaden (06.08.1940) (dort Zitat „keine Rachegefühle [...]“) bzw. an SS-Brigadeführer Rös[e]ner, SS-Oberabschnitt Rhein, Wiesbaden, „Persönlich!“, bzw. an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (alle
06.08.1940), alle 3 Dokumente hier in Abschr. als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt,
Danzig (06.08.1940) (im Schreiben an Himmler das Zitat „[...] Trennungsstrich [...]“); ebd., Frame 2666465–2666470 bzw.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
359
Für das weitere berufliche Schicksal Traupels aber sollte nicht sein Zerwürfnis mit dem bisherigen
Adjutanten Bernotat entscheidend werden, sondern der „Krieg“ zwischen ihm und dem Gauleiter.
Bereits einen Tag nach der entscheidenden Besprechung vom 16. April 1940 im Reichsinnenministerium erhob Sprenger gegenüber dem Ministerium eine Reihe von Vorwürfen gegen Traupel wegen dessen eigenmächtigen Handelns bei der geplanten Zusammenlegung der Bezirksverbände. Den Kern der
Anschuldigungen bildete dabei die erwähnte Berufung Traupels auf die „Führerentscheidung“. Der
Landeshauptmann wurde dadurch zur Rechtfertigung gegenüber seiner Aufsichtsbehörde genötigt,144
wenn ihm auch letztlich ein regelrechtes Disziplinarverfahren, wie es sowohl Sprenger als auch Martin
Bormann angestrebt hatten, erspart blieb.145
Sprenger zog Ende Juni 1940 die Schraube weiter an und ließ das Verbot an Traupel, Parteigebäude
im Gau Hessen-Nassau zu betreten, parteiöffentlich den „Politischen Leitern“ im Gau bis hinab zur
Riege der Ortsgruppenleiter verkünden. Vermittelt durch seinen Stellvertreter Linder drohte Sprenger
dem Landeshauptmann für den Fall der Missachtung des Verbots die Verhaftung an. Besonders in
diesem Punkt verlangte Traupel Genugtuung durch Widerrufung, ja er kündigte sogar an, zur Durchsetzung seines vermeintlichen Rechtes werde er „nur in SS-Uniform“ erscheinen und „ggf. [...] von der
Waffe Gebrauch machen.“146 Offenbar war Traupel durch die Auseinandersetzung derart „betriebsblind“ geworden und überschätzte seine Position so eklatant, dass er mit dem Gedanken spielte, Sprenger durch ein Parteiverfahren zum Einlenken zu zwingen, ihn möglicherweise sogar um sein Gauleiteramt bringen zu können. Dies nun musste im NS-Staat als recht abwegig erscheinen – wenn auch in
Einzelfällen Gauleiter wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Verfehlungen ihres Amtes enthoben
wurden.147 Doch erst als der Heß-Mitarbeiter Walther Sommer den Landeshauptmann belehrte, „wenn
2666486 f., zwei Schreiben von LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (26.08. bzw.
02.09.1940), hier Frame 2666466 (Zitat „nebensächlich“, „nun Krankheit [...]“), Frame 2666468 f. bzw. 2666486 f.; ebd.,
Frame 2666475-2666477, LH W. Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Richard Hildebrandt, Danzig (06.11.1940),
hier Frame 2666476 (dort noch setzte Traupel auf die Möglichkeit, „daß Sp[renger] lieber den B[ernotat] zu sich nimmt als ihn
nach Kassel gehen zu lassen“; in diesem Fall könne der OP die Niederschlagung des Disziplinarverfahrens beantragen), alle
vorgenannten Dokumente hier zit. n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]. – Staatssekretär Hans Pfundtner habe gegenüber Philipp von Hessen bemerkt, „dass Bernotat weitgehend durch die
NSDAP. gestützt werde, dass er die Billigung des Gauleiter [!] Sprenger habe und dass ein Einschreiten gegen ihn daher sehr
schwierig sei“, dagegen wusste Philipp „von dem zweiten Staatssekretär, Dr. Stuckart [...], dass er in dieser Angelegenheit
Bernotat deckte“: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d.
LG Darmstadt, vernommen im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 879, weitere Durchschr. auch
in den Akten d. Hess. Ministeriums der Justiz, Az. IV – 149/49, Bl. 14 f., hier Bl. 14.
144
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666453–2666455, OP d. Prov. Hessen-Nassau, gez. Philipp Prinz von Hessen, an LH
Traupel, Kassel, „Persönlich“ (14.05.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666456–2666458, LH Traupel, Wiesbaden, an OP d. Prov.
Hessen-Nassau, Kassel (16.05.1940), Abschr., beide vorgenannten Dokumente hier als Anlage zum Schreiben von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (17.05.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam,
Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
145
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666452, LH Traupel, Kassel, an HSSPF SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig
(17.05.1940), Original aus den Unterlagen von SS-Gruppenführer Hildebrandt („[...] möchte Spr[enger] mir beim Innenminister ein Disziplinarverfahren an den Hals hängen [...]“); ebd., Frame 2666539, handschriftl. Notizen ohne Urheberangabe [von
R. Hildebrandt] (o. D.) auf der Abschrift eines Schreibens von Traupel vom 06.08.1940 (a. a. O.) (aus Hildebrandts Notizen ist
zu schließen, dass Bormann sich ca. im August 1940 für ein Disziplinarverfahren gegen Traupel wegen dessen eigenmächtigen Zusammenlegungsverfügungen ohne RMdI-Genehmigung aussprach: „Brief an I. Min – keine Verlegung nach Kassel –
Disziplinarverfahren deshalb gegen Traupel – Bormann dafür“), beide vorgenannten Dokumente hier n. Kopien: BA, Film des
ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen]; BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm,
o. Bl.-Nr., RMdI, gez. Frick, Az. V b 17.46 VIII/40, an Oberstes Parteigericht der NSDAP, München (07.07.1941), hier
Abschrift (1944) (Traupels Verfehlungen seien eher innerparteilicher Art denn dienstlicher Natur, sodass dem Parteigerichtsverfahren Vorrang eingeräumt werden solle).
146
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666547, Gaupersonalamtsleiter, gez. Holländer, Frankfurt a. M., „Rundschreiben/An alle
Gauamtsleiter und Kreisleiter“ (28.06.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666555 (Zitat „[...] SSUniform [...]“, „[...] Waffe Gebrauch machen“), beide vorgenannten Schreiben hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS,
verschiedene Provenienzen] (das Schreiben an Himmler [keine Abschr.] findet sich auch in BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu
Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr.); BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. II, o. Bl.-Nr., NS-Kreisleiter
Wiesbaden, vertrauliches Rundschreiben an alle Kreisamtsleiter und Ortsgruppenleiter (02.07.1940), hier als Abschr. einer
Fotokopie, auch vorhanden in BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen], Frame
2666548; siehe auch Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 222; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 324.
147
Zum Beispiel musste Josef Wagner (1899–1945) im Jahr 1941 als Gauleiter in Schlesien zurücktreten und wurde im selben
Jahr seines anderen Gauleiterpostens in Westfalen-Süd wegen seiner Bindungen zum Katholizismus enthoben; auch Karl
360
IV. Zeit der Gasmorde
ein Gauleiter mit einem Parteigenossen, auch wenn letzterer eine hohe Staatsstellung innehat, nicht
auskommt [...], [werde] der Führer nicht die Entfernung des Gauleiters vornehmen“, sah Traupel – wie
er dem Stellvertreter des Führers mitteilte – „im Interesse der NSDAP“ von der Beantragung eines
Parteigerichtsverfahrens ab.148 Umgekehrt musste sich schließlich Traupel selbst dem erwähnten, von
Sprenger beantragten Parteigerichtsverfahren stellen, in dem es jedoch letztlich offenbar nie zu einer
Entscheidung zulasten Traupels kam.149 Um Sprenger zu schaden, regte Traupel immerhin gegenüber
Himmler an, dieser möge seinen Einfluss geltend machen, damit Sprenger als Leiter eines künftigen
Reichsgaus verhindert werde.150 Im Grunde blieb dem Landeshauptmann selbst aber nichts anderes
mehr, als sich an den von ihm stets hoch gehaltenen Ehrbegriff zu klammern. Gegenüber der Partei
bestand er darauf: „[...] ich bin Nationalsozialist und dulde nicht, daß meine Ehre besudelt wird, denn
sie ist das Höchste, was der Führer in uns geweckt hat.“151
Um die verfahrene Konstellation aufzulösen, stand der August 1940 ganz im Zeichen von Vermittlungsbemühungen seitens Parteileitung und SS-Führung. Auf Veranlassung der Münchener Parteizentrale und nach persönlicher Vermittlung des einst Wiesbadener, jetzt Danziger SS-Gruppenführers
Richard Hildebrandt erklärte Gauleiter Sprenger sich schließlich dazu bereit, das gegenüber Traupel
verhängte Betretungsverbot für die Parteigebäude des Gaues Hessen-Nassau zurückzunehmen.152 Hildebrandt war von Himmler mit diesen diplomatischen Anstrengungen beauftragt worden, und auch
Hildebrandts Wiesbadener Nachfolger, der Höhere SS- und Polizeiführer Erwin Rösener, bemühte sich
Weinrich (1887–1973), seit 1928 Gauleiter in Kassel, wurde 1943 amtsenthoben wegen Versagens bei der Kriegsvorbereitung
und -bewältigung: siehe u. a. Weiß, Lexikon (1998), S. 472 f., hier S. 473, bzw. S. 482 f., hier S. 482; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 219 f.; Moll, Steuerungsinstrument (2001), S. 236 f. – Zu Weinrich siehe auch biogr. Anhang.
148
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel,
an StdF, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666544 f., hier als Anlage zum Schreiben
Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam,
Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
149
Das Oberste Parteigericht leitete die Untersuchungen auf Sprengers Antrag am 29.01.1942 ein, am 27.03.1942 wurde vom
Oberkommando des Heeres Traupels Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst zwecks Durchführung des Parteigerichtsverfahrens verfügt, am 20.05.1942 wurden Bernotat u. Traupel im Rahmen des Verfahrens getrennt vernommen, im Juni 1942
wurde eine vom Obersten Parteigericht angeregte Verfahrenseinstellung von Traupel akzeptiert, jedoch von Sprenger abgelehnt, ab 20.07.1942 war Traupel nach Freigabe durch das Oberste Parteigericht wieder zur Wehrmacht (zunächst Reserve)
einberufen, am 22./23.10.1943 in Kassel u. am 23.11.1943 in Berlin verbrannten die dortigen Verfahrensunterlagen nach
Bombardierungen, jedoch blieben die Unterlagen in München bis dahin erhalten, bis 1944 war das Verfahren formell nicht zu
einem Abschluss gebracht worden: BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., Schreiben [wahrscheinlich
des Obersten Parteigerichts] an W. Traupel, Feldpost-Nr. 24.097 (29.01.1942), hier Abschrift (o. D. [1944]); ebd., o. Bl.-Nr.,
Protokolle d. Zeugenvernehmungen Bernotat u. Traupel durch das Oberste Parteigericht unter Vorsitz von Richter Lüsebrink,
München (beide 20.05.1942), hier Abschriften (o. D. [1944]); ebd., o. Bl.-Nr., Vm. ohne Urheberangabe [= RMdI], „Auszug
aus den Akten des Obersten Parteigerichts über das Untersuchungsverfahren gegen Landeshauptmann Traupel“ (o. D. [Auszug ca. 1944]); ebd., Vfg. zum Schreiben RMdI, Az. IV b 4. 535/44, an Oberstes Parteigericht der NSDAP, München
(28.07.1944, ab: 29.07.1944); BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., zwei Schreiben von W.
Traupel, LH d. Prov. Hessen-Nassau, an SS-Obergruppenführer Richard Hildebrandt, General der Polizei, Danzig (20.06.1942
u. 23.07.1942); HStA Wi, Abt. 520 KZ Nr. 3217, Bl. 19, Oberkommando d. Heeres, Berlin, Az. Nr. 2267/42 PA 2 (IV/IVa),
an Wehrmachtverkehrdirektion Paris, betr. Leutnant W. Traupel (27.03.1942), Abschr.
150
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, an RFSS
H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666554, hier als Anlage zum Schreiben Traupel an SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407
[SS, verschiedene Provenienzen]. – Traupel schrieb Himmler, er wäre ihm dankbar, „wenn Sie auch Ihrerseits die Angelegenheit im Auge behielten, sobald die Besetzung der neuen Reichsgaue in Frage kommt.“
151
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel,
an StdF, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666546, hier als Anlage zum Schreiben
Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam,
Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
152
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666538, LH Traupel, Kassel, an HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Persönlich“, „Vertraulich“ (06.08.1940); ebd., Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig, an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940), Durchschr., hier Frame 2666532; ebd., Frame 2666478, RFSS, Persönlicher Stab, gez.
i. A. SS-Sturmbannführer R. Brandt, an SS-Oberführer LH Traupel, Kassel (30.08.1940), Abschr.; ebd., Frame 2666479 f.,
LH Traupel, Kassel, an RFSS, Persönlicher Stab, z. H. SS-Sturmbannführer Brandt, Berlin (02.09.1940), Abschr.; ebd., Frame
2666481, LH Traupel, Kassel, an StdF, Rudolf Heß, durch Oberbefehlsleiter Sommer, München (02.09.1940), Abschr., alle 5
vorgenannten Dokumente hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
361
um Ausgleich.153 Hildebrandt reiste nach Hessen, um die Kontrahenten zu sprechen, begab sich aber
auch zur Münchener Parteikanzlei.154 Traupel selbst begleitete die Aktivitäten mit einem wahren Trommelfeuer aus – meist als „persönlich“ gekennzeichneten – Eingaben an die Parteikanzlei und die SSElite, wobei er zusätzlich Hildebrandt regelmäßig durch Übersendung von Abschriften und Anlagen
seiner Korrespondenz auf dem Laufenden hielt.155 Letztlich ließ sich aber auch durch Hildebrandts
Vermittlungsgespräche keine Verständigung zwischen den hessischen Kontrahenten mehr erzielen. Der
Mediator konnte SS-Chef Himmler abschließend nur mitteilen: „Aus der ganzen Unterhaltung habe ich
deutlich entnommen, daß Gauleiter Sprenger jede Art von Versöhnung oder Aussprache mit Traupel
eindeutig ablehnt. Andererseits habe ich auch auf Grund meiner anschließenden Aussprache mit SSOberführer Traupel nicht den Eindruck, daß bei diesem der Wunsch hierzu heute noch vorhanden
wäre. Die Gegensätze persönlicher und sachlicher Art zwischen beiden sind so tiefgreifend, daß eine
Aussprache die Differenzen nicht mehr beseitigen könnte.“156
Als Ausweg aus allen Kalamitäten konnte allein noch Traupels Rückzug aus seinen Ämtern erscheinen; sowohl Hildebrandt als auch Rösener sahen hierzu keine Alternative.157 Bereits im Mai 1940 war
Traupel völlig davon überzeugt, dass Sprenger – mangels einer direkteren Handhabe – alles daran
setzte, ihn „persönlich so anzugreifen, daß ich auf mein Amt verzichte.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte
Traupel es Himmler gegenüber aber noch abgelehnt, seine Ämter als Landeshauptmann aufzugeben,
bevor über die Frage der Reichsreform endgültig entschieden sei. Immerhin aber zog er bereits in Erwägung, ob er nicht für die Dauer des Krieges die Verwaltungen „durch einen befähigten Landesrat
führen“ lassen und sich selbst zum Kriegsdienst bei der Waffen-SS melden solle.158 Auch Ende Juli
1940 nannte er als Voraussetzung für einen „freiwilligen“ Verzicht auf sein Wiesbadener Amt, zunächst müssten „erinnerungsmäßige Zustände [...] hergestellt“ werden.159 Die Parteileitung war es
schließlich, die Traupels Ausscheiden aus dem Amt „im Wege der Freiwilligkeit“ – quasi als Kompensation für die Rücknahme des Sprenger’schen Betretungsverbots – „verordnete“. Der Landeshauptmann erklärte sich nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Walther Sommer vom Stab Heß’ in München
damit einverstanden, sofern eine Lösung gefunden werde, die nicht wie eine Rückstufung aussehe.160
153
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666484 f., HSSPF in Wiesbaden, Rösener, an HSSPF Danzig Westpreußen, SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (28.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
154
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666539, handschriftl. Notizen ohne Urheberangabe [von R. Hildebrandt] (o. D.) auf der
ersten Seite der Abschrift des Schreibens von LH Traupel, Kassel, an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940) (diese Abschrift hatte Traupel als Anlage seinem Schreiben an HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Persönlich“, „Vertraulich“ [06.08.1940] beigefügt, sie wurde von Hildebrandt anscheinend bei
einer Besprechung in der Münchener Parteizentrale benutzt), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr.
2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
155
Die Schreiben aus dem August 1940 richteten sich an Rudolf Heß, Walther Sommer, Heinrich Himmler, Rudolf Brandt,
Richard Hildebrandt, Erwin Rösener und Werner Best: siehe die entsprechenden Quellenangaben in diesem Kap. IV. 1. b).
156
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666532–2666535, HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig,
an RFSSuChdDtPol im RMdI, H. Himmler, Berlin, betr. „SS-Oberführer, Landeshauptmann Traupel, Kassel“ (26.08.1940),
Durchschr., hier Frame 2666534, hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene
Provenienzen].
157
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666484 f., HSSPF in Wiesbaden, Rösener, an HSSPF Danzig-Westpreußen, SSGruppenführer Hildebrandt, Danzig (28.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS,
verschiedene Provenienzen].
158
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666418–266423, LH W. Traupel, Kassel, an RFSS Heinrich Himmler, Berlin, „Persönlich“ (06.05.1940), hier Frame 2666422, hier als Abschr. von LH Traupel, Kassel, an SS-Gruppenführer Hildebrandt,
Danzig (06.05.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
159
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666543–2666546, PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel,
an StdF, Rudolf Heß, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666544, hier als Anlage zum Schreiben
Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier zit. n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam,
Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
160
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666538, LH Traupel, Kassel, an HSSPF Danzig-Westpreußen SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig, „Persönlich“, „Vertraulich“ (06.08.1940) (Zitat „[...] Freiwilligkeit“); ebd., Frame 2666539–2666542, LH
Traupel, Kassel, Einschreiben an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr., hier
Frame 2666539; ebd., Frame 2666554 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, LH Traupel, Kassel, Einschreiben
an RFSS H. Himmler, „Persönlich!“ (06.08.1940), Abschr., hier Frame 2666554 (Hinweis auf Traupel-Termin in München
am 31.07.1940 bei W. Sommer, StdF), beide vorgenannten Dokumente hier als Anlage zum eingangs genannten Schreiben an
Hildebrandt, alles hier n. d. Kopien: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen].
362
IV. Zeit der Gasmorde
Es war dies nicht der einzige Fall, in dem Sprenger versuchte, einen nationalsozialistischen Widersacher im eigenen Gaugebiet aus dem Amt zu drängen: nur ein Jahr später – 1941 – bemühte er sich,
über Innenminister Frick die Amtsenthebung des Frankfurter Oberbürgermeisters Krebs zu erreichen,
da er mit diesem „nicht mehr zusammenarbeiten wolle“ und dieser „nicht nationalsozialistisch“ sei. In
diesem Fall jedoch blieb Sprenger bis Kriegsende ohne Erfolg.161 Dagegen gelang es Sprenger, nach
einem lange schwelenden Konflikt 1943 die Ablösung des Wiesbadener Regierungspräsidenten Fritz
von Pfeffer zu erreichen.162
Selbst nachdem grundsätzlich feststand, dass Traupel Sprengers Einflussbereichs zu verlassen habe
und damit auch sein Kasseler Landeshauptmannsamt aufgeben müsse (denn der Bezirksverband Hessen reichte bis nach Hanau und damit weit in das NSDAP-Gaugebiet Hessen-Nassau hinein), ließ die
tatsächliche Umsetzung dieses Vorhabens noch längere Zeit auf sich warten. Anfang Dezember 1940
schaltete sich SD-Chef Reinhard Heydrich in das Verfahren ein, als er sowohl Traupel als auch Bernotat zu sich vorlud. Vorbereitend hatte das Reichssicherheitshauptamt im November 1940 SS-interne
Erkundigungen über Bernotat eingezogen.163 Eigentlicher Anlass für die Besprechung am 5. Dezember
war die Kontroverse um den Verrat des „SD-Geheimnisses“ bezüglich des Oberpräsidenten Philipp
Prinz von Hessen. Über die Unterredung liegt nur eine Darstellung aus Traupels Feder vor, die zudem
erst nach Heydrichs Tod verfasst wurde, sodass eine Überprüfung des Wahrheitsgehalts schon 1942
nicht mehr möglich war. Traupel jedenfalls gab an, Heydrich habe „klipp und klar erklärt“, wenn schon
Traupel seinen „Posten aufgebe“, müsse Bernotat „ebenfalls von Wiesbaden verschwinden.“ Anders
als Traupel habe jedoch Bernotat dies abgelehnt und geantwortet, „‚er sei auf 12 Jahre gewählt‘.“
Ebenfalls dieser Darstellung zufolge soll Heydrich geäußert haben, „B[ernotat] sei kein Mann für die
SS, und er [Heydrich, P. S.] würde eine Entscheidung beim Reichsführer herbeiführen. Er [Bernotat,
P. S.] träte [!] als Biedermann auf, dem man Bösartigkeiten nicht zutraue. Sein Verhalten aber in der
Sache O. P. [Oberpräsident, P. S.] sei eines SS-Führers und eines Kameraden unwürdig.“ Was die
Zukunft des Landeshauptmanns anbelangte, wollte Heydrich, in der SS-Hierarchie der direkte Vorgesetzte Traupels, bei der Stellensuche behilflich sein; „[i]ns Auge gefaßt war ein Posten im Ausland,
und zwar für die SS bezw. den SD.“164
Nachdem feststand, dass Traupel als eindeutiger Verlierer aus der Auseinandersetzung mit Sprenger
hervorgegangen war und sein Amt würde aufgeben müssen, wandten sich zunehmend bisherige Mentoren oder neutral Gebliebene von ihm ab. Dies galt beispielsweise für den stellvertretenden Frankfurter
Gauleiter Karl Linder,165 der 1933 als letzter Landesausschussvorsitzender in Wiesbaden gemeinsam
mit Traupel Verantwortung für den Bezirksverband Nassau getragen hatte. Linder, der einen „kameradschaftlichen Verkehr [...] so lange als möglich aufrecht zu erhalten bemüht war“, kündigte diesen
Anfang 1941 mit der Begründung auf, Traupel habe in den vergangenen zwei Jahren „einseitig“ seine
Politik verfolgt, „ohne im Geringsten auf die Wünsche und Intensionen [!] des Gauleiters Rücksicht zu
nehmen.“166 Selbst der Kasseler Gauleiter Weinrich, der Traupels Initiativen wegen ihrer positiven
Effekte zugunsten des Standorts Kassel lange favorisiert hatte, ging jetzt auf Distanz. Er warf Traupel
nun vor, dieser scheine anzunehmen, es gebe „keine kulturelle Erscheinungsform [...], die nicht vom
Landeshauptmann ausgeht, sei es im Musikleben, Theater, Schrifttum, Ausstellungen.“ Weinrich dagegen wollte dem Landeshauptmann und seiner Verwaltung lediglich eine dienende Funktion zugunsten
der Partei zubilligen, während deren „Landeskulturwalter“ die Federführung innehaben sollte. So quit161
BA, R43 II/576a, Bl. 21–24, RMdI, gez. Frick, Az. V b 22. 124/41 – 3000, an Reichsminister u. Chef d. Reichskanzlei Dr.
Lammers, persönlich (25.11.1941), hier Bl. 22; vgl. a. Noakes, Oberbürgermeister (1981), S. 225; zu den Konflikten Sprenger – Krebs insg. siehe auch Rebentisch, Frankfurt (1980), S. 248 f.; ders., Persönlichkeitsprofil (1983), S. 319–321; ders.,
Frankfurt (1991), S. 499–502.
162
Siehe dazu Kap. V. 4. b).
163
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Bernotat, Fritz, Empfangsbescheinigung RSHA über SS-Personalakte Bernotat
(09.11.1940); ebd., SS-Personalhauptamt, Berlin, an RSHA, Amt III, Berlin (20.01.1941), Durchschr.
164
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., LH d. Prov. Hessen-Nassau, W. Traupel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (23.07.1942).
165
Zu Karl Linder (1900–1979) siehe biogr. Anhang.
166
HStA Wi, Abt. 520 KZ Nr. 3217, Bl. 17, Karl Lindner [!, d. i. Linder], stv. Gauleiter, Preuß. Prov.-Rat, Bürgermeister
a. D., MdR, Ffm, an LH Traupel, Kassel, „persönlich“ (25.02.1941), Abschr.
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
363
tierte es Weinrich mit Empörung, dass Traupel als Landeshauptmann Anfang 1941 eine neue Kulturzeitschrift (unter dem Titel „Hessen-Nassau“ – gewiss eine letzte Reminiszenz an Traupels gescheiterte
Provinzialverbandspläne) hatte auflegen lassen, ohne den Kasseler Gauleiter hiervon zu informieren.
Abschließend wertete Weinrich: „Sie wundern sich, wenn Ihnen auf allen Gebieten Schwierigkeiten
bereitet werden und sehen nicht, dass Sie durch Ihre Haltung diese Schwierigkeiten hervorrufen. Ich
muss erwarten, dass Sie sich endlich in den Rahmen der Gesamtheit einfügen und nicht mehr Wege
gehen, die Sie mit der Partei in Konflikt bringen.“167 Sogar mit seinem langjährigen Unterstützter, dem
Oberpräsidenten Philipp von Hessen, scheint es nun zu Differenzen gekommen zu sein.168 Allein der
Traupel-Vertraute aus alten Tagen, Richard Hildebrandt, hielt den Kontakt weiterhin aufrecht, brachte
aber doch deutlich zum Ausdruck, dass er mit Traupels Einschätzungen in dem gesamten Konflikt
nicht d’accord ging; beispielsweise zeigte er sich noch zwei Jahre später, 1942, Traupel gegenüber
(und im Widerspruch zu diesem) „nicht davon überzeugt, daß Bernotat ein Schwein ist.“169
Die folgende Zeit war gekennzeichnet von einer langwierigen und im Endeffekt fruchtlosen Suche
nach neuen Verwendungsmöglichkeiten für Landeshauptmann Traupel.170 Nachdem anfangs die Position eines „zukünftigen Gauhauptmann[s] in Flandern“ im Gespräch gewesen war,171 ging Traupel dann
fest davon aus, demnächst für das Ostministerium Rosenbergs mit einem Beratungsstab in den Kaukasus zu gehen, was jedoch ebenfalls nicht Wirklichkeit wurde.172 Immer ungeduldiger wartete Traupel
auf eine neue Verwendung. Aus dem Innenministerium hieß es, man suche zwar entsprechend Himmlers Direktive nach einer passenden Position, diese aufzutun sei „allerdings nicht sehr leicht. Eine
entsprechende Stelle als Landeshauptmann oder Oberbürgermeister ist nicht frei [...].“173 Im Gespräch
waren unter anderem die – allerdings noch frei zu machende – Position des niederschlesischen Landeshauptmanns in Breslau, die des Oberbürgermeisters von Hannover oder des Gouverneurs des Distriktes
Radom (im besetzten Polen).174 Traupel selbst lenkte den Blick auch auf andere Positionen: gegebenenfalls dürfte „die Hoheitsverwaltung (z. B. Regierungspräsident), oder aber auch die Reichsführung-SS
die Möglichkeit für eine Verwendung bieten“. Interesse habe er ebenso für den auswärtigen Dienst.
„Da ich ausgedehnte Reisen in ganz Europa, im Orient, in Nord- und Südamerika unternommen habe,
so habe ich einen Blick für fremde Völker gewonnen und würde überall als Vertreter Grossdeutschlands meinen Mann stehen. Ein besonderes Interesse liegt bei mir vor z. B. für Ostasien und hier im
besonderen für Mandschuko, wo ich mir zu allen politischen Kreisen, wie zum Kaiserhaus beste Beziehungen zu schaffen in der Lage bin.“175
167
Ebd., Bl. 18, NSDAP-Gauleitung Kurhessen, Kassel, gez. Gauleiter Weinrich, an LH Traupel, Kassel „persönlich“ (05.04.
1941), Abschr. – Bei der Zeitschrift handelte es sich um „Hessen-Nassau. Kulturzeitschrift der Provinz Hessen-Nassau“, hg. v.
Landeshauptmann (laut Kartei der Stadt- u. Universitätsbibliothek Ffm gab es von dieser Publikation nur die Nr. 1 des 1. Jg.
1941, danach wurde das Erscheinen eingestellt, dieses einzige Heft, in der Bibliothek unter der Sign. Zsq 2992 geführt, ist dort
in Verlust geraten).
168
HStA, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 54, LdsR a. D. Kranzbühler an Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Wiesbaden
(27.01.1947). – Kranzbühler wertete diese Differenzen mit dem Oberpräsidenten als letztlich ausschlaggebend für Traupels
Gang zur Wehrmacht im April 1941 (siehe dazu unten).
169
BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., Schreiben R. [= Richard Hildebrandt] an LH, SSOberführer Traupel, Kassel (10.07.1942), Durchschr.
170
Siehe dazu – außer den einzelnen Quellenangaben – auch Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 325 (Anm. 100);
ders., Führerstaat (1989), S. 219 f. (Anm. 197), hier S. 220, u. S. 223 (Anm. 200).
171
NARA, T-175, Roll 138, Frame 2666539–2666542, LH Traupel, Kassel, Einschreiben an Oberbefehlsleiter Pg. Dr. Sommer, München, „Persönlich“ (06.08.1940), Abschr. hier als Anlage zum Schreiben von Traupel an SS-Gruppenführer Hildebrandt, Danzig (06.08.1940), hier n. d. Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 2407 [SS, verschiedene Provenienzen] (die von Sommer andiskutierte Position in Flandern wurde von Traupel sehr begrüßt).
172
Bereits im Juni 1942 schrieb Traupel: „Mit Rosenberg bin ich einig“, im Dezember wies er auf die „Kaukasus“-Planung
hin: BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Traupel, Wilhelm, Bd. I, o. Bl.-Nr., zwei Schreiben von W. Traupel, Kassel, an SSObergruppenführer R. Hildebrandt, General d. Polizei, Danzig (20.06. bzw. 23.12.1942).
173
BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., [Leiter der Kommunalabteilung d. RMdI] Gauhauptmann
Dr. Kreißl an Hauptmann Traupel (07.01.1944), Durchschr.; vgl. ebd., o. Bl.-Nr., W. Traupel an Kreißl (29.12.1943).
174
Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Schreiben Stuckart an Gauhauptmann Kreißl (16.12.1943) (betr. Gouverneur von Radom sowie die
schon nicht mehr aktuelle Position LH in Breslau); ebd., o. Bl.-Nr., Vm. d. RMdI, gez. Dr. Hoffmann (12.01.1944) (Überlegungen betr. OB von Hannover, eventuell auch zum ersten Beigeordneten in Düsseldorf oder Leipzig).
175
Ebd., o. Bl.-Nr., W. Traupel, R[eims], an SS-Brigadeführer Gauhauptmann Dr. Kreißl, RMdI (17.01.1944).
364
IV. Zeit der Gasmorde
Doch alle Pläne zerschlugen sich, sodass Traupel formal bis zum 30. Juni 1944 Landeshauptmann
der beiden Bezirksverbände Hessen und Nassau sowie des übergeordneten Provinzialverbandes Hessen-Nassau blieb.176 Das bedeutete allerdings nicht, dass er in der Zwischenzeit weiter seine Amtsgeschäfte ausgeübt hätte. Bereits zum 29. April 1941 verließ Traupel Kassel und ging zur Wehrmacht,
wo er in den folgenden Jahren überwiegend in Frankreich eingesetzt war.177
Indem Traupel von der Bildfläche verschwand, ermöglichte er im Bezirksverband Nassau ein vollständiges Reüssieren seines früheren Adjutanten Bernotat. Diese Wende machte sich fest an einem
„Streit um das Dienstzimmer [...], der“, wie Philipp Prinz von Hessen später zutreffend resümierte, „an
sich eine Geringfügigkeit darstellt, aber sozusagen symbolisch war für den Kampf um den Einfluss:
denn wer in diesem umkämpften Zimmer saß, der war maßgebend im Landeshaus.“ Bei Traupels
Weggang nämlich sah Bernotat endlich die Gelegenheit gekommen, in sein altes Dienstzimmer – das
Vorzimmer zu den Räumlichkeiten des Landeshauptmanns – im ersten Obergeschoss des Landeshauses zurückzukehren, das er im Frühjahr 1940 nach seiner Entpflichtung als Adjutant mit einem Ersatzquartier im unteren Zwischenstock hatte austauschen müssen. Ohne die – weiter geltende – Traupel’sche Verfügung zur Raumverteilung noch zu beachten, zog Bernotat im Mai 1941 in sein altes
Büro zurück. Erneut – wie schon in der Frage des „Schulungsabends“ der Partei, stellte Kranzbühler
sich quer, pochte auf die Einhaltung der formalen Richtlinien und mochte allenfalls eine neue Entscheidung des Oberpräsidenten zur Raumverteilung akzeptieren. Längst hatte die jahrelang gepflegte
Zweckallianz zwischen dem Verwaltungsfachmann Kranzbühler und dem Politstrategen Bernotat Risse
bekommen. Erneut wusste Bernotat mithilfe des Gauleiters, seinen Willen unter Umgehung der Formalien durchzusetzen. Sprenger zitierte die beiden Landesräte zu sich und formulierte seine Erwartung,
dass Kranzbühler Bernotats Wünschen nachkomme. Indem Kranzbühler dies jedoch nicht ohne Weiteres akzeptierte, setzte er sich neuerlichen Anfeindungen des Gauleiters aus. Sprenger aber, ebenfalls
nicht ohne Verwaltungserfahrung, wusste Kranzbühler mit dessen eigenen Waffen zu schlagen: In
seiner Eigenschaft als „Reichsverteidigungskommissar“ ernannte der Gauleiter Bernotat zu seinem
Mitarbeiter und ordnete an, Letzterer habe sein früheres Dienstzimmer wieder zu beziehen, da er darin
die Aufträge des Reichsverteidigungskommissars erledigen müsse. Bernotat ließ daraufhin ein Schild
an seinem Dienstzimmer anbringen mit der Aufschrift „Der Reichsverteidigungskommissar [/] Bernotat [/] Landesrat“.178 Mit der Wahl dieser personalen Dienststellenbezeichnung konnte Bernotat –
zumindest bei unkundigen Besuchern – den (vermutlich nicht unbeabsichtigten) Eindruck erwecken,
er selbst sei Reichsverteidigungskommissar. Wohl nicht zufällig fiel diese autoritätssteigernde Maßnahme genau in die Zeit der ersten Phase der „Euthanasie“-Morde in Hadamar, als besorgte oder
176
Zur endgültigen Ablösung Traupels siehe Kap. V. 4. b).
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 325 (Anm. 100); ders., Führerstaat (1989), S. 219 f. (Anm. 197), hier S. 220, u.
S. 223 (Anm. 200); HStA Wi, Abt. 520 W Nr. 2461, Bl. 54, LdsR a. D. Kranzbühler an Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Wiesbaden (27.01.1947) („Er [Traupel] [...] reiste Ende April 1941 nach Paris zum Militär-Eisenbahndienst ab“).
178
Ebd. (HStA), Bl. 54, LdsR a. D. Kranzbühler an Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Wiesbaden (27.01.1947); ebd.,
Bl. 84–98, LdsR a. D. Max Kranzbühler, Wiesbaden an Spruchkammer Wiesbaden, schriftl. Klageerwiderung in seinem
Spruchkammerverfahren (27.07.1947), hier Bl. 94; ebd., Bl. 6–14, Max Kranzbühler, Anlage zum Meldebogen für die
Spruchkammer Wiesbaden (o. D. [Meldbogen: 24.04.1946]), hier Bl. 7 f.; ebd., Bl. 31–34, I. LdsR a. D. Kranzbühler an RP
Wiesbaden, betr. „Einspruch gegen meine Dienstentlassung“ (22.06.1945), hier Bl. 32; ebd., Bl. 53, Aussage („Eidesstattliche
Versicherung“) Philipp Prinz von Hessen ggü. d. Öffentlichen Kläger b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager (07.03.1947);
ebd., Bl. 15, Bescheinigung von Martha M. für LdsR a. D. Kranzbühler (04.03.1946), Abschr.; ebd., Bl. 16, Bescheinigung
von LdsR a. D. W. Schlüter für LdsR a. D. Kranzbühler (30.12.1945), Abschr.; ebd., Bl. 17, Erklärung von Karl B. [ehem.
Verw.-Ang. d. BV Nassau] für LdsR a. D. Kranzbühler (01.03.1946), Abschr.; ebd., Bl. 18, Erklärung von Gustel Sch. [ehem.
Stenotypistin d. BV Nassau] für LdsR a. D. Kranzbühler (02.04.1946), Abschr.; ebd., Bl. 76, Eidesstattliche Erklärung von Dr.
jur. Ernst Beckmann [ehem. RP beim OP in Kassel], Bad Lippspringe, zugunsten von LdsR a. D. Kranzbühler (04.08.1947);
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 226, Zeugenaussage Max Kranzbühler ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Ffm
(17.09.1946). – Kranzbühler gab an, er habe in Kassel mit OP Philipp von Hessen gesprochen, der eine Änderung der Raumverteilung abgelehnt habe (was dieser bestätigte), Kranzbühler selbst will wegen seines Verhaltens in dieser Sache aus der
Liste der „Politischen Leiter“ gestrichen worden sein, außerdem habe Sprenger beim RMdI seine Entlassung beantragt (dies
bestätigte Beckmann), was der RMdI jedoch abgelehnt habe, Philipp von Hessen formulierte immerhin, „dass die Position
Kranzbühlers arg bedroht war“. – Zu Bernotats „Verbannung“ aus dem Vorzimmer im Zusammenhang mit seiner Ablösung
als Traupels Adjutant siehe weiter oben in diesem Kap. IV. 1. b); zur langjährigen Allianz zwischen Kranzbühler und Bernotat
siehe Kap. II. 1. a); zur Funktion des Reichsverteidigungskommissars siehe Kap. IV. 3. c).
177
1. Verschiebung der Machtverhältnisse
365
protestierende Angehörige, die von Verlegungen „auf Grund einer Anordnung des zuständigen Herrn
Reichsverteidigungskommissars“ unterrichtet worden waren, von Bernotat im Landeshaus zum Gespräch empfangen wurden.179
*
Der Bezirksverband Nassau wurde im Jahr 1940 von einem heftigen Machtkampf gekennzeichnet,
dessen Hauptkontrahenten der Wiesbadener (und zugleich Kasseler) Landeshauptmann Traupel einerseits und der Frankfurter Gauleiter Sprenger andererseits waren. Zeitlich konzentrierte diese, auf persönlichster Ebene geführte Auseinandersetzung sich auf die Monate März bis August 1940. Nur vordergründig ging es den beiden Kontrahenten um sachliche Themen wie die Verwaltungsvereinfachung,
die Zukunft der Selbstverwaltung oder die landschaftliche Identität. Tatsächlich spitzte der Kampf sich
auf die Frage zu, ob Gauleiter Sprenger als uneingeschränkter Herrscher in seinem NS-Gau würde
schalten und walten können, und das hieß insbesondere: ob er auch in der staatlichen und kommunalen
Verwaltung im preußischen Teil seines Gaues seinen Willen uneingeschränkt würde zur Geltung bringen können.
Indem Traupel sich mit seinem Konzept zur Auflösung der Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes und zu deren Zusammenlegung mit der entsprechenden Kasseler Verwaltung in Gegensatz
zu den Bestrebungen des Frankfurter Gauleiters brachte, löste er dessen heftigste Abwehrreaktionen
aus. Teils mit Macht, teils mit Geschick gelang es Sprenger innerhalb kürzester Zeit, die ursprünglichen Unterstützer Traupels entweder auf seine Seite zu ziehen (wie Innenminister Frick) oder zumindest zu einer indifferenten Position zu veranlassen (wie „Reichsmarschall“ Göring und „Reichsführer“
Himmler). Sprenger bediente sich parallel zu den Gesprächen und Verhandlungen auf höchster Ebene
auch der Provokation und der persönlichen Intrige, um seinen Widersacher Traupel zu zermürben,
einen Keil zwischen den Landeshauptmann und dessen Hauptunterstützer, den Kasseler Oberpräsidenten Philipp von Hessen, zu treiben und Traupel schließlich zur Kapitulation zu zwingen. Das Arsenal
der Sprenger’schen Methoden umfasste persönliche Verbalattacken gegen Traupel, provokative Eingriffe der Partei in dessen Zuständigkeiten an der Spitze des Bezirksverbandes, die Verbreitung von
Gerüchten und schließlich sogar ein Parteigerichtsverfahren gegen Traupel. Entgegen all seinen Hoffnungen gelang es dem Landeshauptmann nicht, seine relativ hochrangige Position in der SS zu einem
machtpolitischen Pluspunkt umzumünzen.
Der Autoritätsverlust Traupels im Zuge der Auseinandersetzung ging einher mit einer dramatischen
Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau. Dieser
Prozess, der als Fortsetzung von Tendenzen in den 1930er Jahren verstanden werden kann, erreichte
seinen Endpunkt mit dem faktischen Ausscheiden Traupels aus dem Dienst im April 1941. Hatte Traupel in den ersten Jahren seiner Landeshauptmannschaft 1933 bis 1935 in Wiesbaden selbst amtiert und
damit die höchste Präsenz im Bezirksverband Nassau an den Tag gelegt, so hatte er bereits in den
ersten Jahren seit seinem Wechsel nach Kassel (1936 bis 1938) latent ein Vakuum entstehen lassen.
Dadurch hatte sein Wiesbadener Adjutant Bernotat eine faktische Machtposition ausbauen können.
Während Traupel 1939 und Anfang 1940 die Zusammenlegung der beiden Bezirksverbände betrieb,
evozierte er den massiven Unwillen der Belegschaft der Wiesbadener Zentralverwaltung, die ihre angestammten Arbeitsplätze zu Recht in Gefahr sah. Der massive Widerspruch und die „Sabotage“ aus
der eigenen Verwaltung, woran sich sogar sonst loyale leitende Beamte wie Landesrat Kranzbühler
beteiligten, trug dazu bei, Traupels Stellung gegenüber seinen äußeren Widersachern, besonders gegenüber Gauleiter Sprenger, zusätzlich zu unterminieren.
Parallel dazu wandelte sich das einst kameradschaftliche Verhältnis zwischen Traupel und Bernotat
zu einer Feindschaft, weil der ehrgeizige Bernotat sich unter Traupel keine Perspektiven mehr versprach und weil er nicht mehr zur Unterordnung bereit war. Mit Machtgespür kooperierte Bernotat nun
179
Siehe dazu Kap. IV. 3. c). – Zitat „auf Grund [...]“ in: HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 4, LHA Weilmünster an Alexander B., Ffm (24.02.1941).
366
IV. Zeit der Gasmorde
verstärkt mit Gauleiter Sprenger, der Bernotats Informationen in der Auseinandersetzung mit Traupel
dankbar nutzte. Indem Sprenger Bernotat fortan in allen Lagen den Rücken stärkte, konnte dieser seit
1941 – seit Traupels Abgang – zu dem starken Mann im Bezirksverband Nassau werden, besonders da
auch die Position des Oberpräsidenten Philipp Prinz von Hessen zunehmend geschwächt war. Im Zuge
von Bernotats Aufstieg war auch dessen Verhältnis zu Landesrat Kranzbühler, der fortan formal den
abwesenden Landeshauptmann vertrat, einem Wandel unterworfen. Während in den ersten Jahren der
NS-Zeit eine Art Allianz zwischen Kranzbühler und Bernotat (mehr im Sinne eines unausgesprochenen
Stillhalteabkommens) bestanden hatte, begehrte Kranzbühler 1940/41 nur vorübergehend und in Einzelfragen vorsichtig gegen Parteieingriffe in den geregelten Verwaltungsablauf auf. Nachdem aber
Gauleiter Sprenger ihm machtvoll seinen Willen kundgetan hatte, fügte Kranzbühler sich schnell in die
neue Konstellation und sah davon ab, Bernotat als faktische Nummer eins im Verband in Frage zu
stellen.
Ab spätestens Mai 1941 gab Landesrat Bernotat im Bezirksverband Nassau den Ton an, und zwar
dem ersten Anschein nach als verlängerter Arm des NSDAP-Gaus Hessen-Nassau.180 Damit war zunächst Sprengers Absicht Genüge getan, eine spätere Integration des Verbandes in eine Selbstverwaltungskörperschaft des avisierten Reichsgaus Rhein-Main nicht zu verbauen (wenn auch weitere Schritte in diese Richtung bis 1944 auf sich warten ließen).181 Die neue Machtkonstellation im Wiesbadener
Landeshaus hatte aber auch Auswirkungen auf die inhaltliche Orientierung des Bezirksverbandes.
Ohnehin war dessen Status als Organ der kommunalen Selbstverwaltung auf regionaler Ebene seit
1933/34 ausgehöhlt, da die Träger, die Kreise und Städte, zwar noch Geldgeber waren, aber nicht mehr
mitbestimmen konnten. Landeshauptmann Traupel hatte den Begriff der Selbstverwaltung immerhin
noch inhaltlich mit Blick auf die Initiative des Landeshauptmanns und die Förderung einer – wie auch
immer gearteten – landschaftlichen Identität der Provinz zu füllen versucht. Derartige Bestrebungen
gingen Bernotat völlig ab; er nutzte den Bezirksverband in den folgenden Jahren in erster Linie als
institutionelle Basis für die Durchführung der „Euthanasie“morde an kranken und behinderten Menschen. Der Bezirksverband spielte dabei eine weitaus tragendere Rolle als der Kasseler Bezirksverband
Hessen, den nun vertretungsweise der Landesrat Dr. Otto Schellmann führte, „von dem man“ – so
Traupels Einschätzung – „jedenfalls keine weltanschauliche Ausrichtung erwarten“ durfte.182 Aber auch
das Land Hessen, wo Gauleiter Sprenger in seiner Funktion als Reichsstatthalter und Chef der Darmstädter Landesregierung wesentlich unmittelbarer die Macht ausübte, war in die Krankenmordpolitik
zumindest vergleichsweise weniger involviert. Trotz der gestärkten Führerschaft der Partei und Sprengers und trotz aller Abhängigkeit Bernotats von diesem wäre es verfehlt, die Ausrichtung des Bezirksverbandes Nassau in den folgenden Jahren 1941 bis 1944 in erster Linie dem Gauleiter zuzuschreiben.
180
Siehe dazu Kap. IV. 2., IV. 3. u. V.
Siehe dazu Kap. V. 4. b).
BA, BDC-Unterlagen (RIM) zu Traupel, Wilhelm, o. Bl.-Nr., W. Traupel an [den Leiter der Kommunalabteilung d. RMdI]
Kreißl (29.12.1943). – Zu Dr. jur. Otto Schellmann (1880–1953) siehe biogr. Anhang.
181
182
367
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
a) Einbindung der Regionen in die Vorbereitung
Die zwischen Januar 1940 und August 1941 begangenen Gasmorde an über 70.000 kranken und behinderten Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten waren die erste systematische Massenmordaktion des
„Dritten Reiches“.1 Diese erste Phase der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen wurde von
der zentralen, in Berlin angesiedelten Parteidienststelle „T4“ geplant und gesteuert, die die Morde in
sechs ebenfalls zentralen Gasmordanstalten im Deutschen Reich durch ihr Personal begehen ließ. Die
verschiedenen Aspekte der zentralen Lenkung sind durch vorausgegangene Untersuchungen bereits
weitgehend bearbeitet worden und sollen im Folgenden nicht im Vordergrund stehen. Im Mittelpunkt
der Betrachtung steht hier die Frage, an welchen Punkten und in welchem Maße sich regionale Stellen
der staatlichen und kommunalen Verwaltung, in bestimmten Fällen auch der regionalen Parteigliederungen, in die Vorbereitung und die Umsetzung des zentralen Krankenmordprogramms 1940/41 einbinden ließen und welche Beiträge sie schließlich dazu leisteten. Vor diesem Hintergrund wird das
Gewicht des „nassauischen“ Tatbeitrags im Verhältnis zur Verantwortung anderer Reichsteile zu wägen sein. Zu beantworten ist die Frage nach dem Maß an Initiative aus den Reihen des Bezirksverbandes Nassau zur Einleitung und Umsetzung der Krankenmordaktion. Zugleich sind aber auch Interpretationen kritisch zu überprüfen, die einen Widerspruch zwischen regionaler Initiative und zentraler
Steuerung sehen – beispielsweise die These Zimmermanns, das Gewicht des Faktors Hitler „für die
historische Forschung [nehme] in dem Maße ab, wie sich die radikalisierende Einflußnahme anderer,
gerade auch regionaler Instanzen auf die Mordpolitik nachweisen“ lasse.2
Ausgangspunkt vieler Untersuchungen zur Krankenmordaktion war anfangs die Diskrepanz zwischen dem Anspruch ärztlichen Handelns einerseits und der Mitwirkung von Medizinern an den Morden andererseits. Klees grundlegende Darstellung ist von diesem Ansatz geprägt,3 und auch andere
Forscher suchen medizin- oder psychiatrieimmanente Erklärungen. Aly interpretiert die Krankenmordaktion als das Phänomen einer reformorientierten Psychiatrie, die sich der Modernisierung verschrieb
und dabei die „unheilbaren“ Kranken und Behinderten der Ermordung preisgab, während sie den „heilbaren“ mit therapeutischer Euphorie jede erdenkliche Hilfe habe zukommen lassen wollen.4 Lifton
sieht in den Ärzten im „Dritten Reich“ teils verblendete „Idealisten“, teils brutale Sadisten – eine
Zweiteilung, die Friedlander zu Recht kritisiert.5 Andere Untersuchungen stellen nicht das ärztliche
Handeln ins Zentrum ihres Interesses. Schmuhl folgt letztlich einem strukturtheoretischen Ansatz und
sieht in den Krankenmorden das Ergebnis von Radikalisierungsprozessen, die er unter anderem auf die
polykratische Herrschaftsstruktur des „Dritten Reiches“ und dessen Eigendynamik zurückführt; dennoch lässt Schmuhl das ideologische Motiv des Rassismus nicht außer Acht.6 Auch Walter wendet in
seiner Interpretation der ersten Phase der NS-Krankenmordaktion den Blick von den Medizinern ab
und richtet ihn auf die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung: „Gemessen an den Opferzahlen
erwies sich die T4-Organisation [...] als effektives System, in dem letztlich die Parteiideologen und
Bürokraten die Arbeitsweise und Entscheidungsabläufe bestimmten. Diese Feststellung soll den Beitrag der Medizin/Psychiatrie am gesamten Geschehen nicht minimieren [...]. Hier ging es jedoch um
Macht- und Einflußstrukturen.“ Walter sieht denn auch die rassenideologischen Beweggründe zunehmend von ökonomischen Kriterien überlagert.7 Einem dezidiert materialistischen Ansatz folgend, sehen
Roer und Henkel die maßgebliche Erklärung für die Mordaktion in den ökonomischen Bedingungen
1
Zu berücksichtigen sind dabei jedoch auch die vorausgehenden Kranken- u. Behindertenmorde im Nordosten seit dem
Herbst 1939: siehe dazu Kap. III. 3. c).
2
Zimmermann, Euthanasie (1997).
3
Klee, „Euthanasie“ (1983).
4
Aly, Fortschritt (1985), S. 48 f.; ders., Aktion (1989), S. 11–20, hier insb. S. 16; siehe dazu auch Kap. V. 1. b).
5
Friedlander, Weg (1997), S. 350–352, mit Hinweis auf Lifton, Doctors (1986), S. 17, S. 23, S. 114–119.
6
Schmuhl, Rassenhygiene (1987); ders., Rassismus (1993). – Noch eindeutiger lenkt Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991),
S. 98 f. (Anm. 63), hier S. 98, den Blick auf „Eskalationen“ und „Radikalisierungsprozesse[...]“.
7
Walter, Psychiatrie (1996), S. 783 f. (Zitat auf S. 784).
368
IV. Zeit der Gasmorde
der Psychiatrie schlechthin: In erster Linie die mangelnde Arbeitsfähigkeit sei ausschlaggebend für die
Ermordung der kranken und behinderten Menschen gewesen.8 Bei aller Berechtigung der angeführten
Aspekte darf jedoch nicht die grundsätzliche rassenideologische Zielrichtung aus den Augen verloren
werden, die für all diese strukturellen, machtstrategischen und ökonomischen Antriebskräfte den Hintergrund bildete und die Friedlander folgendermaßen skizziert: „Diese Menschen [= die Behinderten,
P. S.] wurden [...] nicht deshalb getötet, um Klinikbetten zu räumen oder Kosten zu sparen; der Beweggrund der Mörder war vielmehr die ideologische Zwangsvorstellung von einem rassisch homogenen und gesunden Volk.“9
Eine Reihe von Arbeiten der letzten Jahre und Jahrzehnte zum Komplex der NS-Kranken- und Behindertenmorde konstatiert im Ergebnis einen engen inhaltlich-logischen Zusammenhang zwischen der
NS-„Euthanasie“ und den anderen rassenideologischen Mordaktionen, insbesondere der Ermordung
der europäischen Juden. Der in den letzten Jahren exponierteste Vertreter dieser Position, Henry Friedlander, führt aus, „daß die Ideologie, der Entscheidungsprozeß, das Personal und die Tötungstechnik
die Euthanasie mit der ‚Endlösung‘ verbanden.“10 Im Sinne einer von Friedlander dargestellten „Vernichtung des ‚biologischen Feindes‘“ – also sowohl der psychisch Kranken und geistig Behinderten als
auch der Juden sowie der Sinti und Roma – wird mitunter inzwischen für den Massenmord an allen
drei Gruppen der Begriff des Genozids benutzt, der, so Michael Zimmermann, „nach neueren wissenschaftlichen Definitionen durchaus auf die systematische Tötung der Behinderten angewandt werden
kann“.11 Den Forschungsstand der letzten Jahre zusammenfassend, konstatiert Bernd Walter: „Insbesondere die Geschichte der Tarnorganisation der ‚Aktion T4‘ führt weit über das ursprüngliche Aufgabenspektrum in der Erwachsenen-‚Euthanasie‘ hinaus und liefert unmittelbare Verknüpfungspunkte
zwischen den Maßnahmen gegen die psychisch Kranken und geistig Behinderten und den Vernichtungsaktionen in den Konzentrationslagern wie auch zur Judenvernichtung insgesamt.“12
Eine erste Verklammerung von Krankenmord und Ermordung der Juden stellte bereits im Rahmen
der Gasmorde 1940/41 die ausnahmslose Ermordung der jüdischen Patientinnen und Patienten aus den
Heil- und Pflegeanstalten dar – und zwar im Gegensatz zu den übrigen Opfern ohne Rücksicht auf den
Grad der Krankheit oder Behinderung. Die seit spätestens Mitte der 1930er Jahre zunehmende Diskriminierung der jüdischen Patienten13 erreichte 1939 einen neuen, wenn auch nur vorläufigen Höhepunkt,
als hilfsbedürftige jüdische „Geisteskranke“ generell aus der Fürsorge des Landesfürsorgeverbandes
ausgeschlossen und die Kosten der Anstaltsunterbringung den Institutionen der Juden auferlegt wurden. Im Regierungsbezirk Wiesbaden bedeutete dies, dass bei den betreffenden Kranken aus Frankfurt
nun die dortige Jüdische Gemeinde als Kostenträgerin aufzutreten hatte, während für die übrigen aus
dem Wiesbadener Bezirk stammenden Juden in Anstalten des Bezirksverbandes fortan (wie auch ansonsten im Deutschen Reich) die neu geschaffene „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ die
Kosten der Anstaltsunterbringung übernehmen musste. Dass in Frankfurt die Jüdische Gemeinde zuständig wurde, ging zurück auf eine Bestimmung, wonach die Reichsvereinigung „sich als örtlicher
Zweigstellen der jüdischen Kultusvereinigungen“ zu bedienen hatte. Der Pflegesatz, den der Bezirksverband nun für jüdische Kranke verlangte, lag mit RM 5,00 mehr als doppelt so hoch wie der für
Nichtjuden (RM 2,30). Zwar versuchte die Reichsvereinigung, diese Diskriminierungsmaßnahme
durch Einspruch beim Reichsinnenminister rückgängig zu machen, das aber blieb nach einer ablehnenden Stellungnahme Adolf Eichmanns (im Namen des „Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen
Polizei“) ohne Erfolg.14
8
Roer/Henkel, Funktion (1986), S. 13, S. 24.
Friedlander, Weg (1997), S. 10.
Ebd., S. 11.
11
Zimmermann, Euthanasie (1997). – Dort auch das Zitat „Vernichtung [...]“.
12
Walter, Psychiatrie (1996), S. 629–631, hier S. 631.
13
Zu den Maßnahmen gegen jüdische Patientinnen und Patienten in den LHAen des BV Nassau vor 1939 siehe Kap. III. 2. a).
14
Das zum 30.09.1939 wirksam werdende Ausscheiden aus der Fürsorge des LFV basierte auf RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 118
(06.07.1939), S. 1097–1099, „Zehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ (04.07.1939), hier S. 1098 (§ 12); ebd., S. 1097
(§ 1 Abs. 3), ist die Berücksichtigung „örtlicher Zweigstellen“ geregelt; vgl. Walter, Psychiatrie (1996), S. 706. Aufgrund des
Einspruchs beim RMdI akzeptierten die LHAen des BV Nassau vorerst die Zahlung von RM 2,50 statt RM 5,00, zogen die
Differenz jedoch nach der Entscheidung des RFSSuChdDtPol im Jahre Jan. 1941 noch nachträglich ein: HStA Wi, Abt. 430/1
9
10
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
369
Die Kostenangelegenheit wurde schon bald zu einer sekundären Frage, als – wahrscheinlich im März
oder April 1940 – die Krankenmordorganisation „T4“ den grundsätzlichen, wohl von Hitler gebilligten
Beschluss zur ausnahmslosen Ermordung sämtlicher jüdischer Anstaltspatienten fällte; parallel führte
das Innenministerium eine gesonderte Meldepflicht für diesen Personenkreis ein. Zugleich versuchte
man bei „T4“ mit ungeahnter Konsequenz, gerade die Ermordung der jüdischen Patienten zu vertuschen, vermutlich da deren Bekanntwerden den wissenschaftlichen Anstrich der gesamten Krankenmordaktion als Farce decouvriert hätte. Noch im Nürnberger Prozess beharrten die Hauptverantwortlichen der Krankenmorde auf der falschen Behauptung, es seien durch „T4“ keine psychisch kranken
oder behinderten Juden ermordet worden.15 Tatsächlich begann die systematische Ermordung der jüdischen Kranken im Juni oder Juli 1940 in der von „T4“ eingerichteten Gasmordanstalt Brandenburg.16
Auch die jüdischen Patienten aus zwei Anstalten des Bezirksverbandes Nassau (Hadamar und Herborn) sowie aus allen drei Anstalten des Bezirksverbandes Hessen wurden bereits 1940 in Brandenburg
ermordet, nachdem sie im September kurzzeitig in der hessischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Gießen konzentriert worden waren.17 Die dem hessischen Reichsstatthalter, Gauleiter Jakob Sprenger unterstehende Anstalt Gießen fungierte als eine von mehreren „Sammelanstalten“ des Jahres 1940.18 Aus
ungeklärten Gründen verblieben die jüdischen Patienten aus den „nassauischen“ Landesheilanstalten
Eichberg und Weilmünster noch für einige Monate in diesen bisherigen Unterbringungsanstalten,
bevor auch sie, im Februar 1941, ausnahmslos im Rahmen der Gasmordaktion der „T4“ ermordet
wurden.19
Die Entscheidung für die „T4“-Krankenmordaktion insgesamt, die also den Mord an den jüdischen
Patienten einschloss, war Mitte 1939 gefallen, wobei Vorüberlegungen und erste Initiativen20 zur TöNr. 12557, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 926, gez. i. A. LVR Dr. Steinhäuser, an LHA Eichberg (15.01.1940); ebd., o. Bl.Nr., Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Abt. Fürsorge, Berlin, an BV Nassau, betr. „Pflegegeld für jüdische Anstaltspfleglinge. Ihr Zeichen: B. 1. 64/A (IIa) 576[,] Ihr Schreiben vom 31. Dezember 1940“ (28.01.1941), hier als Abschr. von
BV Nassau, Az. A (IIa) 45, gez. i. A. LdsR Johlen, an LHA Eichberg (04.02.1941); dto. an LHA Hadamar mit aufgeschr. Vfg.
zum Schreiben LHA Hadamar, gez. Klein, an BV Nassau (10.02.1941) auch in LWV, Best. 12/ehem. VA 015 (Kopie), o. Bl.Nr. u. Bl. 62; ebd. (HStA Wi), RFSSuChdDtPol. im RMdI, Az. B-Nr. S-IV D 4 – 733/39 Rv., gez. i. A. Eichmann, an BV Nassau, betr. „Neufestsetzung der Pflegesätze für hilfsbedürftige jüdische Geisteskranke“ (25.01.1941), hier als Abschr. von BV
Nassau an LHA Eichberg (o. D. [Anschreiben: 02.07.1941]); BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 17.
15
Friedlander, Anstaltspatienten (1989), S. 42; ders., Weg (1997), S. 418, S. 429, S. 431, S. 575 f. (Anm. 1–5), S. 579 (Anm.
53), u. a. mit Hinweis auf Aussagen Viktor Brack (04.09.1946), Karl Brandt (o. D.), Hermann Pfannmüller (04.09.1946) u.
Gerhard Simon (05.12.1962); zur Meldepflicht nach einem Erl. d. RMdI (15.04.1940) siehe Aly, Aktion (1989), S. 198–
205 („Zeittafel“), hier S. 199.
16
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 259; Bernhardt, Anstaltspsychiatrie (1994), S. 140, u. a. mit Hinweis auf Hühn, Schicksal
(1989), S. 129; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 215 f.; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 99; Aly, Aktion (1989), S. 198–
205 („Zeittafel“), hier S. 199 (dort abweichend die Datierung Juli 1940).
17
Grundlage der Verlegung nach Gießen war ein Runderlass des RMdI (30.08.1940). Die Verlegung nach Gießen hatte bis
zum 25.09.1940 zu geschehen, die Weiterverlegung (nach Brandenburg) erfolgte am 01.10.1940: Friedlander, Weg (1997),
S. 435; HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., LHA Hadamar, gez. LS Klein, an LHA Eichberg (04.11.1940), mit Patientenliste als Anlage (2 Pat. aus Hadamar am 25.09.1940 nach Gießen verlegt); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 574,
Lotte E. P., Ffm, an LG Ffm, OStAnw Dr. Wagner (29.10.1946) (jüdischer Patient aus Herborn, am 25.09.1940 von Herborn
nach Gießen u. von dort am 01.10.1940 weiterverlegt); ebd., o. Bl.-Nr. (zwischen Bl. 575 u. Bl. 576), [Oberpfleger] Karl K.,
Gießen, an Lotte P. (15.09.1946); vgl. auch ebd., Bd. 7, Bl. 86, Aussage Wilhelm Lückoff als Angeklagter im HadamarProzess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947) (dort allerdings z. T. falsche Datierung für die von Herborn Verlegten); vgl. auch ebd.,
Bl. 203, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (unzutreffende Behauptung, von
der LHA Herborn aus seien nicht zuerst jüdische Patienten abgeholt worden); LWV, Best. 17/138, RMdI, Schnellbrief „IV g
6662/40 – 5106“, an BV Hessen (30.08.1940), hier als Abschr. von BV Hessen an LHA Merxhausen, erste Seite als Faks.
auch in Euthanasie (1991), S. 80 (Verlegung der jüd. Patienten der LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen in die „Sammelanstalt“ Gießen).
18
Zur „Sammelanstalt“ Gießen siehe George, Heil- und Pflegeanstalt (1997), S. 136 f.; siehe auch Walter, Psychiatrie (1996),
S. 707–709; siehe insb. Kingreen, Patienten (2003). – Zur „Sammelanstalt“ Berlin-Buch siehe StA Potsdam, Schreiben PV
Mark Brandenburg an Landesanstalt Neuruppin (12.07.1940), hier n. d. Faks. b. Friedlander, Anstaltspatienten (1989), S. 37;
siehe auch Bernhardt, Anstaltspsychiatrie (1994), S. 140; siehe auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 99. – Zur „Sammelanstalt“ Wunstorf (Weiterverlegung am 27.09.1940), siehe z. B. Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; siehe auch ders., Psychiatrie
(1996), S. 706–710; siehe auch Teppe, Massenmord (1989), S. 20/22; siehe auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky,
Geschichte (1986), S. 88, u. a. mit Hinweis auf Finzen, Dienstweg (1980). – Zu weiteren „Sammelanstalten“ für jüdische
Patienten, auch des Jahres 1941, siehe z. B. Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 215 f.; Raphael, Euthanasie (1991), S. 81;
Winter, Heil- und Pflegeanstalt (1993), S. 85.
19
Zur Ermordung der jüdischen Patienten im Februar 1941 in Hadamar und zur Anfang 1941 eingerichteten zweiten dem
Reichsstatthalter Sprenger unterstehenden „Sammelanstalt“ in Heppenheim siehe Kap. IV. 3. b).
20
Zu ersten Initiativen siehe Kap. III. 3. c).
370
IV. Zeit der Gasmorde
tung psychisch kranker Menschen weit in die 1930er Jahre zurückreichten. Der Entschluss Hitlers, das
grundsätzlich bereits seit langem ins Auge gefasste Programm beginnen zu lassen, wird im Allgemeinen auf die Monate unmittelbar vor Kriegsbeginn datiert. Nachdem Hitler ursprünglich den neuen
Reichsärzteführer und Staatssekretär im Reichministerium des Innern, Leonardo Conti,21 als federführend beauftragt hatte, zog er diesen Auftrag kurzfristig zurück und gab ihn nunmehr an seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt22 sowie an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler23. Mit der Einbeziehung dieser Parteibehörde, seiner Kanzlei als NSDAP-Parteiführer,24 sorgte Hitler dafür, dass die
staatlichen Behörden des Reichs wie das Innenministerium zumindest nicht direkt mit der nach geltendem Recht illegalen „Aktion“ befasst wurden. Während Friedlander diesen Schwenk auf eine Intrige
zwischen konkurrierenden Machtzentren des NS-Staats zurückführt, gibt Rebentisch schlüssig die von
Lammers als Chef der Reichskanzlei geäußerten Bedenken wegen der Ungesetzlichkeit als ausschlaggebendes Moment an.25
Die Beauftragung der Kanzlei des Führers mag auch der Überzeugung geschuldet gewesen sein, bei
der NS-„Euthanasie“ handele es sich um eine „Wohltat am deutschen Volk“ und nicht etwa um eine
Maßnahme gegen Staatsfeinde. Die Kanzlei des Führers, die auch ein Hauptamt für Gnadensachen
unterhielt, sah sich nämlich als „Mittler zwischen Volk und Führer“, als eine Institution, bei der „die
Volksgenossen [...] dem Führer all ihre Not und ihre Sorgen zum Ausdruck bringen“, wie KdFHauptamtsleiter Heinrich Cnyrim 1941 zu Papier brachte.26 Offenbar hatten sich tatsächlich bereits vor
Kriegsbeginn auch Angehörige an die Kanzlei des Führers gewandt und Gesuche „mit der Bitte um
Einschläferung von schwerstkranken Neugeborenen“27 eingereicht. Mit der Organisation der Krankenund Behindertentötungen kam nun besonders die selbst gesteckte Maxime der Kanzlei des Führers zum
Tragen, „fern von bürokratischen Hemmungen und formellen Bedenken in nationalsozialistischer
Entschluß- und Verantwortungsfreudigkeit ihre Entscheidungen und Maßnahmen zu treffen“.28
21
Zu Dr. med. Leonardo Conti (1900–1945) siehe biogr. Anhang.
Zu Prof. Dr. med. Karl Brandt (1904–1947) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Wistrich, Reich (1983), S. 30 f.;
Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 24 f.; NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc.
NO-475, 3-seitiges Protokoll d. eidesstattlichen Vernehmung Karl Brandt (25.10.1946), hier n. d. begl. Kopie in HStA Wi,
Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. (S. 2); siehe auch den Nachweis der Rechtsgrundlagen für Brandts Ämter (1942–1944)
in Kap. V. 3. b).
23
Zu Philipp Bouhler (1899–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Noakes, Bouhler (1986), S. 209–211;
Wistrich, Reich (1983), S. 29.
24
Es ist zu unterscheiden zwischen den fünf verschiedenen Kanzleien im „Dritten Reich“: „Reichskanzlei“ (geleitet von Hans
Heinrich Lammers, zuständig für Geschäfte des Reichskanzlers, zugleich dessen Dienstsitz, vergleichbar dem heutigen Bundeskanzleramt); „Parteikanzlei“ (Parteizentrale der NSDAP in München, bis 1941 geleitet von Rudolf Heß unter der Bezeichnung „Stellvertreter des Führers“, dann von Martin Bormann); „Kanzlei des Führers“ oder „Kanzlei des Führers der NSDAP“
(geleitet von Philipp Bouhler, hervorgegangen aus dem Stab des Parteiführers, räumlich angesiedelt im Gebäude der Reichskanzlei); „Privatkanzlei“ (Abteilung der „Kanzlei des Führers“, Funktion einer persönlichen Adjutantur Hitlers, geleitet von
Albert Bormann, dem Bruder von Martin Bormann); „Präsidialkanzlei“ (zuständig für Geschäfte des „Führers“ des Deutschen
Reiches anstelle des untergegangenen Amts des Reichspräsidenten, z. B. Ehrungen). – Zu den verschiedenen Kanzleien siehe z. B. Broszat, Staat (1979), S. 390 f.; Noakes, Bouhler (1986); Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 735 f.; ders., Führerstaat (1989), S. 449 f.
25
Zu diesem Absatz: Friedlander, Weg (1997), S. 119 f. (auch zur Datierung der Entscheidung auf Juli/August 1939); ebd.,
S. 119, S. 499 (Anm. 9 u. 10) (These einer Intrige zwischen Conti und Martin Bormann auf der einen Seite und Bouhler,
Brack, unterstützt von Göring, Himmler und Frick, auf der anderen Seite); ebd., S. 308 f., S. 555 (Anm. 10 f.); Rebentisch,
Führerstaat (1989), S. 430 f., mit Hinweis auf Nachkriegsaussagen Lammers’ im Nürnberger Prozess und im Wilhelmstraßenprozess; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 52 (Datierung der Entscheidung auf 18.07.1939); Walter, Psychiatrie (1996),
S. 651–655 (Datierung der Grundsatzentscheidung auf wahrscheinlich die erste Julihälfte, dagegen terminiert Walter den
Zeitpunkt, zu welchem die Federführung Conti entzogen und der KdF übertragen wurde, anders als Kaul, Klee u. Schmuhl,
die den Juli 1939 nennen, auf einen späteren Zeitpunkt, wohl den Oktober 1939).
26
Cnyrim, Kanzlei (1941), zit. n. Noakes, Bouhler (1986), S. 221. – Heinrich („Heinz“) Cnyrim war Leiter des Hauptamts IV
der KdF (Sozial- u. Wirtschaftsangelegenheiten/„Sozialamt“), wurde 1942 wegen einer Korruptionsaffäre zunächst aus der
NSDAP ausgeschlossen, jedoch durch Hitler begnadigt, und starb beim anschließenden Fronteinsatz in Russland: Noakes,
Bouhler (1986), S. 221 f. – Zur Gliederung der KdF: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Erika H. (ab
1938 Verw.-Ang. d. KdF) ggü. d. LG Ffm in Homberg Bez. Kassel (18.06.1965), Kopie; ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Ilse L. (1938–1945 KdF-Schreibkraft) b. d. LG Ffm (28.05.1965), Kopie; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 22;
Noakes, Bouhler (1986), S. 211; Friedlander, Weg (1997), S. 86.
27
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1–453, GenStAnw Ffm, Az. Ks 2/63 („Heyde-Verfahren“), Aussage Dr. Hans Hefelmann, hier zit.
n. Noakes, Bouhler (1986), S. 225.
28
BA, R2/31096, Aussage eines KdF-Vertreters, zit. im Urteil d. Obersten Parteigerichts betr. Dr. Heinz Wittig u. Kurt Jainz
(Hauptverhandlungen 02.–03.02. u. 22.–25.04.1942), hier zit. n. Noakes, Bouhler (1986), S. 208.
22
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
371
Der zunächst nur mündlich erteilte Auftrag des „Führers“ wurde noch im Herbst 1939 auf einem
Briefbogen von dessen Privatkanzlei schriftlich fixiert und von Hitler unterschrieben, insbesondere um
den beiden Beauftragten im Falle zweifelnder Einsprüche eine einwandfrei erscheinende Legitimation
an die Hand zu geben. Notorisch ist etwa die Übergabe einer Kopie dieses so genannten „Euthanasieerlasses“ im August 1940 an Justizminister Franz Gürtner, der zunächst die fehlende gesetzliche Basis
für die massenhaften Krankentötungen bemängelt hatte, sich jedoch dann durch die Bekanntgabe des
Hitler’schen Willens zum Einlenken bewegen ließ.29 Daneben verfolgten „Experten“ des NS-Staats im
Laufe des Jahres 1940 auch sehr konkrete Pläne zu einem so genannten „Gesetz über die Leidensbeendigung bei unheilbar Kranken und Lebensunfähigen“, welches jedoch auf Veranlassung Hitlers und im
Sinne einer Geheimhaltung der Krankentötungen nie zur Verabschiedung und Veröffentlichung kam.
Legt man die bisherigen Rechtsvorstellungen und auch die formal während des „Dritten Reichs“ gültigen Strafgesetze zugrunde, so blieb die NS-„Euthanasie“ also bis zum Schluss illegal, selbst wenn
man die 1941 vorgenommene Änderung der „Mord“-Definition im Strafgesetzbuchparagrafen 211 in
Betracht zieht. Während an den Beratungen zum „Gesetz über die Leidensbeendigung bei unheilbar
Kranken und Lebensunfähigen“ auch einzelne Vertreter von Medizinalverwaltungen der Länder teilnahmen, wurden Vertreter der Bezirksverbände Hessen und Nassau (ebenso wie der übrigen preußischen Provinzialverbände), aber auch der Darmstädter Landesregierung hier nicht hinzugezogen.30
1939 stellten die Mordorganisatoren Überlegungen über die geeignetste Tötungsmethode an. Nachdem anfangs auch die Anwendung des Genickschusses erprobt worden war31 und Prof. Dr. Paul Nitsche vergeblich versucht hatte, die von ihm in Sachsen entwickelte medikamentöse Tötung („Luminalschema“) generell zu etablieren,32 fiel – wohl im letzten Quartal 1939 – die Entscheidung für die
Erstickung durch industriell produziertes Kohlenmonoxyd in eigens eingerichteten Gaskammern.33 Zur
Auswahl und Bestimmung der Mordopfer stellte die Mordorganisation „T4“ ab November 1939 ein
„Gutachter“gremium aus zum Teil renommierten Ärzten – vielfach Ordinarien der Psychiatrie, aber
auch ärztliche Direktoren von Heil- und Pflegeanstalten – zusammen, die fallbezogen über Leben oder
Tod der in Anstalten untergebrachten Menschen entscheiden sollten; nur einer der angesprochenen
Professoren, Prof. Dr. Ewald (Göttingen), ließ seine Ablehnung in Fachkreisen bekannt werden.34
29
BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 1, sog. „Euthanasieerlass“ Hitlers (rückdatiert 01.09.1939), hier als Kopie für Reichsjustizminister Gürtner mit dessen Eingangsnotiz (27.08.1940), als Faks. auch in Euthanasie (1991), S. 27 (Dok. I. 2); vgl. auch ebd.
(BA), Schreiben Bouhler an Gürtner (05.09.1940) („[...] erscheint mir der Erlaß besonderer, schriftlich zu fixierender Ausführungsbestimmungen nicht mehr erforderlich“), auch vorhanden als Nürnberger Dokument NO-834, hier zit. n. Friedlander,
Weg (1997), S. 206; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, QR, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard R. ggü. d. LG Ffm in Berlin
(05.11.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im EichbergProzess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 241–243 (= S. 47–51) (zur Wertung des „Euthanasie“erlasses als nicht gesetzliche Grundlage der „Euthanasie“aktion); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 241; Friedlander,
Weg (1997), S. 450; Walter, Psychiatrie (1996), S. 644 f.
30
NARA, T-1021, Roll 11, Frame 64–96, „T4“-Protokoll zur Diskussion über ein „Euthanasiegesetz“ (o. D. [wahrscheinlich
Herbst 1940]), Kopien auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1806) sowie in BA, R96 I/2, Bl. 126659–126690 (bei den erwähnten
Dezernenten handelt es sich um Prof. Dr. Walter Schultze für Bayern, Dr. Eugen Stähle für Württemberg u. Dr. Ludwig
Sprauer für Baden, siehe dazu auch unten in diesem Kap. IV. 2. a). – Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 248–251; Kaul,
Nazimordaktion (1973), S. 121 f.; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 241 f.; Aly, Fortschritt (1985), S. 15–17; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 294–298; Aly, Aktion (1989), S. 15 f.; ebd., S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 200; Friedlander, Weg (1997),
S. 254. – Siehe auch die Zeugenaussagen zur Genese des Gesetzes(entwurfs): HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–
364 bzw. Bl. 410–415, Protokolle d. Zeugenvernehmungen Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. bzw. 10.
Hv-Tag (11.03.1947 bzw. 14.03.1947), hier Bl. 338–340 u. Bl. 342 bzw. Bl. 411 f.; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, QR, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Irmgard R. ggü. d. LG Ffm in Berlin (05.11.1963), Kopie. – Zur Änderung von § 211 StGB vgl. Hoffmann, Verfolgung (2001), S. 230.
31
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gerhard Simon ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965),
Kopie.
32
Schröter, Heil- und Pflegeanstalt (1994). – Zur Entwicklung des „Luminalschemas“ siehe auch Kap. III. 3. c).
33
Zur Mordmethode siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 84 f., S. 102; Kogon/Langbein/Rückerl, Massentötungen (1983),
S. 52 f. – Verschiedene Autoren datieren die Entscheidung für das Kohlenmonoxyd bereits auf Ende 1939: Schmuhl,
Rassenhygiene (1987), S. 195; Friedlander, Weg (1997), S. 152 f.; auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 78, der darlegt, die
so genannte „Probevergasung“ in Brandenburg Mitte Januar 1940 könne nicht mehr der Entscheidung über die Mordmethode
gedient haben, sondern lediglich noch der Einweisung der Mordärzte; vgl. ebd., S. 159; zur sog. „Probevergasung“ siehe
auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 109–112. – Dagegen nimmt Walter, Psychiatrie (1996), S. 664 f., Mitte Januar 1940 als
Zeitpunkt der Entscheidung für das Gas an.
34
Zu den mitwirkenden Professoren zählten u. a. Prof. Dr. Werner Heyde (Würzburg), Prof. Dr. Berthold Kihn (Jena), Prof.
Dr. Friedrich Mauz (Königsberg), Prof. Dr. Friedrich Panse (Bonn), Prof. Dr. Kurt Pohlisch (Bonn) sowie Prof. Dr. Carl
372
IV. Zeit der Gasmorde
Nach der Entscheidung Hitlers, die Krankenmordaktion bei der „Kanzlei des Führers“ (KdF35) anzusiedeln, begann dort der Aufbau der heute „T4“ genannten Sonderorganisation. Als eigenständiges
institutionelles Gebilde musste „T4“ sich erst entwickeln, nachdem die Mordaktion aus verwaltungstechnischer Sicht zunächst eher wie ein zusätzliches Sachgebiet, ein Aufgabenbereich der Kanzlei des
Führers erschien. Auf die Dauer aber waren nur einzelne der zentralen Figuren auf der „T4“-Leitungsebene zugleich führende Angestellte der Kanzlei des Führers;36 diese benutzten – dieser Doppelfunktion
entsprechend – Aliasnamen,37 sofern sie für „T4“ auftraten. Dagegen wurden die neuen, gezielt für
„T4“ angeworbenen Mitarbeiter formal nicht zugleich KdF-Angestellte und personifizierten somit auch
die institutionelle Verselbstständigung der Organisation.38 Eine gewisse Abtrennung ergab sich auch
durch die räumlich separate Unterbringung der Krankenmordorganisation in einem eigenen Gebäude
außerhalb der Kanzlei des Führers. Anstelle des ursprünglichen Quartiers im „Columbushaus“ am
Potsdamer Platz in Berlin wurde ab Frühjahr 1940 das Gebäude in der Tiergartenstraße 4 zum Sitz. Die
heute (mit Bezug auf diese Adresse) angewandte Bezeichnung „T4“ für das Konglomerat, das den
Kranken- und Behindertenmord organisierte, ist neueren Datums und war in den Jahren 1940/41 noch
nicht geläufig, auch nicht etwa als Tarnbezeichnung, wie mitunter angenommen wird.39 Seltene Einzelbelege für den Ausdruck „T4“ während der NS-Zeit datieren von Ende 1943, bezeichnen jedoch nicht
die Mordaktion oder -organisation insgesamt, sondern lediglich deren Gebäude in der Tiergartenstraße
und den dort noch vorübergehend verbliebenen Teil der Dienststelle (während der andere Teil aus
Gründen des Kriegsverlaufs bereits nach Hartheim bei Linz im Reichsgau Oberdonau verlegt worden
war).40 Nachdem die Bezeichnung „T4“ in den „Euthanasie“-Prozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit nirgends Erwähnung gefunden hatte, gewann sie erst im Rahmen der zweiten Prozesswelle Anfang
der 1960er Jahre ihre heutige Bedeutung als Sigle der Mordorganisation.41
Zum Cheforganisator der „Euthanasie“-Morde wurde für die Kanzlei des Führers in der Praxis nicht
deren Leiter Philipp Bouhler, sondern der Abteilungsleiter Viktor Brack. Der während der zwanziger
Jahre in München lebende Brack hatte sich vom Chauffeur Himmlers zum Adjutanten Bouhlers emSchneider (Heidelberg): BA, R96 I/1, Bl. 127892 f., „T4“, „Aufstellung der bisher jemals zugelassenen Gutachter“ (o. D.),
Kopie. – Zu Ewalds Ablehnung, der keinerlei negative Sanktionen folgten: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 223–226; siehe auch
Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Niederschrift Prof. Ewald über die Besprechung v. 15.08.1940 über
die Beteiligung an „Euthanasie“, hier n. d. Abdr. b. Aly, Aktion (1989), S. 60–64; Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 100–
105. – Laut Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 57, sollen die Gutachter 1939 sogar bereits „[u]m den 10. August herum“ erstmals getagt haben. – Zur „Begutachtung“ der Meldebogen siehe auch weiter unten in diesem Kap. IV. 2. a).
35
Nicht zu verwechseln mit der ebenso abgekürzten NS-Organisation „Kraft durch Freude“, die Urlaubsreisen organisierte.
36
Friedlander, Weg (1997), S. 309, nennt mit Hinweis auf BA, BDC-Unterlagen, sowie auf Nachkriegsprozessunterlagen
5 KdF-Mitarbeiter, die zugleich – quasi nebenamtlich – bei „T4“ mitwirkten: Viktor Brack, Werner Blankenburg, Dr. Hans
Hefelmann, Richard von Hegener und Reinhold Vorberg.
37
Zu den Decknamen siehe u. a. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 168 f.; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 193.
38
So bestätigte der stv. (dann amtierende) „T4“-Personalchef Arnold Oels, dass hinsichtlich des Personals der Krankenmordorganisation zwei Personalverwaltungen nebeneinander existierten: die herkömmliche bei der Kanzlei des Führers für die
Leitungskräfte und die der sog. „Stiftung“ für die zusätzlichen, gewöhnlichen Angestellten: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, O,
o. Bl.-Nr., Aussage Oels in Hannover (29.08.1962), Kopie d. Durchschr. – Zur „Stiftung“ („Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“) siehe unten.
39
Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 244, nennt „‚Aktion T 4‘ [...] die damals gebräuchliche inoffizielle Tarnbezeichnung“;
von den Begriffen „Organisation T4“ u. „Zentraldienststelle T4“ als „Tarnbezeichnungen“ ist auch die Rede bei Aly, Medizin
(1985), S. 22, sowie bei dems., Aktion (1989), S. 12; siehe auch ebd., S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 199; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 62, meint fälschlich, seit dem Umzug in die Tiergartenstraße habe man „die Aktion ‚T4‘“ genannt; ebenso
Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 194; auch Friedlander, Weg (1997), S. 126, schreibt: „Diese Adresse gab dem Euthanasieprogramm bald den Namen Aktion T4 oder einfach T4.“ – Dagegen differenzieren Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 49, zutreffend: „Der Name ‚Organisation T4‘ [...] ist die heute gebräuchlichste Bezeichnung
für die Verwaltungsorganisation im Hauptamt II der Kanzlei des Führers.“
40
BA, R96 I/15–17 (ehem. BA-MA), zwei Schreiben von Prof. Dr. Nitsche, Weißenbach, an Dr. F. Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad Schwalbach (29.11.1943) bzw. an Dietrich Allers (02.12.1943), beide hier n. d. Abdr. b. Mennecke
(1988), S. 946 f. (Dok. 250), hier S. 946, bzw. S. 948–950 (Dok. 251), hier S. 949 (Nitsche über die Bombenschäden an der
„T4“ und die daher anstehende Verlegung der „T4“, d. h. der bis dahin in der Berliner Tiergartenstraße verbliebenen Abteilungen, nach Steineck bei Bad Schönfließ/Neumark [zw. Schwedt u. Landsberg/W.). – Zum vorausgehenden Teilumzug nach
Hartheim siehe auch NARA, T-1021, Roll 10, Frame 979–983, [T4,] „Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und
für die Anstalt ‚C‘“ (o. D., gültig ab 08.08.1943), als Kopie auch in BA, R96 I/1, Bl. 126498–126502, sowie in BA, All. Proz.
7/110 (FC 1805) Frame 979–983.
41
Siehe dazu die diversen Unterlagen in HStA Wi, Abt. 461 (Staatsanwaltschaft b. d. LG Ffm) u. Abt. 631a (Generalstaatsanwalt Ffm).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
373
porgearbeitet und leitete seit 1936 das für Partei- und Staatsangelegenheiten zuständige Hauptamt II
der KdF.42
Obwohl die bei den Krankenmorden federführende KdF fraglos eine Parteidienststelle war, so ist angesichts der vielfältigen Verschränkungen von NSDAP und Staat im „Dritten Reich“ doch durchaus
Alys Charakterisierung zutreffend, bei „T4“ habe es sich um ein „Konglomerat staatlicher und quasistaatlicher Institutionen“ gehandelt.43 Rein formal aber kam die staatliche Beteiligung durch die umfassende Mitwirkung des Reichsministeriums des Innern an der Organisierung der Mordaktion zum Ausdruck. In den Jahren 1939 bis 1941 fungierte das Ministerium quasi als „Hilfsbehörde [...] der [...]
Kanzlei des Führers“.44
Eine zentrale Rolle übernahm hierbei Ministerialrat Dr. Herbert Linden,45 der innerhalb der Gesundheitsabteilung des Staatssekretärs Conti zunächst das Sachgebiet „Heil- und Pflegeanstalten“ bearbeitete, dann zum Leiter der Unterabteilung „Erb- und Rassenpflege“ aufrückte und – anders als das Gros
der Belegschaft des Ministeriums – von Anfang an in die Mordpläne eingeweiht war.46 Linden unterstützte die „T4“-Organisatoren bei der Anwerbung geeigneten Personals.47 Entscheidend für die Einleitung der Mordaktion waren die ab Oktober 1939 versandten, von Linden vorbereiteten und von Conti
unterzeichneten Erlasse des RMdI an die Anstalten im Deutschen Reich, in denen die jeweiligen Leiter
zur Ausfüllung von Meldebogen für die jeweiligen Patientinnen und Patienten aufgefordert wurden.48
Linden empfing in Berlin auch Menschen, die gegen die NS-„Euthanasie“-Verbrechen protestierten. In
diesem Zusammenhang suchte ihn unter anderen eine Wiener Krankenschwester auf, die ihn als „kleine[n] unscheinbare[n] Mann“ beschrieb, der ihr zwar „[u]ngeheuer liebenswürdig“ begegnet sei, der
jedoch alle Einwände gegen die Krankentötungen abprallen ließ: „Aber es ist doch nicht schade um sie,
lassen Sie doch die Leute sterben. Die Angehörigen haben in zwei Wochen alles vergessen und die
Kranken haben ja nichts mehr vom Leben.“49 Friedlander zählt Linden zutreffend „zum inneren Kreis
der Organisatoren der Morde“ und führt weiter aus: „Seine Persönlichkeit und seine ideologische
Überzeugung entsprachen derjenigen von Männern wie Brack. Linden hatte die militärischen Tugenden verinnerlicht, an denen sich die jungen Nationalsozialisten orientierten, die dem Tod ins Gesicht
lachten, wenn es darum ging, die Welt zu erobern.“50 Auch an verschiedenen „T4“-Sitzungen nahm
Linden teil,51 und selbst auf der persönlichen Ebene integrierte Linden sich in die „T4“-Strukturen,
beispielsweise indem er gemeinsam mit anderen Mitarbeitern der Mordorganisation Urlaub im „T4“eigenen Erholungsheim am Attersee im Gau Oberdonau machte.52
42
Zu Viktor Brack (1904–1948) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Klee, Dokumente (1985), S. 20; Aly, Aktion
(1989), S. 15; Noakes, Bouhler (1986), S. 222 f.; Wistrich, Reich (1983), S. 30. – Zur Dominanz Bracks bei „T4“ vgl. u. a.
die – wenn auch interessegeleitet überzeichnende – Aussage Heydes: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027,
Protokoll d. Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1019 (19.02.1947); siehe
dazu auch eine Vielzahl weiterer Aussagen in HStA Wi, Abt. 631a (Generalstaatsanwalt Ffm); siehe auch das aufgrund dieser
Quellen erstellte Organigramm bei Friedlander, Weg (1997), S. 129, dieses insb. mit Hinweis auf GenStAnw Ffm, Anklageschrift gegen Vorberg u. Allers, Js 20/61 (GStA) (15.02.1966), S. 36–46.
43
Aly, Medizin (1985), S. 22; ders., Aktion (1989), S. 12.
44
Aly, Fortschritt (1985), S. 16 f.
45
Zu Dr. med. Herbert Linden (1899–1945) siehe biogr. Anhang.
46
BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 28727/47390, S. 2411 f., Zeugenaussage Prof. Dr. Karl Brandt im Nürnberger
Ärzteprozess (04.02.1947); Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 242; Friedlander, Weg (1997), S. 121 u. S. 499 (Anm. 18), zur
Unterabteilung mit Hinweis auf BA, R1501/alt R18/3672.
47
Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 57.
48
Siehe dazu unten in diesem Kap. IV. 2. a); Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 198; vgl. auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 63 f.
49
Zeugenaussage der österreichischen Krankenschwester Anny Wödl (01.03.1946) im Verfahren gegen den Arzt Dr. Ernst
Illing, aus Unterlagen d. StAnw Bonn zit. b. Aly, Aktion (1989), S. 69–72, hier S. 71.
50
Friedlander, Weg (1997), S. 324 f. u. S. 557 (Anm. 45–47), u. a. mit Hinweis auf NARA, Record Group 238, MicrofilmPublication M-1019, Roll 8, Vernehmung Viktor Brack (04.09.1946), u. auf BA, BDC-Unterlagen zu Linden, Herbert, Dr.
51
So z. B. an einer Sitzung im Herbst 1940, als die Auswahl der Anstalt Hadamar als Mordanstalt und der „nassauischen“
Zwischenanstalten besprochen wurde: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 20 f., Protokoll d. Vernehmung Dr. Friedrich
Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946), hier Bl. 20. – Zu der Besprechung siehe Kap. IV. 3.
a). – Zur Teilnahme Lindens an Sitzungen siehe auch BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, Film Nr. 28726/47389, S. 1875 f.,
Zeugenaussage Dr. Friedrich Mennecke im Nürnberger Ärzteprozess (17.01.1947).
52
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, O, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Arnold Oels ggü. d. LG Limburg in Hannover (21.06.1961),
Kopie.
374
IV. Zeit der Gasmorde
Die Organisation „T4“ verleugnete ihre Herkunft aus einem Verwaltungsapparat, der KdF, nicht und
gab sich selbst auch eine Struktur mit Abteilungen, die im Kleinen einem Behörden- (oder auch Firmen-) Aufbau entsprach.53 Gleichwohl war die Binnengliederung gerade zu Anfang offenbar nicht sehr
fest gefügt; mehr als eine formale Struktur zählten Persönlichkeit und Initiative der Akteure. Demzufolge scheint die „Geschäftsverteilung“ von „T4“ in der Zeit der Gasmorde 1940/41 hauptsächlich auf
einem konspirativen Konsens der Organisatoren – von Friedlander als „T4-Manager“ bezeichnet –
beruht zu haben, die „insofern ‚Pioniere‘ [waren,] als sie die erste technische Mordaktion der Geschichte durchführten.“54 Friedlander weist darauf hin, dass – abgesehen von den Ärzten – die „Leitung
von T4 in den Händen einer außerordentlich kleinen Zahl von Männern“ lag, die bei Beginn der Morde
allesamt zwischen dreißig und vierzig Jahren alt waren und die sich überwiegend bereits im Alter von
Anfang bis Mitte zwanzig vor der „Machtübernahme“ der NS-Bewegung angeschlossen hatten – sie
zählten zu den „überzeugten Nationalsozialisten, und ihr Glaube an rassische Reinheit erleichterte es
ihnen zweifellos, ihre Aufgabe bei T4 zu erfüllen.“55 In ihre Stellungen bei der Mordorganisation waren
sie entweder über familiäre Bindungen, über Freundschaften oder Empfehlungen gekommen.56
Zusätzlich zur tatsächlichen internen Abteilungsstruktur baute „T4“ nach außen hin die Fiktion von
vier Organisationen auf, die (gegenüber nicht Eingeweihten) der Tarnung der Mordorganisation dienen
sollten. In zunehmendem Maße gewann diese fiktive Struktur jedoch an Realität, je häufiger die entsprechenden Tarnbezeichnungen auch im Innenverhältnis verwandt wurden. So war die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, die unter anderem als Arbeitgeber für das T4-Personal auftrat, zumindest teilweise eine Aliasbezeichnung der „T4“-Personalabteilung, doch auch für das bei „T4“ angestellte Personal selbst verschränkten sich reale und fiktive Struktur, sodass die Betreffenden meist
davon sprachen, sie seien bei der „Stiftung“ angestellt. Gleichwohl war die „Gemeinnützige Stiftung
für Anstaltspflege“ mit der „T4“-Personalabteilung nicht deckungsgleich: Der Tarnname wurde beispielsweise auch dann verwendet, wenn Liegenschaften – etwa die künftigen Mordanstalten – anzumieten waren. Als eine zweite Tarnorganisation fungierte die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und
Pflegeanstalten“ („RAG“), die insbesondere dann in Erscheinung trat, wenn es um die Auswahl der
Mordopfer im Rahmen der Meldebogenerfassung ging. Sie wurde repräsentiert vom jeweiligen ärztlichen Leiter der „T4“, anfangs von dem Würzburger Ordinarius Prof. Dr. Werner Heyde, ab 1941 vom
ehemaligen Direktor der Anstalt Sonnenstein (Pirna), Prof. Dr. Paul Nitsche. Das Ressort der „RAG“
entsprach teilweise dem Tätigkeitsfeld der „ärztlichen Abteilung“ von „T4“, deckte aber auch die Aufgaben der Büroabteilung mit ab. Die dritte „T4“-Tarnorganisation war die „Gemeinnützige KrankenTransport-G. m. b. H.“ („Gekrat“), die als Trägerin der Massenverlegung der Patienten diente und
unter deren Namen sich weitgehend die „T4“-Transportabteilung verbarg. Schließlich gründete „T4“
mit zeitlicher Verzögerung im April 1941 als vierte Tarnorganisation die „Zentralverrechnungsstelle
Heil- und Pflegeanstalten“ („ZVSt“ oder „Zentralverrechnungsstelle“), welche insbesondere bei der
Abrechnung von Pflegekosten in Erscheinung trat.57
53
Zu einer Gliederung mit 6 Abteilungen u. Abteilungsleitern siehe z. B. ebd., Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm
an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966) [im Folgenden: „Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a.
a. O.“], hier S. 11 f. (Med. Abt.: Prof. Dr. Werner Heyde, Prof. Dr. Paul Nitsche; Büroabt.: Dr. Gerhard Bohne, ab 1940
Friedrich Tillmann; Hauptwirtschaftsabt.: Willy Schneider, ab 1941 Fritz Schmiedel, ab 1942 Friedrich Lorent; Transportabt.:
Reinhold Vorberg, Stellv. Gerhard Siebert; Personalabt.: Friedrich Haus, Stellv. Arnold Oels; Inspektionsabt.: Adolf Kaufmann); entsprechend (mit zusätzlichem Hinweis auf die „T4“-Geschäftsführung insg. durch Dr. Gerhard Bohne, ab 1940
Dietrich Allers) auch die Zusammenfassung bei Friedlander, Weg (1997), S. 129, mit Hinweis auf GenStAnw Ffm, Anklageschrift gegen Vorberg u. Allers, Js 20/61 (GStA) (15.02.1966), S. 36–46; zu einer anderen Gliederung mit 3 Abteilungen
kommt Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 118 f.
54
Friedlander, Weg (1997), S. 309.
55
Ebd., S. 309–311 (Zitat „Leitung von [...]“ auf S. 309 f.), S. 320 (Zitat „überzeugten Nationalsozialisten [...]“). – Friedlander
kommt zu einer Zahl von 16 Personen.
56
Ebd., S. 313, wird detailliert aufgeführt, auf welche Weise die „T4-Manager“ angeworben wurden, wer mit wem verwandt
oder schon vorher befreundet war.
57
Zu den 4 Tarnorganisationen insgesamt und im Einzelnen: Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 12 f.;
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 168 f.; Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 194 f.; Aly, Aktion (1989), S. 12 f.; Friedlander,
Weg (1997), S. 133, S. 135. – Speziell zur Leitung der „RAG“ u. der ärztlichen Abt. von „T4“ siehe auch HStA Wi, Abt. 461
Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1017
(17.02.1947), Bl. 1017 f., Bl. 1020, Bl. 1026 (19.02.1947); die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, 42. Jg. (1940),
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
375
Bereits von ihrer Konzeption her war die Organisation „T4“ eine Zentralstelle, die nicht alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Kranken- und Behindertenmord allein mit ihrem Personal selbst
erledigen konnte, sondern die in vielfältiger Weise auf Beiträge von Kooperationspartnern in den jeweiligen Regionen angewiesen war. Eine wesentliche Aufgabe, die durch eine Riege von freien Mitarbeitern der „T4“ erledigt wurde, zählte die Tätigkeit der so genannten „Gutachter“, durchweg Ärzte,
die anhand von Angaben in Meldebogen im Einzelfall entschieden, ob die jeweiligen Insassen von
Heil- und Pflegeanstalten in den Gaskammern der „T4“-Anstalten getötet werden sollten oder nicht.
Bei der Anwerbung dieser „Gutachter“ stützten „T4“ und deren ärztliche Abteilung sich – ebenso wie
bei der sonstigen Personalbeschaffung – weitgehend auf Empfehlungen und persönliche Bekanntschaft.
So ist es zu erklären, dass der Direktor der „nassauischen“ Landesheilanstalt Eichberg, Dr. Friedrich
Mennecke,58 bereits Ende 1939 von „T4“ als „Gutachter“ ausgewählt und kurz darauf u. k. gestellt
wurde. Zu Anfang desselben Jahres nämlich dürfte Mennecke zwei wenig später bei „T4“ Mitwirkenden – dem erwähnten Ministerialrat Dr. med. Herbert Linden (Reichsministerium des Innern) sowie
Prof. Dr. med. Carl Schneider (Universität Heidelberg) – aufgefallen sein, als diese im Februar zur
Unterstützung des Landeshauptmanns Traupel die Einrichtungen im Gebiet des Regierungsbezirks
Wiesbaden einer Inspektion unterzogen.59 Mennecke bekannte sich selbst 1946 noch dazu, dass seiner
Auffassung nach unter Umständen „geisteskranke Personen wohler dran sind, wenn sie tot sind als
wenn sie dieses Leben, was doch eigentlich kein Leben mehr ist, weiterführen.“60 Insofern dürfte er,
zumal als SS-Mitglied, als geeigneter Kandidat für die Krankenmordorganisation gegolten haben.
Kurz vor Kriegsbeginn, Ende August 1939, war Mennecke noch zur Wehrmacht eingezogen und im
Saargebiet am Westwall stationiert worden. Seine Vertretung als Leiter der Anstalt Eichberg übernahm
bis Ende Januar 1940 der in Wiesbaden lebende pensionierte ehemalige Direktor der Landesheilanstalt
Hadamar, der 63-jährige Dr. Otto Henkel.61 Im November und Dezember 1939 entspannen sich dann
umfassende Bemühungen zur U.-k.-Stellung Menneckes, in die sowohl das IG-Farben-Werk FrankfurtHöchst, der Höhere SS- und Polizeiführer des Oberabschnitts Rhein sowie die Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes und Landeshauptmann Traupel eingebunden waren. Auf den ersten Blick
schien es sich um eine durch Dr. Julius Weber von den Höchster Farbwerken gestartete Initiative zur
U.-k.-Stellung Menneckes zwecks Fortsetzung von Medikamentenversuchen zu handeln, welche Mennecke im Sommer 1939 mit einem Arsenbenzolpräparat des Höchster IG-Farben-Werkes an Patienten
der Landesheilanstalt Eichberg begonnen habe.62 Doch es ist unverkennbar, dass die eigentliche InitiaNr. 6, S. 58, vermeldete im Februar 1940 die Ernennung Heydes zum Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde in
Würzburg und ergänzte, Heyde sei „seit einer Reihe von Jahren als SS.-Hauptsturmführer mit der Durchführung organisatorischer und anderer allgemeinmedizinischer Aufgaben bei zentralen Stellen in Berlin beauftragt.“ – Die Ablösung Heydes durch
Nitsche wurde von KdF-Abteilungsleiter Hefelmann darauf zurückgeführt, „daß Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, die Ablösung Heydes verlangt habe, da Heyde homosexuell sei“: HStA Wi, Aussage Dr. Hans Hefelmann (06.–
15.09.1960), zit. n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 178. – Zur „Zentralverrechnungsstelle“ siehe auch HStA Wi, Abt.
631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), hier S. 1–3, Kopie; Aly, Fortschritt (1985), S. 26 f.; Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201; siehe auch Kap. V. 3. b).
58
Zu Dr. med. Friedrich (Fritz) Mennecke (1904–1947) siehe biogr. Anhang; siehe auch Mennecke (1988); siehe auch Mennecke (1989); siehe auch Chroust, Ärzteschaft (1991).
59
Zu diesem Visitationsauftrag im Feb. 1939, der Vorwürfe gegen den BV Nassau wegen katastrophaler Verhältnisse in
seinen Anstalten entkräften sollte, siehe ausführlich Kap. III. 3. b). – Mennecke hatte auch während seine Einberufung zur
Wehrmacht mit Schneider und dessen Heidelberger Klinik kooperiert: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, Fritz Mennecke, „im
Felde“ [= Westwall, Saargebiet], an Eva Mennecke, Eichberg (12.–13.01.1940), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 123–
129 (Dok. 41), hier S. 128 (13.01.1940); Sandner, Eichberg (1999), S. 186. – Zur Bedeutung persönlicher Kontakte und
Bekanntschaften bei der „Gutachter“-Anwerbung siehe Friedlander, Weg (1997), S. 139, S. 505 (Anm. 100 f.), dort auch ein
Hinweis auf die früheren Kontakte zwischen Dr. Herbert Linden und Dr. Hermann Pfannmüller, die der Anwerbung des
Letzteren als „Gutachter“ vorausgingen.
60
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 2, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. HvTag (02.12.1946).
61
Zu Dr. med. Otto Henkel (1876–1956) siehe biogr. Anhang. – Zur Dauer von Menneckes Einberufung (26.08.1939–
29.01.1940) siehe HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12825, o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LHA Eichberg, gez. LOI W., an Reichsärztekammer, Ärztl. Bezirksvereinigung Wiesbaden (05.02.1940, ab: 06.02.1940). – Zur Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte
durch Mennecke am 30.01.1940 und zur Rückkehr Henkels in den Ruhestand am 31.01.1940 siehe LWV, Best. 100, Dez. 11,
Pers.-Akten Zug. 1981, Henkel, Otto, Dr., Bl. 42, Vm. d. BV Nassau, Abt. Ia (29.01.1940).
62
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, o. Bl.-Nr. (vor Bl. 155), IG-Farbenindustrie AG, Frankfurt a. M.-Höchst, an BV
Nassau (13.12.1939), hier als vom BV Nassau begl. Abschr. (15.12.1939), weitere Abschriften auch in ebd., Nr. 32061 Bd. 5,
Bl. 501 (Abschr. v. Abschr.), und in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652 (Abschr. Mennecke); zur vorausgehenden Korrespondenz
376
IV. Zeit der Gasmorde
tive für die U.-k.-Stellung bei der SS (im Auftrag von „T4“) und bei Landeshauptmann Traupel lag.
Den Beteiligten, auch Mennecke selbst, war von Anfang an klar, dass die Militärdienstbefreiung allein
seinen Einsatz für die Krankenmordaktion zum Ziel hatte, über die er bereits unterrichtet war. Die IG
Farben schaltete man lediglich ein, um die Erfolgsaussichten des Antrags zu erhöhen. An seinem
Wehrmachtseinsatzort erwähnte Mennecke seine künftigen „Sonderaufgaben“ gegenüber dem Divisionsarzt, der die Einschätzung abgab, „daß mit der Begründung seitens der I. G. der Antrag todsicher
genehmigt werden würde“, und mit einem Hauptmann an seinem Standort verständigte sich Mennecke
(im Hinblick auf die NS-„Euthanasie“-Pläne) darüber, dass „derartige Aktionen durchgeführt werden
sollten“ und dass „man auch schon an der Durchführung dieser Dinge“ sei.63 Der durch Landeshauptmann Traupel am 14. Dezember 1939 unterzeichnete Antrag an das zuständige Wehrbezirkskommando, den die von Landesrat Kranzbühler geführte Personalabteilung des Bezirksverbandes Nassau in
Wiesbaden vorbereitet hatte, belegt, dass die Verbandsspitze von Anfang an über den eigentlichen
Zweck der Befreiung Menneckes vom Militärdienst informiert war. Traupel führte im Antrag zwar
einerseits die unzureichende ärztliche Versorgung der Anstalt Eichberg und die Medikamentenversuche als Gründe an, ließ aber andererseits auch die „dringenden politischen Belange“ und damit den
eigentlichen Zweck des Antrags nicht unerwähnt, dass nämlich „Dr. Mennecke von dem Höheren SSund Polizeiführer Rhein (SS-Oberabschnitt Rhein) für staatspolitisch wichtige Belange, die die Erbbiologie betreffen [...,] benötigt wird“.64 Offensichtlich hatte „T4“ – wie in anderen Fällen auch – die SS
eingeschaltet, um die Befreiung Menneckes vom Militär in die Wege zu leiten; als „sehr wahrscheinlich“ bezeichnete Mennecke selbst später diesen Zusammenhang und bekundete die Annahme, „daß
das über die SS gegangen ist.“65
Wie den überlieferten Briefen Menneckes an seine Ehefrau zu entnehmen ist, war der Eichberger
Direktor dann jedoch ehrlich überrascht darüber, dass die Kanzlei des Führers im Januar 1940 nach
ihm fragte: „Was, – die ‚Kanzlei des Führers‘ hat telephonisch nach meiner Feldpost-Nr. gefragt? Das
finde ich tatsächlich etwas komisch. [...] Na, da bin ich ja gespannt, ob es sich wirklich wieder um eine
banale dienstliche Sache handelt – oder was das sonst zu bedeuten hat.“ Offenbar war ihm – trotz seiner grundsätzlichen Orientierung – der Zusammenhang zwischen der KdF und der Krankenmordaktion
bis dahin verborgen geblieben.66
Als Mennecke drei Tage später auf dem Eichberg eintraf und sich wie beauftragt telefonisch mit der
Kanzlei des Führers in Verbindung setzte, erhielt er eine Einladung zu einer Konferenz, die um den 8.
Februar 1940 in Berlin stattfand. Mennecke unterrichtete seinen Mentor, den Anstaltsdezernenten des
Bezirksverbandes Fritz Bernotat, der in diesen Wochen in Wiesbaden im Krankenhaus lag. Es war dies
ein Zeitpunkt, zu dem Bernotats Stand innerhalb des Bezirksverbandes gegenüber Landeshauptmann
Traupel, der gerade mit Hochdruck die Verlegung der Wiesbadener Verwaltung nach Kassel betrieb,
zwischen F. Mennecke u. d. IG Farbenindustrie (07./22.11./09./13.12.1939), als Abschr. vorhanden in HStA Wi, Abt. 461
Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 321–324, siehe den Abdr. b. Mennecke (1988), S. 70–74 (Dok. 27–30); Klee, Ärzte (1986), S. 194 u.
S. 327 (Anm. 23); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 44 f., Protokoll d. gemeinsamen Vernehmung von Dr.
Friedrich Mennecke u. Dr. Walter Schmidt als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946) (Mennecke gab an,
sich an derartige Versuche nicht erinnern zu können, wohingegen sein Stv. Dr. Walter Schmidt diese bestätigte); vgl. auch
ebd., Bd. 3, Bl. 320, Dr. med. et phil. Julius Weber, Farbwerke Höchst, Ffm-Höchst, an StAnw b. d. LG Ffm (10.12.1946);
vgl. auch ebd., Bl. 149, LHA Eichberg, Dir. Dr. Hinsen, an OStAnw Ffm (02.11.1946).
63
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, „im Felde“ [= Westwall, Saarland], an Eva Mennecke (16.–18.12.1939),
hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 85–98 (Dok. 37), hier S. 86 f. (16.12.1939). – Vgl. auch entsprechende Darstellung
zu der frühen Unterrichtung in Kap. III. 3. c).
64
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, o. Bl.-Nr. (vor Bl. 155), BV Nassau, Wiesbaden, Az. B (Ia) M. 10, i. V. gez. LH
Traupel, an Wehrbezirkskommando Wiesbaden, betr. „Antrag auf Sicherstellung des Ass. Arztes Dr. Mennecke“ (14.12.
1939), hier als Abschr., gesandt von BV Nassau, Wiesbaden, gez. LH Traupel, an Dr. Mennecke, Feldpost-Nr. 09656
(14.12.1939), weitere Abschr. von Mennecke auch in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 77 f.
(Dok. 32); siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 185. – Mit einer ähnlichen Formulierung umschrieb Mennecke später
seine Mitwirkung an der Krankenmordaktion, er sei „zur Erfüllung staatspolitisch wichtiger Sonderaufgaben herangezogen
worden“: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 16, Fritz Mennecke, Feldpost-Nr. 12928A [Kanalküste], an Werner Blankenburg [„T4“] (31.03.1943), Entwurf, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 546 f. (Dok. 171)
65
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 55, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 4. HvTag (06.12.1946).
66
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, „im Felde“ [= Westwall, Saargebiet], an Eva Mennecke, Eichberg (25.–
26.01.1940), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 149–152 (Dok. 46), hier S. 151 f. (26.01.1940).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
377
äußerst geschwächt war; möglicherweise hatte Traupel sogar darauf verzichtet, Bernotat von der geplanten Verwendung Menneckes zu informieren. Im Einvernehmen mit Bernotat nahm Mennecke an
der Berliner Sitzung in den „T4“-Räumlichkeiten im Columbushaus teil. Sie fand statt unter Leitung
von Brack, welcher Mennecke und einige von dessen ebenfalls teilnehmenden Arztkollegen als „Untergutachter“ für „T4“ anwarb. Diese Konferenz im Februar war bereits die zweite Anwerbungsaktion
von „T4“ zur Gewinnung von „Gutachtern“ – nach Einschätzung Walters nahm man diese zusätzliche
Akquise vor, „um Stockungen [...] zu vermeiden“. Laut Mennecke erhob keiner der bereits im Vorfeld
sorgfältig ausgewählten Anwesenden Bedenken gegen eine Mitwirkung, nachdem mitgeteilt worden
war, dass Hitler das Vorgehen und die Tötungen genehmigt habe. Auch er, Mennecke, selbst habe
nicht gezweifelt: „[...] Bedenken bezw. Hemmungen [...] hatte ich nicht, nachdem ich in Berlin ja mit
vollen Segeln gehört hatte [...], dass die Sache in Ordnung sei. [...] Und diese Gesichtspunkte gaben
mir innere Befriedigung und innere Beruhigung.“ Nach Wiesbaden zurückgekehrt, unterrichtete Mennecke unverzüglich Bernotat. Dieser habe spontan die Befürchtung geäußert: „Wir werden da die Patienten in den Anstalten los“ – ein Gesichtspunkt, der ihm trotz all seiner Kranken- und Behindertenfeindlichkeit nicht nur positiv erschien, da doch die Zahl der Patienten auch die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit einer Anstalt (und letztlich auch die Bedeutung des von Bernotat geführten Anstaltswesens des Bezirksverbandes) bedingte. Mennecke will Bernotat beruhigt haben, „dass so schnell
sicherlich nicht die Anstalt leer werden würde“.67
Nach seiner Befreiung vom Militärdienst konnte Mennecke auch seinen Dienst in der Landesheilanstalt Eichberg wieder ausüben. Nebenamtlich wurde er für „T4“ tätig, größtenteils am heimischen
Schreibtisch als „Begutachter“ von Meldebogen, von Zeit zu Zeit aber auch bei auswärtigen „Begutachtungen“, wozu er andere Anstalten bereiste.68 Als im Mai 1940 angesichts des Frankreichfeldzugs
sämtliche U.-k.-Stellungen auf den Prüfstand gestellt oder aufgehoben wurden, drohte auch Mennecke
die erneute Einberufung. Der Bezirksverband erwog, Dr. Henkel abermals als Ersatz zu reaktivieren.69
Die „Adjutantur der Wehrmacht beim Führer und Reichskanzler[,] Führerhauptquartier“, genehmigte
dann aber Menneckes erneute U.-k.-Stellung „für eine Sonderverwendung bis auf weiteres“.70
Die Tätigkeit Menneckes für „T4“ blieb den Verantwortlichen in den Verwaltungen im Wiesbadener
Bezirk (auch außerhalb des Bezirksverbandes Nassau) keinesfalls verborgen. Sowohl der oberste Medizinalbeamte beim Wiesbadener Regierungspräsidenten als auch der Oberstaatsanwalt bei dem Landgericht Wiesbaden wussten beispielsweise zumindest in Grundzügen von Menneckes Tätigkeit „im
Auftrage der zuständigen Reichsstelle“ und hielten ihn für einen der Ärzte, „deren Bereitschaft man
sich versichert hat“. Diese Einschätzung beruhte nicht zuletzt auf den ihm zugeschriebenen Propa67
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 4–8, S. 10, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess,
1. Hv-Tag (02.12.1946) (dort auf S. 10 die Zitate; danach nahmen an der Berliner Sitzung ebenfalls teil als Ärzte Prof. Dr.
Paul Nitsche/ehem. Sonnenstein, Dr. Steinmeyer/Niedermarsberg, Dr. Valentin Faltlhauser/Kaufbeuren, möglicherweise auch
Dr. Hermann Pfannmüller/Eglfing u. Prof. Dr. Max de Crinis/Berlin, außerdem von der KdF- bzw. „T4“-Verwaltung Dr. Hans
Hefelmann u. Dr. Gerhard Bohne); ebd., Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an
Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 140 (dort auch Hinweis auf Bernotats „Befürchtung“);
vgl. auch ebd., Bd. 2, Bl. 31–33, Dr. Friedrich Mennecke, Text „Mein Verhältnis zu Bernotat“, hier Bl. 32, Anlage zur Aussage Mennecke als Beschuldigter b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (02.–13.05.1946) (dieser Text enthält allerdings unrichtige Angaben, die Mennecke später nicht aufrechterhielt); HStA Wi, Abt. 631a, GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi,
Abt. 631a Nr. 1611–1733], „Heidelberger Dokumente“, hier Bl. 127890 f., chronologische u. systematische „Gutachterliste“,
hier nach dem Faks. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 228 f. (danach wurde Mennecke – gemeinsam mit den Ärzten Dr. Kaldewey, Dr. Rodenberg, Dr. Schreck, Dr. Steinmeyer u. Prof. Dr. Nitsche ab 28.02.1940 als „Gutachter“ geführt, möglicherweise nach dem Datum der ersten „Begutachtungen“ in der Provinzialheilanstalt Bedburg-Hau). – Zur Situation innerhalb des
BV Nassau zu diesem Zeitpunkt und zu den Traupel’schen Fusionsbestrebungen siehe Kap. IV. 1. a). – Walter, Psychiatrie (1996), S. 671; zur Anwerbung Menneckes auch Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 70.
68
Siehe dazu unten in diesem Kap. IV. 2. a).
69
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 45, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 3. HvTag (05.12.1946); vgl. auch ebd., Bd. 12, Bl. 11 (Abschr.), sowie HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg,
an Dr. Walter Schmidt (29.06.1940), Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 158–160 (Dok. 51), hier S. 159; zur geplanten zweiten Reaktivierung Henkels siehe LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Henkel, Otto, Dr., Bl. 46, Vm./Vfg. d. BV
Nassau (21.05.1940) (Plan der Reaktivierung) bzw. Vm. d. BV Nassau (27.05.1940) (von Reaktivierung wird vorerst abgesehen wegen Ungewissheit, „ob Direktor Dr. Mennecke überhaupt einberufen wird“).
70
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, LHA Eichberg, Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, betr. „Uk.-Stellung Direktor Dr. Mennecke“
(31.05.1940), darin enthalten Abschr. d. Schreibens Wehrbezirkskommando Wiesbaden an Dr. Mennecke, Eichberg (29.05.
1940), alles hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 157 f. (Dok. 50) (Zitat auf S. 158); Sandner, Eichberg (1999), S. 186.
378
IV. Zeit der Gasmorde
gandaaktivitäten: Mennecke habe „auch Vorträge gehalten [...] in kleinstem Kreise, den man für aufnahmefähig hielt.“71
All seinen Äußerungen, insbesondere seiner umfangreichen Briefproduktion, ist zu entnehmen, „wie
sehr gerade“ Mennecke an den NS-„Euthanasie“-Verbrechen „mit Leib und Seele [...] mitgearbeitet“
hat.72 Zudem ist nicht zu verkennen, dass Mennecke die bevorzugte Stellung bei „T4“ auch dazu nutzte,
seine eigene Karriere zu fördern. Bereits wenige Wochen nach seiner Anwerbung als „T4“-„Gutachter“
wandte er sich an verschiedene Verantwortungsträger innerhalb der Krankenmordorganisation (Viktor
Brack von der KdF, den ärztlichen „T4“-Leiter Prof. Werner Heyde sowie schließlich Dr. Herbert
Linden vom Reichsinnenministerium), um mit deren Hilfe seine noch ausstehende Facharztanerkennung als Psychiater zu erlangen, ein Ansinnen, das Anfang 1941 schließlich von Erfolg gekrönt war.73
Parallel dazu bemühte er sich – 1941 ebenfalls erfolgreich – um seine (zivile) Beförderung zum Obermedizinalrat;74 1943 betrieb er mit Unterstützung der Kanzlei des Führers seinen (militärischen) Aufstieg zum Stabsarzt.75 Ausdrücklich leitete Mennecke die eigene Reputation aus seiner „wichtigen“
Mitarbeit bei der Krankenmordaktion ab; noch 1944 stellte er selbstgewiss heraus, „daß ich als einer
der ersten Anstaltsdirektoren ab Februar 1940 meine Mitarbeit in den Dienst der ‚Aktion‘ gestellt und
mit Eifer an den Zielen unserer Sonderaufgaben mitgewirkt habe.“76 Nicht unzutreffend sah das Landgericht Frankfurt als wichtige Beweggründe für Menneckes Mitwirkung an den Verbrechen der „T4“
seine „Eitelkeit, zum Kreis namhafter Männer zu gehören“, einen „[h]emmungslose[n] Ehrgeiz und
grenzenloses Geltungsbedürfnis“.77
Seit seiner Anwerbung war Mennecke über viele Monate des Jahres 1940 die einzige Person innerhalb des Bezirksverbandes Nassau, die in einem engen Kontakt zu „T4“ stand. Ohne seinen Stolz
darüber zu verhehlen, wies er darauf hin, dass dagegen Bernotat, da „es sich um rein aerztliche Aufgaben handelte“, zu diesem Zeitpunkt „noch nicht offiziell von Berlin aus in die Art der Arbeiten eingeweiht“ gewesen sei.78 Gerade da Bernotat zu diesem Zeitpunkt noch keinen Kontakt zu „T4“ hatte,
ist Friedlanders Hypothese, es sei „wahrscheinlich, daß [... Mennecke] von Bernotat empfohlen wur71
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. HvTag (13.03.1947), hier Bl. 375 (OStAnw Quambusch berichtet über eine Unterredung mit Ober-Reg.- u. -Med.-Rat Erich
Schrader); ähnlich auch bereits ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d.
OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946).
72
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 231 (= S. 27).
73
Mennecke (1988), S. 157 (Dok. 49), unvollendeter Briefentwurf Dr. Mennecke an Ministerialrat Dr. Linden, RMdI (o. D.
[nach 22.02.1940]); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld (zeitweise Bad Oeynhausen), an Eva
Mennecke (21.–24.02.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 176–183 (Dok. 63), hier S. 177 (21.02.1941). – Mennecke erwähnt eine diesbezügliche Unterredung mit Brack u. Heyde am 22.02.1940 in Essen sowie die erfolgte Facharztanerkennung ab 01.02.1941 aufgrund der Hilfe Heydes. – Siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 368 f.; Sandner, Eichberg (1999), S. 188.
74
Provinzialobermedizinalrat ab Juli 1941: BA, R96 I/1, Bl. 127954 f., Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an SA-Oberführer
Blankenburg, Berlin (11.02.1944), Kopie, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 962–964 (Dok. 259), hier S. 963; siehe auch
Sandner, Eichberg (1999), S. 188. – In HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans
Quambusch ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), gibt Quambusch die Annahme wieder, Mennecke sei
„[z]ur Belohnung für [...] seine Brauchbarkeit und seine Vorarbeiten [im Rahmen der Tötungsaktion, P. S.] [...] vorzeitig zum
Obermedizinalrat befördert worden, obwohl er keinerlei besondere Fähigkeiten als Psychiater besitze.“
75
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 16, Fritz Mennecke, Feldpost-Nr. 12928A [Kanalküste], an Werner Blankenburg [Kanzlei des Führers] (31.03.1943), Entwurf, hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 546 f. (Dok. 171); ebd., Kanzlei des Führers
der NSDAP, Berlin, „Bescheinigung zur Vorlage beim Truppenteil“ für Fritz Mennecke (07.04.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 546 (Dok. 178). – Werner Blankenburg, in der KdF Vertreter Bracks, unterstützte Menneckes Beförderungsantrag mit der Argumentation, dieser habe „in einem Sonderauftrag der Kanzlei des Führers kriegswichtige Arbeiten geleistet. [...] Dr. Mennecke ist dadurch gegen seinen Willen von der Ableistung des aktiven Wehrdienstes abgehalten worden.“
76
BA, R96 I/1, Bl. 127954 f., Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an SA-Oberführer Blankenburg, Berlin (11.02.1944), Kopie, hier
n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 962–964 (Dok. 259), hier S. 963.
77
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D.
[mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 247 (= S. 60 f.). – Mennecke war nach 1945 bemüht, die Behauptung
von Eitelkeit und Titelsucht zu entkräften: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 45, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als
Angeklagter im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946). – Friedlander, Weg (1997), S. 369, fasst Menneckes Motivation
als „eine Mischung aus Ideologie, Karrierismus und Habgier“ zusammen.
78
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Heft mit Aufzeichnungen von Fritz Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad
Schwalbach, über die Entwicklung auf dem Eichberg (15.10.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 917–938 (Dok.
246), hier S. 923, auszugsweise auch zit. in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d.
OStAnw b. d. LG Ffm zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 45.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
379
de“,79 kaum stichhaltig. Anders als bisher liefen mit der Bevorzugung Menneckes die Fäden der Information nicht mehr beim Anstaltsdezernenten zusammen. Es mag der Ausgangspunkt für das sich allmählich entwickelnde Konkurrenzverhältnis zwischen Mennecke und Bernotat gewesen sein, dass der
Anstaltsdezernent mit seinem ausgeprägtem Machtbewusstsein sich nun mitunter von seinem bisherigen Günstling über die Entwicklungen im Anstaltswesen auf Reichsebene unterrichten lassen musste.80
Diese für Bernotat unbefriedigende Situation hatte allerdings nur Bestand, bis der Anstaltsdezernent
selbst zum regionalen Ansprechpartner der „T4“ für den Bezirk Wiesbaden wurde.81 Nach seinem –
von Mennecke behaupteten – anfänglichen Zögern wegen der „Entleerung der Anstalten“82 erwies
Bernotat sich bald als „begeisterter Verfechter der Euthanasie“.83 Als das Gebiet des Bezirksverbandes
Nassau – mit einer Verzögerung von etwa acht bis zwölf Monaten84 gegenüber den ersten Regionen im
Deutschen Reich – ebenfalls in die Mordaktion der „T4“ einbezogen wurde, begann auch die Bernotat’sche Sonderrolle. Mennecke führte später aus: „Nun beteiligte sich auch L[andes-] R[at] Bernotat
aus seiner Sparte des Verwaltungsdienstes heraus – offiziell eingeweiht – an den Arbeiten der Berliner
Dienststelle, und zwar ‚mit vollen Segeln‘, d. h. er ging den Wünschen der Berliner Dienststelle in
allen Teilen sehr weitgehend an die Hand. Dies war gewiß – von B[er]l[i]n aus gesehen – anerkennenswert und wurde auch anerkannt.“85 Wie Mennecke bekundete, wurde sein eigenes „Zusammenwirken“ mit Bernotat „im Rahmen der Berliner Arbeiten [...] getragen von den Merkmalen SSkameradschaftlicher Verbundenheit“.86 Das hohe Maß an Schuld, das Bernotat für die umfassende
Einbeziehung des Bezirksverbandes Nassau und seiner Anstalten in die Krankenmordaktion trug, stellte das Landgericht Frankfurt 1947 in seinem Urteil im Hadamar-Prozess heraus.87
Für die Organisation „T4“, die die Tötungsaktion auftragsgemäß nicht öffentlich, sondern geheim
durchführen sollte, war es ein prinzipielles Dilemma, dass einerseits Mitwirkende in allen Regionen
erforderlich waren, dass sich damit zugleich aber auch die Zahl der Mitwisser ständig ausweitete, was
die Geheimhaltung in zunehmendem Maße in Frage stellte.88 Das Gebot der Geheimhaltung war „T4“intern durchaus nicht unumstritten. Nach Angaben des ärztlichen „T4“-Leiters Heyde wurde es „überhaupt [...] sehr bedauert, daß die Angelegenheit eben durch die Geheimhaltung so unendlich kompliziert geworden sei“.89 Zum Teil mussten die Organisatoren zu Hilfskonstruktionen greifen: Obwohl
doch hauptsächlich die eigene Bevölkerung über die Kranken- und Behindertentötungen im Unklaren
gelassen werden sollte, definierte das (mit der in Berlin entstehenden Mordzentrale zusammenarbeitende) Landesinnenministerium in Karlsruhe die Weitergabe von Kenntnissen über Patientenverlegungen in Baden in der Anfangszeit, Ende November 1939, als einen Verstoß gegen den „Landesverrat“Paragrafen 88 des Strafgesetzbuches – dieser aber hatte eigentlich die Aufgabe, „Staatsgeheimnisse“ zu
schützen, „deren Geheimhaltung vor einer ausländischen Regierung für das Wohl des Reichs, insbesondere im Interesse der Landesverteidigung, erforderlich ist.“90
79
Friedlander, Weg (1997), S. 368.
Zum Ausbruch des virulenten Konflikts zwischen Bernotat und Mennecke siehe Kap. V. 1. b).
81
Siehe zu dieser Funktion, die es für jedes Land und für jeden preußischen Provinzial- oder Bezirksverband gab, weiter unten
in diesem Kap. IV. 2. a).
82
Siehe oben.
83
Friedlander, Weg (1997), S. 101.
84
Die Meldebogenzusendung erfolgte z. B. 8 Monate später als in Württemberg, der Beginn der Gasmorde fand in Hadamar 12
Monate später statt als in Grafeneck/Württemberg: Siehe dazu u. zur Reihenfolge der Regionen unten in diesem Kap. IV. 2. a).
85
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Heft mit Aufzeichnungen von Fritz Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad
Schwalbach, über die Entwicklung auf dem Eichberg (15.10.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 917–938 (Dok.
246), hier S. 923 (Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung).
86
Ebd., hier S. 923, auch zit. in ebd. HStA, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d.
LG Ffm zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 46.
87
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [ca. 26.03.1947]), hier Bl. 1304 f. (= S. 30 f.); entsprechend bewertet auch Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 27: „Daß
gerade die nassauischen Anstalten so stark in das Euthanasie-Programm einbezogen waren, ist mit auf das besondere Engagement des Landesrates Bernotat zurückzuführen.“
88
Zum weitgehenden Scheitern der Geheimhaltung siehe Kap. IV. 3. c).
89
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8.
Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 337.
90
RGBl. I, Jg. 1934, Nr. 47 (30.04.1934), S. 341 – 348, „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts
und des Strafverfahrens“ (24.04.1934), hier Artikel III Abschnitt 1a (S. 342); MdI Baden, Karlsruhe, Erlass No
80
380
IV. Zeit der Gasmorde
Auf vielfältige Weise versuchten die Organisatoren, die wahren Absichten zu verschleiern, notorisch
sind auch die dabei angewandten Euphemismen.91 Intern beschrieb man die Morde (um nur einzelne
Beispiele herauszugreifen) als „die Aktion“,92 in der Kommunikation mit Dritten und unter einem anderen Blickwinkel auch als „planwirtschaftliche Maßnahmen“.93 Um die exakte Aufgabenbestimmung
etwa der Gasmordanstalten nicht offenbar werden zu lassen, sprach „T4“ statt von der Anstalt Hadamar
in einem Beschäftigungszeugnis von „unserer auswärtigen Dienststelle“ oder von der „Zweigstelle“,
jeweils ohne Ortsangabe.94 Dass die Taten mit „Euthanasie“ im herkömmlichen Verständnis und mit
einem guten Tod, wie die wörtliche Bedeutung nahe legte, nichts zu tun hatten, stellte bereits das
Landgericht Frankfurt in seinem Urteil im Eichberg-Prozess 1946 heraus;95 die intern benutzten Abkürzungen „Eu-Anstalt“ oder „E.-Anstalt“ hätten kaum einen größeren Verschleierungseffekt gehabt, wären sie öffentlich geworden.96
Betrachtet man im Einzelnen die in die Mordaktion Eingeweihten in den verschiedenen Regionen, so
zeigt sich, wie umfangreich die „geheime“ Aktion letztlich doch bekannt gemacht worden ist. Am
wenigsten verwundert dabei die Weitergabe von Interna an die NSDAP-Gauleiter. Es liegt nahe, dass
alle Gauleiter bereits in der Anfangsphase grundsätzliche Kenntnis von der „T4“-Aktion erhielten. Zu
allererst galt dies für jene 16 Gauleiter, die seit 1939 zugleich das Amt eines Reichsverteidigungskommissars innehatten: Die Reichsverteidigungskommissare nämlich gaben in den Jahren 1939 bis
1941 die Legitimation für sämtliche Krankenverlegungen ab, die „T4“ im Zusammenhang mit der
Mordaktion veranlasste.97
In den Fällen, in denen die Gauleiter zugleich als Behördenleiter (beispielsweise als Oberpräsidenten oder Leiter einer Landesregierung) fungierten, erreichten auch detailliertere Geheiminformationen sie spätestens dann, wenn das jeweilige Anstaltswesen in die Mordaktion einbezogen wurde.
Dies traf auch zu auf den Frankfurter Gauleiter Jakob Sprenger, der beispielsweise in seiner Eigenschaft als Leiter der Darmstädter Landesregierung vom dortigen Sachbearbeiter für das Medizinalwesen in Kenntnis gesetzt wurde, als die Ausfüllung von „T4“-Meldebogen im Land Hessen bevor87 431 9 (29.11.1939), Abdruck auch bei Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 218; vgl. auch Stöckle, Aktion (1996),
S. 21.
91
Zu den Tarnwörtern und Euphemismen im Zusammenhang mit den Krankenmorden siehe die Überblicksdarstellung:
Reiter, Geheimsprache (1995).
92
Vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 219.
93
Zu diesem Tarnbegriff siehe z. B. BA, R96 I/3, Bl. 127867 f., RMdI, RdErl., IV g 6492/40 – 5100, gez. L. Conti, betr.
„Planwirtschaftliche Massnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten“, Kopie, als Faks. b. Harms, Hungertod (1996), S. 214 f.;
siehe auch Kap. V. 1. a); Beispiele für dessen Verwendung auch in Kap. IV. 3. c).
94
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, o. Bl.-Nr. (als Anlage zu Bl. 369), Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege, Der
Personalchef, Zeugnis für Hanne M. (31.07.1942), von RA Dr. L., Ffm, am 11.03.1947 eingereicht als Anlage zum Protokoll
im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947).
95
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D.
[mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 243. – Die Angeklagten hatten mit Hinweis auf den Begriff „Euthanasie“ versucht, ein angeblich mangelndes Bewusstsein der Rechtswidrigkeit zu begründen.
96
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 505 f., Eva Mennecke, Eichberg, an Fritz Mennecke [z. Zt. Heidelberg] (29.06.–
01.07.1942), hier Bl. 505 (30.06.1942), auch in ebd., Abt. 631a Nr. 1653, Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 401–404 (Dok.
130), hier S. 402 („H. [...] als Eu-Anstalt“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt. Heidelberg, an Eva Mennecke, Eichberg (01.–02.07.1942), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 408–413 (Dok. 132), hier S. 411 (02.07.1942) („H.
als E.-Anstalt“); vgl. auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 418 f. – Der Begriff „Eu-Anstalten“ wird auch verwendet in HStA
Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm
(07.02.1947), S. 5, Kopie; vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 18, Fritz Mennecke, z. Zt. Bühl, an Eva Mennecke,
z. Zt. Wiesbaden (25.–27.04.1944), Abschr., hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1026–1034 (Dok. 281), hier S. 1033
(27.04.1944), über ein Gespräch mit einem Kollegen: „Wir streiften auch die Eu..., der er sehr positiv gegenübersteht [...]“.
97
Zur Einrichtung des Amts ab 01.09.1939, zu dessen personeller Besetzung u. zur Funktion, insb. der Legitimationsfunktion
im Rahmen der „T4“-Verlegungen, siehe Kap. IV. 3. c). – Zur Einweihung z. B. von Rudolf Jordan, Gauleiter in Dessau (Gau
Magdeburg-Anhalt), zugleich Reichsstatthalter in Braunschweig und Anhalt sowie Führer der Anhaltischen Landesregierung
in Dessau, ab 1939 Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis XI (Hannover), siehe HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800
Bd. 7, o. Bl.-Nr., 310-seitige Anklageschrift d. GenStAnw in Ffm gegen Dr. Aquilin Ullrich, Dr. Heinrich Bunke, Dr. Kurt
Borm u. Klaus Endruweit wegen Mordes, Az. Js 15/61 (GStA) (15.01.1965), darin zit. auf S. 189–197: Organisationsplan d.
„Abteilung Dr. Eberl“ [= „T4“-Anstalt Bernburg], erstellt von Dr. Irmfried Eberl (o. D. [ca. Dez. 1941/Jan. 1942]), hier S. 191
[im Folgenden zit.: „Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O.“], als Dokument 50 auch abgedr. b. Klee,
Ärzte (1985), S. 129–135; zu Rudolf Jordan (1902–1988) siehe auch biogr. Anhang. – Zur Einweihung von Adolf Wagner,
Gauleiter in München (Gau Oberbayern), zugleich bayerischer Innenminister u. ab 1939 Reichsverteidigungskommissar in
den Wehrkreisen VII (München) und XIII (Nürnberg), vgl. Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 434.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
381
stand.98 Sprenger, der auch durch seine engen Kontakte zu Bernotat mit Sicherheit bald genauer im Bilde war, stattete 1941 der Landesheilanstalt Eichberg persönlich einen Besuch ab,99 also in jenem Jahr,
in dem von dort aus mehr als 2.200 Patienten zur Ermordung nach Hadamar verlegt wurden. Bei einer
Reihe von Gauleitern gingen deren Berührungspunkte zur Krankenmordaktion über die reine Fakteninformation hinaus – und zwar in ganz unterschiedlicher Hinsicht. Der Linzer Gauleiter August Eigruber100 etwa stellte „T4“ sein Gauleitungsbüro für Einstellungsgespräche mit neuen „T4“-Mitarbeitern
zur Verfügung;101 während der Morde besichtigte Eigruber die Mordanstalt Hartheim mit ihrer Gaskammer.102 Sein Kollege Dr. Alfred Meyer103 in Münster (zugleich Oberpräsident der Provinz Westfalen und damit auch Leiter des Provinzialverbandes) nahm Kontakt zur Kanzlei des Führers auf und
sprach in Berlin wegen der Proteste des Münsteraner Bischofs von Galen mit Viktor Brack.104 Gerade
in der Anfangszeit waren einzelne Gauleiter sogar auch als Mitinitiatoren von Krankenmorden in Erscheinung getreten.105 Nachgeordnete Stellen der NSDAP, etwa die Kreisleitungen oder gar örtliche
Dienststellen, wurden nur dann in das Informationsnetz der „T4“ eingebunden, wenn es einen konkreten
Anlass dafür gab, etwa wenn eine der „T4“-Gasmordanstalten in ihrem Zuständigkeitsgebiet lag.106
Ebenso wurden auch die Kommunen (Kreise, Städte und Gemeinden) in den ersten Monaten nicht
allgemein informiert, sondern nur von Fall zu Fall in Kenntnis gesetzt, wenn dies den „T4“-Verantwortlichen zur Erreichung konkreter Ziele erforderlich erschien. Auch hier betrafen diese Ausnahmen
vor allem die Orte, in denen Mordanstalten eingerichtet und betrieben wurden. So griff „T4“ bei der
Gasmordanstalt Grafeneck in Württemberg auf Hilfsdienste des informierten Landrates von Münsingen
zurück;107 entsprechend wurden in Bernburg der Landrat und der Oberbürgermeister ins Vertrauen
gezogen, als in der Kreisstadt Ende 1940 eine Gasmordanstalt entstand. Ein vom ärztlichen Leiter der
Mordanstalt Bernburg, Dr. Irmfried Eberl, 1941/42 erstellter Organisationsplan legt exemplarisch dar,
wie weit die Einweihung und die Kooperation der kommunalen Stellen – aber auch der lokalen Parteigliederungen – ging: „Mit dem Landrat des Kreises Bernburg haben wir fast nichts zu tun [...]. Der
Oberbürgermeister und besonders der Kreisleiter unterstützen uns, wo sie können. Von den städtischen
Stellen sind ausserdem von unserer Existenz noch informiert, ohne näheres [!] zu wissen: Der Leiter
der Bernburger Polizei [...], der Vertreter des Oberbürgermeisters [...], der erste Standesbeamte und der
Friedhofsverwalter. Alle diese sind im Beisein des Oberbürgermeisters mit unserer Existenz vertraut
gemacht worden, näheres [!] über unsere Tätigkeit wurde ihnen jedoch nicht mitgeteilt. Z. B. wurde
dem Leiter der Bernburger Polizei lediglich mitgeteilt, dass eine Ortspolizeibehörde Bernburg-Gröna
besteht, oder dem Standesbeamten, dass ein Standesamt Bernburg II eingerichtet wurde usw.“108 Schon
wenige Monate nach Beginn der Gasmorde gab „T4“ jedoch – mutmaßlich im Rahmen einer Schadensbegrenzung – die weitgehende Geheimhaltung gegenüber den Kommunen auf. Denn gerade in den
98
StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 102. – Zur Person des Sachbearbeiters Dr. Jakob Schmitt (1890–1949) siehe weiter unten in
diesem Kap. IV. 2. a) sowie biogr. Anhang.
99
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 19, Fritz Mennecke, z. Zt. St. Blasien, an Eva Mennecke [z. Zt. Wiesbaden] (12.–
14.08.1944), hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1246–1258 (Dok. 333), hier S. 1253 (13.08.1944).
100
Zu August Eigruber (1907–1947) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Weiß, Lexikon (1998), S. 108.
101
Friedlander, Weg (1997), S. 374, S. 568 (Anm. 103), mit Hinweis auf Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Akte E18370/1 u. 2, Aussagen des Gauinspektors (Verw.-Mitarbeiters) Stefan Schachermeyer (02./03.07.1948,
11.03.1964). – Zur Personalbeschaffung für „T4“ unter Einbeziehung einzelner Gauleiter siehe Kap. IV. 2. c).
102
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 85, Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeklagter im Hadamar-Prozess Ffm, 3. HvTag (27.02.1947); auch Friedlander, Weg (1997), S. 315 u. S. 556 (Anm. 28), mit Hinweis auf Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstands, Akte E18370/1, StAnw Ffm, Js 18/61 (GStA), Vernehmung Georg Renno (01.02.1965), S. 8.
103
Zu Dr. Alfred Meyer (1891–1945) siehe biogr. Anhang. – Quelle: Weiß, Lexikon (1998), S. 318 f.
104
LH Kolbow (PV Westfalen), „Vermerk über ein Telefongespräch mit Frl. B[...] – Berlin – am Donnerstag, dem 31. 7. 41
um 17 Uhr“ (o. D. [zwischen 31.07. u. 04.08.1941]), hier n. d. Faks. b. Teppe, Massenmord (1989), S. 21.
105
Siehe dazu die Ausführungen in Kap. III. 3. c) zu den frühen Krankenmordaktionen im Nordosten (1939/40).
106
Zu den Eingeweihten bezüglich der „T4“-Mordanstalt Bernburg zählte z. B. der zuständige NSDAP-Kreisleiter: siehe Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 192; zur Datierung siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 71. –
Die „örtlichen Parteidienststellen“ bei den „T4“-Mordanstalten wurden informiert: Vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1,
o. Bl.-Nr. [= Bl. 8–20], Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 11.
107
Vgl. Zeugenaussage Pauline Eisenschmidt vor dem Schwurgericht Tübingen (22.09.1947), hier n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 65 f., hier S. 65.
108
Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 191 f. (Zitat auf S. 192).
382
IV. Zeit der Gasmorde
Kommunen als Trägern des Standesamts- und Bestattungswesens einerseits und als Fürsorgeträgern für
die Anstaltsunterbringung andererseits mussten die gehäuften Sterbeziffern unter den in Anstalten und
Heimen untergebrachten psychisch kranken und geistig behinderten Menschen bald auffallen. Auch
gegenüber den Nachfragen zweifelnder Angehörigen sollten die Bürgermeister und Landräte gewappnet sein, sodass Viktor Brack als organisatorischer Kopf der „T4“ am 3. April 1940 bei einer Sitzung
des Deutschen Gemeindetages in Berlin die geladenen Vertreter der Kommunen unterrichtete, denen
der Besprechungsgegenstand vorher nicht bekannt gegeben worden war.109
Als wichtigste Ansprechpartner von „T4“ in den Regionen dienten aber weder die Parteistellen noch
die Kommunen, sondern jene öffentlichen Gesundheitsverwaltungen, die für die Heil- und Pflegeanstalten verantwortlich zeichneten – also die entsprechenden Abteilungen in den Innenministerien und
-verwaltungen der Länder sowie die Anstalts- oder Medizinaldezernate der preußischen Provinzialund Bezirksverbände. Auf deren Kooperation war „T4“ regelrecht angewiesen, da – wie Friedlander
zusammenfasst – „die KdF nicht offen die Morde überwachen konnte und da die Tarnorganisation, die
sie nach außen hin vertrat, nicht die Autorität besaß, die behinderten Patienten zu selektieren und zu
transportieren“.110 Die regelmäßigen Absprachen der Provinzial- und Bezirksverbände untereinander
führten dazu, dass die Krankenmorde auch bei mindestens einer Konferenz der Landeshauptleute in
Berlin zur Debatte standen; der seinerzeitige Vorsitzende der Landeshauptleutekonferenz, der Düsseldorfer Landeshauptmann Heinz Haake, soll dabei seinen Amtskollegen übermittelt haben, sie seien
„von der Verantwortung in der Frage der Verlegungsaktion freigestellt und die Aktion sei unausweichbar“.111 Im Zusammenhang mit der Gasmordaktion kamen – wie Heyde aussagte, „sehr viele Leute der
Provinzialverwaltungen nach Berlin zu irgendwelchen Besprechungen gelegentlich zu Brack“ in die
Kanzlei des Führers.112
Wie sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit bei den Ermittlungen der Justiz herausstellte,
war „[j]eweils bei dem Landeshauptmann einer Provinz eine Stelle eingerichtet [worden], die die Euthanasie-Aktionen in der Provinz durchzuführen hatte.“113 Im Allgemeinen handelte es sich bei dieser
„Stelle“ um eine einzige Person, die gleichsam als „Sonderbeauftragter“ zwischen „T4“ und den Anstalten der Region vermittelte, die aber ihrerseits durchaus einzelne Mitarbeiter heranziehen konnte.
Durchweg (sowohl bei den preußischen Provinzial- und Bezirksverbänden als auch in den Innenverwaltungen der Länder) übernahm der jeweilige Beamte (meist Dezernent oder Referent) diese Rolle,
der ansonsten entweder für das Medizinal- und Gesundheitswesen insgesamt oder speziell für das
Anstaltswesen oder die Psychiatrie zuständig war. Zur Verantwortlichkeit dieser „Sonderbeauftragten“
vertrat der Koblenzer Oberstaatsanwalt 1947 die Position, „dass das Verschulden derjenigen Personen[,] die die Befehle von Berlin aus an die einzelnen Anstalten weitergaben, entschieden höher zu
bewerten ist, als das Verschulden derjenigen Ärzte und Anstaltsleiter in den örtlichen Anstalten.“114
Neben den Medizinal- oder Anstaltsdezernenten der preußischen Provinzialverbände zählten aber
auch die Landeshauptleute allesamt zu den Geheimnisträgern der „T4“-Mordaktion. Während einige
von ihnen als bedingungslose Befürworter der Kranken- und Behindertentötungen galten (beispielsweise der provinzialsächsische Landeshauptmann Kurt Otto in Merseburg), wurden andere Landeshauptleute „T4“-intern als zurückhaltender eingestuft (wie etwa der Brandenburger Landeshauptmann Diet109
Klee, Ärzte (1986), S. 89 f., S. 299 (Anm. 161), mit Hinweis auf Registratur des Bremer Senats, Sign. 3 D.4.b Nr. 5 „13“,
Vm. von Senator Erich Vagts (Kommissar für das Gesundheitswesen u. Vertreter b. d. Reichsregierung) über die Sitzung vom
03.04.1940; Stadtarchiv Plauen, DGT, Einladung an OB Plauen (21.03.1940) bzw. Vm. d. OB Plauen (04.04.1940), hier n. d.
Faks. bzw. Abdruck b. Aly, Medizin (1985), S. 32 f., u. b. Aly, Aktion (1989), S. 50 bzw. 50–52; siehe auch Aly, Endlösung
(1995), S. 54 f.; Stöckle, Aktion (1996), S. 16; Walter, Psychiatrie (1996), S. 671.
110
Friedlander, Weg (1997), S. 324. – Ebenfalls auf die Punkte Erfassung und Verlegung in der Zusammenarbeit zwischen
der „T4“ und den Provinzialverbänden (z. B. dem PV Sachsen) verweist Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 76–78.
111
So die Aussage des hannoverschen LHs Dr. Ludwig Gessner in HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I,
Bl. 31, hier zit. n. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 64.
112
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8.
Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 358.
113
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 182, OStAnw Koblenz an Landesregierung Rheinland-Pfalz, Min. d. Justiz (26.09.
1947), Durchschr.
114
Ebd. – Dies war allerdings eine Rechtsmeinung, die in den folgenden Urteilen der Gerichte kaum ihren Niederschlag fand.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
383
loff von Arnim in Potsdam).115 Blickt man in die Nachbarprovinzen Hessen-Nassaus – Hannover,
Westfalen und die Rheinprovinz –, so erweckt die bisher erschienene Literatur mitunter den Eindruck,
als sei die Mordaktion zumindest bei den Landeshauptleuten in Düsseldorf und Hannover und bei ihren
Medizinal- bzw. Anstaltsdezernenten anfangs eher reserviert aufgenommen worden. Allzu unkritische
historiografische Bewertungen aus den 1980er Jahren116 über das Handeln verschiedener Verantwortlicher in den Provinzialverwaltungen müssen allerdings heute durch differenziertere Einschätzungen abgelöst werden. So scheinen Nachkriegsaussagen von Verantwortlichen aus diesen Provinzialverbänden
über eine so genannte „Abwehrfront“ der Rheinprovinz, Westfalens und Hannovers, die der rheinische
Psychiatriedezernent Prof. Dr. med. Walter Creutz nach eigenen Angaben konspirativ zu organisieren
versucht habe, die tatsächlichen Verhältnisse insgesamt zu positiv gefärbt dargestellt (und damit auch
die Geschichtsschreibung zu ihren Gunsten beeinflusst) zu haben.117 Immerhin aber scheint zumindest
der Düsseldorfer Landeshauptmann Heinz Haake,118 ein Nationalsozialist der ersten Stunde, dann zunächst Bedenken wegen der Mordaktion geäußert zu haben – wie vermutet wird, auf Veranlassung seines Dezernenten Creutz. „T4“-intern hieß es, „dass von Düsseldorf aus Schwierigkeiten gemacht wurden. [...] Haake habe sich gegen die Erfassung und den Abtransport von Kranken aus den Heil- und
Pflegeanstalten der Rheinprovinz gewehrt.“ Jedoch konnte „T4“ – noch vor den ersten geplanten Verlegungen rheinischer Patienten zur Ermordung in Hadamar – die Differenzen mit Haake bei einer hochrangig besetzten Konferenz im Düsseldorfer Landeshaus aus dem Weg räumen, bei welcher sich Haake
offensichtlich nach der Präsentation des Hitler’schen Genehmigungsschreiben umstimmen ließ.119
Auch der Hannoveraner Landeshauptmann Dr. Ludwig Gessner, der bei Besprechungen in Hannover
und Berlin über die „T4“-Aktion aufgeklärt wurde, will mit Unterstützung seines Anstaltsdezernenten,
des Juristen Landesrat Dr. Georg Andreae, einen Protest vorbereitet und eine „Denkschrift“ gegen die
Mordaktion verfasst haben, was allerdings bereits das Schwurgericht Hannover in der Nachkriegszeit
für unglaubwürdig hielt. Unglaubwürdig erscheinen die Angaben Gessners vom Dezember 1946 nicht
zuletzt deshalb, weil dieser ausgerechnet die ansonsten keineswegs als NS-„Euthanasie“-Gegner exponierten Landeshauptleute Wilhelm Traupel in Kassel und Karl Friedrich Kolbow in Münster als Mitwisser nannte, die im Übrigen beide zum Zeitpunkt der Gessner’schen Aussage nicht mehr befragt werden konnten, da sie bereits verstorben waren. Traupel habe ihm „rückhaltlos“ zugestimmt und ihm
gegenüber von einer eigenen, dem Innenminister Frick zugeleiteten Denkschrift gesprochen. Unabhängig
davon, ob man die behaupteten Widerstandshandlungen oder -absichten als Legenden bewertet oder
115
Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 190 f. – Danach stand Otto den Tötungen „uneingeschränkt positiv“ gegenüber, während v. Arnim (eigentlich v. Arnim-Rittgarten) „mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln“ sei. –
Kurt Otto (* 09.06.1887 in Proskau) war ab Apr. 1933 LH d. PV Sachsen in Merseburg: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 315.
116
So vertrauen Sueße/Meyer, Abtransport (1988), in ihrer Studie über die „Konfrontation niedersächsischer Anstalten mit der
NS-‚Euthanasie‘“ allzu sehr den Nachkriegsaussagen mancher Betroffener, z. B. auf S. 45: „Obwohl Gessner ‚ausweichend‘
geantwortet hatte, wurde er am 24. Dezember 1933 zum Landeshauptmann der Provinz Hannover berufen – wie er betont,
ohne seine vorherige Zustimmung.“
117
Leipert, Beteiligung (1987), S. 30, kommt zu dem Schluss: „Offenkundig nahm sich Creutz [...] die Etablierung einer Abwehrfront [...] vor [...]“, es wird verwiesen auf eine von Creutz verfasste „Denkschrift“; siehe auch Werner, Rheinprovinz
(1991), 137, S. 142 (Anm. 23), der die Denkschrift, von der nur eine undatierte Durchschrift vorliegt, für authentisch hält;
Creutz’ Haltung wird diskutiert bei Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 340 f.; Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 53 f.,
übernehmen die These der „Abwehrfront“ ungeprüft mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I,
Bl. 106, Aussage Prof. Dr. Walter Creutz (05.07.1948); auch Seidel/Sueße, Werkzeuge (1991), S. 255, stellen die angebliche
„Abwehrfront“ nicht in Frage; dagegen stellt Zimmermann, „Entnazifizierung“ (2001), S. 348, dar, dass die genauen Hintergründe des Creutz’schen „Verhaltens als Dezernent nicht in jedem Fall einwandfrei zu klären“ seien und dass die „Authentizität [der Denkschrift, P. S.] [...] nicht über jeden Zweifel erhaben“ sei. – Zu Prof. Dr. med. Walter Creutz (1889–1971) siehe
biogr. Anhang. – Quellen: Leipert, Beteiligung (1987), S. 28; Zimmermann, „Entnazifizierung“ (2001), S. 347–350.
118
Zu Heinrich („Heinz“) Haake (1892–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Stockhorst, Köpfe (1967), S. 169; Klee, Ärzte (1986), S. 85; Leipert, Beteiligung (1987), S. 29.
119
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, T, o. Bl.-Nr., Aussage Friedrich Tillmann als Beschuldigter b. d. LG Dortmund
(21.03.1961), S. 20, Kopie aus dem Verfahren Az. 10 Js 38/60. – An dieser Besprechung am 12.02.1941 sollen nach dieser
Aussage teilgenommen haben: für „T4“ Brack, Heyde, „Gekrat“-Leiter Reinhold Vorberg, Leiter der „T4“-Büroabteilung
Friedrich Tillmann, und für den PV d. Rheinprovinz LH Haake, Erster LdsR u. Stv. d. LH Dr. Wilhelm Kitz, Psychiatriedezernent Prof. Dr. Walter Creutz sowie Dr. Landsberg. – Vgl. auch ebd., V, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Vernehmung Reinhold
Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964, hier: 04.12.1964), S. 23, Kopie aus der Voruntersuchungssache
gegen Vorberg, Az. Js 20/61 (GStA); Leipert, Beteiligung (1987), S. 31; Schulte, Euthanasie (1989), S. 100; Werner, Rheinprovinz (1991), S. 137.
384
IV. Zeit der Gasmorde
nicht, bleibt festzustellen, dass auch Landeshauptmann Gessner, spätestens nachdem ihm die „Euthanasie“-Ermächtigung Hitlers vorgelegt worden war, gemeinsam mit seiner Verwaltung die Aufgaben
übernahm, die im Rahmen der Krankenmordaktion von ihnen erwartet wurden.120 Viel unvermittelter als
in den Nachkriegsaussagen konnte die Einstellung zu den Krankentötungen in – allerdings nur selten
schriftlich fixierten – zeitgenössischen Formulierungen zum Ausdruck kommen. So äußerte der westfälische Landeshauptmann Kolbow (also einer der angeblich an der geplanten „Abwehrfront“ Beteiligten)
in Bezug auf ein Protestschreiben des katholischen Bischofs von Münster, Clemens Graf von Galen, er,
Kolbow, habe nicht die Absicht, sich „durch den Brief des Bischofs [...] irgendwie beirren zu lassen;
die Aktion sei in Westfalen in flottem Fortschreiten und in etwa 2 bis 3 Wochen beendet.“121
In einem Fall gelang es „T4“ sogar, einen der preußischen Anstaltsdezernenten als „Gutachter“ in
das System der Selektion der kranken und behinderten Menschen einzubinden, nämlich den im Kieler
Landeshaus amtierenden Landesrat Doz. Dr. med. Erich Straub, dem die öffentlichen Anstalten der
Provinz Schleswig-Holstein unterstanden.122 Einige der „T4“-Sonderbeauftragten in den Provinzialund Bezirksbänden scheinen nicht unbedingt als Fanatiker im Sinne des Krankenmordes in Erscheinung getreten zu sein. Dies gilt auch für den Kasseler Anstaltsreferenten Karl Rücker, in dem man
insofern einen Gegenpart zu dem Wiesbadener Bernotat sehen könnte. Rücker war ebenfalls ein altgedienter, in der Weimarer Zeit eingestellter Verwaltungsbeamter, der zunächst im Bezirksverband Nassau jahrelang das Anstaltswesen betreut hatte, bevor Bernotat dieses 1937 übernahm. Im selben Jahr
trat Rücker der NSDAP bei, und zwei Jahre später, im August 1939, wechselte er, 50-jährig, als Anstaltsreferent nach Kassel zum Bezirksverband Hessen.123 Wie Rückers Vorgesetzter dort, der stellvertretende Landeshauptmann Dr. jur. Otto Schellmann, sich erinnerte, beauftragte „T4“ Rücker anscheinend direkt, unter Umgehung des Dienstweges, was Schellmann jedoch nicht hinnehmen wollte:
„[...] zu mir kam einmal Rücker und sagte mir, er oder die Behörde hätten ein Schreiben bekommen,
worin er gewissermaßen zum Sonderbeauftragten bestellt worden wäre in diesen Angelegenheiten. [...]
Rücker gab mir damals ein Schreiben.“ Man habe sich dann intern jedoch einvernehmlich darüber
verständigt, dass Rücker nichts ohne Schellmanns Zustimmung unternehmen solle; Schellmann habe
ihm gesagt: „das ist ja ganz gut und schön, aber wissen Sie, das existiert für mich nicht, ich bleibe der
Verantwortliche in dieser Angelegenheit, die Verantwortung kann mir keiner nehmen; wir werden
schon gut zusammenarbeiten.“ Dies sei dann auch praktiziert worden.124 Dies bedeutete allerdings
keineswegs eine prinzipielle Ablehnung von Krankentötungen, insbesondere da auch Schellmann keineswegs als „Euthanasie“-Gegner gelten konnte.125 Letztlich scheint Rücker sich zwar nicht als begeis120
Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 46–56, mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I,
Bl. 13–15, Eingabe Dr. Ludwig Gessner an Entnazifizierungsausschuss (01.12.1946), auf Bl. 19–21 u. 168, Aussagen Dr.
Georg Andreae (11.05. u. 27.08.1948), u. auf Bl. 29 f., Aussage Dr. Ludwig Gessner (24.05.1948). – Der ehem. LH Wilhelm
Traupel verstarb am 07.02.1946, der ehem. westfälische LH Karl Friedrich Kolbow am 24.09.1945.
121
LH Kolbow (PV Westfalen), „Vermerk über ein Telefongespräch mit Frl. B[...] – Berlin – am Donnerstag, dem 31. 7. 41
um 17 Uhr“ (o. D. [zwischen 31.07.1941 u. 04.08.1941]), zit. n. d. Faks. b. Teppe, Massenmord (1989), S. 21. – Auf den
Kontrast zwischen der angeblichen u. tatsächlichen Haltung Kolbows verweist auch Werner, Rheinprovinz (1991),
S. 142 (Anm. 22).
122
BA, R96 I/1, Bl. 127892 f., „T4“, „Aufstellung der bisher jemals zugelassenen Gutachter“ (o. D.), Kopie, hier
Bl. 127893. – Zu Dr. med. Erich Straub siehe auch biogr. Anhang. – In HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt.
Bielefeld (zeitweise Bad Oeynhausen), an Eva Mennecke (21.–24.02.1941), hier zit. n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 176–
183 (Dok. 63), hier S. 176 (21.02.1941), berichtet Mennecke seiner Frau über ein Gespräch mit Straub ca. am 20.02.1941 in
Bielefeld (im Rahmen eines „Gutachter“einsatzes in Bethel): „[...] ich saß [beim Abendessen, P. S.] zusammen mit Herrn
Prof. Dr. Kihn (Jena) und Doz. Dr. Straub (Anstaltsdezernent von Holstein aus Kiel) [...]. In unserer Unterhaltung gab es sehr
anregende Motive, die mir bewiesen, daß ich mit meiner Antisozialen-Denkschrift den Nagel auf den Kopf getroffen habe.“
123
Zu Karl Rücker (1889–1948) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 806 f., Aussage Karl
Rücker b. d. Kriminalpolizei Kassel (19.12.1946), Abschr.; ebd., Bl. 174–184, Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess
Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947), hier insb. Bl. 174; StA Mr, Best. 220 Nr. 712, Geschäftsverteilungsplan d. BV Hessen (o. D. [vor
u. nach dem 29.08.1939]), auch vorhanden als Kopie in LWV, S1 Bezirksverbände Nr. 13; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1985, Rücker, Karl. – Zum Anstaltsdezernat des BV Nassau u. dessen Übernahme durch Bernotat siehe Kap. III. 3. a).
124
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 173 f., Zeugenaussage Otto Schellmann im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag
(04.03.1947) (Zitate auf Bl. 173); im gleichen Sinne auch ebd., Bd. 3, Bl. 115 f., Aussage Otto Schellmann b. d. StAnw in
Kassel (04.07.1946), hier Bl. 116. – Dr. jur. Otto Schellmann (1880–1953) war Fürsorge- (auch Anstalts-)dezernent u. stv. LH
d. BV Hessen; siehe zu diesem auch biogr. Anhang.
125
Siehe dazu die in Kap. III. 3. c). angeführte Stellungnahme aus HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 170, Zeugenaussage Schellmann im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
385
terter Anhänger der Krankentötungen erwiesen zu haben (und dies trug wohl dazu bei, dass die Mordaktion im Bezirksverband Hessen weniger intensiv durchgeführt wurde als im Bezirksverband Nassau),
doch auch er kann trotz möglicher moralischer Bedenken nicht als grundsätzlicher Gegner angesehen
werden, wie er auch selbst in einer Zeugenaussage 1947 erläuterte: „Ich könnte als gesetzlich legal
empfinden, daß durch ein Gesetz, das bis ins Kleinste die Voraussetzungen schafft, daß ein ganz kleiner Kreis einzelner Kranker, durch die Ärztekommission ausgewählt in wiederholter Auswahl –, das
könnte ich mir denken. Dies unabhängig von meiner eigenen inneren Anschauung.“126
In den außerpreußischen Ländern übernahm die jeweils zuständige Abteilung im Innenministerium
die Rolle der regionalen Zentralstelle für die „T4“-Aktion; die dort für die Anstalten zuständigen Ministerialbeamten waren vielfach Ärzte – und nicht Juristen oder Verwaltungsbeamte des gehobenen
Dienstes wie oft in den Provinzial- und Bezirksverbänden. Die Erstinformation über die bevorstehenden Krankentötungen erhielten diese Landesmedizinalbeamten in Berlin, häufig im Rahmen von routinemäßigen Besprechungen im Reichsinnenministerium. In mehreren Fällen fungierte hierbei Herbert
Linden als Übermittler,127 aber auch Philipp Bouhler als Chef der Kanzlei des Führers empfing in der
Anfangsphase führende Personen aus den Regionen, um sie über die bevorstehende „Aktion“ ins Bild
zu setzen.128 Auch in diesen Fällen konnten das Engagement und die Bereitschaft der verantwortlichen
Personen von Land zu Land durchaus unterschiedlich sein. Im Allgemeinen aber waren die Stellen in
den Ministerien, wie beispielsweise in Württemberg und Baden „seit langem mit politisch zuverlässigen Leuten besetzt“129 – dies scheint für die Länder sogar in größerem Umfang zuzutreffen als für die
preußischen Verbände. In Stuttgart etwa leistete der „alte Kämpfer“ Dr. med. Egon Stähle, Leiter der
ministeriellen Gesundheitsabteilung und in Personalunion Gauamtsleiter für Volksgesundheit, gemeinsam mit mehreren Mitarbeitern seiner Abteilung offenbar ohne Bedenken und in umfassender Weise
Beiträge zur Krankenmordaktion. Auch sein Karlsruher Amtskollege Dr. med. Ludwig Sprauer wird,
obwohl erst 1933 in die NSDAP eingetreten, als „zuverlässig“ oder zumindest „willfährig“ im Sinne
des NS-Staats beschrieben; er beteiligte sich beispielsweise aktiv an der Anwerbung neuer ärztlicher
„Gutachter“ für „T4“ und wurde wie Stähle zu den Beratungen für das geplante „Gesetz über die Leidensbeendigung bei unheilbar Kranken und Lebensunfähigen“ hinzugezogen.130 Letzteres galt auch für
den in Bayern verantwortlichen Leiter der Gesundheitsabteilung im Münchener Staatsministerium des
Innern, Prof. Dr. med. Walter Schultze, einen „Aktivist[en] der ersten Stunde“, der sich in der „Kampfzeit“ den Spitznamen „Bubi“ erworben hatte und ein Duzfreund des „T4“-Organisators Brack war.131 In
Schultze kann man ebenso einen uneingeschränkten Befürworter der Mordaktion sehen wie in dem
126
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 181 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag
(04.03.1947), hier Bl. 182 (grammatikalisch unvollständiger Satz im Protokoll). – Diese Aussage zielt allerdings – ebenso wie
die vorstehende Aussage Schellmanns – auch darauf ab, sich nicht selbst zu belasten (sie soll implizieren, der Zeuge hätte die
Strafbarkeit der „Euthanasie“aktion nicht erkannt).
127
So z. B. für Dr. Ludwig Sprauer (Baden) u. Dr. Jakob Schmitt (Land Hessen): HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5,
Bl. 522–524, Eidesstattliche Erklärung Dr. Ludwig Sprauer in Nürnberg ggü. Dr. Robert M. W. Kempner, Office of the U.S.
Chief of Counsel (23.04.1946), Abschr., hier Bl. 523; StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Protokoll d. Vernehmung Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 16; ebd., Bl. 100–104, Aussage
Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 101.
128
So z. B. der in Bayern für das Anstaltswesen zuständige Prof. Dr. Walter Schultze (Innenverwaltung in München), welchen
Bouhler Ende 1939/Anfang im Beisein des Münchener Gauleiters u. Bayerischen Innenministers Adolf Wagner informierte:
Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 434. – Zu Prof. Dr. med. Walter Schultze (* 1894) siehe weiter unten in diesem
Abschnitt über die Landesmedizinalbeamten sowie im biogr. Anhang.
129
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 217.
130
Klee, „Euthanasie“, S. 90; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 216 f., S. 269, S. 353; Stöckle, Aktion (1996), S. 18; Lang,
Grafeneck-Prozeß (1996), S. 144; Friedlander, Weg (1997), S. 326 f., S. 557 f. (Anm. 52–56); Stockhorst, Köpfe (1967),
S. 408 (Stähle); Schwarz, MdR (1965), S. 766 (Stähle); Klee, Ärzte (1986), S. 85 (Stähle), S. 90 (Sprauer); HStA Wi, Abt. 461
Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 522–524, Eidesstattliche Erklärung Dr. Ludwig Sprauer in Nürnberg ggü. Dr. Robert M. W. Kempner,
Office of the U.S. Chief of Counsel (23.04.1946), Abschr., hier Bl. 522 f.; NARA, T-1021, Roll 11, Frame 64–96, „T4“Protokoll zur Diskussion über ein „Euthanasiegesetz“ (o. D. [wahrscheinlich Herbst 1940]), Kopien auch in BA, All. Proz.
7/111 (FC 1806) sowie in BA, R96 I/2, Bl. 126659–126690, hier Bl. 126664, Bl. 126672. – Zu Dr. med. Eugen Stähle (1890–
1948) und zu Dr. med. Ludwig Sprauer (* 1884) siehe auch biogr. Anhang.
131
HStA Wi, Aussage Dr. Hans Hefelmann (06.–15.09.1960), hier zit. n. Aly, Aktion (1989), S. 127–129, hier S. 128 (zu
Spitzname u. Verhältnis zu Brack); siehe auch ebd. (Aly), S. 200; ders., Fortschritt (1985), S. 51 (Zitat „Aktivist [...]“); Stockhorst, Köpfe (1967), S. 401; Klee, Ärzte (1986), S. 85–87; Schilter, Ermessen (1999), S. 90, S. 110; Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 434. – Zu Prof. Dr. med. Walter Schultze (* 1894) siehe auch biogr. Anhang.
386
IV. Zeit der Gasmorde
Thüringer Ministerialbeamten Dr. med. Karl Astel.132 Schließlich ist der Psychiater Dr. med. Alfred
Fernholz, der für die Abteilung „Volkspflege“ zuständige Ministerialdirektor im sächsischen Innenministerium (wie Stähle auch er zugleich Gauamtsleiter für Volksgesundheit) der Riege der überzeugten
NS-„Euthanasie“-Befürworter zuzurechnen. Wie Schilter feststellt, waren sowohl Fernholz als auch
einige der ihm untergebenen Ministerialbeamten in Dresden „von Anfang an über Zweck und Ziel der
‚Aktion T4‘ informiert und traten rückhaltlos für deren Umsetzung ein.“133
Andere Sonderbeauftragte in den Ländern wie der Darmstädter Medizinalreferent Dr. med. Jakob
Schmitt scheinen die Meldebogenerfassung und die Verlegungen reibungslos organisiert zu haben,
dabei aber zunächst nicht als überzeugte Propagandisten der Mordaktion aufgetreten zu sein.134 Der im
Jahr 1890 geborene Schmitt hatte die Funktion als Oberregierungs- und -medizinalrat (später Regierungs- und Medizinaldirektor) im Innenministerium des Volksstaats Hessen noch zu Weimarer Zeiten,
im Jahr 1931, angetreten. Mit dem Parteibeitritt 1937 kam er den Forderungen des neuen Staatswesens
vergleichsweise spät nach; dagegen ging er, indem er der Kirche den Rücken zukehrte, sogar über das
vielfach Übliche hinaus.135 Wie Rücker in Kassel zählte auch Schmitt in Darmstadt zu jenen, die durch
eine indifferente Haltung zur Krankenmordaktion dazu beitrugen, dass ihr Zuständigkeitsgebiet 1941
nicht zu einer zentralen Region im Rahmen der Mordaktion wurde. Dies verschonte jedoch keineswegs
die dortigen Patienten, die, nach Verlegungen, anderswo ermordet wurden, beispielsweise in Anstalten
des Bezirksverbandes Nassau. „T4“ registrierte durchaus die Haltung der einzelnen Verantwortlichen
in den Regionen und richtete die Strategie flexibel danach aus. Auch beispielsweise der im Braunschweiger Innenministerium zuständige Medizinalrat Marquordt zählte nach einer „T4“-internen Bewertung nicht zu jenen, die „unserer Aktion unbedingt positiv gegenüber[stehen]“, sondern galt als
einer der Eingeweihten, die „mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln“ seien.136 Trotz derartiger Einschränkungen und möglicher Bedenken scheint „T4“ nach bisherigen Erkenntnissen jedoch nirgends
von dem Grundsatz abgegangen zu sein, den jeweils für die Heil- und Pflegeanstalten zuständigen
Beamten – sei es in den Landesverwaltungen oder in den Provinzialverbänden – als Mittelsmann zwischen der „T4“-Zentrale und den einzelnen Anstalten in das Mordsystem einzubinden, und auch keiner
scheint sich letztlich der Mitarbeit verweigert zu haben.137
Erstmals nahm „T4“ die Mittlerdienste der Sonderbeauftragten bei der Erfassung der Anstaltspatientinnen und -patienten durch Meldebogen in Anspruch. Um der Aufforderung an die Anstalten zur Ausfüllung der Meldebogen amtliches Gewicht zu verleihen, ergingen diese jeweils durch das Reichsinnenministerium. Der erste entsprechende Erlass des Staatssekretärs Leonardo Conti datiert vom
Oktober 1939, die Organisation im Einzelnen übernahm für das RMdI erneut der Conti-Mitarbeiter
Herbert Linden. Nach dem Erlass hatten die Anstaltsleiter für alle in ihrer Anstalt nicht nur vorübergehend untergebrachten Patienten einen DIN-A4-großen Meldebogen auszufüllen, in dem unter anderem
über Personalien des oder der Kranken, über Diagnose, Arbeitsfähigkeit, Dauer der Anstaltsunterbrin132
Zu Prof. Dr. med. Karl Astel (1895 oder 1898–1945) siehe die Angaben in Kap. III. 3. a) sowie im biogr. Anhang.
Schilter, Ermessen (1999), S. 84; zu Fernholz’ späterer organisatorischer Einbindung in die Kindermordaktion des sog.
„Reichsausschusses zur Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ siehe auch Kap. V. 1. b); vgl. dazu auch
ebd. (Schilter), S. 89. – Zu Dr. med. Alfred Fernholz (* 1904) siehe biogr. Anhang. – Quelle: ebd. (Schilter), S. 84–89, S. 313.
134
So die Einschätzung über Schmitt in StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfr. Otto Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 76. – Dieser Eindruck entspricht zumindest in der Tendenz
den ansonsten von Schmitt bekannt gewordenen Verhaltensweisen, allerdings betraf eine gerichtliche Voruntersuchung ab
1948 gegen ihn (außer den Verlegungen im Rahmen der „T4“-Aktion) zeitweise auch eine angeblichen Todesspritze, die er
angeordnet habe, dagegen ließ das LG Darmstadt ohne Begründung den Vorwurf fallen, auf Schmitts Veranlassung seien an
„Alte und Sieche“ nur unzureichend Herz- und Stärkungsmittel verabreicht worden: StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte,
Bl. 71, Beschluss d. LG Darmstadt, Strafkammer II (20.02.1948); ebd., Bl. 75, Vm. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter (20.11.1948); Sandner, Anstaltspolitik (2003).
135
Zu Dr. med. Jakob Schmitt (1890–1949) siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl.
14–18, Protokoll d. Vernehmung Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 14 f.;
ZSP Mittlere Lahn (Standort Gießen), Registratur, Pers.-Akten, Schmitt, Jakob, Dr.; Gunkel, Geschichte (1996), S. 184.
136
Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 191. – Zur Einstellung eines Nachkriegsverfahrens gegen Marquordt siehe auch Klee, Ärzte (1986), S. 87.
137
Zur durchgehenden Mitarbeit der Betreffenden siehe auch Klee, Ärzte (1986), S. 89: „Die Verwaltung hat ihren Apparat
der Vernichtung der ‚Ballastexistenzen‘ zur Verfügung gestellt. Keiner ist zurückgetreten, weil er die Vernichtungsaktion mit
seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte.“
133
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
387
gung und Heilungsaussichten Auskunft gegeben werden musste; in einem weiteren Meldebogen pro
Anstalt waren Angaben über die Einrichtung insgesamt festzuhalten.138
Das Ministerium versandte die Meldebogen nicht gleichzeitig für alle Anstalten im Deutschen Reich,
sondern zeitlich gestaffelt für die einzelnen Länder und preußischen Provinzen. Die Reihenfolge korrespondierte dabei grob mit der Reihenfolge der Einrichtung der sechs Mordanstalten, von denen die
ersten drei (Grafeneck/Württemberg, Hartheim/Oberdonau und Brandenburg) im Januar 1940 mit den
Gasmorden begannen, während die letzte (Hadamar) genau ein Jahr später, im Januar 1941, folgte.
Dementsprechend erreichten die Meldebogen zuerst die Regionen im Süden und Südwesten und in
Mittel- und Ostdeutschland, während Nord- und Nordwestdeutschland erst zum Schluss berücksichtigt
wurde. Die Staffelung dürfte darauf zurückzuführen sein, dass „T4“ nicht über die personellen und
logistischen Kapazitäten verfügte, um die Mordaktion überall im Deutschen Reich gleichzeitig in Gang
zu setzen. Diese Ungleichzeitigkeit hatte auch zur Folge, dass durch den Stopp der Gasmorde an Anstaltspatienten im August 1941 aus den Territorien Schleswig-Holstein und Hamburg nur vergleichsweise wenige, aus Bremen und Oldenburg keine Menschen mehr in den Gaskammern ermordet wurden
(sie fielen aber überwiegend den späteren Mordaktionen zum Opfer).139
Die ersten Meldebogen erreichten ihr Ziel, unter anderem die Länder Württemberg und Baden sowie
die südlichen Bezirke Bayerns, noch im Oktober 1939.140 Wie etwa für Baden dokumentiert, gelang
aufgrund dieses frühen Termins, zu dem sich noch kaum Gerüchte und Kenntnisse über die bevorstehenden Morde in der Bevölkerung ausgebreitet haben konnten, „[d]ie beabsichtigte Irreführung der
Anstaltsärzte [...] vollständig“.141 Auch im Land Sachsen waren im Oktober/November 1939 die Aufforderungen zur Erfassung eingegangen. Den sächsischen Anstalten wurden die Bogen nicht vom
Reichsinnenministerium direkt übersandt, sondern die Weitergabe erfolgte über Fernholz’ Volkspflegeabteilung im Dresdener Innenministeriums.142 Auf diese Weise konnte der Sonderbeauftragte Fernholz die rechtzeitige Ausfüllung der Bogen besser überwachen. Anders, aber ebenso wirkungsvoll war
das Prozedere in Thüringen, wo die Meldebogen in einer nächsten Staffel im Februar 1940 ankamen.
Hier sandte das Reichsministerium des Innern die Bogen direkt an die einzelnen Anstalten; wie auch
sonst setzte man den Direktoren eine Frist zwischen einem und zwei Monaten zur Ausfüllung und
Rücksendung nach Berlin. Nachdem drei Wochen verstrichen waren, schaltete sich das Weimarer
Innenministerium ein: Es ließ die Anstaltsleiter wissen, dass es durch das Reichsinnenministerium
parallel verständigt worden sei, und mahnte bei ihnen die Einhaltung der Frist zur Ausfüllung (1. April)
138
RMdI, RdErl. „IV g 3697/39 – 5100“ (09.10.1939), zit. in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw
Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 14 f.; dort auf S. 17 auch eine Kopie des weißen
„Meldebogens 1“ zur Erfassung eines jeden Patienten, auf S. 16 eine Kopie des gelben „Meldebogens 2“ zur Erfassung der
Anstalt (Größe, Personal, Lage usw.), u. auf S. 18 eine Kopie des jeweils beigefügten grünen „Merkblatts“; siehe auch Faks.
des Erlasses vom 09.10.1939, hier an die Anstalt Konstanz, bei Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 213. – Vor Versendung der
Meldebogen hatte das RMdI im September 1939 sich zunächst einen Überblick verschaffen müssen, welche Anstalten im
Deutschen Reich beim Meldebogenversand überhaupt zu berücksichtigen wären, dies geschah durch RdErl. d. RMdI, gez.
Conti, an die außerpreuß. Landesregierungen, den Reichskommissar für das Saarland, die RPen einschließlich Karlsbad,
Aussig u. Troppau, den Polizeipräsidenten in Berlin, die Landeshauptleute in der Ostmark, den Bürgermeister in Wien, betr.
„Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (21.09.1939), hier nach dem Abdr. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 87 f., dort mit
Quellenhinweis auf das Verfahren Az. „Js 147 Js 58/67“ d. StAnw Hamburg; auch zit. b. Friedlander, Weg (1997), S. 135 f. u.
S. 504 (Anm. 87), dort mit Quellenhinweis auf GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611–
1733]; vgl. auch Walter, Psychiatrie (1996), S. 659.
139
Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 53; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209 ff.; ders.,
Hungersterben (1998), S. 260–264 (dort erstmals ein Überblick über den „zeitliche[n] und räumliche[n] Ablauf der ‚Aktion
T4‘“); Stöckle, Aktion (1996), S. 15 f.; Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 334; Walter, Psychiatrie (1996), S. 660–662;
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 95; Schilter, Ermessen (1999), S. 90. – Mehrfach ist als Grund für die zeitliche Staffelung die
Kriegsplanung genannt worden (z. B. Stöckle), was zunächst plausibel erscheint, aber letztlich nie weiter belegt werden
konnte, zumal die späte Einbeziehung der Rheinprovinz an der Westgrenze als Gegenargument anzuführen wäre (Kaminsky),
allerdings führt Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 338, selbst die vergleichsweise frühe Zusendung von Meldebogen
an die westlich gelegene Anstalt Düren an; auch die frühen „T4“-Verlegungen aus Bedburg-Hau zeigen eine Berücksichtigung
der Kriegsplanung an. – Zur Einrichtung der sechs „T4“-Gasmordanstalten siehe Kap. IV. 2. b).
140
Stöckle, Aktion (1996), S. 17; Schilter, Ermessen (1999), S. 111 (in Bayern waren dies die Bezirke Schwaben, Oberbayern
u. Niederbayern); Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209 (Eintreffen in Illenau am 15.10.1939, in Stetten am 16.10.1939, in
Konstanz am 18.10.1939, in Weißenau am 21.10.1939).
141
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 212.
142
Schilter, Ermessen (1999), S. 87, S. 90.
388
IV. Zeit der Gasmorde
an.143 Eventuellen Eigenmächtigkeiten oder „Nachlässigkeiten“ seitens der Direktoren wurde so nach
Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben. Auch der Darmstädter Medizinalreferent Schmitt – bereits in die
wahren Ziele der Meldebogenaktion eingeweiht – wurde durch „T4“ beauftragt, „die Anstaltsdirektoren zu informieren, dass in den Anstalten, die von Berlin aus zugesandten Karteikarten [= Meldebogen,
P. S.] sorgfältig auszufüllen seien und die wieder nach Berlin zurückgesandt werden müssen.“144 Die
Methode der direkten Kontaktaufnahme zu den Anstalten – verbunden mit einer Information an die
Trägerbehörde – setzte sich offenbar als allgemeines Verfahren durch.145
Während die Anstalten verschiedener Gebiete in der Mitte Deutschlands (wie etwa der preußischen
Provinz Sachsen) im Frühjahr 1940 Meldebogen erhalten hatten,146 trafen solche im westlichen Teil des
Deutschen Reichs durchgehend im Juni/Juli 1940 ein, begleitet von jeweils neuen Conti-Erlassen, die
sich in ihren Kernaussagen mit dem entsprechenden Dokument vom Oktober 1939 deckten. Im Einzelnen betraf diese Tranche die preußischen Provinzen Hessen-Nassau, Rheinprovinz, Westfalen und
Hannover sowie das Land Hessen, kurz darauf folgten die nördlichen (fränkischen) Bezirke Bayerns.147
Erst im August 1940 erfolgte dann die Erfassung im Norden und Nordwesten, etwa in Hamburg und in
Oldenburg.148
Es kam durchaus vor, dass Anstalten die Meldebogen gar nicht, nicht umfassend oder erst mit Verzögerung ausfüllten. Je mehr sich der wahre Zweck der Bogen herumsprach, kam es zur Ablehnung der
Ausfüllung durch konfessionelle Anstalten. Belegt ist dies etwa für die von Bodelschwingh’schen
Anstalten in Bethel, für die Nieder-Ramstädter Anstalten bei Darmstadt und schließlich auch für die
Anstalten der Inneren Mission im Rheinland, wenn die Verweigerungshaltung auch in der Folge zum
Teil durch verschiedene Kompromisse gebrochen wurde.149 In den staatlichen oder kommunalen Einrichtungen waren derartige Ablehnungen kaum anzutreffen, allenfalls in Einzelfällen ist ein vergleichsweise restriktives Vorgehen bei der Meldebogenausfüllung zu konstatieren. So meldete die
Provinzialheilanstalt Münster 1940 nicht mehr als 45 % ihrer Patientinnen und Patienten, während die
143
Ebd., S. 105, mit Hinweis auf HStA Weimar, Best. MdI, E950, Bl. 238, Schreiben d. MdI Weimar (28.02.1940).
StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Aussage Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 16 (dieser „T4“-Auftrag wurde Schmidt durch Linden übermittelt); entsprechend auch ebd.,
Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 101 f. (Schmitt
habe sich bei Gauleiter Jakob Sprenger und Staatssekretär Heinrich Reiner rückversichert, die ihm die Information an die
Anstaltsleiter auftrugen). – Jedoch konnte der Nieder-Ramstädter Anstaltsleiter sich in ebd., Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfarrer
Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 76, „nicht erinnern, daß er [= Schmitt] auf Ausfüllen
der Fragebogen gedrängt hat.“
145
Walter, Psychiatrie (1996), S. 713 f., stellt ein entsprechendes Vorgehen für den PV Westfalen fest; siehe auch die Angaben zu den übrigen Regionen. – Die dem entgegenstehende Nachkriegsaussage des Anstaltsdezernenten des PV Hannover, er
sei im Sommer 1940 erst durch die Anstaltsleiter über die Meldebogen informiert worden und deren Zweck sei ihm nicht
bekannt gewesen, ist insofern kritisch zu hinterfragen: vgl. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 47, mit Hinweis auf HStA
Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 28, Bd. I, Bl. 19, Aussage Dr. Georg Andreae (11.05.1948).
146
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 76.
147
Zur Rheinprovinz siehe Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 338 f., S. 345 f. (Erlass datiert 11.06.1940, Eintreffen
teilweise erst 07./08.07.1940, Abgabefrist 01.08.1940). – Zu Westfalen siehe Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; ders., Psychiatrie (1996), S. 713 (Erlass datiert 14.06.1940). – Zu Hannover siehe Finzen, Dienstweg (1983), S. 62–68 (Erlass datiert
14.06.1940, Eintreffen z. B. in Wunstorf am 04.07.1940, in Hildesheim am 08.07.1941, Abgabefrist 01.08.1940, z. T. verlängert bis 01./15.09.1940); siehe auch Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 74–77; siehe auch Faulstich, Irrenfürsorge (1993),
S. 209. – Zu den bayerischen Bezirken Mainfranken sowie Ober- und Mittelfranken siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 110–
112 (Erlass datiert auf den 21.06.1940, Eingang der Meldebogen jedoch z. T. erst Wochen später, Abgabefrist 01.09.1940);
siehe auch Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 209 (Eintreffen in Erlangen im Okt. 1940).
148
Zur vergleichsweise späten Zusendung von Meldebogen beispielsweise in Hamburg vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999),
S. 82 f.; zu Oldenburg vgl. Harms, Hungertod (1996), S. 85.
149
Zu Bethel siehe Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 353 f.; zu den evangelischen Anstalten im Rheinland siehe ebd.,
S. 348–350; Orth, Transportkinder (1989), S. 83; zum Tannenhof in Remscheid-Lüttringhausen (ebenfalls eine Anstalt der
Inneren Mission im Rheinland) siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 120, Zeugenaussage Elisabeth M. im
Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); zur Weigerung der konfessionellen Anstalten siehe auch ebd., Nr. 32061 Bd. 7,
Bl. 410–415, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 10. Hv-Tag (14.03.1947), hier Bl. 414; zu
Nieder-Ramstadt, wo nach der verweigerten Ausfüllung schließlich erst im Sept. 1941 eine „Gutachter“kommission unter
Leitung von „T4“-Arzt Dr. Otto Hebold die Meldebogenerfassung vornahm, siehe StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte,
Bl. 19 f., Bericht Dr. med. Ernst Georgi, Nieder-Ramstadt, erstattet auf Veranlassung des Landrates des Landkreises Darmstadt (16.06.1945); ebd., Bl. 27–32, Zeugenaussage Dr. Ernst Georgi in Nieder-Ramstadt ggü. d. StAnw Darmstadt
(21.06.1945), Leseabschr., hier Bl. 29 f.; ebd., Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfarrer Otto Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG
Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 77; ebd., Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 103.
144
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
389
entsprechenden Quoten in den Provinzialheilanstalten Marsberg und Eickelborn (die zum selben Trägerverband, dem Provinzialverband Westfalen gehörten) bei 98 bzw. 99 % rangierten.150 Durch eine
zurückhaltendere oder ganz verweigerte Meldebogenausfüllung konnten zwar Morde an den nicht
gemeldeten Personen nicht grundsätzlich verhindert werden, weil „T4“ in den entsprechend „verdächtigten“ Anstalten daraufhin seine eigenen „Gutachter“kommissionen einsetzte, die die Erfassung vor
Ort vornahmen. In den genannten Fällen führte das Verhalten der Anstalten aber teilweise zu Verzögerungen im Ablauf der „T4“-Mordaktion, was (in Verbindung mit dem Gasmordstopp vom August
1941) zumindest einer gewissen Anzahl von Menschen das Leben gerettet hat.
Die Landesheilanstalten der beiden hessisch-nassauischen Bezirksverbände erhielten die Meldebogen Ende Juni 1940, zusammen mit einem Conti-Erlass vom 14. Juni dieses Jahres. Bei den Leitern der
Anstalten des (nordhessischen) Bezirksverbandes Hessen – Haina, Marburg und Merxhausen – gingen
die Bogen am Freitag, dem 28. Juni ein. Alle drei Direktoren wandten sich daraufhin in separaten
Schreiben an die Kasseler Hauptverwaltung ihrer Trägerbehörde, um eine Verschiebung der Ausfüllung zu erwirken: Man möge „sie verschonen mit diesen Statistiken; wegen des Personalmangels“, wie
es Anstaltsreferent Rücker vom Bezirksverband Hessen zusammenfasste. Dieses Ansinnen zerstreute
allerdings Landeshauptmann Traupel binnen weniger Tage im Wissen um die „T4“-Aktion. Mit dem
Hinweis, er habe sich beim Reichsministerium des Innern über den Zweck der Bogen informieren
lassen, teilte er den Direktoren bereits Anfang Juli mit, es handele sich „um eine äußerst wichtige Angelegenheit in Hinsicht auf die künftige Gesundheitsführung des deutschen Volkes“. Die drei Landesheilanstalten füllten die Meldebogen daraufhin wie vorgesehen aus, insbesondere nachdem Landeshauptmann Traupel „dringend“ darum gebeten hatte, „mit allem Nachdruck an die Bearbeitung [...]
heranzugehen“. Andere Arbeiten sollten zurückgestellt werden, um die Abgabefrist (1. September)
möglichst einzuhalten.151 Anstaltsreferent Rücker tat darüber hinaus das Seine, um die Anstalten während der Zeit der Meldebogenerstellung nach Möglichkeit zu entlasten. Zu diesem Zweck bat Rücker
etwa im Juli 1940 „ohne Vorgang“ den Oberstaatsanwalt in Kassel, dieser möge auf seine turnusmäßigen Anfragen wegen des Geisteszustandes einzelner, gerichtlich untergebrachter Kranker verzichten;
die Staatsanwaltschaft sicherte dies postwendend zu.152 Offenbar war man bei „T4“ mit Art und Umfang der Meldungen durch die nordhessischen Anstaltsleiter zufrieden, denn eine Nacherhebung, die
(wie üblich) bei der Meldebogenzusendung als potenzielle Maßnahme in Aussicht gestellt worden war,
blieb in Haina, Marburg und Merxhausen aus.153
Die Meldebogenerfassung im Bezirksverband Nassau, also in den Landesheilanstalten Eichberg, Hadamar, Herborn und Weilmünster, unterschied sich nicht grundsätzlich von dem Prozedere in den
150
Walter, Psychiatrie (1996), S. 716.
LWV, Best. 17/137, RMdI, Az. IVg 6156/40 – 5100, gez. i. V. Dr. Conti, an LHA Merxhausen (14.06.1940, Eingangsstempel 28.06.1940), als Faks. auch in Hadamar (1991), S. 72; LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 115, RMdI, Az.
IVg 6157/40 – 5100, gez. i. V. Dr. Conti, an LHA Hadamar (14.06.1940), mit den Anlagen „Merkblatt. Bei Ausfüllung der
Meldebogen zu beachten!“ (= Bl. 119) u. „Ergänzungsblatt zum grünen Merkblatt“ (= Bl. 120); ebd., Bl. 118 f., PV HessenNassau u. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an die LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen, betr. „Erfassung
der Heil- und Pflegeanstalten“ (05.07.1940), hier als Abschr. vom selben Absender, gez. i. V. Traupel, an LHAen Eichberg,
Hadamar, Herborn u. Weilmünster, hier Hadamar (o. D. [05.07.1940], Eingang: 06.07.1940]) (Bezugnahme auf schriftliche
Reaktionen vom 02.07.1940 aus Haina, vom 01.07.1940 aus Marburg u. vom 29.06.1940 aus Merxhausen, Zitate „um eine
[...]“, „mit allem Nachdruck [...]“); das Schreiben vom 05.07.1940 wird auch indirekt zit. in LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 77–82, Bericht von Prof. Dr. Langelüddeke, Marburg, für Spruchkammer II Marburg-Stadt (05.09.1947), Abschr., hier Bl. 77, auch vorhanden in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1449–
1454, hier Bl. 1449 (danach Eingang der Meldebogen in Marburg am 28.06.1940, Fertigstellung bis 03.08.1940); HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 174 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (dort
Zitat „sie verschonen [...]“, Hinweis auf Weitersendung an die Anstalten durch die Hauptverwaltung Kassel u. auf separate
Reaktion der 3 Direktoren); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Zeiß, Erich, Dr., Bl. 56–58, nicht unterzeichneter „Bericht des Dr[.] med. E[.] Zeiss über die Verlegung von geisteskranken Männern aus der Landesheilanstalt Haina in die
Heil- und Erziehungsanstalt Calmenhof und in die Landesheilanstalt Weilmünster“ (o. D. [Eingangsstempel d. LH in Kassel:
08.02.1947]). – Zur Meldebogenausfüllung in Marburg siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 295 f. – Ein von der LHA
Haina ausgefüllter Meldebogen befindet sich in LWV, Best. 13/Pat. 166 u. ist als Faks. abgebildet in Hadamar (1991), S. 73.
152
LWV, Best. 17/132, Bl. 22, BV Hessen an OStAnw in Kassel (24.07.1940), Abschr.; ebd., Bl. 21, OStAnw in Kassel an
BV Hessen (31.07.1940), Abschr.
153
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 178, Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag
(04.03.1947).
151
390
IV. Zeit der Gasmorde
übrigen Provinzen oder Ländern. Wie inzwischen Usus, sandte das Innenministerium die Meldebogen
direkt an die Anstaltsdirektoren und informierte parallel die Zentralverwaltung.154 Bernotats Anstaltsdezernat ließ den Direktoren unmittelbar darauf, Ende Juni 1940, die Aufforderung zugehen, „die
Ausfertigung der Meldebogen mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen und fristgerecht [...] einzusenden.“ Sechs Tage später stellte zusätzlich Landeshauptmann Traupel gegenüber den Anstaltsleitern
auch seines Wiesbadener Bezirksverbands die Bedeutung, die er der Angelegenheit beigemessen sehen
wollte, schriftlich heraus. Der Einfachheit halber schickte er ihnen kurzerhand jeweils eine Abschrift
seines Briefes an die nordhessischen Direktoren „zur Kenntnis und entsprechenden weiteren Veranlassung“. Diese Zweigleisigkeit brachte es mit sich, dass die „nassauischen“ Anstalten in dieser Sache
nun sowohl nach Kassel als auch nach Wiesbaden zu berichten hatten.155
Dass Traupel es für nötig hielt, Bernotats Aufforderung durch ein „Machtwort“ zu bekräftigen, dürfte mit Problemen in Verbindung zu bringen sein, die sich bezüglich der Meldebogenerfassung zwei
Tage zuvor in der Anstalt Weilmünster offenbart hatten. Dass deren Leiter Dr. Ernst Schneider die
Ausfüllung der Bogen für die Kranken seiner Einrichtung zunächst ablehnte, scheint allerdings kaum
als Widerstandshandlung aufzufassen sein.156 Vielmehr reihte seine Kritik sich (wie es auch bei der
erwähnten Reaktion der nordhessischen Anstaltsdirektoren angeklungen war) in die bereits in den
Vorjahren vermehrt erhobenen Klagen über die Flut von statistischen Erhebungen ein,157 welche ihre
Entsprechung auch in der Einführung neuer statistischer Ämter (z. B. bei Provinzial- und Bezirksverbänden) gefunden hatte.158 Auch die westfälische Provinzialheilanstalt Warstein protestierte bei ihrer
vorgesetzten Behörde in Münster gegen die ihrer Einschätzung nach „wohl nicht als kriegsnotwendig“
anzusehende Tätigkeit.159
Nachdem die 1.500 Meldebogen in Weilmünster eingetroffen waren, regte Direktor Schneider nämlich bei Bernotat an, „dafür einzutreten, dass die Rückkehr der eingezogenen Ärzte und Beamten abgewartet werden muss, ehe eine derartig umfangreiche und zeitraubende Arbeit unternommen werden
kann.“160 Auch als Bernotat Schneider telefonisch auf die Bedeutung der Erfassung hingewiesen hatte,
soll dieser geklagt haben, „dass die Anforderungen [...] sehr gross seien, ob er es schaffen würde, sei
fraglich.“161 Anscheinend informell – vermutlich durch Bernotat – unterrichtet, schaltete sich daraufhin
Ministerialrat Linden vom Innenministerium ein und wandte sich offiziell an den Bezirksverband: Wie
ihm mitgeteilt werde, „soll sich der Direktor der Landesheilanstalt Weilmünster geweigert haben, diese
154
Vgl. LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80, RMdI, Ministerialrat Dr.
Linden, an den „Landeshauptmann des Bezirksverbandes Hessen-Nassau“ [= gemeint ist der BV Nassau], Wiesbaden
(12.07.1940). – Unzutreffend ist die Erinnerung des Direktors, die Bogen seien „vom Landeshaus in Wiesbaden zugestellt“
worden: HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 111.
155
Schreiben BV Nassau [vermutlich gez. Bernotat], an die Anstalten d. BV Nassau (29.06.1940), zit. in LWV, Best. 100,
Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II),
gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940), hier Bl. 80; LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 118 f., PV
Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an die LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen, betr.
„Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (05.07.1940), hier als Abschr. vom selben Absender, gez. i. V. Traupel, an LHAen
Eichberg, Hadamar, Herborn u. Weilmünster, hier Hadamar (o. D. [05.07.1940], Eingang: 06.07.1940]) (im Schreiben an die
Anstalten des BV Nassau Bezugnahme „auf mein Schreiben vom 29. Juni 1940 – A (IB) 13/06“, an die Anstalten des BV
Hessen unter Bezugnahme auf dasselbe [Kasseler] Az., jedoch o. D.); ebd., Bl. 123, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an
Oberpräsident „(Verw. des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, Kassel, sowie abschriftl. an
BV Nassau, Abt. A (SII), Wiesbaden, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten zum Erlass des Herrn Reichsminister des
Innern vom 14. 6. 1940. Aktz. IVg 6157/40 – 5100“ (18.07.1940), Durchschr.
156
Selbst der nach 1945 in vielfältiger Weise um seine Entlastung bemühte Dr. Ernst Schneider behauptete dies an keiner
Stelle: siehe die diversen (in anderen Anmerkungen aufgeführten) Aussagen in HStA Wi, Abt. 461 u. 463.
157
Die LHA Hadamar legte den Erlass zur Ausfüllung der Meldebogen vom 14.06.1940 und den zugehörigen Schriftverkehr
z. B. in ihrer Verwaltungsakte mit dem Titel „Sonstige Statistiken“ ab: LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 115 ff. –
Allgemein zur „Kritik an [...] der Arbeitsüberlastung der Behörden durch Berichte und statistische Erhebungen“ (ab 1939) vgl.
auch Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 767.
158
Zur Einrichtung eines „Statistischen Amtes“ des BV Nassau ab April/Mai 1938 siehe Kap. III. 3. a).
159
Walter, Psychiatrie (1996), S. 715.
160
Schreiben LHA Weilmünster, gez. Schneider, an BV Nassau, Bernotat (02.07.1940), zit. in LWV, Best. 100, Dez. 11,
Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II), gez. LdsR
Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940), hier Bl. 81.
161
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Teil 1, Bl. 80 f., BV Nassau, internes
Schreiben von A (S II), gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940), hier Bl. 81. – Bernotat datiert dieses Telefonat auf den 04.07.1940.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
391
Meldebogen auszufüllen.“ Linden fragte, „ob dies richtig ist und ob sichergestellt ist, dass die Ausfüllung der Fragebogen auf alle Fälle erfolgt.“162
Der zunächst damit als Stellvertreter des Landeshauptmanns befasste Landesrat Kranzbühler leitete die Angelegenheit gleich an seinen Kollegen Bernotat weiter und fragte, „ob und was Ihnen in
der Angelegenheit bekannt ist.“163 Damit handelte Kranzbühler – wenn auch offenbar zumindest in
Einzelheiten der Meldebogenerfassung noch nicht eingeweiht – ganz im Sinne eines reibungslosen
Verwaltungsablaufes. Nach einer internen Erläuterung durch Bernotat wurde Lindens Anfrage beschwichtigend beantwortet.164 Nachdem Anstaltsdezernent Bernotat mithilfe Lindens zunächst auf Konfrontationskurs zu Direktor Schneider gegangen war, schwenkte der Bezirksverband jetzt um und ließ
sich nicht auf eine weitere Grundsatzauseinandersetzung mit Schneider ein. Vielmehr reagierte man im
Sinne einer raschen Erfassung der Patienten nun flexibel: Erneut reaktivierte der Verband den Ruhestandsbeamten Dr. Otto Henkel, der als ärztlicher Direktor wenige Monate zuvor Mennecke auf dem
Eichberg vertreten hatte. Personaldezernent Kranzbühler bestellte ihn ins Landeshaus ein und entsandte
ihn ab Mitte Juli 1940 (gemeinsam mit einer Stenotypistin) „zur Erledigung eines Sonderauftrages“ für
zweieinhalb Wochen nach Weilmünster, da die dortigen Ärzte „die Arbeit nicht bewältigen könnten“.
Zur informatorischen Vorbereitung in ärztlichen Fragen seines „Sonderauftrages“ setzte Henkel sich
(auf Anraten Kranzbühlers) mit dem Eichberger Direktor Mennecke in Verbindung – ein Hinweis
darauf, dass auch Kranzbühler spätestens jetzt die Hintergründe der Meldebogenerfassung einordnen
konnte und wusste, wer über die einschlägigen Spezialkenntnisse verfügte. Henkel absolvierte die
Meldebogenerfassung als „rein mechanische schriftliche Arbeit [...] anhand der Krankengeschichten“,
ohne eine „nochmalige aerztliche Untersuchung oder Vorstellung der Kranken“ vorzunehmen.165 Im
Anschluss an Henkels Erfassungsarbeit sandte die Anstalt Weilmünster die Meldebogen – wahrscheinlich über die Wiesbadener Zentralverwaltung – beinahe fristgerecht ein.166
Bei Vorfällen wie dem in Weilmünster erwies sich, welch essenzielle Voraussetzung die Einbindung
der Provinzial- und Bezirksverbände oder der Landesverwaltungen durch „T4“ „für eine kontrollierte
Durchführung der Erfassung“ war. Wie Walter auch für Westfalen feststellt, sollte die Trägerverwaltung „die Anstaltsleiter anweisen, die Ausfertigung der Meldebogen mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen und fristgerecht nach Berlin einzusenden, und bei auftretenden Schwierigkeiten Hilfestellung
leisten.“ Der Träger musste auch informiert sein, „da sich [...] einzelne Anstalten zunächst bei ihrer
vorgesetzten Behörde rückversicherten, bevor sie mit der ‚sehr weitgreifenden Arbeit‘ begannen“.167
Dass die vorgesetzte Behörde ihren Anstalten bei der Meldebogenerfassung erforderlichenfalls Verstärkung zuwies, wie in Weilmünster geschehen, war kein singulärer Vorgang. Auch in Württemberg
beispielsweise nahm der stellvertretende Leiter der Medizinalabteilung des Innenministeriums, Dr.
162
Ebd., Bl. 80, RMdI, Ministerialrat Dr. Linden, an den „Landeshauptmann des Bezirksverbandes Hessen-Nassau“ [= gemeint ist der BV Nassau], Wiesbaden (12.07.1940). – Bezeichnenderweise schrieb Linden zwar auf einem Briefbogen des
Ministeriums, unterzeichnete aber nicht „im Auftrag“, sondern nur mit seinem Namen.
163
Ebd., Bl. 81, BV Nassau, internes Schreiben von LdsR Kranzbühler i. V. d. LH an LdsR Bernotat (15.07.1940).
164
Ebd., Bl. 80 f., BV Nassau, internes Schreiben von A (S II), gez. LdsR Bernotat, an LdsR Kranzbühler (15.07.1940); ebd.,
Bl. 82, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Min.-Rat Dr. Linden, RMdI (18.07.1940, ab:
18.07.1940). – Zur Rolle von LdsR Max Kranzbühler im Kontext der „T4“-Krankenmorde siehe auch Kap. IV. 3. b).
165
Ebd., Akte Henkel, Otto, Dr., Bl. 48, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Dir. a. D. Dr.
Henkel, Wiesbaden (16.07.1940, ab: 16.07.1940) (Zitat „zur Erledigung [...]“); ebd., 52, LHA Weilmünster, gez. F., an BV
Nassau (03.08.1940) (Einsatz 17.07.–03.08.1940); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 178, Aussage Dr. Otto Henkel
ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (22.08.1946) (Zitate „rein mechanische [...]“ u. „nochmalige ärztliche [...]“); ebd.,
Bd. 4, Bl. 115 f., Zeugenaussage Dr. Otto Henkel im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Nr. 32061 Bd. 7,
Bl. 190 f., Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bd. 6, Bl. 882–886,
Aussage Dr. Adolf Wahlmann ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (10./13./16.01.1947), hier Bl. 882 (10.01.1947); LWV, Best.
100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. I, Bl. 82, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Min.-Rat Dr. Linden, RMdI (18.07.1940, ab: 18.07.1940); vgl. ebd., Bd. III, o. Bl.-Nr., Dr. E. Schneider
an PV Nassau in Wiesbaden (05.08.1945); vgl. auch HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 26–29, Aussage Jakob J. als Beschuldigter in Weilmünster (18.02.1946), hier Bl. 28; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 133 f.
166
An eine Rücksendung über Bernotats Anstaltsabteilung erinnerte sich der Direktor: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3,
Bl. 24 f., Aussage Dr. Ernst Schneider ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), Abschr., hier Bl. 25, auszugsweise Abschr. auch vorhanden in LWV, Best. 19/15, o. Bl.-Nr.; vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 126,
Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946).
167
Walter, Psychiatrie (1996), S. 714.
392
IV. Zeit der Gasmorde
med. Otto Mauthe, selbst Begutachtungen in Anstalten vor, wenn diese ihre Meldebogen nicht rechtzeitig abliefern konnten.168 Und in Westfalen wies der Münsteraner Landeshauptmann Kolbow der
Provinzialheilanstalt Warstein, die die Meldebogenerfassung für zu zeitaufwändig hielt, als Verstärkung den Direktor der benachbarten Anstalt Marsberg, Dr. Theodor Steinmeyer zu,169 der zugleich
„T4“-„Gutachter“ war – nach Teppe „ein ärztlicher Schreibtischmörder, der die Rassenideologie beim
Wort nahm und zur Tat schritt“.170
Während es also in Weilmünster zu temporären Problemen kam, die die Zentralverwaltung des Bezirksverbandes Nassau jedoch durch ihr Eingreifen löste, verlief die Meldebogenerfassung in den anderen Anstalten des Verbandes mehr oder weniger reibungslos. In der überbelegten Landesheilanstalt
Herborn, wo 1940 mehr als 1.600 Patientinnen und Patienten untergebracht waren,171 übernahmen die
Abteilungsärzte die Ausfüllung der Meldebogen anhand der vorliegenden Krankenakten.172 Die Bogen
sandte man anschließend an die Zentralverwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden.173 Wie der
ärztliche Direktor Dr. Paul Schiese später aussagte, habe man – da in den Meldebogen ausdrücklich
nach der Arbeitsfähigkeit gefragt wurde – den Eindruck gehabt, es sollte im Deutschen Reich ein System aus separaten Heilanstalten für Arbeitsfähige einerseits und Pflegeanstalten für Arbeitsunfähige
andererseits eingeführt werden.174
Für die Landesheilanstalt Eichberg mit ihrem von „T4“ angeworbenen Direktor Dr. Fritz Mennecke
stellte sich die Meldebogenerfassung nochmals anders dar als für die Anstalten Weilmünster und Herborn. Besonders da Mennecke in den wahren Zweck der Erhebung schon vorab eingeweiht war, erhielt
die Ausfüllung der Bogen eine andere Wertigkeit – und dies insbesondere deshalb, weil Mennecke
dazu neigte, mit seinem Wissen zu prahlen (und damit auch die Geheimhaltung aufs Spiel zu setzen).
Bereits nach seiner ersten Unterrichtung durch „T4“ kündigte er in der Eichberger „Konferenz“ (an der
neben den Ärzten auch Oberpfleger und -schwester teilnahmen) die kommende „planwirtschaftliche
Erfassung der Anstaltsinsassen“ an, und nach Erinnerung einer Teilnehmerin deutete er dabei bereits
an, dass die nicht arbeitsfähigen Patientinnen und Patienten nicht überleben sollten.175 Viel sagend
schrieb Mennecke in diesen Monaten auch seinem künftigen Stellvertreter, dem mit der Waffen-SS
nach Norwegen eingezogenen Dr. Walter Schmidt: Im Rahmen einer „wichtigen Sonderaufgabe“ sei
er, Mennecke, mit einer „Kommission aus der Kanzlei des Führers“ in „der Ostmark“ gewesen. „Unsere Aktion umfasste fast alle ostmärkischen Anstalten [...]. Den Sinn der Sonderaufgabe erfahren Sie
später, da es sich vorläufig noch um eine ‚geheime Reichssache‘ handelt.“176 Den Nachsatz darf man
wohl allenfalls als Alibibemerkung betrachten, denn in Wirklichkeit konnte die Gedankenkette „Sonderaufgabe“ – „Anstalten“ – „geheime Reichssache“ jedem halbwegs Informierten vermitteln, dass die
schon vor 1939 diskutierten Krankentötungen begonnen hatten.177 In der Anstalt Eichberg wurden –
ebenso wie in Herborn – die übrigen Ärzte in die Ausfüllung der Meldebogen eingebunden, doch auch
168
Stöckle, Aktion (1996), S. 18.
Walter, Psychiatrie (1996), S. 715 f.
170
Teppe, Massenmord (1989), S. 15. – Steinmeyer war seit 01.05.1929 NSDAP-Mitglied u. wurde im Dez. 1939 zum Dir. in
Marsberg ernannt: ebd.
171
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 22 (am 01.04.1940: 831 Männer und 834 Frauen); LWV,
Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1993, Ho., Wi., Teil 1, Bl. 71, BV Nassau an Wehrbezirkskommando Wetzlar (03.05.
1940), Abschr. (darin angegeben „z. Zt. 1600 Geisteskranke“).
172
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 202, Protokoll d. Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm,
5. Hv-Tag (04.03.1947).
173
Ebd., Bd. 2, Bl. 84 f., Aussage Dr. Ernst B. ggü. der Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), hier Bl. 84; ebd.,
Bl. 190 f., Aussage Dr. Paul Schiese ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (28.02.1946), Durchschr., hier Bl. 190; als
Abschr. auch in LWV, Best. 19/15.
174
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 152, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.
1946).
175
Ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg (ehem. Oberschwester) als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm
(03.05.1946), hier Bl. 13. – Mennecke selbst wusste 1946 „nicht mehr genau“, ob er „den wahren Grund der Erfassung bei
dieser ersten Konferenz etwa schon angedeutet“ habe: ebd., Bd. 4, Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter
im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946).
176
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an Dr. Walter Schmidt (29.06.1940), als Abschr. auch in ebd.,
Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 12, Bl. 11, Abdr. auch b. Mennecke (1988), S. 158–160 (Dok. 51), hier S. 159. – Zu Dr. med. Walter
Schmidt (1911–1970) siehe biogr. Anhang.
177
Zu dieser Diskussion siehe Kap. III. 3. c).
169
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
393
Direktor Mennecke selbst beteiligte sich daran;178 ja sogar erwähnter Dr. Steinmeyer aus Warstein
füllte auf dem Eichberg Meldebogen aus.179
Die Art der Meldebogenerfassung durch die Anstalt Hadamar bietet einen klaren Beleg dafür, dass
dieses Erhebungsverfahren von manchen Beteiligten nur als ein Alibi verstanden wurde, um der Tötungsaktion den Anschein einer wissenschaftlichen Fundierung zu geben. In der dortigen Anstalt, die
Mitte 1940 größtenteils als Wehrmachtslazarett genutzt wurde, wo unterdessen kein Arzt des Bezirksverbandes mehr für die verbliebenen rund 150 Heilanstaltspatienten vor Ort war, füllte nämlich der
oberste Verwaltungsbeamte, der Landessekretär Alfons Klein, die Bogen aus und übersandte sie an die
Landesheilanstalt Eichberg. Dort brauchte Mennecke, der in dieser Zeit Hadamar ärztlich mitbetreute,
lediglich noch seine Unterschrift darunter zu setzen, um den Bogen den Anschein von ärztlichen Gutachten zu geben.180
In gleicher Weise wie die eigentlich verbandsangehörigen Landesheilanstalten beteiligten sich auch
die „angeschlossenen“, von Bernotat persönlich als Vorstand geführten181 Anstalten Kalmenhof (in
Idstein) und Scheuern (bei Nassau/Lahn) an der Meldebogenaktion. In der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof füllte die Assistenzärztin Dr. Mathilde Weber, die seit der Einberufung ihres Chefs Hans Bodo
Gorgaß Ende 1939 das Krankenhaus der Behinderteneinrichtung leitete, innerhalb von vier Wochen
über 1.000 Meldebogen aus, welche dann über das Wiesbadener Landeshaus an „T4“ gesandt wurden.182 Und in der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern bearbeiteten die Anstaltsärzte Dr. Adolf
T. und Dr. Eugen A. die 500 eingegangenen Formulare, wie es heißt, zunächst ohne Wissen um deren
Bedeutung. Doch auch hier offenbarte Mennecke seine Kenntnisse in einer Besprechung mit den beiden Ärzten und dem Anstaltsleiter Karl Todt, Monate bevor die Gasmorde in Hessen-Nassau begannen. Er erklärte, „daß es der Wunsch des Führers sei, unglückliche, unheilbare Kranke zu erlösen“ und
dass „späterhin noch Verlegungen von Kranken aus dieser Anstalt in andere Anstalten erfolgen würden“. Wie Anstaltsarzt A. bekundete, sei man sich in Scheuern wohl bewusst gewesen, „daß es sich um
Tötung von Menschen handeln sollte“, man sei aber in dem Glauben gewesen, „daß nicht die Grenzen
überschritten werden sollten, die in der Schrift von Hoche und Binding von 1920 über die ‚Freigabe
der Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ niedergelegt sind“.183
Die Einzelhinweise über die Informationen, die Mennecke unter dem Siegel der Verschwiegenheit
bereits vor oder noch während der Meldebogenerfassung an verschiedene Führungskräfte in den Anstalten im Regierungsbezirk Wiesbaden weitergab, lassen vermuten, dass die Kenntnis über den tatsächlichen Zweck der Meldebogen sich innerhalb des Bezirksverbandes Nassau schon verhältnismäßig
178
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. HvTag (03.12.1946); ebd., Bl. 93, Zeugenaussage Dr. Leopold C. im Eichberg-Prozess, 5. Hv-Tag (09.12.1946); ebd., Bl. 110,
Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946).
179
Ebd., Bd. 4, Bl. 11, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946).
180
LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 123, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Oberpräsident „(Verw. des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, Kassel, sowie abschriftl. an BV Nassau, Abt. A (SII), Wiesbaden, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten zum Erlass des Herrn Reichsminister des Innern vom 14. 6. 1940. Aktz.
IVg 6157/40 – 5100“ (18.07.1940), Durchschr. – Zur seinerzeitigen Nutzung der Anstalt siehe LWV, Best. 12/ehem. VA 225
(Kopie), Bl. 121, „Meldebogen 2“, ausgefüllt von der LHA Hadamar (o. D. [ca. Juli 1940]), Abschr. (danach Patientenzahl
am „Stichtag“ [= 01.07.1940]: 158); siehe dazu auch Kap. IV. 2. b).
181
Zur Gleichschaltung der beiden Anstalten und zur Einführung des Führerprinzips siehe Kap. III. 1. a).
182
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage Mathilde Weber in Idstein (28.04.1945); Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 35; Frankfurter Rundschau (21.01.1947), „Der Kalmenhof-Prozeß begann. ‚Sie haben sich kein Gewissen gemacht‘. Das Gift im
Abendessen. 232 Jugendliche in die Gaskammern geschickt“, als Faks. auch ebd. (Sick), S. 117 f. – Dr. Mathilde Weber
(* 1909) war seit Juli 1939 Ärztin im Kalmenhof: ebd. (Sick), S. 34; siehe auch Kap. V. 1. b) und biogr. Anhang. – Hans Bodo
Gorgaß war seit 01.12.1939 einberufen: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Gorgaß, Hans Bodo, Teil 2,
Bl. 62/66, Melde- und Personalbogen I zu § 81 des Bundesgesetzes zu Art. 131 GG (o. D. [ca. 1953/54]); zu Gorgaß (1909–
1990er Jahre) siehe auch Kap. IV. 2. c) u. biogr. Anhang.
183
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 21 f., Protokoll d. Vernehmung Dr. A. b. d. StAnw Koblenz (03.04.1946), hier Bl. 21
(betr. Unterrichtung durch Mennecke); Urteilsbegründung im Verfahren gegen den Leiter der Anstalt Scheuern, Karl Todt,
und gegen den Anstaltsarzt Dr. T., hier nach dem auszugsw. Abdr. in Skizzen (1990), S. 31/33/35/37, hier S. 31 (dort Angabe
über angebliches Unwissen). – In Scheuern traf die Meldebogensendung nicht – wie für den BV Hessen belegt, am Freitag,
28.06.1940 ein, sondern erst am darauf folgenden Montag, 01.07.1940: AHS, RMdI, Az. IV g 6157/40 – 5100, gez. i. V.
Conti, an HEPA Scheuern, Bergnassau (14.06.1940, Eingangsstempel: 01.07.1940), mit den Anlagen 500 „Meldebogen 1“,
„Merkblatt“, „Ergänzungsblatt zum grünen Merkblatt“ u. „Meldebogen 2“. – Zur erwähnten Schrift Binding/Hoche, Freigabe
(1920) siehe die Ausführungen in Kap. III. 3. c).
394
IV. Zeit der Gasmorde
früh relativ weit verbreitet hatte. Ein paralleles Verhalten zu dem Menneckes legten auch andere „T4“„Gutachter“ an den Tag, wie beispielsweise die beiden Mitwirkenden aus Bonn, Prof. Dr. Kurt Pohlisch und Dr. Friedrich Panse, welche verschiedene Stellen – Anstaltsärzte, aber auch kirchliche Stellen – über die Bedeutung der „T4“-Meldebogen informierten.184
Wie für Weilmünster, Herborn und den Kalmenhof bereits gezeigt, geschah die Meldebogenrücksendung nach Berlin dem Grundsatz nach über die Zwischenstation der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes in Wiesbaden; für diese interne Rückgabe hatte Landeshauptmann Traupel den Anstalten
ursprünglich den 25. Juli 1940 als Frist gesetzt.185 Dieser Rücksendemodus scheint aber nicht durchgehend so praktiziert worden zu sein. Insbesondere in den Fällen, in denen Mennecke persönlich involviert
und seine übergeordnete Funktion zur Sprache gekommen war, fungierte auch er möglicherweise als
Empfänger oder Übermittler der ausgefüllten Bogen.186 Für die Anstalt Scheuern führte Bernotat erst ein
Jahr später – im August 1941 – die Regel ein, dass die Meldebogen (welche für neue Patienten weiterhin
im halbjährlichen Turnus abzugeben waren) „zukünftig termingemäss zunächst mir vorzulegen“ seien.
Er, Bernotat, werde „sie dann von hier aus dem Herrn Reichsminister des Innern übersenden.“187
Die Befunde aus dem Bereich des Bezirksverbandes Nassau führen zu dem Schluss, dass dem Modus
der Meldebogenrücksendung keine prinzipielle, starre Regelung durch „T4“ zugrunde lag. Vielmehr
wurde flexibel jeweils die Variante gewählt, die – nach Einschätzung der Eingeweihten – zugleich ein
Höchstmaß an Zuverlässigkeit bei der Ausfüllung und ein Maximum an Geschwindigkeit erwarten
ließ. Dieses flexible Eingehen auf die jeweiligen Verhältnisse ohne eine Beachtung starrer Verwaltungsvorschriften war bereits im allerersten Erlass des Reichsministeriums des Innern im Zusammenhang
mit der „T4“-Mordaktion angelegt, in dem es hieß, das Ministerium plane, mit den Anstalten direkt
Kontakt aufzunehmen, werde aber die Unterstützung der vorgesetzten Dienststellen einfordern, sofern
die Bogen nicht rechtzeitig zurückgesandt würden.188 Eine flexible Anpassung in der Frage der Meldebogenrücksendung an die jeweiligen praktischen Umstände lässt sich auch für andere Länder oder Provinzialverbände belegen. So heißt es etwa für das Land Hessen, dass dessen Heil- und Pflegeanstalten
die Meldebogen im Allgemeinen unmittelbar an „T4“ in Berlin schickten,189 dass die Weitergabe der
Meldebogen aber wahrscheinlich mindestens einmal auch über die Darmstädter Landesregierung er184
Leipert, Beteiligung (1987), S. 28 f. – Prof. Dr. Kurt Pohlisch (1893–1955) war 1934–1945 u. 1952–1955 Ordinarius für
Psychiatrie und Neurologie an der Univ. Bonn und leitete 1934–1945 die PHA Bonn. – Prof. Dr. Friedrich Panse (1899–1973)
versah 1933–1945 einen Lehrauftrag für „Rassenhygiene“ an der Univ. Bonn und war 1955–1967 Ordinarius für Psychiatrie
und Neurologie an der Med. Akademie Düsseldorf u. Dir. d. Rhein. Landeskrankenhauses Düsseldorf-Grafenberg.
185
LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 118 f., PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel,
an die LHAen Haina, Marburg u. Merxhausen, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (05.07.1940), hier als Abschr.
vom selben Absender, gez. i. V. Traupel, an LHAen Eichberg, Hadamar, Herborn u. Weilmünster, hier Hadamar (o. D. [05.07.
1940], Eingang: 06.07.1940), hier Bl. 118.
186
Z. B. heißt es über die ausgefüllten Bogen in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 178, Aussage Dr. Otto Henkel ggü.
d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (22.08.1946), „m[eines] W[issens] wurden sie entweder an Dr. Mennecke oder an den
Bezirksverband in Wiesbaden versandt“. – Auch für die LHA Eichberg ist eine direkte Weitergabe durch Mennecke an „T4“
anzunehmen, zumindest ist dort – anders als bei den anderen Anstalten – an keiner Stelle in den vielen Aussagen eine Rücksendung über das Wiesbadener Landeshaus erwähnt. – Von der LHA Hadamar wurde den Traupel’schen Verwaltungen in
Kassel (PV u. BV) die Rücksendung der Meldebogen über Mennecke angekündigt, und die Verwaltung des BV Nassau in
Wiesbaden wurden nur abschriftlich darüber informiert: LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 123, LHA Hadamar, gez.
i. A. LS Klein, an Oberpräsident „(Verw. des Provinzialverbandes und der Bezirksverbände Hessen und Nassau)“, Kassel,
sowie abschriftl. an BV Nassau, Abt. A (SII), Wiesbaden, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten zum Erlass des Herrn
Reichsminister des Innern vom 14. 6. 1940. Aktz. IVg 6157/40 – 5100“ (18.07.1940), Durchschr. – Bernotats Sekretärin
meinte in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 182 f., Zeugenaussage Therese H. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), hier Bl. 183, sogar: „M[eines] W[issens] wurden die Meldebogen von den einzelnen Anstalten unmittelbar nach Berlin versandt, sodass sie nicht über den Bezirksverband gingen.“ – Diese Einschätzung scheint aber aufgrund der
anderen Aussagen als zu weit gehend.
187
AHS, Der Vorsitzende d. HEPA Scheuern, Wiesbaden, gez. Bernotat, an HEPA Scheuern, betr. „Erfassung der Heil- und
Pflegeanstalten; Erlass des Herrn Reichsministers des Innern vom 14. 6. 1940 IVg 6157/40 – 5100“ (04.08.1941).
188
Friedlander, Weg (1997), S. 135 f. u. S. 504 (Anm. 87), mit Hinweis auf GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“
[= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611–1733], RdErl. d. RMdI, gez. Conti, an die außerpreuß. Landesregierungen, die preuß. RPen
u. die Landeshauptleute der Ostmark, betr. „Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ (21.09.1939).
189
StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 14–18, Aussage Dr. Jakob Schmitt als Beschuldigter in d. Haftanstalt Darmstadt (12.06.1945), hier Bl. 18; ebd., Bl. 50, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. Polizeipräsidium Darmstadt (08.01.1947); ebd.,
Bl. 105, RP Darmstadt an LG Darmstadt, Untersuchungsrichter (30.11.1948), unter Bezugnahme auf eine Auskunft des
Gießener Anstaltsdirektors Dr. Schneider.
395
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
folgte.190 Auch im Provinzialverband Westfalen wurde die ursprüngliche Planung modifiziert, und zwar
zur Beschleunigung des Verfahrens. Nachdem die Provinzialverwaltung ursprünglich von den Anstaltsleitern gefordert hatte, die fertigen Meldebogen zur Sammlung an das Landeshaus in Münster zu schicken, verzichtete der Verband schließlich, um Zeit zu sparen, darauf und begnügte sich damit, dass die
Anstaltsleiter monatlich berichteten, wie viele Bogen sie bereits nach Berlin gesandt hatten.191
Nach Eingang der Meldebogen bei „T4“ in Berlin wurden von jedem Bogen drei Kopien angefertigt;
diese Kopien wurden an drei verschiedene „Gutachter“ weitergesandt, die (hauptsächlich nach den Kriterien „Heilungsaussicht“ und „Arbeitsfähigkeit“) über Leben und Tod des erfassten Menschen entschieden. Für den Fall, dass die drei „Gutachter“ in ihrer Bewertung nicht übereinstimmten, fällte
abschließend einer der „T4“-Obergutachter (Dr. Herbert Linden, Prof. Dr. Werner Heyde oder Prof.
Dr. Paul Nitsche) das abschließende Urteil.192 Wie den anderen „Gutachtern“ sandte „T4“ die Meldebogenkopien auch Mennecke zur Bewertung zu, der diese dann meist zu Hause bearbeitete; seiner
Schätzung nach belief sich die Zahl der von ihm bewerteten Bogen auf eine Größenordnung von 6.000
oder 7.000 Stück.193 Die Eichberger Verwaltung war bereits instruiert und sandte ihm mitunter die
eingegangen Bogen nach, wenn er sich gerade auf einer seiner „Begutachtungs“reisen befand.194 Solche
Reisen setzte „T4“ verschiedentlich an, um die Meldebogenausfüllung in bestimmten Regionen voranzutreiben – sei es aus Zeitdruck, sei es weil Anstaltsleiter selbst die Ausfüllung nicht oder nicht vollständig durchgeführt hatten. Derartige Reisen führten den Eichberger Direktor Mennecke in den Jahren
1940 und 1941 in eine Vielzahl von Anstalten im Rheinland, in Westfalen, in Bayern sowie in den
österreichischen Reichsgauen; 1941/42 selektierte er darüber hinaus im Rahmen der so genannten
„Sonderbehandlung 14f13“ in den KZs Sachsenhausen, Dachau, Ravensbrück, Buchenwald, GroßRosen, Auschwitz und Flossenbürg solche Häftlinge, die anschließend in den Gaskammern verschiedener „T4“-Anstalten ermordet wurden.195 Mennecke wollte im Nachkriegsprozess nicht bestreiten,
dass die „Gutachter“tätigkeit, für die er eine monatliche Sondervergütung von 200 RM zuzüglich Reisespesen von „T4“ erhielt, ihm „eine gewisse Genugtuung“ bereitet habe.196
*
Der Mord an psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen, der in den Jahren 1940 und 1941
in Gaskammern begangen wurde, war von vornherein als zentral organisierte Tötungsaktion angelegt.
190
Ebd., Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt, Untersuchungsrichter II (03.12.1948), hier Bl. 102; vgl.
auch ebd., Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 4, Zeugenaussage Peter M. b. d. Vernehmung durch d. StAnw Ffm in Goddelau
(11.08.1948), worin der langjährige Verwaltungsangestellte der LHPA „Philippshospital“ bei Goddelau bemerkte, er „möchte
annehmen, dass der damalige Direktor Dr. Scriba [...] die Meldebogen beraten und nach Ausfüllung diese nach Darmstadt
weitergeleitet hat.“
191
Walter, Psychiatrie (1996), S. 714 f.
192
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, QR, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Fritz R. ggü. d. LG Ffm in Berlin (02.11.1963), Kopie
(„T4“-Mitarbeiter, der die Meldebogen kopierte und zur Versendung vorbereitete); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl.
332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 344 f.; Stöckle,
Aktion (1996), S. 18. – Zu den Personen der Obergutachter siehe z. B. Aly, Aktion (1989), S. 15; Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 36.
193
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 11 f. bzw. Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im EichbergProzess, 1. bzw. 2. Hv-Tag (02. bzw. 03.12.1946) (dort die Schätzung 6.000); ebd., Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung
d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 228 (dort Menneckes Schätzung
7.000); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Eva Mennecke, Eichberg, an Fritz Mennecke, z. Zt. Oranienburg (04.–09.04.1941),
hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 186–191 (Dok. 66), hier S. 186 (04.04.1941) (die Ehefrau Eva Mennecke meldete den
Eingang „eine[r] Briefsendung von Berlin von 54 Fragebögen“ und bedauerte, „daß ich davon nichts erledigen kann, dann
hättest Du doch mal nichts tun, wenn Du zurückkommst.“
194
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld (zeitweise Bad Oeynhausen), an Eva Mennecke (21.–24.02.
1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 176–183 (Dok. 63), hier S. 178 (21.02.1941) (ihm wurde „vom Eichberg: ein Einschreiben von Berlin, neue Photocopien von Kinderfällen“ nachgesandt). – In diesem konkreten Fall handelte es sich wahrscheinlich nicht um „T4“-Bogen, sondern um solche der sog. „Kindereuthanasie“ des „Reichsausschusses“, siehe dazu Kap. V. 1. b).
195
Zu den Quellen und den Daten im Einzelnen siehe Sandner, Eichberg (1999), S. 187, S. 212 (Anm. 120–125); insb. die dort
nachgewiesenen Fundstellen in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, bzw. in Mennecke (1988); zur sog. „Sonderbehandlung 14f13“
siehe die in Kap. IV. 3. c) zitierten Literaturnachweise.
196
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 50, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 4. HvTag (06.12.1946) (Zitat „[...] Genugtuung“); ebd., Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess
(o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 228 (betr. Sondervergütung).
396
IV. Zeit der Gasmorde
Die hierzu eingerichtete Organisation „T4“ war jedoch bereits in der Vorbereitungsphase auf umfangreiche Beiträge von Kooperationspartnern in den Regionen angewiesen, zunächst insbesondere, um
Zugang zu den Informationen über die Unterbringungsorte, die Anzahl und die Erkrankungs- oder
Behinderungsarten der künftigen Mordopfer zu gewinnen. Aber auch bei der Rekrutierung von ärztlichen „Gutachtern“ benötigte und erhielt die Mordorganisation von Anfang an Unterstützung seitens
regionaler Stellen. Die Führung des Bezirksverbandes Nassau leistete bereits vergleichsweise früh
„Amtshilfe“, indem sie die von „T4“ gewünschte U.-k.-Stellung von Dr. Friedrich Mennecke, dem
ärztlichen Direktor der Landesheilanstalt Eichberg, beantragte und betrieb, um diesem die Mitarbeit bei
„T4“ zu ermöglichen.
Generell waren die Anstaltsdezernate der preußischen Provinzial- und Bezirksverbände sowie die
Medizinalabteilungen der außerpreußischen Landesregierungen die Hauptansprechpartner von „T4“
bei der Vorbereitung der Morde. Durchweg wurden die jeweils für die Psychiatrie oder das Anstaltswesen Verantwortlichen zu örtlichen „Sonderbeauftragten“ der Mordorganisation gemacht. Die (scheinbare) Legitimation für diesen Auftrag verschaffte das informelle Konglomerat „T4“ sich je nach Bedarf – und wohl auch je nach Haltung des Angesprochenen – über Parteireferenzen oder über die
amtliche Einschaltung der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums. Allein schon durch die
Einweihung dieser „Sonderbeauftragten“, die ihrerseits mitunter einzelne Mitarbeiter, Anstaltsleiter
usw. informierten, verbreiteten die Kenntnisse über die geplanten (bzw. bereits begonnenen) Morde
sich zwangsläufig recht weitgehend im Deutschen Reich, wozu außerdem aber auch die anscheinend
für unumgänglich gehaltene Informationsweitergabe an Partei- und kommunale Stellen (Gauleitungen,
Oberbürgermeister) durch „T4“ beitrug. Die „Sonderbeauftragten“ bei Provinzial- oder Bezirksverbänden und Landesregierungen oder Reichsgauen ließen sich allesamt in die Mordplanungen von „T4“
einbinden. Mögliche Widerstandserwägungen – sollten sie denn bestanden haben – führten nicht zur
Realisierung. Der Bezirksverband Nassau mit dem „Sonderbeauftragten“ Anstaltsdezernent Bernotat
fügte sich nahtlos in die Planungen ein und unterstützte „T4“, ohne Hürden zu errichten.
Zur ersten Nagelprobe für die Zuverlässigkeit der jeweiligen „Sonderbeauftragten“ in den Regionen
wurde die Meldebogenerfassung. Da diese Erhebung nicht überall zeitgleich stattfand, sondern nach
Regionen gestaffelt, nahm der Kenntnisstand über die wirklichen Hintergründe der Erfassung im Laufe
der Zeit zu: Da die Meldebogen im Bezirksverband Nassau erst relativ spät, nämlich ein Dreivierteljahr
nach Beginn der Erfassungsaktion, eintrafen, konnten zum Teil Kenntnisse über den Zweck der Meldebogen sich verbreiten. Anders als vereinzelt in konfessionellen Anstalten lässt sich ein Widerstand
gegen die Meldebogenausfüllung im Bezirksverband Nassau nicht erkennen. Der seit Kriegsbeginn in
den Anstalten verschärft herrschende Personalmangel drohte allerdings zum Hindernis für eine schnelle Meldebogenbearbeitung zu werden. Umso mehr kam der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes
die Rolle zu, mögliche Hürden für eine rasche Erledigung des Erfassungsauftrags (wie in Weilmünster)
pragmatisch und unbürokratisch aus dem Weg zu räumen. Voraussetzung hierzu war die umfassende
Information zumindest der Führungsriege aus Landeshauptmann, Personaldezernent und Anstaltsdezernent. Indem die regionalen „Sonderbeauftragten“ und damit auch die Verwaltung des Bezirksverbandes die fristgerechte Ausfüllung der Meldebogen sicherstellten und auch deren Rücksendung nach
Berlin entweder gesammelt selbst vornahmen oder doch von Wiesbaden aus überwachten, trugen sie
dazu bei, die Mordaktion „T4“ möglichst reibungslos in Gang zu setzen. In dieser frühen Phase der
Mordplanung reihte der Bezirksverband Nassau sich engagiert in die Riege der Unterstützerorganisationen von „T4“ ein. Er nahm dabei jedoch, obwohl er 1937 die Anstaltsfürsorge als sein Musterarbeitsfeld gewählt hatte,197 keine besonders hervorgehobene Stellung ein, durch die er sich erheblich von anderen Provinzialverbänden oder Landesverwaltungen unterschieden hätte – sieht man vielleicht einmal
von der U.-k.-Stellung Menneckes ab. Eine prominentere Stellung sollte dem Bezirksverband im Rahmen der Kranken- und Behindertenmorde dann jedoch bereits wenige Monate später zukommen, als er
seine Landesheilanstalt Hadamar der Organisation „T4“ als Mordstätte zur Verfügung stellte.
197
Zu dieser Schwerpunktsetzung siehe Kap. III. 1. a).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
397
b) Auswahl und Einrichtung der Gasmordanstalt
Mit der Bereitstellung seiner Landesheilanstalt Hadamar als Gasmordanstalt für die Krankenmordorganisation „T4“ ab November 1940 hob der Bezirksverband Nassau sich von allen anderen preußischen Provinzial- und Bezirksverbänden ab, da er der einzige unter ihnen war, der in seinen Räumlichkeiten eine „T4“-Anstalt installieren ließ. Während „T4“ bei der Meldebogenerfassung auf die
Unterstützung sämtlicher regionaler Träger des Anstaltswesens angewiesen war und diese auch erhielt,198 ging man bei der Auswahl und Einrichtung der – vom ärztlichen „T4“-Leiter Nitsche so genannten – „Vollzugsanstalten“199 gezielt vor und versicherte sich der Kooperation einzelner Partner, auf
deren uneingeschränkte Unterstützung man zählen konnte. Die „T4“-Zentrale richtete bis Ende 1940
sechs Gasmordanstalten nach geografischen Gesichtspunkten für vier Großregionen des Deutschen
Reiches ein. In zwei dieser Regionen existierten zeitlich nacheinander jeweils zwei verschiedene
Mordanstalten, die einander ablösten. Die Großregionen waren von „T4“ als „Einziehungsgebiete“
(Einzugsgebiete) definiert worden,200 aus welchen die Opfer kamen, die dann in der dortigen zentralen
„T4“-Anstalt ermordet werden sollten. Jedes dieser Einzugsgebiete schloss dem Grundsatz nach mehrere Reichsteile – preußische Provinzen, außerpreußische Länder oder Reichsgaue (im Osten, im Sudetenland oder in Österreich) – ein, nur in einem Fall wurde eines dieser Territorien – nämlich das Land
Bayern – variabel auf drei „T4“-Einzugsgebiete aufgeteilt. Die im Folgenden dargestellte Aufteilung
der Einzugsgebiete ist nicht durch ein Schriftdokument oder durch Aussagen überliefert, sondern lässt
sich hier nur aufgrund einer Vielzahl von Einzelbefunden rekonstruieren:201
1. Im nördlichen Einzugsgebiet gab es zunächst die Mordanstalt in der Stadt Brandenburg, die dann
durch die Mordanstalt in Bernburg an der Saale abgelöst wurde. Die Mordopfer kamen aus den Anstalten Berlins, der preußischen Provinzen Brandenburg und Sachsen sowie der Länder Mecklenburg,
Anhalt (wozu Bernburg zählte) und Braunschweig. Auch die Stadt Hamburg und die preußische Provinz Schleswig-Holstein waren dem Einzugsgebiet zuzurechnen, wenn auch Verlegungen von dort in
die Mordanstalt Bernburg aufgrund des „Euthanasiestopps“ im August 1941 gar nicht bzw. in geringerem Ausmaß stattfanden. Umgekehrt waren Psychiatriepatienten aus den Anstalten in der Provinz
Pommern, die geografisch ebenfalls zu dem nördlichen Einzugsgebiet zählte, zahlreich bereits Ende
1939/Anfang 1940 erschossen worden.202
2. Das östliche Einzugsgebiet mit der Gasmordanstalt Sonnenstein in Pirna an der Elbe umfasste neben dem Land Sachsen (wozu Pirna zählte) auch das Land Thüringen, die preußischen Provinzen Ostpreußen und Schlesien (ab Januar 1941 Nieder-/Oberschlesien), den Sudetengau sowie anfangs (bis
Herbst 1940) die beiden bayerischen Bezirke Mainfranken sowie „Oberfranken und Mittelfranken“.
Psychisch Kranke aus dem Reichsgau Danzig-Westpreußen, geografisch Teil des Sonnensteiner Einzugsgebiets, waren bereits 1939/40 im Rahmen der frühen Krankenmordaktionen ohne „T4“-Mitwirkung umgebracht worden, ebenso aus dem Reichsgau Wartheland;203 dennoch fielen 1941 auch Men198
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
Aly, Fortschritt (1985), S. 14.
Zur anfänglichen „Auswahl der Einziehungsgebiete“ durch die KdF vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–
1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1019 (19.02.1947).
201
Grundlage dieser Rekonstruktion der „Einzugsgebiete“ der sechs Gasmordanstalten sind Einzelangaben in Kogon/Langbein/Rückerl, Massentötungen (1983), S. 34–36 (Darstellung v. Willi Dreßen); Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf,
Überlegungen (1986), S. 52; Walter, Psychiatrie (1996), S. 669, Friedlander, Weg (1997), S. 163; Faulstich, Hungersterben
(1998), S. 262 (Tab. 62), S. 316; Schilter, Ermessen (1999), S. 90–128, S. 273 (Anm. 381); Schulze, „Euthanasie“ (1999), S.
72, S. 95; Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 465 f. (Tabelle „T4-Transporte aus Bayerischen Anstalten in Tötungsanstalten“). – Die im Folgenden referierten Gebietszuordnungen wurden nicht immer zu 100 % eingehalten, so gibt es abweichend z. B. Belege für Verlegungen von den Anstalten Lüneburg, Hildesheim u. Göttingen (Hannover) sowie Scheuern
(Hessen-Nassau) jeweils über Zwischenanstalten in die Mordanstalt Pirna-Sonnenstein: Sueße/Meyer, Abtransport (1988),
S. 218 (betr. PV Hannover); Schilter, Ermessen (1999), S. 81 (betr. Scheuern); Koppelmann, Zeit (2000), S. 31, S. 33 (betr.
Scheuern); zu dieser Verlegung aus Scheuern siehe auch Kap. IV. 3. a); ebenso von der Anstalt Bedburg-Hau/Rheinprovinz
(aus Gründen der Kriegsplanung) in die Anstalten Grafeneck und Brandenburg: Walter, Psychiatrie (1996), S. 669; auch
jeweils ein „Transport“ von Lohr/Mainfranken nach Grafeneck und noch im Feb. 1941 von Kutzenberg/Oberfranken nach
Sonnenstein: vgl. Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 466.
202
Zu den frühen Morden an Patient/inn/en aus Pommern siehe Kap. III. 3. c).
203
Zu den frühen Kranken- und Behindertenmorden in Danzig-Westpreußen u. dem Wartheland siehe Kap. III. 3. c).
199
200
398
IV. Zeit der Gasmorde
schen aus westpreußischen Anstalten den Morden in Pirna-Sonnenstein zum Opfer, während dies für
den Warthegau noch nicht sicher belegt ist.
3. Im südlichen Einzugsgebiet lag die Gasmordanstalt in Hartheim, nahe dem oberösterreichischen
Linz/Donau im Reichsgau Oberdonau. Neben diesem Gau gehörten auch sämtliche anderen Reichsgaue des ursprünglich österreichischen Territoriums sowie der bayerische Bezirk „Niederbayern und
Oberpfalz“ zu diesem Gebiet, schließlich (teils ab Sommer, teils ab Herbst 1940) auch die übrigen
bayerischen Bezirke Schwaben, Oberbayern, Mainfranken sowie „Oberfranken und Mittelfranken“.
4. Das westliche Einzugsgebiet besaß zunächst eine Mordanstalt im württembergischen Grafeneck
auf der Schwäbischen Alb, wo in erster Linie Menschen aus den Anstalten der Länder Baden und
Württemberg sowie aus dem preußischen Bezirk Sigmaringen (Hohenzollern) und anfangs auch aus
den bayerischen Bezirken Oberbayern (bis Frühjahr 1940) und Schwaben (bis Herbst 1940) ermordet
wurden.204 Die Anstalt Grafeneck wurde abgelöst durch die „T4“-Anstalt Hadamar, wo hauptsächlich
Kranke und Behinderte aus den übrigen Territorien dieses westlichen Einzugsgebiets den Morden zum
Opfer fielen: aus den preußischen Provinzen Hessen-Nassau, Rheinprovinz, Westfalen und Hannover
sowie dem Land Hessen. Die für 1941 vorgesehene Ermordung von Patienten aus den Ländern Lippe,205 Bremen und Oldenburg fand wegen des so genannten „Euthanasiestopps“ nicht mehr in der Hadamarer Gaskammer statt. Die Betroffenen kamen jedoch großenteils dann durch die anschließenden
Medikamentenmorde ums Leben.206
Um sich Liegenschaften zu verschaffen, die für die (geheime) Einrichtung einer Gastötungsanstalt
geeignet erschienen, stützte „T4“ sich sowohl auf eigene Kenntnisse als auch auf Hinweise oder Empfehlungen von Kooperationspartnern in den Regionen. Der letztlichen Auswahl ging im Allgemeinen
eine Besichtigung des betreffenden Gebäudes voraus. Bevor schließlich die Landesheilanstalt Hadamar
als letzte „T4“-Anstalt bestimmt wurde, hatte die Mordorganisation bereits Erfahrungen bei der Auswahl der fünf übrigen Gasmordanstalten sammeln können. Dabei ist auffällig, dass man überwiegend
Standorte in solchen Territorien auswählte, in denen eine möglichst monolithische Führungsstruktur in
Partei- und Staatsverwaltung anzutreffen war. Für das westliche Einzugsgebiet war zunächst, bereits
Ende 1939, eine Anstalt im Südwesten des Reichs gesucht worden. Hier konnte der aus Baden stammende Ministerialrat Dr. Herbert Linden aus der Gesundheitsabteilung des Reichsministeriums des
Innern als ein erster Hinweisgeber fungieren. Gemeinsam mit weiteren „T4“-Verantwortlichen, darunter Viktor Brack von der Kanzlei des Führers, bereiste er im Oktober 1939 Württemberg auf der Suche
nach einem geeigneten Standort. Nach der Besichtigung von zwei anderen möglichen Einrichtungen
wurde man schließlich fündig in Grafeneck, das Dr. Eugen Stähle als Leiter der Medizinalabteilung des
Stuttgarter Innenministeriums vorgeschlagen hatte. Das Samariterstift Grafeneck, eine Behinderteneinrichtung, einsam auf einem Bergrücken der Schwäbischen Alb gelegen, war im Mai 1939 durch das
Stuttgarter Innenministerium (in einem anderen Kontext) inspiziert worden, sodass dort notwendige
Detailinformationen bereits vorlagen. Die „T4“-Leitung veranlasste nun, im Oktober 1939, die Räumung und Beschlagnahme der Immobilie. Die württembergische Regierung vollzog diese binnen weniger Tage unter Bezug auf das „Reichsleistungsgesetz“, das ursprünglich für Beschlagnahmungen zu
Wehrzwecken verabschiedet worden war, das seit dem Vormonat aber auch „andere staatliche oder mit
staatlichen Aufgaben betraute Stellen“ als Leistungsberechtigte nannte.207 Nicht unerheblich für diesen
204
Offenbar zu keinem der Einzugsgebiete zählten der bayerische Bezirk Pfalz und das Saarland, da die dortigen Anstalten
schon 1939 aus Kriegsgründen geschlossen und die Kranken in andere Anstalten (die pfälzischen im übrigen Bayern u. die
saarländischen im BV Nassau) verteilt worden waren und von dort aus im Rahmen der Meldebogenaktion erfasst wurden; vgl.
Faulstich, Hungersterben (1998), S. 316, S. 336, S. 381 f.; Siemen, Heil- und Pflegeanstalten (1999), S. 462.
205
Die lippische Anstalt Lindenhaus in Lemgo wurde von Dr. F. Mennecke (wohl 1941) bei einer „Begutachtungs“reise
aufgesucht: vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1370, IJ, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage [der „T4“-Schreibkraft] Liselotte J. ggü. d. LG
Ffm in Jülich (23.11.1965).
206
Zu den späteren Morden an bislang überlebenden Patienten (u. a. aus Nordwestdeutschland) siehe Kap. V. 2. a) u. V. 3. b).
207
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 82 f., S. 90, S. 94; Morlok, Reichssache (1985), S. 10; Schneider, Chronik (1985), S. 277;
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 218 f.; Stöckle, Aktion (1996), S. 18–20, S. 148 (Anm. 47); Walter, Psychiatrie (1996),
S. 655; Friedlander, Weg (1997), S. 158 u. S. 511 (Anm. 25–27). – Zur gesetzlichen Grundlage der Beschlagnahme: „Gesetz
über Sachleistungen für Reichsaufgaben (Reichsleistungsgesetz)“ (in der Fassung vom 01.09.1939), veröffentlicht durch
RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 166 (05.09.1939), S. 1645–1654, „Bekanntmachung der neuen Fassung des Gesetzes über Leistungen
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
399
reibungslosen Ablauf dürfte gewesen sein, dass in Württemberg mit Wilhelm Murr208 ein Mann das
Sagen hatte, der seit 1939 vier maßgebliche Staats- und Parteiämter in seiner Person vereinigte: Er war
in Stuttgart zugleich Gauleiter, Reichsstatthalter, Innenminister und der zuständige Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis V.209 Eine noch höherrangige Ämterballung – nämlich dieselbe
Konstellation wie in Stuttgart, jedoch statt des Ministeramtes die Führung der jeweiligen Landesregierung – war in den außerpreußischen Ländern des „Altreiches“ nur in Anhalt (unter Gauleiter Jordan),
in Sachsen (unter Gauleiter Mutschmann) und in Hessen (unter Gauleiter Sprenger, der zunächst jedoch nur für ein Teilgebiet das Amt des Reichsverteidigungskommissars innehatte) anzutreffen. Alle
drei genannten NS-Größen sollten bei der Auswahl von weiteren „T4“-Standorte eine Rolle spielen.
In Brandenburg, wo die Morde Anfang 1940 begannen, fiel die Wahl nicht (wie in allen anderen Fällen) auf eine Anstalt der Psychiatrie oder Behindertenhilfe, sondern „T4“ richtete einen Gasmordtrakt
in einem Teil des Zuchthauses Brandenburg ein.210 Unter anderem hierdurch konnte der für die Landesheilanstalten zuständige Potsdamer Landeshauptmann Dietloff von Arnim umgangen werden, der nicht
als uneingeschränkter Anhänger der NS-„Euthanasie“ eingestuft wurde.211 Bei der Standortwahl wäre
an eine Beteiligung des brandenburgischen Oberpräsidenten Emil Stürtz in Potsdam zu denken, der
zugleich NSDAP-Gauleiter im Gau Mark Brandenburg war und der seit Kriegsbeginn ebenfalls das
Amt des Reichsverteidigungskommissars im betreffenden Wehrkreis (hier Wehrkreis III) ausübte.212
Ab Ende 1940 löste die Anstalt Bernburg die dann stillgelegte Mordanstalt Brandenburg ab. Im Lande
Anhalt, das die Anstalt Bernburg unterhielt, lag die beinahe unumschränkte Macht bei einem überzeugten Befürworter der „T4“-Krankentötungen, bei dem aus dem Kreis Fulda stammenden Rudolf Jordan.
Wie erwähnt war dieser – analog zu Murr in Stuttgart und zu Stürtz in Potsdam – in Dessau zugleich
Gauleiter sowie Reichsstatthalter und übte das Amts des Reichsverteidigungskommissar im dortigen
Wehrkreis XI aus, zudem war er Führer der anhaltischen Landesregierung.213 Jordans Haltung wird
mitentscheidend dafür gewesen sein, dass der Organisation „T4“ die Einrichtung einer Mordstätte in
der „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Anhaltinische Nervenklinik“ gestattet wurde. Nachdem
der „T4“-Koordinator Viktor Brack und der Leiter der „T4“-„Inspektionsabteilung“, Adolf Kaufmann,214 die am Stadtrand liegende Einrichtung im Sommer bzw. im September 1940 besichtigt und für
geeignet befunden hatten, ließ man eine Hälfte der Anstalt für „T4“ beschlagnahmen, während in der
anderen Hälfte der herkömmliche Psychiatriebetrieb unter Regie der anhaltischen Landesbehörde weiterlief.215
für Wehrzwecke (Wehrleistungsgesetz)“, hier insb. S. 1646 (§ 2 Abs. (1) d. Gesetzes: Zitat „andere staatliche [...]“); vgl. auch
RGBl. I, Jg. 1938, S. 877, „Gesetz über Leistungen für Wehrzwecke (Wehrleistungsgesetz)“ (13.07.1938); vgl. auch RGBl. I,
Jg. 1939, S. 1639–1644, „Verordnung zur Änderung des Wehrleistungsgesetzes“ (01.09.1939).
208
Zu Wilhelm Murr (1888–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Weiß, Lexikon (1998), S. 329; Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 7 (1998), S. 314; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 f. (Anm. 52); Schwarz,
MdR (1965), S. 718.
209
Zum Amt des Reichsverteidigungskommissars siehe auch Kap. IV. 3. c).
210
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 109; Friedlander, Weg (1997), S. 157; Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier
S. 199.
211
Zu diese Einschätzung siehe die Angaben in Kap. IV. 2. a). – Allerdings engagierte auch LH v. Arnim sich schließlich für
einen reibungslosen Ablauf der „T4-Aktion“, z. B. indem er im Spätsommer 1940 den Amtsrichter Lothar Kreyssig aufforderte, die Wegverlegung seiner Mündel [im Rahmen der „T4-Aktion“] aus den Anstalten des PV Brandenburg zu akzeptieren,
„weil es sich um kriegswichtige Wehrinteressen handele“: Bericht Kreyssig (1968), hier zit. n. Kaul, Nazimordaktion (1973),
S. 141; zum Kontext siehe auch Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 253.
212
Zu den Ämtern von Emil Stürtz, seit 1937 OP d. Provinz Brandenburg, siehe Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 (Anm.
52); Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 263 (Anm. 80).
213
Zur Einschätzung, dass Rudolf Jordan der „Aktion unbedingt positiv gegenüber[stand]“, siehe Organisationsplan Eberl (ca.
Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 191; zu Jordans Ämtern und der Parallelität mit Sachsen u. Hessen siehe Rebentisch,
Führerstaat (1989), S. 247; Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 f. (Anm. 52). – Zu Rudolf Jordan (1902–1988) siehe biogr.
Anhang. – Quellen: Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 215, S. 153 f. (Anm. 52); Weiß, Lexikon (1998), S. 244 f.
214
Zu Adolf Kaufmann (1902–1974) siehe biogr. Anhang; zu Kaufmann und zur Frage der „T4“-Inspektionsabteilung siehe
auch weiter unten in diesem Kap. IV. 2. b).
215
Zur Geschichte der Anstalt während des Nationalsozialismus siehe insg. Schulze, „Euthanasie“ (1999); zur Auswahl u.
Beschlagnahme der Anstalt 1940 siehe ebd., S. 63 f.; vgl. dazu auch Friedlander, Weg (1997), S. 162; siehe auch HStA Wi,
Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966)
[im Folgenden zit.: „Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966)“], hier S. 24, mit Hinweis auf die Aussage des Zeugen B.
(26.01.1966).
400
IV. Zeit der Gasmorde
Die Auswahl der Mordanstalt Sonnenstein in Pirna für die östliche Großregion geschah in ähnlicher
Art und Weise wie in Bernburg. Im Lande Sachsen gab es unter Gauleiter Mutschmann216 die beschriebene Ämterhäufung an den Spitzen von Parteigau, Land und Reichsverteidigungsbezirk; zudem war
die Gesundheitsverwaltung mit überzeugten NS-„Euthanasie“-Befürwortern besetzt.217 Einen entscheidenden Anteil an der Bestimmung der Anstalt Sonnenstein dürfte der renommierte Psychiater Prof. Dr.
Paul Nitsche gehabt haben, der die Anstalt als Direktor geleitet hatte, bis sie 1939 zu Lazarettzwecken
für die psychiatrische Arbeit geschlossen wurde. Seit Anfang 1940 wirkte Nitsche bei „T4“ an maßgeblicher Stelle mit, übernahm 1941 gar deren ärztliche Leitung. Auch in Sachsen unternahmen die
„T4“-Verantwortlichen Brack und Kaufmann Besichtigungsreisen, um sich von der Eignung eines
möglichen „T4“-Standorts zu überzeugen. Bei dieser Gelegenheit fiel die Entscheidung, die zunächst
ins Auge gefasste sächsische Anstalt Hubertusburg nicht weiter zu berücksichtigen, da dort zu viele
Umbauten erforderlich gewesen wären. In Absprache mit dem Dresdner Innenministerium wählte
Brack schließlich den Sonnenstein aus, eine ehemalige Festung auf einem Felsvorsprung oberhalb der
Stadt Pirna, wo dann nach der Einrichtung der Mordanstalt in einigen Gebäuden auf dem früheren
Anstaltsgelände die Tötungen im Juni 1940 begannen.218
Bevor die auf österreichischem Boden gelegene „T4“-Anstalt Hartheim im Mai 1940 eröffnet wurde,
war keine Beschlagnahme mehr erforderlich. Die NSDAP hatte das betreffende Gebäude – ein Renaissanceschlösschen, in dem bislang eine Kinderpflegeeinrichtung untergebracht war, nämlich schon
Anfang 1939 durch Enteignung in ihren Besitz gebracht. Der Vorschlag zur Auswahl des Schlosses,
das von dem Dorf Hartheim umgeben ist, scheint von dem (bereits erwähnten) Leiter der „T4“Inspektionsabteilung, dem gebürtigen Österreicher Adolf Kaufmann, gekommen sein. Kaufmann kannte die Gegend, da er lange in Linz ansässig war.219 Eine monolithische Personalstruktur an der Spitze,
wie sie im „Altreich“ nur in einigen Ländern anzutreffen war, war in den österreichischen Territorien
von Vornherein, seit dem „Anschluss“, geschaffen worden: Das Amt des Gauleiters, das in diesem Fall
August Eigruber in Linz ausübte, umfasste neben der obersten Parteiführung zugleich die Herrschaft
über die Staats- und überörtliche Kommunalverwaltung im Reichsgau Oberdonau. Für die kommunalen Aufgaben (einschließlich der Anstaltsverwaltung) war dem Gauleiter zwar ein Gauhauptmann als
Stellvertreter zugeordnet, der jedoch nicht über eine eigene Behörde verfügte.220
Zusammenfassend lässt sich bei der Standortwahl der ersten fünf „T4“-Gasmordanstalten eine Bevorzugung solcher Reichsteile feststellen, in denen eine möglichst homogene, auf einen regionalen
„Führer“ konzentrierte Herrschaftsstruktur im Partei- und Staatssektor gab. Als idealtypisch können
insofern Bernburg und Sonnenstein gelten. Die beiden Gauleiter Jordan und Mutschmann übten jeweils
eine sehr weit gehende Herrschaft in den betreffenden Ländern Anhalt bzw. Sachsen aus, wo
Landeseinrichtungen als Orte der Mordanstalten ausgewählt wurden. Eine ähnliche Machtfülle hatten
auch die Gauleiter Stürtz (Brandenburg), Murr (Stuttgart) und Eigruber (Linz) inne. Im Unterschied zu
Anhalt und Sachsen wurden der Organisation „T4“ jedoch in Brandenburg, Württemberg und Oberdonau nicht originäre Landesheilanstalten als Standorte für die Gasmordzentren überlassen, sondern
der Teil eines Zuchthauses bzw. beschlagnahmte Immobilien, die sich ursprünglich in privater
Trägerschaft befunden hatten.
216
Zu Martin Mutschmann (1879–1947 [oder 1948]) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Weiß, Lexikon (1998),
S. 330; Schwarz, MdR (1965), S. 718; Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 7 (1998), S. 321.
217
Zur Gesundheitsverwaltung im MdI in Dresden siehe Kap. IV. 2. a).
218
Zur „T4“-Anstalt Sonnenstein/Pirna insg. siehe Schilter, Ermessen (1999); zur Auswahl, zur Alternative Hubertusburg u.
zum Beginn der Morde siehe ebd., S. 67 f.; siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 161. – Zur Auflösung der HPA Sonnenstein im Okt. 1939 zu Lazarettzwecken siehe auch Böhm, Thesen (2000), S. 13. – Zur Mitwirkung Nitsches bei „T4“ siehe
HStA Wi, Abt. 631a, GenStAnw Ffm, „Sammlung Euthanasie“ [= HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1611–1733], „Heidelberger
Dokumente“, hier Bl. 127890 f., chronologische u. systematische „Gutachterliste“, hier nach dem Faks. b. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 228 f. („Gutachter“ ab Feb. 1940, Arzt „in der Zentrale“ ab Mai 1940).
219
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 24, mit Hinweis auf Aussage Franz Stangl (12.–15.09.1947); Klee,
„Euthanasie“ (1983), S. 82; Aly, Aktion (1989), S. 199; Friedlander, Weg (1997), S. 160; Gedenkstätte (1998). – Zu Adolf
Kaufmann (1902–1974) und seinen Bezügen zu Linz siehe biogr. Anhang.
220
Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 246, S. 274.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
401
Die „T4“-Anstalt Hadamar wurde schließlich im NSDAP-Gau Hessen-Nassau des Gauleiters Sprenger eingerichtet und somit im Einflussgebiet eines regionalen Führers, der wie seine Amtskollegen Murr,
Mutschmann und Jordan ebenfalls zugleich Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar war
und der zudem eine Landesregierung führte. Der entscheidende Unterschied bestand allerdings darin,
dass Hadamar nicht im staatlichen Einflussgebiet Sprengers (dem Land Hessen) lag, sondern im preußischen Regierungsbezirk Wiesbaden. Die einzige staatliche Funktion, die Sprenger hier ausüben
konnte, war die des Reichsverteidigungskommissars.221 Unter den sechs „T4“-Anstalten war die Hadamarer die einzige, die in einer Immobilie eines preußischen Provinzial- oder Bezirksverbandes eingerichtet wurde.
Auch der Auswahl und Einrichtung dieser sechsten und letzten „T4“-Anstalt, die schließlich im Januar 1941 mit den Gasmorden begann, scheinen Alternativüberlegungen vorausgegangen zu sein.
Besonders um die langen Transportwege zu vermeiden und da die meisten Opfer aus Baden und Württemberg bereits ermordet waren, plante „T4“ im westlichen „Einzugsgebiet“ die Schließung der Anstalt
Grafeneck und suchte einen aus Sicht der Organisatoren günstigeren Standort, um vor allem Patientinnen und Patienten aus dem Westen und Nordwesten des Reichs zu ermorden.222 Hessen-Nassau stellte
dabei nicht die erste Wahl dar. Zunächst bemühte „T4“ sich, einen zentraleren Ort für die großen Provinzen Hannover, Westfalen und Rheinprovinz zu finden und die Anstalt weniger weit südlich anzusiedeln, als es dann mit Hadamar geschah. So gab es Ortstermine im Ruhrgebiet, an denen wie bei den
früheren Standortsuchen erneut der „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann beteiligt war. Beispielsweise ließen er bzw. andere „T4“-Kollegen sich im Mai und Juni 1940 die im Pavillonstil erbaute evangelische Anstalt Tannenhof in Remscheid-Lüttringshausen zeigen, wobei mit einem Vertreter des Provinzialverbandes Rheinland die Frage diskutiert wurde, ob „sich davon [...] ein Gebäude abgliedern
liesse“.223 „T4“ prüfte außerdem die Eignung der hannoverschen Anstalt Osnabrück.224 Es erwies sich
als Problem, „daß sich für den Westen des Reiches zunächst keine geeignete Tötungsanstalt fand“.225
Schließlich scheint man sogar erwogen zu haben, die im Lande Oldenburg – und damit im äußersten
Nordwesten – gelegene Anstalt Wehnen zu akquirieren. Deren ärztlicher Leiter bekundete später, es
habe der Plan bestanden, Wehnen „als Sammelpunkt für Nordwestdeutschland anzusehen und die
Verfahren hier durchzuführen.“226
Was schließlich den Ausschlag dafür gab, stattdessen die Anstalt Hadamar auszuwählen,227 und wer
im Einzelnen in diesen Entscheidungsprozess einbezogen war, lässt sich bislang nicht mit letzter Sicherheit rekonstruieren. Allerdings erbringt ein Blick auf die Auswahl der fünf vorausgegangenen
Mordanstalten manchen Hinweis auf entscheidende sachbezogene Kriterien. Die Anstalt Hadamar war
verkehrsgünstig gelegen und verfügte mit der erst 1939 eröffneten Autobahn Wiesbaden – Limburg –
Köln über eine gute Anbindung ans Rheinland, woher ein großer Teil der Mordopfer kommen sollte.
Ein wichtiges Kriterium aus „T4“-Sicht war auch die geringe Größe der Anstalt, die unter den vier
221
Der Reichverteidigungsbezirk (Wehrkreis XII), für den Sprenger zuständig war, beinhaltete zwar nicht den gesamten Reg.Bez. Wiesbaden, wohl aber den westlichen Teil davon, im dem auch Hadamar lag: Ämter (1997), S. 87–89.
222
Die Gründe für die Schließung Grafenecks diskutiert Stöckle, Aktion (1996), S. 23, und kommt zu der Annahme, dass
„Grafeneck als Tötungsanstalt sein vorgegebenes Plansoll erfüllt“ und dass der aufkommende „Protest allenfalls eine beschleunigende Wirkung [...] ausgeübt“ habe; mit demselben Tenor auch bereits Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 291. – Auch die
Schließung der „T4“-Anstalt Brandenburg und ihre Ersetzung durch die Anstalt Bernburg geschah „wegen logistischer Probleme“ in Brandenburg: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 63.
223
Archiv Diakonisches Werk d. Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf, Best. Ohl, 89.8, zwei Aktennotizen des Chefarztes Dr.
Wilhelm Philipps, Anstalt Tannenhof, an Otto Ohl, Rhein. Provinzialausschuss f. Innere Mission, betr. Besuche von Vertretern von „T4“ u. des PV d. Rheinprovinz in der Anstalt am 27.05.1940 (Kaufmann, Tillmann) bzw. 13.06.1940 (Tillmann,
Kitz, Creutz) (geschrieben 28.05. bzw. 15.06.1940), hier zit. n. d. Abdr. b. Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 686 f.
(Dok. 37) (das aus der zweiten Notiz stammende Zitat gibt indirekt eine Aussage des Düsseldorfer Landesrates Kitz wieder);
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie,
S. 1–14, hier S. 6 f. (Hinweis auf eine Reise mit Hefelmann, Vorberg und Haus ins Ruhrgebiet zwecks Auswahl einer Anstalt); vgl. auch Faulstich, Hungersterben (1998), S. 261 („Auch im Rheinland soll danach gesucht worden sein.“).
224
Faulstich, Hungersterben (1998), S. 422.
225
Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 334 (Anm. 24).
226
HStA Hannover, 721 Hann., Acc. 61/81 Nr. 28, „Sonderheft Wehnen“, Bl. 10, Aussage Dr. Carl Petri (03.12.1945), zit. n.
Harms, Hungertod (1996), S. 135 f., zur Datierung der Aussage siehe S. 132 (Anm. 62); siehe auch Faulstich, Hungersterben (1998), S. 261, S. 425.
227
Überlegungen zu den Gründen für die Auswahl Hadamars finden sich bei Winter, Geschichte (1991), S. 79.
402
IV. Zeit der Gasmorde
Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau die kleinste war. Mitte 1939 hatte die Landesheilanstalt Hadamar gut 500 Planbetten (war aber überbelegt); das ärztliche Personal bestand aus nur drei,
der Pflegebereich aus 37 Kräften.228 Wie Schulze herausstellt, handelte es sich auch bei den übrigen
Heil- oder Pflegeanstalten, die als „T4“-Gasmordstätten hergerichtet wurden, um kleine, allenfalls
mittelgroße Einrichtungen. Dies lag insbesondere darin begründet, dass dort keine stationäre Unterbringung für die Patientinnen und Patienten vor deren Ermordung mehr vorgesehen war. Zudem lag die
Anstalt in Hadamar – ebenso wie Pirna und Bernburg – etwas abseits vom Ort, wenn auch nicht so
einsam wie Grafeneck. In diesem Punkt hatte man aus negativen Erfahrungen in Brandenburg gelernt,
wo die Gaskammer im Zuchthaus mitten in der Stadt lag und wo deshalb die Leichenverbrennung an
anderer Stelle vorgenommen werden musste. Als Negativposten musste insofern allerdings gelten, dass
die Anstalt in Hadamar auf einer Anhöhe lag, sodass der Rauch des Krematoriums weithin sichtbar
war. Aus welchem Grund auch immer war man bei „T4“ später nicht mehr mit der Lage der Anstalt
zufrieden.229
Bei bisherigen Überlegungen zur Auswahl der Gasmordanstalten ist meist auf solche äußeren Anforderungen geachtet worden, die in der Tat auch Berücksichtigung fanden.230 Letztlich ausschlaggebend
für die Standortwahl war aber die Haltung der jeweiligen regionalen Verantwortlichen. Dies galt – wie
gezeigt – für die Gauleiter, dies galt aber auch für die Verantwortlichen in den für das Anstaltswesen
zuständigen Behörden. Ein Blick auf die übrigen Anstalten zeigt, dass sowohl die Psychiatriereferenten
in den Innenministerien in Dresden und Stuttgart, in deren Gebiet die Anstalten Grafeneck und PirnaSonnenstein lagen, als auch der für Bernburg zuständige Chef der Landesregierung in Dessau ausdrückliche Befürworter der Krankenmordaktion waren (entsprechende Untersuchungen zu Brandenburg und Hartheim stehen noch aus). Insofern war es nahe liegend, zur Findung des westlichen „T4“Standorts den Bezirksverband Nassau anzusprechen, der sich durch seine kranken- und behindertenfeindliche Anstaltspolitik bereits in der Zeit bis 1939 – mit einem durchaus reichsweiten Anspruch –
exponiert hatte. Es war bei „T4“ bekannt, dass insbesondere Anstaltsdezernent Fritz Bernotat, aber
auch Landeshauptmann Wilhelm Traupel entschiedene Befürworter einer „rassenhygienisch“ begründeten, wie auch immer ausgeformten NS-„Euthanasie“ waren.231 Dagegen durfte „T4“ in den Provinzialverbänden der Rheinprovinz, Westfalens und Hannovers zumindest nicht mit demselben Entgegenkommen rechnen (wenn auch spätere Widerstandsbekundungen der dortigen Verantwortlichen als zu
weit gehend erscheinen).232 Angesichts des weiteren Verlaufs der Ereignisse kann man annehmen, dass
das Angebot oder das Einverständnis des Bezirksverbandes zur Überlassung der Anstalt Hadamar an
„T4“ sehr wahrscheinlich auf einen gemeinsamen Vorstoß des Anstaltsdezernenten Bernotat und des
Eichberger Anstaltsdirektors Dr. Mennecke zurückgeht. Ein von Mennecke erwähntes Treffen zwischen ihm, Bernotat und dem ärztlichen „T4“-Leiter Prof. Dr. Werner Heyde in Weilmünster scheint
diese Annahme zusätzlich zu stützen.233
Die Abgabe der Anstalt Hadamar wurde dem Bezirksverband Nassau dadurch erleichtert, dass er
dort schon aus anderen Gründen eine neue Nutzung ins Auge gefasst hatte: Im Gespräch war etwa die
Einrichtung einer Kinderheilstätte oder die Übergabe an die SS als Erholungsheim.234 Zwar hatte die
228
LWV, Best. 12/ehem. VA 231 (Kopie), Bl. 76, LHA Hadamar an BV Nassau, Statistik „Kranken- und Personalbestand am
1. Juli 1939“, (01.07.1939), Entwurf (von tatsächlich 638 Kranken, 58 mehr als etatmäßig vorgesehen, befanden sich 579 in
der Anstalt selbst, die übrigen in Heim- oder Familienpflege, die Planbettenzahl in der LHA selbst betrug demnach 521).
229
Zu den Kriterien für die Auswahl Hadamars siehe Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986),
S. 52 f.; zu den Kriterien allgemein (am Beispiel Bernburgs) siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 63 f. – Mennecke erwähnte 1942 „die ungünstige Lage, von der schon öfter gesprochen war“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt.
Heidelberg, an Eva Mennecke, Eichberg (01.–02.07.1942), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 408–413 (Dok. 132), hier
S. 411 (es wird hier nicht ersichtlich, ob eine ungünstige Lage innerhalb des Ortes [Geheimhaltung] oder innerhalb Deutschlands [weite Verlegungswege] moniert wurde).
230
Siehe dazu die jeweiligen Literaturangaben in vorausgehenden Anmerkungen.
231
Siehe Kap. III.
232
Zur zumindest teilweise reservierten Haltung der dortigen Verantwortlichen siehe Kap. IV. 2. a).
233
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 74, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 5. HvTag (09.12.1946).
234
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 1, Bl. 18–21, Spruch der Spruchkammer Dillenburg (28.02.1948), Kopie, hier Bl. 19. – Diese Angabe zu geplanten Nutzungen geht zurück auf den Direktor
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
403
drängende Überbelegung in den Anstalten des Bezirksverbandes sich bei Kriegsbeginn noch verstärkt,
da zusätzlich Patientinnen und Patienten aus saarländischen, teils auch aus rheinischen Anstalten aufgenommen worden waren, die aus militärischen Gründen hatten geräumt werden müssen.235 Dennoch
schien dem Bezirksverband – im Sinne seiner Überbelegungs- und Sparpolitik – der dauerhafte Verzicht auf die Anstalt Hadamar möglich, da man die Einrichtung ohnehin schon bei Kriegsbeginn als
Lazarett an die Wehrmacht abgetreten hatte und seitdem ohne sie auszukommen schien. Ende August
1939 war ein Teil der Hadamarer Belegschaft zum Militärdienst einberufen worden (darunter der ärztliche Direktor Dr. Peter Masorsky und der erste Verwaltungsbeamte Fritz K.);236 gleichzeitig setzte die
Wegverlegung vieler Hadamarer Patientinnen und Patienten in andere Anstalten (hauptsächlich nach
Herborn) ein, um in Hadamar Platz für das Wehrmachtslazarett zu schaffen. Der sukzessive Ausbau
dieses Lazaretts mit Abteilungen für deutsche Soldaten und für verwundete polnische Kriegsgefangene
im Herbst und Winter 1939/40 hatte dann noch bis Januar 1940 weitere Verlegungen zur Folge – nun
auch nach Weilmünster –, sodass schließlich mehr als 350 bislang Hadamarer Patientinnen und Patienten (zu etwa vier Fünfteln Frauen) andernorts untergebracht waren.237 Bereits diese Verlegungen, die
mit der „T4“-Aktion noch nicht in Verbindung standen, geschahen auf menschenunwürdige Weise. So
wurden die Betroffenen beispielsweise bei einer Verlegung nach Weilmünster in einem LKW ohne
Bänke transportiert.238 Jene Hadamarer Mitarbeiter, die weder einberufen noch zur Betreuung der verlegten Kranken an andere Bezirksverbandsanstalten versetzt worden waren, wurden bei der Lazarettgründung durch die Wehrmacht übernommen.239
Bei der Lazarettgründung im Herbst 1939 in Hadamar wurde die dortige Landesheilanstalt formal
nicht aufgelöst wie etwa die Pirnaer Anstalt Sonnenstein, sondern blieb als „Rumpf“anstalt weiter
bestehen. Obwohl das gesamte Zentralgelände der Einrichtung auf dem Hadamarer Mönchberg dem
Lazarett zur Verfügung stand, war der Fortbestand möglich, da eine Außenstation auf dem etwa einen
Kilometer entfernten Hofgut Schnepfenhausen erhalten werden konnte. Nach und nach reduzierte sich
die Zahl der Patientinnen und Patienten der Landesheilanstalt von mehr als 600 (Anfang 1939) über
knapp 300 (im September 1939) und knapp 200 (im Januar 1940), bis schließlich im Oktober 1940 eine
Zahl von knapp 80 erreicht war.240 Hauptsächlich waren dies jene männlichen Patienten, die sich noch
der LHA Hadamar, Dr. Peter Masorsky, und bezieht sich ausdrücklich auf die Zeit vor der Abgabe der Anstalt an
„T4“.
235
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12651, o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. i. A. LVR Dr. Steinhäuser, an Reichskommissar für das
Saarland, Abt. II, Saarbrücken (28.08.1939), hier als Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (o. D. [28.08.1939]); BV
Nassau, Haushalts-Satzung (Rechnungsjahr 1940), hier vorangestellte „Begründung des Haushaltsplanes des Bezirksverbandes Nassau für das Rechnungsjahr 1940“: „[...] haben die drei bezirkseigenen Landesheilanstalten [...] alsbald nach Kriegsausbruch durch die Übernahme von Kranken aus den freigemachten Gebieten eine bis dahin nichtgekannte [!] Belegungsstärke
erreicht.“
236
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 69, LHA Hadamar an BV Nassau (28.08.1939),
Abschr. (danach 9 Einberufungen im Zeitraum 26.–28.08.1939). – Zu Dir. Dr. Peter Masorsky (1887–1966) und zum ersten
Verwaltungsbeamten Fritz K. (1898–1978) siehe biogr. Anhang.
237
Exzerpt aus LWV, Best. 12/ehem. VA 056, erstellt vom LWL (ca. 1986); LWV, Best. 12/ehem. VA 056 (Kopie), Bl. 1–15,
LHA Hadamar, diverse „Verlegungslisten“ als Information an die jeweiligen Kostenträger (28.08.–04.09.1939) (danach
wurden folgende Anzahlen von Personen verlegt: 197 am 28./29.08.1939 nach Herborn, 49 am 03./04.09.1939 nach Herborn,
23 am 05.09.1939 nach Breitenau, 16 am 05.09.1939 nach Marburg in das Diakonissenheim Bethesda, 93 am 18./19.09.1939
nach Herborn, 17 am 16.01.1940 nach Weilmünster, insgesamt also 366 Personen); siehe dazu auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 79; zum Lazarett, das ab 27.08.1939 eingerichtet wurde, siehe auch ebd., S. 78,
mit Hinweis auf LWV, Best. 12/ehem. VA 477 u. 634; dazu auch LWV, Best. 12/ehem. VA 042 (Kopie), o. Bl.-Nr., LHA
Hadamar, Meldezettel „Verpflegungs-Sollstärke“ des Lazaretts Hadamar für den 18.10.1939 (Meldung: 17.10.1939) (danach
war das Lazarett zu diesem Zeitpunkt mit 100 Personen belegt).
238
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946). – Der Weilmünsterer Angestellte Karl K. der die Fahrt durchführte, berichtete über eine Auseinandersetzung mit dem Hadamarer LS
Alfons Klein, da er, Karl K., „Kranke ohne Bänke nicht aufladen zu können glaubte, eben weil es sich um Kranke handelte.“
239
Insgesamt zu diesem Abschnitt siehe BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 23. – Zur Übernahme
des Personals (insb. Pflegerinnen) siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü.
d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947).
240
Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 369–372 („Verlegungsstatistik 2: Entwicklung der Aufnahmen und Abgänge der
Patienten in der Anstalt Hadamar von April 1937 bis März 1945 (eigene Statistik)“), hier S. 369 f., mit Hinweis u. a. auf
Hauptkrankenverzeichnis d. LHA Hadamar (01.04.1937–31.03.1944 u. 02.09.1944–31.03.1945) u. auf das Abgangsverzeichnis (1937–1945), alles ehemals in LWV, Best. 12. – Danach Belegungszahlen (einschließlich „Heim-“ u. „Familienpfleglinge“) von 628 am 31.01.1939, 283 am 30.09.1939, 183 am 31.01.1940, 77 am 31.10.1940.
404
IV. Zeit der Gasmorde
auf dem Hofgut befanden; etwa 30 Patientinnen und Patienten waren aber auch noch auswärts als „Familienpfleglinge“, teilweise sogar in der eigentlich als Lazarett genutzten Hauptanstalt selbst untergebracht, wo sie beispielsweise in den Werkstätten eingesetzt wurden.241 Zum Ausbau der Außenstation
Schnepfenhausen veranlasste der Bezirksverband 1939 und 1940 umfangreiche Baumaßnahmen.242 Für
die in Hadamar verbliebenen Patientinnen und Patienten stand vor Ort seit dem Herbst 1939 keine
ärztliche Betreuung mehr zur Verfügung, nachdem der Bezirksverband die bislang in Hadamarer tätige
Oberärztin Dr. Elfriede C. zur Anstalt Eichberg versetzt hatte. Von nun an wurden die Hadamarer
Kranken vom rund 70 Kilometer weit entfernt liegenden Eichberg aus mitbetreut. Dessen Leiter Mennecke oder auch die Ärztin Dr. C. suchten Hadamar von Zeit zu Zeit auf und korrespondierten im Bedarfsfall auch mit den Kostenträgern in Fragen der Unterbringung.243
Bereits im Oktober 1940, also im Vormonat der Übergabe der Landesheilanstalt Hadamar an „T4“,
befasste der Bezirksverband sich mit der Räumung der Anstalt. Als der zur Marine eingezogene ärztliche Direktor Dr. Peter Masorsky im Oktober auf Urlaub nach Hause kam, kamen ihm „Gerüchte von
einer Auflösung der Anstalt“ zu Ohren. Auf seine Nachfrage bei Anstaltsdezernent Bernotat hin wurde
ihm „kurz vor Ende des Urlaubs bestätigt, dass die Anstalt dem Reich übereignet würde“, sodass er
seine Direktorenwohnung zu räumen habe.244 Nur wenig später trat die Frage auf, was mit den letzten
noch auf dem Zentralgelände der Anstalt verbliebenen Patientinnen zu geschehen habe. Zwischen dem
3. und 5. November 1940 organisierten Mennecke und Bernotat deren Unterbringung: teils kamen sie
als so genannte „Arbeitspatienten“ – zusätzlich zu den dort bereits Untergebrachten – auf das Gut
Schnepfenhausen, teils verlegte man sie in die drei anderen Landesheilanstalten. Binnen einer Woche
war auch bei den Kostenträgern, etwa bei der Stadt Frankfurt, bekannt, dass „inzwischen die Landesheilanstalt Hadamar ganz geräumt worden“ war. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt Ende Oktober/Anfang November befassten Verantwortliche im Bezirksverband sich also mit der Bereitstellung
der Landesheilanstalt Hadamar für Zwecke von „T4“.245
Einen Monat später erörterte man die Zukunft der „Landesheilanstalt Hadamar“ als Institution des Bezirksverbandes schlechthin. Offenbar war zunächst geplant gewesen, die Einrichtung als solche ganz
aufzulösen, denn Bernotat und Mennecke hatten am 7. Dezember verabredet, die Hadamarer Außenstation Schnepfenhausen fortan als Familienpflegestelle der Landesheilanstalt Eichberg weiterzubetreiben.
Nur wenige Tage darauf aber konnte der Hadamarer Landessekretär Alfons Klein den Anstaltsdezernenten Bernotat umstimmen (und damit den ahnungslosen Mennecke düpieren): Nun entschied Bernotat, „dass entgegen meiner ursprünglichen Anordnung die sich zurzeit noch auf dem Hofgut Schnep241
Vgl. dazu HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., [LHA Eichberg,] gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, betr. „Abt.
S II“ (03.11.1940, ab: 04.11.1940), Durchschr.; siehe auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986),
S. 80.
242
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 51; dto. (01.04.1940–31.03.1941), S. 44. – Schieferdeckung
des Scheunendachs, Erweiterung der Toiletten im Verwalterwohnhaus, Einrichtung einer Badeanlage für Kranke, Neubau
einer Gerätehalle, Errichtung einer Brandmauer zwischen zwei Scheunen, Bau eines Entwässerungskanals, Dacherneuerung
am Schweinestall.
243
Zu Dr. med. Elfriede C. (1894–1966) siehe biogr. Anhang. – Offizieller Termin der Versetzung zur LHA Eichberg war der
01.12.1939: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Co., El., Dr.; siehe auch HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12825,
o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LHA Eichberg an NSDAP, Gau Hessen-Nassau, Amt für Volksgesundheit, Verwaltungsstelle
3, Bad Schwalbach (26.04.1940, ab: 27.04.1940). – Zur praktischen Betreuung Hadamars durch die LHA Eichberg siehe ebd.,
Nr. 12568, o. Bl.-Nr., Korr. zwischen d. LHA Eichberg u. der Stadt Ffm sowie zugehörige Vm. d. LHA Eichberg (18.05.–
10.07.1940). – Siehe auch die Bemerkung der LHA Hadamar, dass „die ärztliche Betreuung der Kranken unserer Anstalt z. Zt.
von dem Genannten [= Dr. Mennecke] ausgeübt wird“: LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 123, LHA Hadamar, gez.
i. A. LS Klein, an PV Hessen-Nassau u. BV Hessen u. Nassau, Kassel, sowie abschriftl. an BV Nassau, Wiesbaden (18.07.
1940), Durchschr.; vgl. auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80.
244
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 10–12, Dir. Dr. Masorsky, z. Zt. Marine-Oberstabsarzt, Wilhelmshaven, an BV Nassau (07.02.1941), hier Bl. 11.
245
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., [LHA Eichberg,] gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, betr. „Abt. S II“
(03.11.1940, ab: 04.11.1940), Durchschr.; ebd., BV Nassau, Az. A (S II) 4017/8, an LHA Hadamar (05.11.1940), hier als
Abschr. an LHA Eichberg. – Zu den Zielen von ca. 20 Frankfurter Verlegten siehe ebd., o. Bl.-Nr., Stadt Ffm, Stadtgesundheitsamt, Pflegeamt, an LHA Eichberg (13.11.1940). – Diese Dokumente sind insofern bemerkenswert, da sie die einzigen
zeitgenössischen Quellen sind, welche die frühe Informiertheit bereits zum Monatswechsel Okt./Nov. 1940 dokumentieren,
während ansonsten hierzu nur Nachkriegsaussagen vorliegen. – Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte
(1986), S. 81, weisen darauf hin, dass „[z]wischen Ende Oktober und Ende November 1940 [...] 99 Patienten in andere Bezirksanstalten verlegt“ wurden.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
405
fenhausen befindenden und beschäftigten Kranken aus finanziellen Gründen vorerst bis auf weiteres in
dem Bestand der Landesheilanstalt Hadamar verbleiben sollen.“246 Ebenfalls dem Erhalt der finanziellen Überlebensfähigkeit dienten auch Versetzungen von einberufenen Mitgliedern der Hadamarer Belegschaft. Damit die Fortzahlung von deren Bezügen den Haushalt der Anstalt Hadamar künftig nicht
mehr belastete, versetzte der Verband ab Januar 1941 den ärztlichen Direktor Dr. Masorsky formal
nach Herborn, den Assistenzarzt Dr. Josef S. zum Eichberg und den ersten Verwaltungsbeamten Fritz
K. zu Bernotats Anstaltsabteilung in der Wiesbadener Zentrale. Nachdem die Personalabteilung des
Verbandes und ihr Leiter Kranzbühler den Betroffenen zunächst hatten mitteilen wollen, die Versetzung erfolge „[i]nfolge einer notwendigen Organisationsänderung im Anstaltswesen“, besann man sich
dann – wohl um dem „T4“-Geheimhaltungsgebot Genüge zu tun – eines Besseren und beschränkte sich
auf die Erläuterung, die Versetzung geschehe „[a]uf Vorschlag der Anstaltsabteilung“.247
Während der Lazarettzeit in Hadamar hatte der dortige Landessekretär Alfons Klein248 relativ selbstständig die Geschäfte der „Rumpf“anstalt geführt; er fungierte als Leiter der Wirtschaftsbetriebe und
damit auch der Anstaltsküche, die für die Verpflegung des Lazaretts verantwortlich war, daneben war
er Verwalter der Außenstation der Landesheilanstalt im Hofgut Schnepfenhausen.249 Seine herausgehobene Stellung, die er dem Anstaltsdezernenten Bernotat verdankte, führte dazu, dass Klein selbst sich
quasi in der Stellung des Anstaltsdirektors sah, eine Position, die er offenbar auch mit Selbstbewusstsein darzustellen gewillt war. Bei Zeitgenossen in Hadamar galt er – obwohl gerade erst Anfang 30 –
als „Anstaltsleiter oder Direktor“, zumindest hieß es: „Er fühlte sich als Direktor.“ Die Feierlichkeiten
zu seiner zweiten Eheschließung um 1940 gestaltete er als einen „Triump[h]zug“ vor der Hadamarer
Bevölkerung.250 Der rechtmäßige, jedoch einberufene Direktor Masorsky sah sich 1941 veranlasst,
gegenüber dem Bezirksverband in ironischer Distanzierung auf ein Schreiben aus dem Vorjahr hinzuweisen, das „vom ‚Anstaltsleiter‘ Klein unterzeichnet war“.251 Hier wirkte sich auch die von Traupel
und Bernotat seit 1937 verfolgte Linie aus, die ersten Verwaltungsbeamten in den Anstalten gegenüber
den (ärztlichen) Direktoren zu stärken. Gerade in den Vertretungsregelungen des Bezirksverbandes
nach Kriegsbeginn bestätigte sich dieser Wandel. Während Klein in Hadamar die faktische Leitung
allein schon deshalb innehatte, weil gar kein Arzt des Bezirksverbandes mehr anwesend war, übernahm
der erste Verwaltungsbeamte der Landesheilanstalt Eichberg, Landesoberinspektor Louis W., bei Menneckes Abwesenheit 1940 und 1941 fallweise die Funktion des amtierenden Leiters selbst dann, wenn
noch andere Ärzte in der Landesheilanstalt Dienst taten, die in früheren Zeiten mit der Stellvertretung
beauftragt worden wären.252 Bernotat zollte seinem Schützling Klein Anerkennung für dessen Rolle
246
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., LHA Hadamar, gez. LS Klein, an LHA Eichberg (09.12.1940), Abschr., mit
Vfg. zur urschriftl. Weitergabe von LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau, Abt. S/II (10.12.1940, ab:
10.12.1940) (dort Angabe zur Absprache vom 07.12.1939); ebd., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S II) 4017/8, gez. i. A. LdsR
Bernotat, an LHA Eichberg (12.12.1940) (dort das Zitat).
247
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 70, BV Nassau, Az. A (S/II), gez. Abteilungsvorstand Bernotat, an BV Nassau, Abt. B (Ia) (19.12.1940), Abschr.; ebd., Bl. 71, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, Az. B (Ia)
Pers., an LOI K., Feldpost-Nr. 21.892 B (13.01.1941), hier Abschr. für LHA Hadamar, gez. Kranzbühler i. V. d. LH (o. D.) (dort
findet sich sowohl die ursprüngliche Formulierung als auch die handschriftl. eingefügte geänderte Version).
248
Zu Alfons Klein (1909–1946) siehe biogr. Anhang; zu seiner Funktion in der LHA Hadamar 1942–1945 siehe auch Kap.
V. 3. a).
249
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.
1946), hier Bl. 46.
250
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 258–263, Protokoll d. Zeugenvernehmung Maria K. im Hadamar-Prozess Ffm, 7.
Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 262 (dort die beiden Zitate); ebd., Bl. 243 f., Zeugenvernehmung Hedwig S. geb. L. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (Angaben zum „Triumpfzug“ [!] bei der Hochzeit). – Auch „T4“-Mitarbeiter, die
nach Hadamar kamen, sahen in Klein den „damaligen Leiter der Anstalt“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 24 f., Aussage
August S. (15.06.1946), Abschr., hier Bl. 24. – In seiner Vernehmung für den US-amerikanischen Prozess bezeichnete Klein
sich dagegen lediglich als „Verwalter der Anstalt“: NARA, M-1078, Roll 2, Frame 632–644, schriftliche Vernehmung Alfons
Klein (12.09.1945), hier Frame 632, hier nach BA, All. Proz. 7/122 (FC 6216 P).
251
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 10–12, Dir. Dr. Masorsky, z. Zt. Marine-Oberstabsarzt, Wilhelmshaven, an BV Nassau (07.02.1941), hier Bl. 10.
252
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an BV Nassau, Personalabteilung (18.08.1940), Abschr., hier
n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 160 f. (Dok. 52), hier S. 161; vgl. auch ebd. (HStA), Eva Mennecke, Eichberg, an Fritz
Mennecke, z. Zt. Oranienburg (04.–09.04.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 186–191 (Dok. 66), hier S. 187
(05.04.1941). – Bei Abwesenheit von Dr. F. Mennecke u. Dr. W. Schmidt wurde LOI W. 1941 auch zuständig für die organisatorische Vorarbeiten für die (von „T4“ durchgeführten) Patientenverlegungen in die Mordanstalt Hadamar: HStA Wi, Abt.
406
IV. Zeit der Gasmorde
während der Lazarettzeit in Hadamar von September 1939 bis Oktober 1940: „[...] Herr Klein ist ein
Mann, auf den ich mich verlassen kann, er hat ein ganzes Jahr als Verwaltungsinspektor die Anstalt
geleitet mit mindestens 100 Kranken, es war kein Arzt da.“253 Die Klein’sche Dominanz trat dann während der Anwesenheit von „T4“ in Hadamar zwar etwas in den Hintergrund, doch tat dies seiner Stellung gegenüber den Bediensteten des Bezirksverbandes vor Ort keinen Abbruch.
Der Bernotat’schen Grundsatzentscheidung, die „Rumpf“anstalt Hadamar weiterbestehen zu lassen,
waren Kontakte des Anstaltsdezernenten und des Eichberger Direktors Mennecke zu „T4“ vorausgegangen. Obwohl Mennecke 1946 die Justiz glauben machen wollte, Bernotat sei „vor [... ihm, Mennecke,] in Kenntnis gesetzt worden“,254 dass Hadamar zur „T4“-Anstalt werden solle, so ist es doch nahe
liegend, dass diese beiden NS-„Euthanasie“-Protagonisten, deren Verhältnis zu jener Zeit noch ungetrübt war, Hand in Hand arbeiteten, um die Anstalt der Mordorganisation anzubieten – Mennecke
aufgrund seiner bisherigen Kontakte zur „T4“-Zentrale, Bernotat aufgrund seiner Stellung als Anstaltsdezernent. Dass der Erstkontakt zu „T4“ über Landeshauptmann Traupel, etwa vermittelt durch SSKontakte, zustande gekommen wäre, hat dagegen keiner der Beteiligten behauptet, und auch aufgrund
anderer Argumente erscheint dies als eher unwahrscheinlich.255 Die neue Funktion der Einrichtung in
Hadamar lag für den Bezirksverband umso näher, als die Wehrmacht – nach erfolgreichem Abschluss
des Frankreichfeldzugs – den Anstaltsraum in Hadamar nicht mehr für Lazarettzwecke benötigte, das
Lazarett daher im Laufe des Monats Oktober 1940 schloss und die verbliebenen Lazarettpatienten nach
Koblenz verlegte.256
Bei der Einrichtung neuer „T4“-Anstalten fungierte als Kontaktmann der „T4“-Zentrale zu den regionalen und lokalen Stellen jeweils der Leiter der „T4“-Inspektionsabteilung, Adolf Gustav Kaufmann.
Auch die Einrichtung der Anstalt Hadamar wurde von ihm in Gesprächen sowohl mit Bernotat257 als
auch mit Mennecke vorangetrieben; Gespräche mit dem Frankfurter Gauleiter Sprenger dürften vorausgegangen sein.258 Zuvor hatte er im Laufe des Jahres 1940 bereits für die Ingangsetzung der Anstalten Brandenburg, Sonnenstein, Hartheim und Bernburg gesorgt – lediglich in die frühere Installierung
Grafenecks im Herbst 1939 war er nicht involviert gewesen, da diese vor seiner „T4“-Mitarbeit lag.259
Der Österreicher Kaufmann war zwar im polnischen Teil der Donaumonarchie geboren, entstammte
aber einer deutschsprachigen Familie und wuchs in Tirol auf. Nach einer technischen Ausbildung ließ
er sich zunächst in Linz (Oberösterreich) nieder und arbeitete wie schon sein Vater als Beamter bei der
österreichischen Bundesbahn. Zugleich verschrieb er sich früh dem Nationalsozialismus. Seine politi461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 175, Protokoll d. Vernehmungen Dr. Friedrich Mennecke u. Dr. Walter Schmidt als Angeklagte im
Eichberg-Prozess, 8. Hv-Tag (13.12.1946).
253
Zit. n. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 24, Aussage d. Angeklagten Dr. Adolf Wahlmann im Hadamar-Prozess
Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); auch bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80.
254
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141 (Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung); vgl.
auch ebd., Bd. 4, Bl. 20, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). –
Die „T4“-Konferenz, bei der Mennecke unterrichtet worden sein will, datiert Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 266 f., mit Hinweis auf die Anklageschrift im Heyde-Verfahren (HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1–453), S. 317, auf den 27.11.1940, der Termin
liegt also mehrere Wochen nach dem Termin, zu dem Mennecke sich bereits um die Räumung der LHA Hadamar bemühte (siehe oben).
255
Siehe dazu die Ausführungen zum Pachtvertrag weiter unten in diesem Kap. IV. 2. b).
256
Zur Datierung und zur Angabe „Koblenz“ siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber
ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947) (erst nach einer Übergangszeit habe dann „T4“
die Anstalt übernommen). – Formal waren die versetzen Mitarbeiter jedoch bis zum 31.10.1940 beim Reservelazarett Hadamar beschäftigt: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Hu., Ir., Teil 2, Bl. 50, LHA Hadamar an Arbeitsamt
[Limburg] (04.11.1940), Durchschr. – Es ist unwahrscheinlich und es gibt bislang auch keine Hinweise darauf, dass die
Schließung des Lazaretts erfolgt wäre, um Platz für „T4“ zu machen; Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 153, bemerken, dass Hadamar mittlerweile „hunderte von Kilometern von allen Fronten entfernt“ lag und
daher „als Reservelazarett entbehrlich“ wurde.
257
Eine vorausgegangene Besichtigung der LHA Hadamar durch „Kaufmann [...] gemeinsam mit Fritz Bernotat“, wie sie
Friedlander, Weg (1997), S. 162, behauptet, ist zwar nahe liegend, konnte aber bislang weder durch zeitgenössische Dokumente noch durch Nachkriegsaussagen belegt werden.
258
Zu den Details siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 2. b).
259
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965),
Kopie, S. 1–14, hier S. 5; ebd., Nr. 1360, Bl. 208–212, GenStAnw Ffm an LG Ffm, 3. Strafkammer (24.09.1965), hier
Bl. 210; ebd., Bl. 215 f., Beschluss d. LG Ffm, 3. Strafkammer (01.10.1965), hier Bl. 215; Anklageschrift Kaufmann
(27.06.1966), a. a. O., hier S. 24; vgl. Friedlander, Weg (1997), S. 132 f., S. 315.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
407
sche Betätigung – möglicherweise auch ein illegaler, militanter Einsatz für die NS-Bewegung in Österreich – brachte ihn um seine Stellung und ließ ihn 1934 ins nationalsozialistische Deutschland ausweichen. Die SA verschaffte ihm eine hauptamtliche Tätigkeit, 1937 wechselte er dann in die Dienste des
NSDAP-Gaus Pommern, um Gauinspekteur (im Rang eines Gauamtsleiters) unter Gauleiter SchwedeCoburg zu werden. In beiden Weltkriegen diente Kaufmann – wenn auch jeweils nur kurz – in der
Kriegsmarine, im Ersten Weltkrieg in der der K.-und-k.-Monarchie, im Zweiten in der „großdeutschen“. Bereits im Januar 1940 endete Kaufmanns Militärdienst, als Brack, der ihn schon seit den
1920er Jahren kannte, ihn für „T4“ anwarb und u. k. stellen ließ. Adolf Kaufmann verschaffte dann
auch seinem Bruder Reinhold einen Posten bei „T4“.260
Die Funktion, die Adolf Kaufmann für „T4“ ausübte, benannte die Staatsanwaltschaft später als
„Leiter der Inspektionsabteilung“, auch wenn Kaufmann selbst die Existenz einer derartigen Abteilung
immer bestritt.261 Zwar ist es tatsächlich schwierig, in dem anfangs kaum kodifizierten Gebilde „T4“
eine starre Abteilungsgliederung dingfest zu machen, doch der Begriff „Inspektionsabteilung“, möglicherweise auch aus Kaufmanns NSDAP-Hauptberuf eines „Gauinspekteurs“ hergeleitet, umreißt doch
zutreffend sein Tätigkeitsfeld. Ebenso wie ein Gauinspekteur operierte Kaufmann nicht in erster Linie
von einem festen Arbeitsplatz aus, sondern reiste umher und suchte die Außenstellen – bei „T4“ also
die Mordanstalten – auf, um mögliche Probleme zu erkennen und zu lösen. Zu seinen Aufgaben zählte
wie erwähnt zunächst die Ortswahl und der Erwerb der Immobilie in Verbindung mit den relevanten
örtlichen Stellen. Anschließend koordinierte Kaufmann an Ort und Stelle den Umbau und die Einrichtung der Mordanstalt, beteiligte sich auch an der Akquisition neuer „T4“-Mitarbeiter. Nach Beendigung der Einrichtung und Beginn der Morde blieb Kaufmann noch einige Tage, teilweise auch Wochen
dort, um die Abläufe der Massentötung zu organisieren, und er erschien auch später in Abständen, um
diese zu inspizieren oder sich als „Troubleshooter“ zu betätigen.262 Während seiner Anwesenheit sahen
die „T4“-Mitarbeiter in der Anstalt in ihm offenbar den Chef, titulierten ihn teilweise auch als „Direktor“ oder – wenngleich er nicht promoviert war – als „Dr. Kaufmann“.263 Eine Mitarbeiterin erinnerte
sich: „Von ihm wurde gesprochen, als ob er der Leiter der ganzen ‚T4‘ wäre.“264 Bei seinem „Erscheinen in den ‚Euthanasieanstalten‘ [habe] ein ‚Mordswind‘“ geherrscht, es habe dann geheißen: „der
Kaiser kommt“.265
Im Gebiet der „T4“-Anstalten nahm Kaufmann Kontakt mit Parteidienststellen und bei Bedarf mit
den jeweiligen Behörden auf, deren Tätigkeit in irgendeiner Weise von der Aktivität der Mordanstalt
berührt wurde. Beispielsweise kümmerte er sich bei den Wirtschaftsbehörden darum, dass die neue
Einrichtung mit Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen für sonstige Güter versorgt wurde; in Standesamtsfragen hatte er einen Modus Vivendi mit den Gemeindebehörden zu finden, der die gebotene
260
Zu Adolf Gustav („Gustl“) Kaufmann (1902–1974) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 27–
33, hier Bl. 28, Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. LG Ffm in München (27.05.1963); ebd., Bl. 79–82, RA B., Ffm, an LG
Ffm, 3. gr. Strafkammer (10.08.1965), hier Bl. 79; ebd., Nr. 1361, Bl. 495, Adolf Kaufmann, schriftl. Erklärung für
GenStAnw (o. D. [ca. 25.04.1966]); ebd., Nr. 1364, Bl. 311, Standesamt Freising, Sterbeurkunde (21.08.1974), begl. Kopie;
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., insb. S. 3–8, auch S. 21 f.; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr.,
Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 11 f.; ebd., Teil 1, Bl. 22–25,
Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (23.12.1965), Kopie, hier Bl. 22 f.; ebd., Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold
Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 10 f.; Klee, Ärzte (1986), S. 70 f., S. 291 (Anm. 54); Friedlander,
Weg (1997), S. 132 f., S. 157, S. 309–311, S. 313, S. 315.
261
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 22 f.
262
Ebd., hier S. 29 f., S. 43; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 27–33, hier Bl. 30 f., Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. LG
Ffm in München (27.05.1963); vgl. auch ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965),
Kopie, hier Bl. 32; siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 133, S. 315.
263
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 34; vgl. auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr.,
Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 3 („T4“ habe ihm in Brandenburg „zunächst die Funktion eines Direktors“ übertragen).
264
Aussage Hedwig H. geb. A. (01.03.1966), hier zit. n. Klee, Ärzte (1986), S. 70, dort mit Quellenhinweis auf das Verfahren
Az. Js 7/63 der GenStAnw Ffm gegen Renno u. a. (HStA Wi, Abt. 631a Nr. 785–915), nach Schilter, Ermessen (1999),
S. 290 (Anm. 981), auch vorhanden in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 514.
265
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 34, mit Hinweis auf die Aussagen Franz H. (10.12.1965), Erwin
Lambert (15.09.1965), Maria L. (17.09.1964), H. [vermutlich Hedwig H.] (03.03.1966) u. Irmgard Huber (21.10.1965); vgl.
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965),
Kopie, S. 5 („Es wurde unter den Angestellten [...] gesagt, Kaufmann kommt“).
408
IV. Zeit der Gasmorde
Geheimhaltung bestmöglich gewährleistete.266 Diese Kontakte waren jeweils eine Gratwanderung, denn
bei derartigen, zum Teil heiklen Missionen hatte Kaufmann von Fall zu Fall zu entscheiden, ob eine
Einweihung der zuständigen Mitarbeiter externer Verwaltungen opportun war oder ob ein – mit der
Autorität des Gauinspekteurs vorgebrachter – Hinweis auf den Willen der Partei eher zum Ziel führte.
Kaufmann selbst fasste dies in Bezug auf die Anstalt Hadamar zusammen: „Ich schaffte die Voraussetzungen und Möglichkeiten durch Herstellung von Verbindungen und Kontakten zwischen Parteidienststellen und Behörden einerseits und der Anstalt andererseits mit dem Ziel, eventl. Schwierigkeiten
seitens der Parteidienststellen und Behörden von den geplanten Anstalten abzuwenden.“267 Ebenfalls
dem Ziel einer möglichst reibungslosen und unauffälligen Abwicklung des Mordgeschehens dienten
die „T4“-Büroleitertagungen, zu denen sich die Verwaltungschefs der Mordanstalten in Anwesenheit
von Kaufmann von Zeit zu Zeit in einer der Einrichtungen trafen, beispielsweise um aufgetretene Pannen zu besprechen und Wege zu deren künftiger Vermeidung zu verabreden.268
Außerdem kümmerte Kaufmann sich auch um die weltanschauliche Schulung des Personals der Anstalten;269 beispielsweise diente 1941 ein fanatischer Vortrag unter dem Titel „Die dritte Front!“ der
Anstachelung des Personals, unter anderem in Hadamar. Den Auftakt zu dem Vortrag bildete eine
Einleitung „über Zweck und Ziel unserer Arbeit in den Anstalten“. Kaufmann sprach vom „grossen
Ringen unserer Tage“ und schwor die Zuhörer auf eine Ausrichtung der „ganzen öffentlichen und
privaten Tätigkeit“ des Volkes auf den Krieg ein, der „nicht etwa Sache einer schmalen Führerschicht
und des Militärs“ sei. Die bisherige Unterscheidung „zwischen der Front der Waffen und der Front der
Heimat“ sei „nur noch äusserlich, ihrem innersten Wesen nach sind beide Fronten erfüllt vom Geiste
des Widerstandes und vom Willen zum Siege“; es gehe „diesmal vielleicht zum letzten Male, um Leben oder Sterben, nicht etwa um die Person des Führers oder den Nationalsozialismus als Regierungsform, sondern um Sein oder Nichtsein unseres völkischen Deutschlandes!“ Indem Kaufmann diesen
Vortrag in den Gasmordanstalten hielt bzw. halten ließ, ordnete er die Krankenmorde in den Kontext
des Krieges – hier gegen den inneren (biologischen), dort gegen den äußeren (militärischen) Feind –
ein. Die Tätigkeit von „T4“ erschien damit als Beitrag zum „Kampf“ an der „Heimatfront“, der „Dritten Front“.270 Schließlich übernahm Adolf Kaufmann für „T4“ die Einrichtung des Erholungsheims der
Mordorganisation, „Haus Schoberstein“ in Weißenbach am Attersee im Gau Oberdonau, wo sämtliche
„T4“-Beschäftigten ihre Ferien verbringen konnten; zeitweise leitete Kaufmann dieses Erholungsheim
(das dann 1943 zum Sitz eines Teils der Organisation „T4“ wurde271) gemeinsam mit seiner Ehefrau.272
266
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 24 f., S. 43; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1361, Bl. 495, Adolf Kaufmann, schriftl. Erklärung für GenStAnw Ffm (o. D. [ca. 25.04.1966]); ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf
Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 27; zur Einrichtung des „T4“-„Sonderstandesamts“ in Hadamar (ohne
Kenntnis des RP in Wiesbaden) siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 229, Zeugenaussage des Hadamarer Amtsrichters Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); zu diesen Aufgaben in Bezug auf Bernburg vgl. Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 192 (Standesamt), S. 194 (Bezugsscheine); die Möglichkeit für ein
derartiges „unbürokratisches, geheimes und schnelles Vorgehen unter der Regie der KdF“ war einer der Gründe für die Vergabe des NS-„Euthanasie“-Auftrags an die Kanzlei des Führers anstatt an Contis Abteilung im RMdI: Walter, Psychiatrie (1996), S. 655.
267
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965),
Kopie, S. 1–14, hier S. 9.
268
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 35; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage
Johannes H. b. d. LG Ffm (08.09.1965), Kopie, hier S. 2.
269
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 32, dort zit. Aussage Dr. Heinrich Bunke (11.06.1963).
270
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 3, o. Bl.-Nr., Schreiben Adolf Kaufmann „An die Anstalten Be[rnburg], C [= Hartheim], D [= Sonnenstein].“ (13.10.1941), mit Fragment (Beginn) des Vortrags „Die dritte Front!“, Kopie (Hervorhebungen im
Orig. durch Großbuchstaben); vgl. ebd., Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier
Bl. 31. – Kaufmann beauftragte die Anstalten Bernburg, Hartheim und Sonnenstein, den vorformulierten Text von einem
Redner vortragen zu lassen und kündigte an, den Vortrag in Hadamar selbst zu halten, bestritt aber, dies dann getan zu haben,
dies korrespondiert mit der Aussage des Hadamarer Pförtners u. Leichenbestatters Philipp Blum, wonach „Dr. Schwallenbach“ [= Dr. Curt Schmalenbach] (im Herbst 1941 „T4“-Arzt in Hadamar) einen derartigen Vortrag gehalten habe: HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache
Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 164 (= S. 7).
271
NARA, T-1021, Roll 10, Frame 979–983, „T4“, „Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und für die Anstalt
‚C‘“ (o. D., gültig ab 08.08.1943), auch in BA, All. Proz. 7/110 (FC 1805), hier zit. nach der Kopie in BA, R96 I/1,
Bl. 126498–126502, hier Bl. 126500 (dort ist die „Dienststelle Attersee“ unter Leitung von Nitsche, also die medizinische
Hauptabteilung von „T4“, aufgeführt); siehe auch LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr., Hans R.-G. [„T4“],
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
409
Aufgrund seines Aufgabenzuschnitts fiel auch die Ingangsetzung der Mordanstalt Hadamar in das
Ressort Kaufmanns. Einem erweiterten Kreis von „T4“-Mitarbeitern, insbesondere den externen ärztlichen „Gutachtern“, wurde der Plan zur Schließung Grafenecks und zur Einrichtung der neuen „T4“Anstalt Hadamar bei einer Sitzung Ende November 1940 in der Berliner Tiergartenstraße 4, an der
auch Mennecke teilnahm, mitgeteilt.273 Die eigentliche Entscheidung fiel allerdings mindestens fünf
Wochen früher. Das früheste überlieferte Datum ist der 24. Oktober 1940, an dem erstmals zusätzliches
Personal für die „T4“-Anstalt Hadamar akquiriert wurde.274 Sowohl diese Personalbeschaffung als auch
die Abtretung der Anstalt Hadamar an sich geschah vermutlich unter Einbeziehung der Frankfurter
Gauleitung; dem Bernotat-Vertrauten und Hadamarer Verwaltungsbeamten Klein erschien dies sogar
als eine Operation „auf Befehl des Gauleiters“275. Bernotats enge persönliche Kontakte mit dem Frankfurter Gauleiter Sprenger276 sowie Hinweise auf frühe Kontakte zwischen Kaufmann und der Gauleitung277 lassen die Annahme zu, dass Sprenger bereits im Oktober 1940 über die beabsichtigte Einrichtung der „T4“-Anstalt Hadamar informiert war und die entsprechende Unterstützung zugesagt hatte.
Dagegen sollte Hadamar die einzige „T4“-Anstalt werden, deren Einrichtung keinerlei Verhandlungen
mit den staatlichen Landesverwaltungen in der Region – hier also dem Regierungspräsidium oder dem
Oberpräsidium – vorausgegangen waren.278
Die operative Zusammenarbeit mit Adolf Kaufmann in praktischen Fragen der Anstaltsherrichtung
lag in den folgenden Wochen und Monaten bei Bernotat und Mennecke. Diese Kontakte scheinen bald
über das rein „Dienstliche“ hinausgegangen zu sein; offenbar waren Bernotat und Mennecke darum
bemüht, dem „mächtigen“ Kaufmann zu Diensten zu sein und Gefallen zu tun und auf diese Weise die
Kooperation zwischen „T4“ und Bezirksverband zu festigen. Anfang Dezember 1940 beispielsweise
übermittelte Mennecke, selbst Stammkunde bei einem Assmannshäuser Weingutsbesitzer, diesem die
Bestellung des „Herrn Direktor Kaufmann, Landesheilanstalt Hadamar“ über eine Kiste Rotwein.279
Mit Bernotat verband Kaufmann die Leidenschaft für die Jagd;280 im Dezember 1940 wurde Kaufmann
Weißenbach am Attersee, an Alfons Klein, LHA Hadamar (14.02.1944): „[...] daß ein Teil unserer Berl[in]er Dienststelle jetzt
hier im Hause untergebracht ist.“
272
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 35; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage
Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 7; ebd., Teil 1, Bl. 22–25, Aussage Adolf
Kaufmann b. LG Ffm (23.12.1965), Kopie, hier Bl. 22 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 133.
273
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141; ebd., Bd. 4, Bl. 20 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke
als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946), hier Bl. 20. – Zur Datierung der Sitzung auf den 27.11.1940
siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 266; zur Teilnahme der sächsischen Anstaltsdirektoren an der Konferenz siehe Schilter,
Ermessen (1999), S. 88.
274
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie
(bei der Vernehmung legte der in Hadamar eingesetzte B. den am 24.10.1940 ausgestellten Verpflichtungsbescheid vor,
welcher eine Meldung am 28.10.1940 in der Berliner Tiergartenstraße 4 forderte). – Zur Personalbeschaffung siehe Kap.
IV. 2. c).
275
NARA, M-1078, Roll 2, Frame 632–644, schriftl. Vernehmung Alfons Klein (12.09.1945), hier Frame 633, hier nach BA,
All. Proz. 7/122 (FC 6216 P).
276
Zum engen Verhältnis zwischen Fritz Bernotat (1890–1951) und Gauleiter Sprenger (1884–1945) siehe insb. Kap. III. 3. a),
siehe auch Kap. IV. 1. b).
277
Kaufmanns Bruder sagte aus, Adolf Kaufmann sei „nach Hadamar gegangen, weil die Anstalt von der T4 übernommen
werden sollte und weil er Personal für diesen Zweck durch die Gauleitung besorgen sollte“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367,
Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), hier Bl. 16, Durchschr. – Zur tatsächlichen Unterstützung bei der Personalbeschaffung durch die Gauleitung Frankfurt und zu Kaufmanns dortiger Anwesenheit siehe Kap.
IV. 2. c).
278
OP Philipp von Hessen, der nachträglich wegen der Unterzeichnung des Pachtvertrages (siehe unten) angesprochen wurde,
trat dabei nur in seiner Eigenschaft als Leiter d. BV Nassau und nicht als Leiter des (staatl.) Oberpräsidiums in Erscheinung. –
Einschränkend ist zu bemerken, dass der Kenntnisstand bezügl. Brandenburgs noch zu rudimentär ist, um in dieser Frage
Genaueres feststellen zu können; zur vermuteten Beteiligung des Potsdamer OP Stürtz vor Einrichtung der „T4“-Mordstätte
im (staatl.) Zuchthaus Brandenburg siehe weiter oben in diesem Kap. IV. 2. b).
279
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, o. Bl.-Nr. (nach Bl. 198), Dir. Dr. Mennecke, LHA Eichberg, an Weingutsbesitzer
Emil Weiler, Lorch am Rhein (07.12.1940), hier von Mennecke abgezeichnete Abschr., auch zit. b. Mennecke (1988),
S. 163 f. (Dok. 54), hier S. 164. Weiler dankte „verbindlichst für Ihre güt. Weiterempfehlung an Herrn Direktor Kaufmann in
Hadamar“: ebd. (HStA), Bd. 2, o. Bl.-Nr. (nach Bl. 198), Antwortschreiben (15.12.1940), Abdr. auch b. Mennecke (1988),
S. 165 f. (Dok. 55), hier S. 165.
280
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 18–23, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (13.04.1966), Durchschr., hier
Bl. 20. – Bernotats Schwager, der einem Gespräch zwischen Bernotat u. Kaufmann im Jagdschlösschen beiwohnte, sagte
später, außer seiner Beauftragung mit Installationsarbeiten in der LHA Hadamar (siehe unten) habe die Unterhaltung überwie-
410
IV. Zeit der Gasmorde
von Bernotat in dessen Weilmünsterer Jagdschlösschen empfangen. In dieser Wochenendresidenz Bernotats besprach man nun im Detail die Umbaumaßnahmen, die in Hadamar bereits begonnen hatten.281
Wie privat die Beziehungen zwischen Kaufmann und Bernotat im Laufe der folgenden Wochen wurden, zeigte sich einen Monat später, als Kaufmann seine kranke Ehefrau bei den Bernotats im Jagdschlösschen einquartierte und dort durch Bernotats Frau Auguste pflegen ließ.282
Bereits Ende Oktober/Anfang November 1940 war ein so genanntes „Vorkommando“ aus einer Reihe von „T4“-Mitarbeitern unter Kaufmanns Leitung in der inzwischen geräumten Anstalt Hadamar
eingetroffen; beim Aufbau der neuen Mordanstalt insgesamt kam Kaufmann fortan eine Überwachungsfunktion zu.283 Generell schickte die Mordorganisation (abgesehen von den Handwerkern) zunächst das Verwaltungspersonal in die künftigen Mordanstalten, das dort die organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen hatte.284 Bereits im November 1940 wurde auch ein Teil der Mitarbeiter der –
noch nicht geschlossenen – Mordanstalt Grafeneck nach Hadamar versetzt, um das dortige Vorkommando zu verstärken.285 Vor Ort kümmerten die „T4“-Vorkommandos sich üblicherweise zunächst um
die Beschaffung nötiger Materialien, insbesondere der Baustoffe, die für den Umbau zu einer Mordanstalt erforderlich waren.286 Dies war in Hadamar nur noch teilweise notwendig. Anders als bei den
anderen „T4“-Anstalten standen die meisten Baustoffe für die Einrichtung der Mordanstalt dort nämlich bereits vor Eintreffen des „T4“-Personals bereit, denn der Bezirksverband hatte mit eigenem Personal unter Regie von Landessekretär Klein vieles schon vor dem 1. November 1940 beschafft. Ein
Mitarbeiter der Landesheilanstalt Hadamar transportierte aus einer Ziegelei im benachbarten Ort Elz
per LKW die Backsteine für die Verbrennungsöfen an und lud sie im Hof der Anstalt ab. Dieser Fahrer
der Anstalt erfuhr auf Nachfragen bei Klein zwar (nach eigenem Bekunden) nicht den wahren Verwendungszweck, doch habe er „gleich [vermutet], es sollten Menschen verbrannt werden.“ Auch die
Röhren für den Ofen wurden nach Aussage dieses Zeugen von einheimischen Firmen geliefert, während die Beschläge („Eisenteile“) für das Krematorium etwa gleichzeitig mit einem LKW aus Berlin
eintrafen.287 Ebenfalls noch vor dem Anrücken des „Vorkommandos“ von „T4“ räumten Bezirksverbandsmitarbeiter in der Anstalt Hadamar jene Kellerräume im Hauptgebäude („den Seifen-, Kleider-
gend die Jagd betroffen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.
1946), hier Bl. 2.
281
Ebd. (Aussage Fritz Sch. v. 05.04.1946), hier Bl. 3. – Siehe auch weiter unten die weiteren Angaben zur Beauftragung
Sch.s mit Umbauarbeiten in Hadamar.
282
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 32. –
Vgl. dazu auch Kaufmanns Aussage, er habe die Tätigkeit bei „T4“ nur angenommen, um seine kranke Ehefrau häufig besuchen zu können: Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 21.
283
Anklageschrift Kaufmann (27.06.1966), a. a. O., hier S. 28; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage
Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.01.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359,
Bl. 4, Aussage Hedwig S. (o. D.), Abschr.; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe
(06.10.1965), Kopie, S. 4 f., S. 7; ebd., Bl. 208–212, GenStAnw Ffm an LG Ffm, 3. Strafkammer (24.09.1965), hier Bl. 210;
Friedlander, Weg (1997), S. 163.
284
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 27–33, Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. LG Ffm in München (27.05.1963), hier
Bl. 29. – Zum Hadamarer „Vorkommando“ zählten u. a. Kaufmanns Bruder Reinhold, der „Wirtschaftsleiter“ der „T4“Anstalt Hans R.-G., der stv. „T4“-Personalchef Friedrich Haus sowie die beiden Verwaltungsangestellten Rudolf H. (später
Mitarbeiter der „T4“-„Zentralverrechnungsstelle“) und Else A.: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage
Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 9; ebd., Nr. 1367, Teil 1, Bl. 22 f., LG Ffm, Eröffnung
der gerichtlichen Voruntersuchung gegen den Bruder (04.09.1963), hier Bl. 23; ebd., Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold
Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 12 f., Bl. 17; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf
H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), Kopie, S. 4 f.; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. b. d. LG
Ffm (31.10.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d.
LG Ffm (07./08./10.01.1947), hier Bl. 870 (07.01.1947).
285
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 291.
286
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1360, Bl. 215 f., Beschluss d. LG Ffm, 3. Strafkammer (01.10.1965), hier Bl. 215.
287
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946) (eine Datierung
auf den Oktober 1940 ist schlüssig, da K. zum 01.11.1940 von Hadamar wegversetzt wurde). – Entsprechend auch die Aussage des erst nach den Anlieferungen eingetroffenen Erwin Lambert (26.04.1961) in den Unterlagen der StAnw Stuttgart im
Verfahren gegen A. Widmann, Az. Ks 19/62 (19 Js 328/60), hier nach Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82; zur Quellenangabe auch vgl. Friedlander, Weg (1997), S. 559 (Anm. 76). – Die Aussage zur Anlieferung der
Eisenteile für die Krematorien aus Berlin deckt sich mit der Erkenntnis, dass diese durch die Berliner Firma H. Kori an die
„T4“-Anstalten geliefert wurden: Schilter, Ermessen (1999), S. 69.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
411
und Marmeladenkeller“) aus, welche später als Mord- und Krematoriumsstätte dienen sollten.288 Durch
diese vorbereitenden Tätigkeiten stellten die Verantwortlichen im Bezirksverband heraus, dass sie mit
eigenem Engagement an der Herrichtung der „T4“-Anstalt mitzuwirken bereit waren. Dies erklärt sich
dadurch, dass insbesondere Bernotat, Mennecke und Klein sich die nun auch in Hadamar bevorstehende Tötung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen als „ihr“ Projekt zu Eigen gemacht
hatte. Auch nach Eintreffen des Vorkommandos erwies sich die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit
Mitarbeitern des Bezirksverbandes für Kaufmann als äußerst hilfreich, um die notwendigen Kontakte
vor Ort knüpfen zu können. Gemeinsam mit dem Hadamarer Landessekretär Alfons Klein, der künftig
für die Beköstigung des „T4“-Personals verantwortlich zeichnen sollte, fuhr Kaufmann zu
Bewirtschaftungsbehörden in Limburg oder Frankfurt, um dort die notwendigen Formalitäten für den
Nahrungsmittelbezug zu klären. Bernotat selbst machte Kaufmann mit dem zuständigen Sachbearbeiter
für Bezugsscheinangelegenheiten bekannt.289
Die eigentlichen Umbauarbeiten in Hadamar nahmen den größten Teil der Monate November und
Dezember 1940 in Anspruch; die Rede war von einer Dauer von sechs bis acht Wochen.290 Nicht externe Firmen nahmen die Umbauten vor, sondern „T4“-eigene Handwerker sowie zum Teil „handwerklich geschickte Pfleger und Wachleute“ anderer Mordanstalten, wie es etwa für die kurz zuvor
durchgeführte Einrichtung der „T4“-Anstalt Bernburg im Oktober 1940 dokumentiert ist.291 Nach Instruktionen durch den „T4“-Ingenieur Walter W. zogen nun die Handwerker im gesamten Hadamarer
Anstaltsgebäude zum einen zusätzliche Wände ein, um „die ehemaligen Schlaf- und Aufenthaltsräume
der Kranken als Büro-, Schlaf- und Gesellschaftsräume“ für das „T4“-Personal herzurichten.292 Zudem
installierten sie die eigentliche Mordstätte im Keller mit Gaskammer, Sezierraum und Krematorium.293
Als Gaskammer diente ein abgeteilter Kellerraum, nun mit Kacheln versehen und als Dusche getarnt.294
Im Nachbarraum ermöglichte ein eingebauter Holzverschlag die Unterbringung der Kohlenmonoxydflaschen.295 Ein weiterer Raum fungierte fortan als Sezierraum; die Seziertische wurden vermutlich
ebenfalls im Rahmen der Umbauten installiert, denn die Mordaktion sollte für umfangreiche Gehirnsektionen zu Forschungszwecken genutzt werden.296 In einem angrenzenden Kellertrakt errichtete der
288
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 59, Aussage Else M. aus Hadamar-Faulbach ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946) (auch diese Mitarbeiterin wurde zum 01.11.1940 von Hadamar wegversetzt).
289
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier
Bl. 28 (Klein), Bl. 30 (Bernotat).
290
Ebd., Nr. 1359, Bl. 22 f., Aussage Josef Hirtreiter (21.06.1946), Abschr., hier Bl. 22.
291
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (in diesem Fall wurde Personal der „T4“-Anstalt Brandenburg hinzugezogen).
292
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 7 f., Aussage Josef Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946), hier Bl. 7
(dort Zitat „die ehemaligen [...]“); ebd., Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.1946), hier Bl. 2;
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 22 f., Aussage Josef Hirtreiter (21.06.1946), Abschr., hier Bl. 22. – Walter W. hatte auch
den Umbau in Bernburg geleitet: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67.
293
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [ca. 26.03.1947]), spätere Ausfertigung, hier Bl. 1305; ebd., Bd. 2, o. Bl.-Nr., Lagepläne von Erdgeschoss u.
Kellergeschoss der LHA Hadamar (Hauptgebäude, Ostflügel) nach den Umbauten von Ende 1940 (o. D. [ca. 1946]), auch
abgebildet b. Winter, Geschichte (1991), S. 92; siehe auch ebd. (Winter), S. 79 f.
294
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Aussage Emil S. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Niederzeuzheim (10.03.1946); ebd.,
Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in der Anstalt Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115; ebd.,
Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.1946), hier Bl. 3; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann
b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 18; vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (zur Installation der Gaskammer
in Bernburg); vgl. auch Schilter, Ermessen (1999), S. 69 f. (zur Installation der Gaskammer in Pirna-Sonnenstein).
295
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js
3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 179.
296
Anfang 1939 gab es in den LHAen d. BV Nassau noch keine Prosektur: vgl. LWV, Best. 1/276, Bl. 40–50, „Bericht über
das Ergebnis der Überprüfung der nassauischen Anstalten“ am 27./28.02.1939, erstattet von Dr. Linden, Dr. Lehmkuhl, Prof.
Dr. C. Schneider u. Trenz (26.04.1939), hier Bl. 48. – Bereits im März 1939 – also vor der Mordaktion – hatte die Gesellschaft
Deutscher Neurologen und Psychiater gefordert, dass zwecks „Erfassung der Erbkrankheiten“ „im Interesse des Volkswohls
[...] bei allen Kranken der öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten im Todesfalle die Leichenöffnung vorgenommen wird“:
NARA, T-1021, Roll 12, Nr. 126428, Entschließung d. Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (März 1939), hier
vermutlich Abschr. (1943), auch in BA, All. Proz. 7/112 (FC 1807), hier zit. n. Aly, Fortschritt (1985), S. 49. – Im Mai 1941
ließ der ärztliche Leiter von „T4“, Nitsche den Direktoren der „T4“-Anstalten bei einer Sitzung in Hadamar Hinweise für das
fachgerechte Einlegen sezierter Gehirne ermordeter „T4“-Opfer geben: NARA, T–1021, Roll 12, Nr. 127891, P. Nitsche,
Dienstanweisung (Mai 1941), auch in BA, All. Proz. 7/112 (FC 1807), hier n. Aly, Fortschritt (1985), S. 53. – Laut HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier
412
IV. Zeit der Gasmorde
„T4“-Maurer Erwin Lambert zwei Verbrennungsöfen (er hatte bereits die Krematorien in Sonnenstein,
Hartheim und Bernburg gemauert und betreute später den Bau der Verbrennungsanlagen in den
Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor).297 Die Hadamarer Öfen wurden mit einem voluminösen
Schornstein versehen, der das gesamte Haus bis zum Dachstuhl durchzog.298 Im Hof der Anstalt
schließlich erbaute das „T4“-Personal eine Busgarage, in der drei Transportomnibusse der „T4“Tarnorganisation „Gekrat“ Platz finden sollten.299
Nach den ersten unterstützenden Tätigkeiten (wie Materialbeschaffung oder Aufräumungsarbeiten)
durch Bezirksverbandsmitarbeiter ließ der Verband nun auch beim Umbau der Anstalt zur Mordanstalt
tatkräftige Hilfe durch seine Mitarbeiter leisten. Besonders die Installationen in der Gaskammer selbst
geschahen nicht durch „T4“-Personal, sondern durch den Schlossermeister der Landesheilanstalt Weilmünster, Fritz Sch., und den Elektrikermeister der Landesheilanstalt Hadamar, Emil S. Bei Fritz Sch.
handelte es sich um den Ehemann von Bernotats Schwester. Der Anstaltsdezernent ließ seinen Schwager während einer Besprechung mit Kaufmann im Dezember 1940 ins Weilmünsterer Jagdschlösschen
rufen und erteilte ihm den Auftrag, die Umbauten in Hadamar vorzunehmen. Fritz Sch. fuhr daraufhin
am nächsten Morgen gemeinsam mit Kaufmann nach Hadamar und arbeitete einige Wochen beim
Umbau der dortigen Anstalt – auch der übrigen Räumlichkeiten – mit, ohne offiziell zur dortigen Landesheilanstalt (oder gar zu „T4“) versetzt oder abgeordnet zu sein; allein der mündliche Auftrag des
Anstaltsdezernenten genügte, um diese Maßnahme zu legitimieren.300 Emil S., der mit Fritz Sch. bei der
Installation von Gasleitung, Wasseranschluss und Ventilationsanlage in der Gaskammer zusammenarbeitete, war bereits seit 1925 als Schlosser und Elektromeister in der Anstalt Hadamar angestellt und
hatte zuletzt dort als Fahrer gewirkt.301 Auch der Hadamarer Anstaltsschlosser Josef Sch. war an den
Bl. 1020 (19.02.1947), scheiterte die Auswertung der „Gehirnbefunde [...] aber am Mangel an geeigneten Aerzte[n]“. – Zur
Sektion von Gehirnen im Sezierraum in Hadamar siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986),
S. 92; vgl. auch Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (zum Einbau von zwei Seziertischen für „T4“ in Bernburg).
297
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js
3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 179; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1360, Bl. 208–212, GenStAnw Ffm an LG Ffm,
3. Strafkammer (24.09.1965), hier Bl. 211 f.; ebd., Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud F. ggü. d. LG Ffm in
Heilbronn (15.02.1966), S. 3, Kopie; ebd., H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965),
Kopie, hier S. 4, S. 7; ebd., Nr. 1373, W, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Franz W. b. d. LG Ffm (05.09.1963), Kopie; vgl. ebd.,
Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Erwin Lambert ggü. d. LG Ffm in Hagen (15.09.1965), Kopie; vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 (zur Einrichtung des Krematoriums in Bernburg); vgl. Schilter, Ermessen (1999), S. 69 (zur Einrichtung des
Krematoriums in Pirna-Sonnenstein). – Zu Erwin Lambert (* 1909 in Schildow b. Berlin, Krs. Niederbarnim) siehe auch Klee,
Dokumente (1985), S. 22; Klee, Ärzte (1986), S. 16; Friedlander, Weg (1997), S. 345–348 u. 560 f. (Anm. 108–119). – Zur
Beteiligung von „T4“ an der sog. „Aktion Reinhard“ siehe Kap. V. 1. a).
298
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 103, Aussage August S. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); HStA Wi, Abt.
631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., o. Bl.-Nr., Zeugenaussage
August S. b. d. LG Ffm (26.08.1965), Kopie; vgl. Schilter, Ermessen (1999), S. 69 f. (zum Schornstein der Anstalt Sonnenstein).
299
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage August S. b. d. LG Ffm (26.08.1965), Kopie. – Zu den ab 1940
vorgenommenen Umbauten in der Anstalt Hadamar siehe auch die im Frühjahr 1990 erhobenen bauarchäologischen Befunde
in den betreffenden Räumen: Cramer, Untersuchungen (1991).
300
Zu Fritz Sch. (* 1899) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 42 f., Aussage Hedwig S.
ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946), hier Bl. 42; ebd., Bd. 2, Bl. 7 f., Aussage Josef Sch. ggü. d. StAnw Ffm in
Hadamar (12.02.1946), hier Bl. 7; ebd., Bl. 111–114, sowie ebd., Bd. 3, Bl. 2–4, Aussagen Fritz Sch. (03.03. bzw. 05.04.
1946); ebd., Bd. 7, Bl. 107–110, Aussage Fritz Sch. als Angeklagter im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd.,
Bl. 243 f., Zeugenaussage Hedwig S. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b.
d. LG Ffm an d. LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 (02.04.1946), hier Bl. 173; ebd., Bd. 7,
Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372,
S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Fritz Sch. b. d. LG Ffm (24.08.1965); ebd., Nr. 1359, Bl. 108, Postamt Audenschmiede an LG
Ffm (12.08.1965), Kopie; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Me., Wi., Teil 1, o. Bl.-Nr., RP Wiesbaden,
Verw. d. PV Nassau, an LHA Weilmünster (20.06.1945), auszugsweise Abschr.; ebd., Teil 2, Bl. 4, KV Wiesbaden an LHA
Weilmünster (17.12.1945), Abschr.; Klee, Ärzte (1986), S. 296 (Anm. 131); Friedlander, Weg (1997), S. 346.
301
Zu Emil S. (* 1902) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Emil S. b.
d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar
(14.02.1946); ebd., Bd. 2, Aussage Emil S. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Niederzeuzheim (10.03.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 244 f.,
Zeugenaussage „Eugen“ [= Emil] S. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 1, Teil 1, Bl. 50–52, Liste
der vom BV Nassau an „T4“ abgeordneten Mitarbeiter/innen (o. D. [ca. Feb. 1941]), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben
27.06.1941]); ebd., Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 159, Postamt
Wiesbaden-Biebrich an LG Ffm (02.09.1965); LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), o. Bl.-Nr., [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Gehaltsabteilung, an LHA Hadamar (13.10.1942), mit aufgeschriebener Vfg. d. LHA Hadamar, gez. Klein (13.10.1942); ebd., ehem. VA 232 (Kopie), o. Bl.-Nr., LHA Hadamar an BV Nassau, Abt. Ia, Statistik
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
413
Umbauten im Anstaltsgebäude beteiligt, wenn auch nach eigenen Bekundungen nicht in den Kellerräumen.302 Wahrscheinlich engagierte sich Landessekretär Alfons Klein (der sich am Ort auskannte und
der sich mittlerweile als „Hausherr“ in der Landesheilanstalt verstand) beim Umbau sogar über seine
unterstützende Funktion hinaus und übernahm auch koordinierende Aufgaben, sodass einer der Anwesenden (wenn auch zur eigenen Entlastung) später behauptete, Klein sei der „eigentliche Leiter der
Umbauarbeiten“ gewesen.303 Im Endeffekt konnte „T4“ also gerade beim Aufbau der Mordanstalt in
umfangreichem Maße auf Beiträge des Bezirksverbandes in Form von Arbeits- und Organisationsleistungen der Mitarbeiter zurückgreifen. Diese „Eigenleistungen“ ließ der Verband sich auch nicht vergüten – anders als die spätere Mitarbeit seiner abgeordneten Angestellten und Beamten bei der Gasmordaktion selbst.304
Schließlich konnte „T4“ auch bei der Ausstattung der Mordanstalt mit Sachgütern auf die Unterstützung des Bezirksverbandes bauen. Hier allerdings bestand der Verband zumindest teilweise auf einer
finanziellen Entschädigung durch „T4“. So zahlte „T4“ an die Landesheilanstalt Hadamar monatliche
Mietgebühren für die Nutzung des anstaltseigenen Lastkraftwagens; außerdem erstattete man die monatlichen Telefongebühren und die Kosten für die mehr als 5.000 RM teure Telefonanlage, die die
Anstalt des Bezirksverbandes im Februar 1941 einbauen ließ.305 Als „T4“ während der Mordaktion
zusätzliche Schreibmaschinen in der Anstalt Hadamar benötigte, um die Angehörigen der Ermordeten
mit den so genannten „Trostbriefen“ irreführend zu informieren, ließ Klein sich (nach Erlaubnis durch
Bernotat) in der Landesheilanstalt Eichberg einige der dortigen Maschinen aushändigen und transportierte sie nach Hadamar.306 Die Hadamarer Anstaltsverwaltung des Bezirksverbandes kümmerte sich
auch während der „T4“-Zeit um die Zuteilung und Lieferung von Heizmaterial, hauptsächlich Koks,
für die Anstalt (ebenso wie dies schon während der Lazarettzeit geschehen war) – diese Hilfsdienste
galten aber wohl nicht für jene Koksmengen, die „T4“ zur Befeuerung ihrer Krematoriumsöfen in
Hadamar benötigte. Die Kosten für die Koks- und Brikettbestände, die „T4“ aus Beständen der Landesheilanstalt entnahm, erstattete die Mordorganisation anschließend der Anstalt.307 Schon bald schlugen diese finanziellen Verhältnisse – die Erstattungen von „T4“ an die Landesheilanstalt Hadamar –
sich auch im Haushaltsplan des Bezirksverbandes nieder: im Wirtschaftsjahr 1941 entstanden dem
Bezirksverband für seine Anstalt Hadamar weder Heiz- noch Wasserkosten.308
„Personalbestand am 1. März 1943“ (01.03.1943), Entwurf; dto., „[...] am 1. April 1943“ (01.04.1943); dto., „[...] am 1. März
1945“ (01.03.1945).
302
Zu Josef Sch. (* 1885) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 245, Zeugenaussage Josef
Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 1, Teil 1, Bl. 50–52, Liste der vom BV Nassau an „T4“
abgeordneten Mitarbeiter/innen (o. D. [ca. Feb. 1941]), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben 27.06.1941]); ebd., Bd. 3, Bl. 167–
170, Vm. d. OStAnw Ffm, Erster StAnw Tomforde (03.08.1946); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schm.,
Jo.; LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 65, LHA Hadamar, „Gehaltsliste f. übern. Personal (Monat Juni 42)“
(o. D. [Anlage zum Schreiben LHA Hadamar an „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ vom 17.06.1942]), Konzept.
303
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18, Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier
Bl. 16.
304
Siehe dazu Kap. IV. 2. c).
305
LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 41, Vm. d. LHA Hadamar, gez. LS Klein (23.05.1941); ebd., Bl. 43,
LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Berlin (05.09.1941), Durchschr.;
ebd., Bl. 44, Vm. d. LHA Hadamar, gez. LS Klein (15.09.1941).
306
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 81–85, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Beschuldigter ggü. d. StAnw Ffm in
Ffm (28.05.1946), hier Bl. 84.
307
LWV, Best. 12/ehem. VA 461A (Kopie), Bl. 147, LHA Hadamar, gez. LS Klein, formularmäßiger „Antrag zur Aufnahme
in die Kundenliste des Händlers“ Fa. Alois Hilf, Limburg (04.05.1940), vermutlich Duplikat; ebd., Bl. 152, Firma Aloys Ant.
Hilf, Limburg, an LHA Hadamar, betr. „Koks“ (14.08.1941); ebd., Bl. 156, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Landratsamt Limburg, Wirtschaftsamt (12.03.1942), Durchschr.; ebd., weitere Dokumente in der Akte (bereits für den Zeitraum
01.04.1939–31.03.1940 rechnete die LHA Hadamar mit einem Verbrauch von 550 t Koks u. Briketts, für den Zeitraum 01.04.
1940–31.03.1941 beantragte man mit Hinweis auf das Lazarett 760 t Koks, Briketts u. Braunkohle, für den Zeitraum 01.04.
1941–31.03.1942 teilte das Wirtschaftsamt nur 385 t Koks statt der beantragten 600 t zu, Klein beantragte für den März 1942
jedoch eine Zusatzgenehmigung über 20 t). – Zur Kostenerstattung: LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr.,
Hans R.-G. [„T4“], Weißenbach am Attersee, an Alfons Klein, LHA Hadamar (14.02.1944); ebd., Bd. 1 (Kopie), o. Bl.-Nr.,
Notiz- u. Rechenzettel d. LHA Hadamar zum Koks- u. Brikettsverbrauch in der LHA Hadamar 1940–1942 (o. D. [möglicherweise Ende 1942 mit Ergänzungen Anfang 1944]); ebd., Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr., LHA Hadamar an R.-G. [„T4“], Weißenbach am Attersee (o. D. [nach 14.02.1944]), handschr. Konzept.
308
BV Nassau, Anlagen zum Haupt-Haushaltsplan (Rechnungsjahre 1943 u. 1944), S. 65–81 (= Anlage 14: „Haushaltspläne
der Landesheilanstalten Eichberg, Hadamar, Herborn und Weilmünster für das Rechnungsjahr 1943“), hier S. 74 f. (dort
414
IV. Zeit der Gasmorde
Einen der wichtigsten Posten, der im normalen Wirtschaftsleben berücksichtigt worden wäre, entfiel
allerdings im Zuge der Kooperation von Bezirksverband Nassau und „T4“: nämlich etwaige Miet- oder
Pachtkosten für die Nutzung des Anstaltsgebäudes in Hadamar einschließlich des Inventars.309 Indem
der Bezirksverband sich auf den entsprechenden Überlassungsvertrag mit „T4“ einließ, leistete er einen
nicht unwesentlichen finanziellen Beitrag zur Mordaktion – ebenso wie etwa das Land Anhalt (durch
die kostenlose Bereitstellung des Anstaltsteils in Bernburg).310 Eine Beschlagnahme der Anstalt gegen
den Willen eines staatlichen oder kommunalen Trägers scheint „T4“ nirgends erwogen zu haben – anders als etwa bei dem kirchlichen Träger Grafenecks –, sodass der unentgeltlichen Überlassung der Anstalt Hadamar durch den Bezirksverband durchaus ein Charakter von Freiwilligkeit zuzumessen ist.
Vorbereitung und Abschluss des Pachtvertrages zwischen dem Bezirksverband Nassau und der
Mordorganisation „T4“ werfen ein Licht auf das Binnenverhältnis unter den Verantwortlichen des
Bezirksverbandes zu dieser Zeit. Bei der Vorbereitung des Vertrages kam Bernotats Sonderrolle als
direkter Ansprechpartner für „T4“, seine Funktion als „Geheimnisträger“ und regionaler „Sonderbeauftragter“,311 voll zur Geltung. Bernotat war derjenige, in dessen Geschäftsbereich der Vertrag mit „T4“
bearbeitet wurde, vermutlich in Rücksprache mit dem Wiesbadener Stellvertreter des Landeshauptmanns, Landesrat Kranzbühler.312 Bernotat übermittelte dem Hadamarer Landessekretär Klein (schriftlich) die Vertragsinhalte und damit die formale Grundlage der Beziehung zwischen der „Rumpf“Landesheilanstalt und „T4“; den Status als „Sonderbeauftragter“ brachte der Anstaltsdezernent in diesem Zusammenhang dadurch zum Ausdruck, dass er nicht „im Auftrag“, also als Mitarbeiter des Bezirksverbandes, unterschrieb, sondern in der personalen Form als „Bernotat[,] Landesrat“ in „Wiesbaden[,] Landeshaus“.313
Die Vertragsunterzeichnung selbst aber nahm Oberpräsident Philipp Prinz von Hessen in Kassel als
Behördenleiter des Bezirksverbandes vor, allerdings erst am 15. Februar 1941 (also dreieinhalb Monate
nach Nutzungsbeginn der Anstalt Hadamar durch „T4“ und selbst noch einige Wochen nach Beginn
der Morde). Landeshauptmann Traupel legte dem Oberpräsidenten den Vertragstext vor und teilte ihm
mit, die Verpachtung an die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ sei mit dem Innenministerium abgestimmt. Den Nutzungszweck der Anstalt Hadamar habe Traupel ihm – so Philipp – jedoch
nicht mitgeteilt; Philipp Prinz von Hessen meinte später sogar, der Zweck sei dem Landeshauptmann
selbst unbekannt gewesen – sicherlich eine Fehleinschätzung. Der Oberpräsident beauftragte Traupel
dann, ihm bei Gelegenheit Bericht über die Nutzung der Anstalt Hadamar zu erstatten,314 da der Vertrag
selbst keine Angaben über deren künftige Verwendung beinhaltete. Die „Stiftung“ sicherte im Vertrag
Angaben der Ist-Angaben für das Rechnungsjahr 1941, die Wasserkosten betragen ebenfalls nur 4,03 RM). – Anscheinend
stellte der BV Nassau „T4“ auch die Bewirtschaftungskosten des Hofgutes Schnepfenhausen in Rechnung, denn diese sind in
der Aufstellung nicht gesondert ausgewiesen.
309
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch
OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez.
durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. als Anlage zum Schreiben von LdsR Bernotat, Wiesbaden, an LS Klein, LHA
Hadamar (27.06.1941). – In § 1 des Vertrages (= Bl. 48) heißt es, der BV stelle „die Gebäude und Einrichtungen“ der LHA
Hadamar der Stiftung „unentgeltlich zur Verfügung“ (mit Ausnahme von Schnepfenhausen, das „weiterhin durch die Organe
des Bezirksverband verwaltet wird“).
310
Zu Bernburg: Organisationsplan Eberl (ca. Dez. 1941/Jan. 1942), a. a. O., hier S. 192: Der Leiter des Landesfürsorgeamtes
in Dessau „hat uns unseren Teil kostenlos zur Verfügung gestellt, d. h. wir zahlen dafür keinerlei Miete, sondern lediglich die
laufenden Kosten für Licht, Heizung usw. werden anteilmässig von uns getragen.“ – Wahrscheinlich ist auch eine entsprechende Vereinbarung mit dem Land Sachsen (zur Überlassung der Gebäude auf dem Sonnenstein), jedoch werden in der
Literatur keine konkreten Belege hierzu erwähnt: vgl. Schilter, Ermessen (1999), S. 68.
311
Zur Funktion der regionalen „Sonderbeauftragten“ siehe Kap. IV. 2. a).
312
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 182 f., Zeugenaussage Therese H. (Bernotats Sekretärin) ggü. d. OStAnw b. d. LG
Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), hier S. 182. – Kranzbühler selbst bestätigte zwar, über die Verpachtung durch Bernotat
informiert worden zu sein, behauptete jedoch, den Vertrag selbst nie gesehen zu haben: Ebd., Bl. 226, Zeugenaussage Max
Kranzbühler ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Ffm (17.09.1946).
313
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 47, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an Landessekretär Klein, LHA Hadamar (27.06.1941).
314
Ebd., Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt im Internierungslager
Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 878 f. (Philipp von Hessen gab weiterhin an, er habe eine Intrige des Gauleiters
Sprenger zur Übernahme der Anstalt durch die Partei befürchtet); ebd., Bd. 7, Bl. 232, Zeugenaussage Philipp Prinz von
Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
415
lediglich zu, die Anstalt bei Vertragsende auf ihre Kosten in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Ab Anfang 1942 sollte dem Bezirksverband eine Vertragskündigung zum jeweiligen Quartalsende mit eineinhalbmonatiger Frist möglich sein.315
Philipp von Hessens Auftrag an Traupel zur Beschaffung weiterer Informationen über die Nutzung
blieb wenig ertragreich. Der angesprochene Bernotat habe kurzerhand die Auskunft über Hadamar
verweigert und „von einem ihm persönlich gegebenen Sonderauftrag gesprochen“. „Das wäre seine
Angelegenheit und er brauche keine Auskünfte über den Zweck der Anstalt zu geben.“ Philipp von
Hessen nannte es später einen „ganz ungewöhnlichen Fall, daß der Chef einer Behörde keine Kenntnis
von den dienstlichen Aufträgen eines ihm unterstellten Beamten erhalten sollte“, dass also der Dienstweg in einer öffentlichen Verwaltung umgangen wurde.316 Man mag zunächst geneigt sein, diese Darstellung, die allein auf Nachkriegsaussagen Philipps von Hessen beruht, als eine der häufig zu findenden Schutzbehauptungen anzusehen, durch die Verantwortlichkeiten auf bereits Verstorbene (bzw.
vermeintlich Verstorbene) abgeschoben werden sollen.317 Indes sprechen in diesem Fall Argumente
dafür, dass Bernotat im Vertrauen auf die Rückendeckung von Parteiseite die Abgabe der Anstalt Hadamar an „T4“ tatsächlich bereits unter Dach und Fach hatte bringen können, lange bevor zumindest
Oberpräsident Philipp Prinz von Hessen Kenntnis über die wirklichen Hintergründe erlangte. Das
zerrüttete Verhältnis, das sich im Laufe des Jahres 1940 (im Zusammenhang mit dem Machtkampf
Sprenger gegen Traupel) auch zwischen Bernotat und Philipp von Hessen vollends herausgebildet
hatte,318 hatte dazu geführt, dass eine Routinekommunikation zwischen beiden Seiten nicht mehr existierte, zumal die unterschiedlichen Dienstorte in Wiesbaden bzw. Kassel auch vorher schon bremsend
gewirkt hatten. Zudem fand die Unterstellung des Bezirksverbandes Nassau unter den Oberpräsidenten
in Kassel im Alltagshandeln der Wiesbadener Verwaltung kaum einen Ausdruck, sodass der Oberpräsident ohnehin oft erst nachträglich selbst wichtige Entscheidungen der Verbandsverwaltung zur
Kenntnis nahm und damit nachträglich legitimierte.319
Dass allerdings auch Landeshauptmann Traupel zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung Mitte
Februar 1941 nicht gewusst haben solle, dass Hadamar mittlerweile als „T4“-Mordanstalt genutzt
werde, ist äußerst unwahrscheinlich. Sollte er sich gegenüber dem Oberpräsidenten bei Vorlage des
Vertrages tatsächlich unwissend gegeben haben, so wäre dies nur damit zu erklären, dass er dessen
Einweihung auf geschickte Weise umgehen wollte. Wie und zu welchem Zeitpunkt allerdings Traupel
eingebunden wurde, muss bislang offen bleiben. Auch für ihn galt, dass der Kontakt zu seiner Wiesbadener Verwaltung und speziell zu Bernotat seit den existenziellen Auseinandersetzungen des Jahres
1940 weitgehend auf Eis lag, dass der Kontakt abgerissen war.320 Andererseits war Traupel über die
315
Ebd., Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und
der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch OP Philipp Prinz von Hessen
(15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez. durch Schneider (08.01.1941),
hier Abschr. (o. D. [Anschreiben: 27.06.1941]).
316
Ebd., Bd. 6, Bl. 878–880, Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt im Internierungslager
Darmstadt (14.01.1947), Durchschr., hier Bl. 879 f. (auf Bl. 879 das Zitat „von einem [...]“, Philipp will sich beim RMdI über
das Verhalten Bernotats beschwert habe, doch auch das Ministerium habe Auskünfte zur Verwendung Hadamars abgelehnt);
ebd., Bd. 7, Bl. 232, Bl. 234, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (auf
S. 232 das Zitat „Das wäre [...]“, auf S. 234 die Einschätzung, Bernotat sei hier nicht durch Gauleiter Sprenger, sondern durch
das RMdI legitimiert worden); HStA Wi, Abt. 520 Nr. DZ 519563, Beiakten Bd. I, Bl. 2 f. Philipp Prinz von Hessen, „Aufzeichnung über die Verpachtung der Landesheilanstalt Hadamar. (In Ermangelung schriftlicher Unterlagen aus dem Gedächtnis aufgezeichnet).“ (02.01.1947); ebd., Bd. II, Bl. 114–127, Protokoll d. Vernehmung Philipp Prinz von Hessen b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager in seinem Verfahren (Verhandlung 1. Instanz) (15.–17.12.1947), hier Bl. 124–126.
317
Dafür spräche auch, dass diese Aussagen durch den Verteidiger im Spruchkammerverfahren herausgestellt wurden: HStA
Wi, Abt. 520 Nr. DZ 519563, Hauptakten Bd. II, Bl. 8–56, RA Dr. Frhr. v. Preuschen u. RA v. Schlabrendorff, Wiesbaden, an
Spruchkammer Darmstadt-Lager, Erwiderung auf die Klageschrift im Spruchkammerverfahren (1. Instanz) gegen Philipp
Prinz von Hessen (21.11.1947), hier Bl. 51 f.
318
Siehe dazu Kap. IV. 1. b).
319
Siehe dazu Kap. II. 1. b).
320
Siehe dazu Kap. IV. 1. b). – Besonders kurios erscheint der Versuch des Anwalts von Traupels Familie im Jahre 1949,
Traupels Konflikt mit Sprenger mit den NS-„Euthanasie“-Verbrechen zu erklären: „In schwerste Konflikte geriet der Verstorbene mit dem Gauleiter Sprenger, als dieser die Euthanasie in hessischen Anstalten durchführen wollte, wogegen sich der
Verstorbene auf das äußerste sträubte. [...] Erst [...] als dieser sich selbst zum Militärdienst gemeldet hatte, [...] wurde die
Euthanasie in der Anstalt Herborn [!] in Hessen durchgeführt“: HStA Wi, Abt. 520 Nr. KZ 3217, Bl. 7–10, Antrag von RA u.
416
IV. Zeit der Gasmorde
Mordaktion an sich von Anfang an im Bilde, wie man aufgrund seiner Freundschaft mit Richard Hildebrandt annehmen kann,321 wie seine Mitwirkung bei Menneckes U.-k.-Stellung für „T4“ im Dezember 1939 nahe legt und wie es spätestens für die Zeit der Meldebogenerfassung im Juli 1940 belegt
ist.322 Trotz aller persönlicher Feindschaft war es für Bernotat Ende 1940 unumgänglich, Traupel über
die Abgabe der Anstalt Hadamar ins Vertrauen zu ziehen, wenn sich aus der Bereitstellung als Mordanstalt nicht unabsehbare Komplikationen ergeben sollten. Bei allem Hang zu ideologisch motivierten
Maßnahmen war Bernotat doch Verwaltungsbeamter genug, um die Notwendigkeit einer formalen
Grundlegung der Abgabe an „T4“ zu kennen. Dass Traupel von der Sache her hinter der NS-„Euthanasie“-Aktion stehen würde, konnte vorausgesetzt werden, doch wann und auf welchem Wege er konkret
einbezogen wurde, ist unbekannt. Denkbar wäre einerseits, dass die Angelegenheit am 5. Dezember
1940 in Berlin zur Sprache kam, als Bernotat und Traupel (aus anderen Gründen323) gemeinsam einen
Termin bei SD-Chef Reinhard Heydrich hatten, der selbst mit der Frage der Krankentötungen befasst
war (etwa indem er an den Beratungen zum Gesetz über die „Sterbehilfe bei unheilbar Kranken“ teilnahm324). Anderseits ist denkbar, dass Bernotat durch einen „Vermittler“ Kontakt zu Traupel aufnehmen ließ, nachdem der in Berlin entworfene und vom Leiter der „T4“-Wirtschaftsabteilung, Willy
Schneider, am 8. Januar 1941 unterschriebene Pachtvertrag in Wiesbaden eingetroffen war. Zu denken
wäre etwa an Traupels Wiesbadener Stellvertreter als Landeshauptmann, Landesrat Max Kranzbühler,
der längst eingeweiht war, oder aber an den Eichberger Direktor Dr. Friedrich Mennecke, der sich aus
den Auseinandersetzungen zwischen Bernotat und Traupel gänzlich herausgehalten hatte – wohl weil
sie ihn sachlich nicht betrafen und weil er währenddessen vollauf mit den „Begutachtungen“ und Reisen für „T4“ beschäftigt war.325
Festzuhalten bleibt, dass in die Verpachtung der Anstalt Hadamar seitens des Bezirksverbandes eine
sehr kleine Anzahl von Personen involviert war. Dass ein derartiges „Kommandounternehmen“ überhaupt möglich war, bringt die veränderten Strukturen und Machtverhältnisse im Bezirksverband seit
der nationalsozialistischen „Machtübernahme“ und der Einführung des Führerprinzips326 deutlich zum
Ausdruck. Während ein Vorgang wie die Hadamarer Verpachtung zu Weimarer Zeiten noch vom
Kommunallandtag oder dem Landesausschuss hätte beschlossen werden müssen (und vielfältige Diskussionen hätte hervorrufen können), lag nun (theoretisch) die alleinige personale Vollmacht beim
Oberpräsidenten, wodurch die Entscheidung unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt werden konnte.
Indem Philipp von Hessen – mit welchen Informationen auch immer ausgestattet – die Unterschrift
Mitte Februar 1941 vollzog, wurde die Verpachtung der Anstalt Hadamar an die Mordorganisation
„T4“ rückwirkend ab November 1940 wirksam. Wenn die Verpachtung im Vorfeld auch intern nicht
auf breiter Basis verhandelt worden war, so sah der Verband in den folgenden Monaten dennoch offenbar keinerlei Veranlassung, die Überlassung der Anstalt gegenüber der Öffentlichkeit – und erst
recht nicht gegenüber der breiten Masse der eigenen Mitarbeiterschaft – zu verschweigen. In dem 1941
veröffentlichten Verwaltungsbericht über den Bezirksverband hieß es im Abschnitt über Hadamar
kurz: „Das seit Beginn des Krieges in der hiesigen Anstalt eingerichtete Reservelazarett wurde Ende
Oktober 1940 aufgelöst. Seit dem 1. November 1940 ist die Anstalt an die Gemeinnützige Stiftung für
Notar Ludwig W., Schötmar in Lippe an d. Kammer f. polit. Überprüfung d. Versorgungsberechtigten, Kassel (06.09.1949),
hier Bl. 8.
321
Siehe dazu Kap. III. 3. c).
322
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
323
Hauptthema der Besprechung war die Frage der (beruflichen) Zukunft der verfeindeten SS-Mitglieder; siehe dazu Kap.
IV. 1. b).
324
NARA, T-1021, Roll 11, Frame 64–96, „T4“-Protokoll zu den Gesetzesberatungen (o. D.), auch in BA, All. Proz. 7/111
(FC 1806), hier n. den Kopien in BA, R96 I/2, Bl. 126659–126690, hier Bl. 126685. – Zu dem geplanten Gesetz siehe auch
Roth/Aly, Gesetz (1984).
325
Letztlich muss dieser Punkt offen bleiben, da Traupel u. Bernotat sich nach 1945 gar nicht zu den NS-„Euthanasie“Verbrechen äußerten, während in den Äußerungen der beiden anderen, Kranzbühler u. Mennecke, diese konkrete Frage nicht
thematisiert wurde. – Zu den Kenntnissen Kranzbühlers und der Involvierung der von ihm geleiteten Personalabteilung in die
Personalbeschaffung für „T4“ siehe auch Kap. IV. 2. c).
326
Siehe dazu Kap. II. 1. b).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
417
Anstaltspflege verpachtet. Auf dem zur Anstalt gehörenden Hofgut Schnepfenhausen sind 65 Kranke
untergebracht, die mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt werden.“327
Spätestens als sich dann im Laufe des Jahres 1941 in der Bevölkerung die Gerüchte über die Hadamarer Morde ausbreiteten, konnten diese auch dem Oberpräsidenten Philipp von Hessen nicht mehr
verborgen bleiben; anscheinend hatte sich auch der Betheler Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh
wegen der Krankentötungen Hilfe suchend an Philipp von Hessen gewandt.328 Aufsehen erregen sollte
später Philipp von Hessens Erklärung im Nürnberger Prozess, er habe „sowohl vom Euthanasie-Programm als auch von den Juden-Deportationen, vor allem aus Frankfurt, volle Kenntnis“ gehabt, ein
Bekenntnis, das „im Gegensatz zu der Aussage der meisten Nürnberger Angeklagten“ stand.329 Über
die Krankenmorde informiert, will Philipp von Hessen dieses Thema 1941 bei Besprechungen in Berlin angeschnitten haben. Zunächst sei er an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, herangetreten – angeblich zufällig, ohne zu wissen, dass dieser Hitlers „Euthanasie“-Beauftragter war. Anschließend habe er mit Hitler selbst gesprochen, der ihm in einem verhältnismäßig kurzen Gespräch
gesagt habe „[...] es muss sein.“330 Gleichviel, ob die Angaben Philipp von Hessens über seine behaupteten Interventionen zutreffen oder nicht: Auf den weiteren Verlauf der Krankenmorde in den ihm
unterstellten Landesheilanstalten nahm der Kasseler Oberpräsident sowohl 1941 als auch in den folgenden Jahren – soweit ersichtlich – keinerlei Einfluss mehr, weder in aktiv fördernder noch in bremsender Hinsicht.331
Landeshauptmann Wilhelm Traupel dagegen stellte noch im April 1941, kurz bevor er sich infolge
der Streitigkeiten mit Sprenger zur Wehrmacht einberufen ließ, eine möglichst reibungslose Beteiligung der Anstalten seines (nordhessischen) Bezirksverbandes Hessen sicher.332 Er persönlich machte
seinen Kasseler Anstaltsreferenten Karl Rücker, der ohnehin seit der Meldebogenerfassung eingeweiht
war,333 mit den nächsten Schritten vertraut, nämlich der anstehenden Verlegung von nordhessischen
Patienten in Zwischenanstalten wie Weilmünster; dabei bekräftigte er nochmals, das Vorgehen sei
rechtmäßig, es sollten „die völlig unheilbaren Kranken, die in keiner Weise für eine Arbeit zu verwenden seien, [...] von ihren Leiden schmerzlos befreit werden“.334 In Wiesbaden dagegen überließ Traupel
das Feld vollständig den dortigen Protagonisten Bernotat und Mennecke.335 Aus Überzeugung leistete
der Landeshauptmann die ihm möglichen Beiträge zur Unterstützung der Krankentötungsaktion der
„T4“ und ließ sich dabei anscheinend nicht dadurch irritieren, dass sein Wiesbadener Kontrahent Bernotat von der Krankenmordorganisation „T4“ nun als bevorzugter Ansprechpartner auserwählt worden
war. Im Gegenteil: Gegenüber dem Oberpräsidenten, mit dem er zuletzt bei der geplanten Zusammen327
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 21. – Die gedruckten Verwaltungsberichte fanden zwar keine
allzu große Verbreitung, wurden aber keineswegs nur intern vertrieben, sondern z. B. auch in den Bestand der Nassauischen
Landesbibliothek in Wiesbaden aufgenommen.
328
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 232–236, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6.
Hv-Tag (06.03.1947). – Vgl. auch NARA, Unterlagen des Nürnberger Prozesses, Bl. E 047196 f., Zusammenfassung der
Vernehmung (06.05.1947) von Philipp Prinz von Hessen durch Dr. Kempner in Nürnberg, hier Bl. E 047196, hier zit. n. d.
Kopie: BA, Film des ehem. ZStA Potsdam, AA Film Nr. 3653: „He [...] heard that Pastor BODELSCHWINGH appealed
directly to the institution although it was not in his diocese.“
329
Frankfurter Neue Presse (28.05.1947), „Prinz Philipp von Hessen wußte davon“, hier zit. n. d. Zeitungsausschnitt in d.
Akten d. Hess. Justizministeriums, Az. IV – 149/49, Bl. 35.
330
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 232–236, Zeugenaussage Philipp Prinz von Hessen im Hadamar-Prozess Ffm, 6.
Hv-Tag (06.03.1947) (dort auf S. 236 Zitat „[...] es muss sein.“); ebd., HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 878–880,
Aussage Philipp Prinz von Hessen ggü. d. OStAnw b. d. LG Darmstadt im Internierungslager Darmstadt (14.01.1947),
Durchschr., hier Bl. 880; HStA Wi, Abt. 520 Nr. DZ 519563, Hauptakten Bd. II, Bl. 114–127, Aussage Philipp Prinz von
Hessen b. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager in seinem Verfahren (Verhandlung 1. Instanz) (15.–17.12.1947), hier Bl. 125 f.
331
Beispielsweise sagte der stv. Kasseler LH Schellmann aus, in seinen (seltenen) Dienstgesprächen mit dem OP sei das
Thema nicht angesprochen worden: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 115 f., Aussage Otto Schellmann b. d. StAnw in
Kassel (04.07.1946), hier Bl. 116.
332
Zu Traupels diesbezüglichen Aktivität siehe Kap. IV. 3. a); zu seiner Einberufung siehe Kap. IV. 1. b).
333
Zu Karl Rücker (1889–1948 siehe biogr. Anhang; zur Meldebogenerfassung im BV Hessen siehe Kap. IV. 2. a).
334
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 182 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag
(04.03.1947). – Zur Unterrichtung der 3 nordhessischen Anstaltsdirektoren durch Traupel eine Woche vor seiner Einberufung
siehe Kap. IV. 3. a).
335
Weder für eine Kontaktaufnahme Traupels zur Wiesbadener Zentralverwaltung oder den LHAen des BV Nassau noch zur
„T4“-Anstalt Hadamar während der Zeit des Gasmorde gibt es irgendwelche Hinweise in zeitgenössischen Archivquellen oder
Nachkriegsaussagen.
418
IV. Zeit der Gasmorde
legung der Bezirksverbände336 eine Allianz eingegangen war, deckte Traupel Bernotats Verhalten bei
der Verpachtung der Anstalt Hadamar an „T4“, möglicherweise um die Einweihung des als vielleicht
unsicheren Kantonisten eingestuften Philipp Prinz von Hessen zu umgehen. Die Ideologie der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, der Traupel sich spätestens seit den 1930er Jahren verschrieben
hatte, scheint nun schwerer gewogen zu haben als jegliche Rücksichtnahme auf taktische Konstellationen oder persönliche Zu- und Abneigungen.
*
Die Anstalt Hadamar war unter den 1940/41 installierten sechs Gasmordanstalten die letzte, welche
„T4“ in Betrieb nahm. Sie war zugleich die erste und einzige, die in Räumlichkeiten eines der preußischen Provinzial- und Bezirksverbände eingerichtet wurde, weswegen dem Bezirksverband Nassau als
Verpächter auch eine Sonderrolle unter diesen Verbänden zukommt. Ein Vergleich mit der Auswahl
und Übernahme der übrigen fünf „T4“-Anstalten zeigt die Hintergründe für diese Rolle. Um in den
Besitz von geeigneten Liegenschaften für die Installierung von Mordanstalten für die vier eigens definierten „Einzugsgebiete“ (Nord, Ost, Süd, West) zu gelangen, benötigte „T4“ Unterstützung vor Ort –
in politischer Hinsicht vom gebietsmäßig zuständigen Gauleiter und in verwaltungstechnisch-organisatorischer Hinsicht von der zuständigen Staatsverwaltung. Überwiegend wurde „T4“ fündig in solchen
Territorien, in denen eine möglichst monolithische Führungsstruktur herrschte, etwa indem die Ämter
von Gauleiter, Reichsstatthalter, Chef der Landesregierung und Reichsverteidigungskommissar in
Personalunion geführt wurden (wie in Anhalt, Sachsen oder Württemberg). Dies minimierte zum einen
Kompetenzkonflikte, zum anderen trugen die Gauleiter als legitimatorische Instanz zu einer Absicherung des geheimen Krankentötungsprojekts bei. Dass die Personalunion in der Führung von Gauleitung
und Verwaltungsbehörde im Falle Hadamars nicht bestand, ließ sich offensichtlich durch das gute
persönliche Einvernehmen zwischen Gauleiter Sprenger und Anstaltsdezernent Bernotat kompensieren,
während der Rivalität Sprengers zur eigentlichen Behördenspitze des Bezirksverbandes Nassau seit der
faktischen Entmachtung von Landeshauptmann Traupel kaum noch eine Bedeutung zukam.
Neben derartigen machtstrategischen Gründen beeinflussten einige praktische Bedingungen die
Auswahl der Anstalt Hadamar: die verkehrsgünstige Lage nahe der Autobahn, die relativ geringe Größe der Anstalt, die mangelnde Notwendigkeit größerer Umbauten, die schnelle Verfügbarkeit, möglicherweise auch die Lage außerhalb des Ortskerns. Letztlich aber scheint all dies nicht ausschlaggebend
gewesen zu sein; in gewisser Hinsicht war die Wahl des eigentlich zu weit südlich gelegenen Hadamars sogar nur eine Notlösung. Somit wurde schließlich die ideologische Verlässlichkeit und die Bereitwilligkeit der Führungspersönlichkeiten des Bezirksverbandes Nassau zu dem Hauptkriterium. Der
Bezirksverband Nassau, der sich bereits bis 1939 mit seiner kranken- und behindertenfeindlichen
Anstaltspolitik profiliert hatte, schien darauf aufbauend die Gewähr für eine Unterstützung der Krankentötungsaktion zu bieten. In der Praxis betrieben insbesondere Anstaltsdezernent Bernotat und Anstaltsdirektor Dr. Mennecke im Kontakt mit dem zuständigen „T4“-Ansprechpartner, dem Leiter der
Inspektionsabteilung Adolf Kaufmann, die Übergabe der Immobilie in Hadamar. Ein sich entwickelndes persönliches Verhältnis zwischen den Protagonisten des Bezirksverbandes und Kaufmann, zuständig für die Ingangsetzung der Gasmordanstalt, führte zu einer reibungslosen Einrichtung des Gebäudes
als „T4“-Anstalt, über deren Zweck – dies kann als sicher gelten – bereits in der Anfangsphase auch
der (für Hadamar zuständige) Frankfurter Gauleiter Sprenger einbezogen war.
Als prägend für die weitere Kooperation zwischen „T4“ und Bezirksverband erwies sich die Tatsache, dass fortan auf dem Hadamarer Anstaltsgelände – ja sogar in den Räumlichkeiten des Hauptgebäudes – zwei Institutionen koexistierten: die so genannte „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar“
als „T4“-Gasmordanstalt und die als Rumpfeinrichtung weiter bestehenden „Landesheilanstalt Hadamar“ als Institution des Bezirksverbandes Nassau mit dem Bernotat-Vertrauten Landessekretär Alfons
Klein an der Spitze. Klein unterstützte die „T4“-Anstalt engagiert in logistischen oder organisatori336
Siehe dazu insb. Kap. IV. 1. a).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
419
schen Angelegenheiten. Auch darüber hinaus erhielt „T4“ vielfältige Dienst- und Sachleistungen des
Bezirksverbandes beim Aufbau der Mordanstalt; den namhaftesten Beitrag des Verbandes stellte gewiss die mietfreie Überlassung der Anstaltsgebäudes für die folgenden eindreiviertel Jahre dar.
Durch die deformierte Leitungsstruktur, die sich mit der Gleichschaltung des Bezirksverbandes und
der Einführung des „Führerprinzips“ seit 1933/34 herausgebildet hatte, war der Abschluss des Pachtvertrages über Anstalt Hadamar für den Bezirksverband relativ reibungslos möglich. Ohne Rücksichtnahme auf demokratische Gremien ließ sich die Verpachtung unter Ausschluss der Öffentlichkeit bewerkstelligen; Bernotat konnte dabei seine Rolle als regionaler „T4“-„Sonderbeauftragter“ voll zur
Geltung bringen. Zugleich erwies sich die Unterstellung des Wiesbadener Verbandes unter den Kasseler Oberpräsidenten als Farce, denn indem der Amtsinhaber seine Funktion als Behördenleiter allenfalls der Form halber wahrnahm, erhielten die Wiesbadener Verbandsverantwortlichen einen weiten
Spielraum, den die Rechtsvorschriften von 1933/34 kaum hätten erwarten lassen.
Wenngleich die Bereitstellung und Verpachtung der Anstalt als eine Maßnahme des Bezirksverbandes gewertet werden kann, so ist doch unverkennbar, dass an dieser Maßnahme erst eine relativ kleine
Elite aus der Spitze der Verwaltung beteiligt war. Das Engagement Einzelner, die durch ihrer Verankerung in der NSDAP (und zugleich in der SS) eine beinahe unangefochtene Stellung innerhalb der Verbandshierarchie hatten einnehmen können, ermöglichte diese entscheidenden Schritte zur Vorbereitung
der „T4“-Morde in Hadamar. Der Anteil der Verwaltung als Ganzer bestand in dieser Phase noch allein
darin, den Betreffenden den Raum für ihr dementsprechendes Handeln zu geben. Erst in der folgenden
Zeit sollte auch ein größerer Teil der Mitarbeiterschaft – und damit die Basis – des Bezirksverbandes in
bestimmte Sektoren der Mordaktion auf aktivere Art und Weise eingebunden werden.
c) Akquirierung von Personal für die „T4“-Anstalt Hadamar
Einen der heikelsten Punkte in der Vorbereitung der Mordaktion stellte aus Sicht von „T4“ die Beschaffung von geeignetem Personal dar. Die intensive Zusammenarbeit, die gerade in dieser Frage
zwischen dem Bezirksverband Nassau und „T4“ entstand, zeigt – anders als in manchen anderen Bereichen der Mordaktion – eine Sonderstellung des Wiesbadener Verbandes. Der Bezirksverband unterschied sich hier deutlich von den übrigen Verbänden, aber auch von den außerpreußischen Landesverwaltungen, da er die einzige dieser Behörden war, die für den Betrieb der Mordanstalt einen
erheblichen Teil ihres dortigen Personals an die Organisation „T4“ abordnete. Für diese war es notwendig, Mitwirkende zu finden, die sich möglichst ohne Bedenken an der Kranken- und Behindertentötung beteiligten. Zugleich konnte jedoch aus Gründen der Geheimhaltung keine offene Ausschreibung erfolgen.337 In vielen Fällen griff „T4“ auf das Mittel der „Heranziehung zum Notdienst“ zurück,
eine Zwangsverpflichtung, die der Staat nach der „Notdienstverordnung“ von 1938 zur „Bekämpfung
öffentlicher Notstände“ in „Erfüllung hoheitlicher Aufgaben“ von allen Bewohnern des Reichsgebiets
„für eine begrenzte Zeit“ verlangen konnte.338 Nicht „T4“ selbst, sondern kooperierende Behörden,
etwa das Reichsinnenministerium oder beispielsweise einzelne Landräte, sprachen die Dienstverpflichtungen aus;339 teilweise traten dabei die Arbeitsämter in Aktion, die seit 1939 im Zusammenhang mit
337
Zu den Schwierigkeiten der Personalbeschaffung aus „T4“-Sicht angesichts des Ziels der Geheimhaltung siehe auch HStA
Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. HvTag (11.03.1947), hier Bl. 352.
338
RGBl. I, Jg. 1938, Nr. 170 (18.10.1938), S. 1441 f., „Dritte Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben
von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Notdienstverordnung)“ (15.10.1938), hier S. 1441 (§ 1); ebd., Jg. 1939, Nr. 25
(14.02.1939), S. 206 f., „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer
Bedeutung“ (13.02.1939). – Zur Anwendung der Notdienstverordnung durch „T4“ siehe Walter, Psychiatrie (1996), S. 658.
339
Die Notdienstverordnung von 1938 sah in § 2 (S. 1442) vor, dass die zuständigen Behörden vom „Beauftragte[n] für den
Vierjahresplan [...] im Benehmen mit dem Reichsminister des Innern“ bestimmt werden. – Der für „T4“ verpflichtete Pfleger
Heinrich Unverhau, bis dahin in der Heil- und Pflegeanstalt Neuruppin, wurde durch den Landrat des Kreises Neuruppin
notdienstverpflichtet: Zeugenaussage Heinrich Unverhau ggü. einem Untersuchungsrichter (30.06.1960), hier n. Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 69. – 5 Pflegerinnen der Anstalt Berlin-Wittenau wurden durch das RMdI notdienstverpflichtet: Hühn,
Psychiatrie (1989), S. 192 f., mit Hinweis auf Archiv d. Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik Berlin, Schnellbrief d. RMdI
(14.12.1939). – Die Ankündigung der Notdienstverpflichtung in Berlin-Wittenau soll dagegen durch den Berliner Polizeiprä-
420
IV. Zeit der Gasmorde
der „Notdienstverordnung“ befugt waren, „privaten und öffentlichen Betrieben und Verwaltungen [...]
die Abgabe von Arbeitskräften“ aufzuerlegen.340 Die Dienstverpflichteten hatten sich im Allgemeinen
zunächst in der „T4“-Zentrale in Berlin einzufinden, wurden dort über ihren Auftrag unterrichtet und
anschließend in eine der Mordanstalten geschickt.341
Unterschiedlich handhabte man bei den „T4“-Anstalten die Frage, ob auch vor Ort Personal akquiriert wurde. So ist beispielsweise für die Mordanstalt Grafeneck dokumentiert, dass zu Beginn ausschließlich Personal von der Berliner Zentrale geschickt wurde,342 während in Bernburg vereinzelt auch
Mitarbeiter aus dem Ort selbst angestellt wurden.343 Trotz des prinzipiellen Zwangscharakters von
Heranziehungen zum „Notdienst“ legte „T4“ doch großen Wert darauf, die Freiwilligkeit des Einsatzes
zu wahren, um späteren Reibungen vorzubeugen.344 So wertete das Landgericht Frankfurt 1947 im
Hadamar-Prozess: „Das Bestreben der maßgebenden Leute in der ‚Aktion‘ ist ganz offensichtlich
dahin gegangen, als Mitarbeiter in der ‚Aktion‘ nur Leute zu sehen, die für diese außergewöhnliche
Tätigkeit die innere Bereitschaft hatten. [...] Es ist [...] offensichtlich, daß man in dieser recht heiklen
Angelegenheit keine Leute wissen wollte, die möglicherweise Schwierigkeiten bereiteten, die hierüber
reden und möglicherweise durch Machenschaften den geplanten Aktionsablauf beeinträchtigen könnten.“345 Insofern geschahen auch die Dienstverpflichtungen meist nicht wahllos, sondern gezielt: Man
ließ beispielsweise solche Personen verpflichten, die aus Parteikreisen oder von bereits aktiven „T4“Mitarbeitern empfohlen worden waren. Häufig warb man darüber hinaus Bekannte oder Verwandte
anderer „T4“-Beschäftigter an. Umgekehrt wurden aus der Mordorganisation heraus Informationen
über freie Stellen an Vertrauenspersonen weitergetragen, die an einer neuen Verwendung interessiert
waren. Erwartungsgemäß war in derartigen Fällen meist nicht das Mittel der Dienstverpflichtung erforderlich.346
Über weite Strecken konnte „T4“ sich bei der Personalakquisition auf Unterstützung aus der SS stützen. Hierbei werden die SS-Mitgliedschaft und die persönliche Bekanntschaft des „T4“-Organisators
Brack zu Reichsführer Heinrich Himmler eine Rolle gespielt haben. Ein Teil des „T4“-Personals stand
zuvor in den Diensten des Sicherheitsdienstes (SD).347 Auch von dem in Hadamar eingesetzten Personal galt ein Teil als SS-Gruppe; Einzelne gaben sich als SD-Mitglied zu erkennen.348 Sowohl „T4“
selbst als auch SS und SD konnten sich kaum der halböffentlichen Meinung im Volk erwehren, wonach die Krankenmorde – soweit sie bekannt waren – als „eine irgendwie wilde Aktion der SS“ galten.349 Selbst der oberste Medizinalbeamte des Wiesbadener Regierungspräsidenten vertrat im Nachhisidenten erfolgt sein: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in
Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier Bl. 26.
340
RGBl. I, Jg. 1939, Nr. 25 (14.02.1939), S. 206 f., „Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von
besonderer staatspolitischer Bedeutung“ (13.02.1939), hier S. 206 (§ 1 Abs. 1); zur Anwendung einer Durchführungsanordnung v. 02.03.1939 (mit Bezugnahme auf die genannte Verordnung vom 13.02.1939) siehe HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B,
o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie (bei der Vernehmung legte B. den
Verpflichtungsbescheid vor, welcher die Verordnung u. die Durchführungsanordnung nennt); vgl. auch Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 140.
341
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.
1948), Abschr., hier Bl. 26.
342
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 220.
343
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 69.
344
Friedlander, Weg (1997), S. 373, weist in diesem Zusammenhang auch auf das Einspruchsverfahren in der Notdienstverordnung hin, „dessen Inanspruchnahme die Manager von T4 sich nicht leisten konnten, wenn die Operation geheim bleiben
sollte.“
345
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil mit Urteilsbegründung im Hadamar-Prozess, LG Ffm, Az. 4a
Js 3/46 (o. D., ca. 26.03.1947), hier Bl. 1347.
346
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 166; Friedlander, Weg (1997), S. 373 f.; Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 140 f.
347
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 6, Vm. d. StAnw Ffm, Staatsanwalt Dr. Wagner (12.02.1946); HStA Wi, Abt.
631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud F. geb. K. ggü. d. LG Ffm in Heilbronn (15.02.1966), Kopie; Walter,
Psychiatrie (1996), S. 658.
348
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; HStA Wi, Abt.
461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 91, Aussage d. Angeklagten Erich Moos im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd.,
Bl. 123, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (der ltd. „T4“-Büromitarbeiter Berger in Hadamar habe ihm ggü. gesagt: „[...] ich bin Beamter von dem SD [...]“).
349
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8.
Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 352.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
421
nein die Auffassung, die so genannte „Euthanasie“ sei „allein auf Betreiben der SS und einiger Gauleiter“ in die Tat umgesetzt worden.350 Sogar gegenüber Reichsjustizminister Franz Gürtner sah SD-Chef
Reinhard Heydrich sich 1940 bemüßigt mitzuteilen, bei den Aktivitäten von „T4“ handele es sich nicht
um eine Aktion der ihm unterstellten Organe.351
Einen Grundstock für die personelle Ausstattung der künftigen Mordanstalt in Hadamar stellten für
„T4“ die übernommenen und nach Hadamar versetzten Mitarbeiter der Ende 1940 geschlossenen Gasmordanstalt Grafeneck dar.352 Doch durch personelle Fluktuation reichte dies bei Weitem nicht aus.
Daher wurde eine gewisse Anzahl der von „T4“ in Hadamar eingesetzten Personen zwischen Oktober
1940 und Juli 1941 in Frankfurt a. M. über die „Heranziehung zum Notdienst“ akquiriert – dieser Teil
der Personalbeschaffung geschah noch ohne Einschaltung des Bezirksverbandes Nassau. Als Anforderer der „Notdienste“ trat zunächst gegenüber den Verpflichteten und ggf. deren bisherigen Arbeitgebern nicht eine der „T4“-Tarnorganisationen in Erscheinung, sondern die NSDAP. Als Adresse wurde
zwar teilweise „Berlin, Tiergartenstraße 4“ angegeben, als Ansprechpartner und erste Anlaufstelle fungierte jedoch die Frankfurter Gauleitung.353 Diese Vorgehensweise, die ihre Entsprechung auch in
Dienstverpflichtungen durch die Gauleitung Stuttgart für die „T4“-Anstalt Grafeneck sowie durch die
Gauleitung Linz für die Anstalt Hartheim findet,354 bestätigt die auch andernorts festgestellte Einbindung zumindest bestimmter Gauleiter in das System der Krankenmorde. Auch der Dresdener Gauleiter
stellte in seiner Eigenschaft als Reichsstatthalter Personal aus den sächsischen Landesanstalten für
„T4“ ab.355 Die Methode der Dienstverpflichtungen über die nächstgelegene Gauleitung war jedoch
auch keine Standardlösung; vielmehr suchte „T4“ offenbar von Fall zu Fall kooperationswillige Stellen. So ist es zu erklären, dass in Frankfurt nicht nur das erforderliche Personal für die Anstalt Hadamar akquiriert wurde, sondern auch mehrere Kräfte für andere Mordanstalten, so für die Anstalten
Hartheim, Pirna-Sonnenstein und Bernburg.356
350
Ebd., Bd. 5, Bl. 502 f., Bericht von Oberregierungs- u. Obermedizinalrat Dr. Schrader auf Ersuchen der amerikanischen
Militärregierung in Wiesbaden (o. D., angefordert am 21.04.1945), Abschr., hier Bl. 502, auch vorhanden in ebd., Nr. 32442
Bd. 3, Bl. 232 f. (o. D., dort mit Eingangsstempel d. Kriminalpolizei: 26.11.1946).
351
BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 73, handschr. Vm. Dr. Joël für den Minister [Gürtner] (01.11. o. J. [1940]) (hier bezogen auf
die Sicherheitspolizei); vgl. Friedlander, Weg (1997), S. 192 u. S. 525 (Anm. 6).
352
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im HadamarVerfahren (02.04.1946), hier Bl. 180; siehe dazu auch Kap. IV. 3. b).
353
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie
(der durch B. vorgelegte Verpflichtungsbescheid enthielt den Hinweis auf die NSDAP in Berlin); vgl. auch HStA Wi, Abt.
461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 664 f., gemeinsames Schreiben von Elisabeth U., Elfriede H., Ingeborg S. u. Johanna Sch., [Gefängnis] Limburg, an LG Ffm (10.12.1946), hier Bl. 664 („als Minderjährige ohne Ortsangabe vom Arbeitsamt Frankfurt/M. [...]
für die NSDAP dienstverpflichtet“).
354
Der Aufenthalt des Leiters der „T4“-Inspektionsabteilung Adolf Kaufmann „bei Gauleitungen [...] im Zusammenhang mit
der Personalbeschaffung“ wird bezeugt in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1367, Teil 2, Bl. 18–23, Aussage Reinhold Kaufmann b. d.
LG Ffm (13.04.1966), Durchschr, hier Bl. 20. – Zur Einbindung der Gauleitung Linz: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o.
Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965), Kopie, S. 1–14, hier S. 8; ebd., Teil 1, Bl. 22–
25, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (23.12.1965), Kopie, hier Bl. 23; ebd., Nr. 1369, H, bzw. Nr. 1370, L, jeweils o. Bl.Nr., Zeugenaussagen Franz H. bzw. Elisabeth L. b. d. Bezirksgericht Linz/Österreich (beide 18.11.1964), Kopie (beide wurden
über die Gauleitung Linz nach Hartheim kommandiert); Friedlander, Weg (1997), S. 374 u. S. 568 (Anm. 103). – Über die
eigene Heranziehung über die Gauleitung Stuttgart wird berichtet in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 393–395,
Aussage Elise F. geb. T. im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 393.
355
LWV, Best. 12/ehem. VA 153 (Kopie), o. Bl.-Nr., [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Personalabteilung,
A. Oels, an VI Alfons Klein, LHA Hadamar (31.03.1944) („Der Reichsstatthalter hatte uns seinerzeit die Kräfte für einen
geheimen Sonderauftrag entgegenkommend zur Verfügung gestellt [...]“; vermutlich wurde hier der Weg der Abordnung und
nicht der Dienstverpflichtung beschritten); vgl. auch Schilter, Ermessen (1999), S. 198.
356
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 299–301, Bl. 303, Zeugenaussage Hedwig W. geb. I. im Hadamar-Prozess Ffm, 7.
Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 299 (Hinweis auf eine in Ffm Verpflichtete, die „nach Linz/Österreich“ [= Hartheim] kam);
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Elisabeth F. geb. N. b. d. LG Ffm (27.01.1966), Kopie (wurde im
Okt. 1940 in Ffm für die Anstalt Sonnenstein verpflichtet). – Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 139, weist darauf hin, dass
allein 12 Personalangehörige in Bernburg aus dem Raum Ffm stammten; nach ebd., S. 164–171 (Tab. VII.4: „Personal der
‚Euthanasie‘-Anstalt Bernburg“) zählten zu den aus Ffm stammenden (oder dort dienstverpflichteten) Bernburger Mitarbeitern
die Büromitarbeiterin Mathilde Ha. aus Ffm (* 1909, bisher Stenotypistin, DAF-Mitglied, nicht NSDAP-Mitglied, später
Sekretärin beim SSPF Görz), die Büromitarbeiterin Elisabeth Kl. aus Ffm (* 1922, bisher Angestellte, BDM-Mitglied, kein
NSDAP-Mitglied), der Büromitarbeiter Karl. Sp. aus Ffm (* 1907, bisher Kaufmann, NSDAP- u. SS-Mitglied, später eingesetzt in Italien), der Büromitarbeiter Heinrich St. aus Ffm (* 1909, bisher Kaufmann, NSDAP-, SS- u. DAF-Mitglied), die
Pflegerin Klara Wa. aus Ffm sowie verschiedene in anderem Zusammenhang in den Anmerkungen dieses Kap. IV. 2. c)
Genannte. – Schilter, Ermessen (1999), S. 199, S. 290 (Anm. 976) nennt 7 aus Ffm nach Pirna beorderte Personen; nach ebd.,
422
IV. Zeit der Gasmorde
Die operative Abwicklung der Heranziehungen zum „Notdienst“ – auch die Suche der Kandidaten –
übernahm jedoch in Frankfurt nicht (wie in Linz) die Gauleitung selbst, sondern das Arbeitsamt.357 Man
darf vermuten, dass bei dieser Funktionsübernahme das vertrauensvolle oder freundschaftliche Verhältnis zwischen Gauleiter Sprenger und dem Präsidenten des in Frankfurt angesiedelten Landesarbeitsamtes Hessen, Ernst Kretschmann, eine Rolle gespielt hat.358 Das Frankfurter Arbeitsamt konnte
sich zumindest teilweise auf Personalvorschläge aus Frankfurter Parteikreisen stützen. Dies diente dazu, eine prinzipielle Gewähr für eine Befürwortung der Krankentötungen durch die Ausgewählten sicherzustellen. So erwies sich beispielsweise die bei der NSDAP-Ortsgruppe Frankfurt-Praunheim ehrenamtlich tätige Finanzamtsangestellte Elisabeth N. als überzeugte Anhängerin des „T4“-Programms,
wie sie noch 1966 unumwunden zugab: „Ich habe die Euthanasie-Massnahmen für richtig gehalten.
Das bezieht sich natürlich nur auf die Geisteskranken. Ich habe viele Voll-Idioten gesehen und bin
auch heute noch der Auffassung, dass im Interesse dieser Personen ihre Tötung das Richtige war, ihr
Tod war eine Erlösung.“ Elisabeth N. wurde 1940 durch einen ebenfalls in dieser Ortsgruppe organisierten Mitarbeiter des Arbeitsamtes benannt und von „T4“ angeworben. Offenbar organisierte dieser
Verbindungsmann auch die Einstellung weiterer Personen, denn mehrere der Verpflichteten wohnten
im nördlichen Frankfurter Vorortbereich Praunheim/Römerstadt/Heddernheim.359
Wie in mehreren Fällen bezeugt, mussten einige der dienstverpflichteten „T4“-Mitarbeiter sich nach
dem Termin beim Arbeitsamt zunächst im Gauhaus in der Frankfurter Gutleutstraße melden, es folgte
dann im Prinzip die Entsendung in die Berliner Tiergartenstraße 4 und die schließliche Versetzung an
den Einsatzort, meist Hadamar.360 Fast unisono formulierten mehrere Dienstverpflichtete später im
Vorfeld und in der Hauptverhandlung des Hadamar-Prozesses 1946/47, sie seien „durch das Arbeitsamt Frankfurt/Main über die Gauleitung [...] dienstverpflichtet“361 worden. Die bereits erwähnten362
Kontakte zwischen Gauinspekteur Adolf Kaufmann seitens „T4“ und der Frankfurter Gauleitung sowie
die damit verbundenen Aufenthalte Kaufmanns in Frankfurt im Herbst 1940 dienten zweifellos auch
dem Zweck, diese Verpflichtungen zum „Notdienst“ in die Wege zu leiten, denn zu Kaufmanns Aufgabenspektrum zählte auch „die Anwerbung und Einführung des Anstaltspersonals“; wahrscheinlich
war er sogar persönlich für die Instruktion des Arbeitsamtes verantwortlich und zumindest in der Anfangsphase an den dortigen Vorstellungsgesprächen beteiligt.363 Der zuständige Abteilungsleiter des
S. 206–208 (Tab. „Nichtärztliche Mitarbeiter der Tötungsanstalt Sonnenstein“), S. 290 (Anm. 976) zählten zu den aus Ffm
stammenden (oder dort dienstverpflichteten) Sonnensteiner Mitarbeitern die Büromitarbeiterin Erna A. aus Darmstadt, der
Büromitarbeiter Netscher aus Ffm, der Büromitarbeiter Karl Sp. aus Ffm (* 09.04.1907, NSDAP- u. SS-Mitglied, auch eingesetzt in Bernburg, siehe oben) sowie verschiedene in anderem Zusammenhang in den Anmerkungen dieses Kap. IV. 2. c)
Genannte.
357
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann
(27.06.1966), hier S. 25 f. – Zur Situation in Linz siehe die Schilderung bei Friedlander, Weg (1997), S. 374, S. 568 (Anm. 103).
358
Zum Verhältnis Sprenger – Kretschmann siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 21, Bl. 2–4, Pol.-Präs. Ffm, Einlieferungs-Anzeige zu Ernst Kretschmann (16.05.1945), hier Bl. 3. – Zu Ernst Kretschmann (1891–1970), der 1943 in Sprengers
Gau zum Präsidenten des Gauarbeitsamtes u. Reichstreuhänder der Arbeit Rhein-Main wurde, siehe biogr. Anhang; zu dessen
Rolle bei der Ermordung ausländischer Zwangsarbeiter/innen in Hadamar 1944/45 siehe Kap. V. 4. b).
359
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Elisabeth F. geb. N. b. d. LG Ffm (27.01.1966), Kopie. – Das
Bekenntnis zur „Euthanasie“ kann auch prozessstrategische Gründe haben (vermeintliches Nichterkennen der Strafbarkeit). –
Zur lokalen Herkunft siehe die Daten im biogr. Anhang zu den unten genannten im Okt. 1940 verpflichteten Personen.
360
Ebd., H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter ggü d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie; siehe
auch die weiter unten genannten Belege zur Verpflichtung einzelner Personen.
361
So wörtlich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm
(26.02.1946), sowie ebd., Bd. 3, Bl. 99, Aussage Ingeborg S. geb. W. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); beinahe gleichlautend auch in ebd., Bd. 2, Bl. 51, Aussage Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (16.02.1946) („durch das Arbeitsamt Frankfurt/M[.], über die Gauleitung Frankfurt/M[.] [...] verpflichtet“); ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b.
d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946) („durch das Arbeitsamt Frankfurt/Main an die sogenannte Gauleitung zwecks Dienstverpflichtung [...] verwiesen“).
362
Siehe dazu Kap. IV. 2. b).
363
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 34
(Kaufmann gab seinen Besuch bei der Gauleitung Ffm grundsätzlich zu, wollte seine Rolle aber auf einzelne Fälle beschränkt
wissen und behauptete, er habe „mit dem Arbeitsamt [...] nichts zu tun gehabt“); vgl. auch ebd., Nr. 1367, Teil 2, Bl. 7–18,
Aussage Reinhold Kaufmann b. d. LG Ffm (06.04.1966), Durchschr., hier Bl. 13, Bl. 16 (dort wird der generelle und häufige
Kontakt des Bruders A. Kaufmann zur Gauleitung Ffm zwecks Personalbeschaffung nahe gelegt); siehe auch ebd., Nr. 1368,
B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie (in dieser – allerdings in anderen Details fehlerhaften – Aussage wird die Anwesenheit des „Älteren der Gebrüder Kaufmann“ [= Adolf Kaufmann] beim Vorstellungsgespräch
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
423
Arbeitsamtes scheint in den eigentlichen Zweck der Dienstverpflichtungen eingeweiht und mit besonderen Vollmachten ausgestattet gewesen zu sein, denn er verfügte gegenüber seinen Mitarbeitern Sonderregelungen zur Geheimhaltung364 und schickte die Dienstverpflichteten teilweise sogar direkt nach
Hadamar – ohne den aufwändigen Umweg über Gauleitung und Berliner „T4“-Zentrale.365
Die Dienstverpflichtungen über das Arbeitsamt Frankfurt geschahen zunächst in zwei Schüben: der
erste Ende Oktober 1940, der zweite Ende Februar/Anfang März 1941. Einzelne weitere Dienstverpflichtungen fanden schließlich um die Jahresmitte 1941 statt. Die ersten, im Herbst 1940 Verpflichteten sollten ihren Dienst bei „T4“ am 28. Oktober aufnehmen; soweit sie für einen Einsatz in Hadamar
bestimmt waren – eine Gruppe von etwa zehn Personen –, trafen sie dort ein, als das so genannte „T4“Vorkommando seine Tätigkeit bereits aufgenommen hatte. Die Herangezogenen gehörten der Altersgruppe zwischen Anfang 20 und Anfang 30 an, waren (soweit bekannt) in der Partei oder ihren Verbänden organisiert und hatten bislang überwiegend im öffentlichen Dienst oder sogar bei der NSDAPGauleitung selbst gearbeitet. „T4“ setzte sie nun hauptsächlich im Büro oder im Wirtschaftsbereich der
Mordanstalten ein.366
Zunehmend gewannen für „T4“ die Verwaltungsabteilungen der Anstalten an Bedeutung, nicht zuletzt da Unachtsamkeiten gerade in diesem Bereich (etwa Unstimmigkeiten bei schriftlichen Benachrichtigungen an die Angehörigen der Opfer) die Geheimhaltung in höchstem Maße gefährdeten. Der
zweite Schub von Dienstverpflichtungen für Hadamar, wirksam ab Anfang März 1941, ist in diesen
im Arbeitsamt Ffm im Okt. 1940 bezeugt). – Grundsätzlich zur Funktion Kaufmanns bei der Personalbeschaffung siehe auch
ebd., Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier
S. 25 (Zitat „die Anwerbung [...]“); zur entsprechenden Aktivität Kaufmanns in Linz zur Anwerbung und Einstellung von
Personal für die „T4“-Anstalt Hartheim siehe Friedlander, Weg (1997), S. 160.
364
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 299–301, Bl. 303, Zeugenaussage Hedwig W. geb. I. im Hadamar-Prozess Ffm, 7.
Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 299 (im Gegensatz zu sonstigen Heranziehungen zum „Notdienst“ wurden nicht 3–4, sondern
nur 2 Durchschläge der Verpflichtungsanordnung erstellt).
365
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie.
366
Zu den im Oktober 1940 in Ffm Verpflichteten zählten: Hedwig A. (* 1916), Johann B. (* 1907), Alfred F., Anneliese G.
(* 1909), Josef Hirtreiter (* 1909), Johann („Hans“) K. (* 1901), Alfred L. (+ 1944), Elisabeth N. verh. F. (* 1918), Karl R.
(1910–1956), Paula S. (* 1911), August S. (* 1912), Sch. (Vorname u. Lebensdaten unbekannt); nicht bekannt sind die Daten
einer (wahrscheinlichen) Dienstverpflichtung von Philipp P. und Adolf Merkle für „T4“ (beide 1941 von „T4“ in Hadamar
eingesetzt); formal nicht dienstverpflichtet war der bereits in Kap. IV. 2. b) genannte BV-Bedienstete Emil S. (* 1902), der
jedoch etwa zeitgleich mit den Verpflichteten im Herbst 1940 vom Arbeitsamt Ffm nach Hadamar geschickt wurde. – Zu den
Genannten siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 47, 5. Polizeirevier Ffm an GenStAnw Ffm
(07.08.1963); ebd., Bl. 135, Strafanstalt Butzbach an LG Ffm (09.08.1965); ebd., Nr. 1360, Bl. 234, LG Ffm an Polizeipräsidium Ffm (31.08.1965); ebd., Bl. 239 f., Vm. d. Polizei Ffm, 13. K. (10.09.1965) u. Polizeipräsidium Ffm an LG Ffm, Untersuchungsrichter (13.09.1965); ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Protokoll d. Zeugenvernehmung Johann B. b. d. LG Ffm
(25.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Helmut F. bzw. Elisabeth F. geb. N. b. d. LG Ffm (24.
bzw. 27.01.1966), Kopie; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter ggü d. LG Ffm in der Strafanstalt
Butzbach (27.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (31.10.1963),
Kopie; ebd., S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage August S. b. d. LG Ffm (26.08.1965), Kopie; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2,
Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in
Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Schr. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.
1946); ebd., Bl. 80, Bl. 83, Bl. 88, Berichte d. Kriminalpolizei Ffm, 1. Kommissariat (22. bzw. zweimal 25.02.1946); ebd.,
Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 100, Zeugenaussage Johann B. b. d.
Kriminalpolizei Ffm (23.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 41, Aussage Elfriede H.
b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.04.1946); ebd., Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946); ebd.,
Bl. 100 f., Aussage Josef Hirtreiter b. d. Kriminalpolizei Ffm (21.06.1946); ebd., Bl. 103, Aussage August S. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); ebd., Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache
Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]); ebd., Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm, Erster
StAnw Tomforde (03.08.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im
Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier Bl. 174 f., Bl. 212 f.; Bl. 218 f.; ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü.
d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 f. (07.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 133–136, Aussage d. Angeklagten
Paula S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 156 f. bzw. Bl. 157 f., Zeugenaussagen Johann B. u.
August S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm,
verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 5, Bl. 244, IfZ, München, an OStAnw b. d. LG Ffm (27.02.
1954), Abschr.; ebd., Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948),
Abschr., hier Bl. 27, Bl. 29; Hess. Justizministerium, Az. IV – 149/49, Bl. 1–4, Vm. d. Hess. Justiz-Min., Az. IV – 147/46
(13.01.1949), Durchschr., hier Bl. 4; LWV, Best. 12/ehem. VA 232 (Kopie), Bl. 10 bzw. o. Bl.-Nr., LHA Hadamar [an BV
Nassau], Statistiken „Personalbestand am 1. September 1942“ bzw. „[...] 1. Oktober 1943“ bzw. „[...] am 1. November 1943“
(04.09.1942, ab: 04.09.1942, bzw. 01.10.1943, bzw. 01.11.1943), Entwürfe; ebd., ehem. VA 636 Bd. 2 (Kopie), o. Bl.-Nr.,
August S., z. Zt. Darmstadt, an „Verein für Anstaltspflege“, Hadamar (28.06.1944); Schilter, Ermessen (1999), S. 79, S. 199,
S. 204, S. 206–208, S. 312, S. 290 (Anm. 976).
424
IV. Zeit der Gasmorde
Kontext einzuordnen, denn mit der Akquisition von sechs zusätzlichen weiblichen Schreibkräften
versuchte „T4“, diesem Missstand Herr zu werden. Diese Stenotypistinnen waren (bis auf eine Ausnahme) erst knapp 20 Jahre alt, vier von ihnen hatten bis dahin Stellen (teils Ausbildungsstellen) beim
Frankfurter Defaka innegehabt, einer Filiale der (1954/61 im Hortenkonzern aufgegangenen) Hamburger Kaufhauskette „Deutsches Familienkaufhaus“. Wie bereits die Dienstverpflichteten des Oktobers
1940 wurde nun, Ende Februar 1941, auch diese Gruppe ins Arbeitsamt einbestellt; die Betreffenden
mussten sich noch einmal bei der Gauleitung melden und wurden dann am 1. März, einem Samstag,
gemeinsam mit einem Bus am Frankfurter „Horst-Wessel-Platz“ (Rathenauplatz) abgeholt und nach
Hadamar gebracht.367 Wer die vier beim Defaka tätigen Frauen dem Arbeitsamt zur Dienstverpflichtung
vorgeschlagen hatte, kam bei späteren Befragungen nicht zu Tage; anzunehmen ist die Benennung
durch eine in der Firma tätige Mittelsperson, die einerseits die vier Frauen kannte und die andererseits
Kontakte zu den Verantwortlichen des Arbeitsamtes oder der Gauleitung hatte. Darauf, dass auch in
diesem Fall die ideologische Zuverlässigkeit eine Rolle gespielt haben könnte, weist die Äußerung
einer der Verpflichteten, der in Frankfurt-Sachsenhausen wohnenden Elisabeth U., hin, die sich zur
„Euthanasie“-Aktion bekannte: „Ich war mir [...] im Klaren, dass ich Mitwisser bin, doch habe ich mir
hierüber keine Gewissensbisse gemacht, denn ich war ja einverstanden mit der Vernichtung.“368 Dagegen scheinen formale Aspekte wie etwa eine Verankerung der Betreffenden in der Partei in diesem Fall
kaum noch eine Rolle gespielt zu haben – aufgrund biografischer Aspekte (Jugendlichkeit und Geschlecht) hatte keine der hier betroffenen sechs Mitarbeiterinnen Derartiges vorzuweisen.
Allerdings konnte eine langjährige Parteimitgliedschaft durchaus ein Anhaltspunkt sein, um einen
„geeigneten“ Mitarbeiter für „T4“ in Hadamar ausfindig zu machen. Darauf verweist die „T4“-Dienstverpflichtung des 1926 der NSDAP beigetretenen „alten Kämpfers“ und Trägers des Goldenen Parteiabzeichens, Maximilian L. aus Frankfurt. Der Beamte, der bis dahin als Schulhausmeister in Frankfurt
in städtischen Diensten gestanden hatte, wurde nun für diverse Arbeiten in der Mordanstalt Hadamar
eingesetzt.369 Maximilian L. zählte zur letzten Gruppe der in Frankfurt für „T4“ Dienstverpflichteten,
die um die Jahresmitte 1941 (also wenige Wochen vor Abbruch der Gasmorde) teils als Ablösung, teils
367
Bei den am 25.02.1941 vom Arbeitsamt Ffm Dienstverpflichteten und am 01.03.1941 nach Hadamar Gebrachten handelte
es sich um: Elfriede H., später verh. H. (* 1922), Hildegard („Hilde“) R. (* 1923), Rosa Sch. (* ca. 1901–1906); Ingeborg
(„Inge“) W., später verh. S. (* 1922), Ingeborg („Inge“) St. verh. Sch., Elisabeth („Liesel“) U. (* 1922). – Zu den Genannten
siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d.
Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 80, Bericht d. Kriminalpolizei Ffm (22.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage
Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm
in der Anstalt Herborn (01.03.1946), hier Bl. 116; ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 41, Aussage
Elfriede H. b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.04.1946); ebd., Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946);
ebd., Bl. 99, Aussage Ingeborg S. geb. W. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm
an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier insb. Bl. 174, Bl. 215, Bl. 217 f. (= S. 3,
S. 44, S. 46 f.); ebd., Bd. 5, Bl. 664 f., Elisabeth U., Elfriede H., Ingeborg S. u. Johanna Sch., [Gefängnis] Limburg, an LG
Ffm (10.12.1946), hier Bl. 664; ebd., Bd. 7, Bl. 140–142, Aussage d. Angeklagten Hildegard R. im Hadamar-Prozess Ffm, 4.
Hv-Tag (03.03.1947), insb. Bl. 140 f.; ebd., Bl. 146, Aussage d. Angeklagten Elisabeth U. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. HvTag (03.03.1947); ebd., o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 369 = Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag am 11.03.1947), Freier
Gewerkschaftsbund (Metallgewerbe), Ffm, Bescheinigung für Hildegard R. (27.09.1946); ebd. (Anlage zu Bl. 369), Deutsches
Familien-Kaufhaus G. m. b. H. (Defaka), Ffm, Vorläufiges Lehrzeugnis für Ingeborg W. (25.02.1941); ebd. (Anlage zu
Bl. 369), LG Limburg an Elfriede Heil, Ffm (04.09.1961); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); Hadamar (1991), S. 180 f. („Übersicht über das angeklagte Personal der ‚Euthanasie‘Anstalt Hadamar“), hier S. 181.
368
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946).
369
Zu Maximilian („Max“) L. (* 1902) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 53, Aussage
Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (17.02.1946); ebd., Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f.,
Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 80, Bericht d. Kriminalpolizei
Ffm (25.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 156, Kriminalpolizei Ffm an Kommissariat, Einlieferungsanzeige Maximilian L. (08.03.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG
Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier Bl. 173, Bl. 207–209; ebd., Bd. 6,
Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); ebd., Bd.
7, Bl. 120–127, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947), insb. Bl. 120–124;
ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr.
1359, Bl. 20 f., Aussage Maximilian L. (06.04.1946), Abschr.; ebd., Bl. 142, Postamt Ffm-NO an LG Ffm (o. D. [ca.
25.08.1965]); ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Maximilian L. ggü. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; Gimbel,
Schilderungen (1941), S. 165–190 (= Liste „Die Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP. im Gau HessenNassau“), hier S. 172.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
425
als Verstärkung des bisherigen „T4“-Personals nach Hadamar geschickt wurden. Dies gilt auch für
zwei weitere Mitarbeiter, die das Arbeitsamt in Verbindung mit der Gauleitung zum Juni 1941 für die
Mordanstalt Hadamar dienstverpflichtete: die 20-jährige, bis dahin im Frankfurter Kaufhaus M. Schneider beschäftigte Verkäuferin Johanna M. und den 30-jährigen Hilfsarbeiter Robert Jührs, der seinen
Arbeitsplatz in Frankfurt bis dahin mehrfach gewechselt hatte.370 (Etwa zeitgleich mit ihnen wurden
durch das Arbeitsamt Frankfurt auch mehrere Frankfurterinnen für die Anstalt Bernburg dienstverpflichtet.371) Sowohl für Robert Jührs, NSDAP-Mitglied seit 1930, als auch für den erwähnten „alten
Kämpfer“ Maximilian L. könnte die Dienstverpflichtung nach Hadamar auch der Beschaffung eines
sicheren Postens gedient haben, der beide vor einer Einberufung zum Militärdienst bewahrte – angesichts des gerade anlaufenden Feldzuges gegen die Sowjetunion möglicherweise eine attraktiv erscheinende Alternative. Ebenfalls zum Juni 1941 ließ sich die schon früher in Frankfurt dienstverpflichtete
19-jährige Bürokraft Judith S. von ihrem ersten Einsatzort in der Berliner „T4“-Zentrale nach Hadamar
versetzen, um heimatnäher eingesetzt zu sein, zumal seit Oktober 1940 auch ihre elf Jahre ältere
Schwester Paula S. bereits in Hadamar tätig war. Bei Judith S. ist eine starke Affinität zur NS-Bewegung festzustellen, was sich in ihrem frühen Parteibeitritt als Minderjährige (vor der „T4“-Tätigkeit)
und in einer Ausbildung zur Arbeitsdienst-Jungführerin manifestierte.372
Bislang lassen sich also über 30 Personen namhaft machen, die zwischen Oktober 1940 und Juli
1941 durch das Frankfurter Arbeitsamt in Verbindung mit der Gauleitung für „T4“ dienstverpflichtet
wurden; mindestens 20 von ihnen kamen in der Mordanstalt Hadamar zum Einsatz.373 Der Hadamarer
Stammbelegschaft galten die im Auftrag von „T4“ dienstverpflichteten Kolleginnen und Kollegen
fortan als das „Berliner Personal“ – und zwar auch dann, wenn es sich tatsächlich um die aus Frankfurt
stammenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter handelte.374 Für die in Frankfurt Dienstverpflichteten
lässt sich zusammenfassen, dass sie in Hadamar durchweg in den Bereichen Verwaltung, Büroorganisation oder Hauswirtschaft beschäftigt wurden.375 Bei einem Teil von ihnen sind ausdrücklich enge Beziehungen zur NSDAP festzustellen, für einen anderen Teil trifft dies aber überhaupt nicht zu, insbesondere nicht für die jüngeren Frauen, die zuvor in Frankfurter Kaufhäusern tätig gewesen waren.
370
Zu Johanna („Hanni“) M., später verh. Sch. (* 1921) und Robert Jührs (* 1911) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 53, Aussage Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (17.02.1946); Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle
für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bd. 3,
Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 41, Aussage Elfriede H. b. d. Kriminalpolizei Ffm (24.04.1946); ebd.,
Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946); ebd., Bl. 102, Aussage der Ehefrau von Robert Jührs, b.
d. Kriminalpolizei Ffm (24.06.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im
Hadamar-Verfahren (02.04.1946); ebd., Bd. 5, Bl. 664 f., Elisabeth U., Elfriede H., Ingeborg S. u. Johanna Sch., [Gefängnis]
Limburg, an LG Ffm (10.12.1946), hier Bl. 664; ebd., Bd. 7, Bl. 137–139, Aussage d. Angeklagten Johanna Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 369), Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege,
Der Personalchef, Zeugnis für Hanne M. (31.07.1942); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet
am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, W, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Franz W. b. d. LG Ffm (05.09.
1963), Kopie; Hess. Justizministerium, Az. IV – 149/49, Bl. 1–4, Vm. d. Hess. Justiz-Min., Az. IV – 147/46 (13.01.1949),
Durchschr., hier Bl. 3; Friedlander, Weg (1997), S. 382 u. S. 569 (Anm. 134), mit Hinweis auf LG Hagen, Urteil Dubois, 11
Ks 1/64 (20.12.1966), S. 342–346.
371
Bekannt ist dies für Ilse L., später verh. G. (* 1918) und Anneliese J., später verh. B. (* 1920): HStA Wi, Abt. 631a Nr.
1369, G, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Ilse G. geb. L. ggü. d. LG Ffm in Bonn (07.02.1966), S. 1 f., S. 4 f., Kopie; ergänzende
Angaben nach Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 164–167. – Zu beiden siehe biogr. Anhang.
372
Zu Judith S., später verh. T. (* 1922) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 51 f. bzw.
Bl. 53, Aussagen Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (16. bzw. 17.02.1946); ebd., Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar
(19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 73; ebd., Bl. 87,
Zeugenaussage Hildegard R. b. d. Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG
Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946), hier S. 174; ebd., Bd. 5, Bl. 672, Judith T. geb. S.,
[Gefängnis] Limburg, an LG Ffm (11.12.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG
Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 127–133, Aussage d. Angeklagten Judith T. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag
(26.03.1947); LWV, Best. 12/ehem. VA 232 (Kopie), Bl. 5, LHA Hadamar, gez. Klein, Statistiken „Personalbestand am 1.
September 1942“ u. „[...] am 1. September 1943“ (04.09.1942 bzw. 01.09.1943).
373
Siehe die biografischen Angaben zu den Betreffenden im Anhang.
374
Siehe z. B. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.
1946), hier Bl. 72.
375
Eine einzige Ausnahme könnte der „Fahrer oder Beifahrer“ Sch. (siehe oben) darstellen, der möglicherweise die „Gekrat“Busse begleitete.
426
IV. Zeit der Gasmorde
Letztere gelangten zweifellos ohne ihr Zutun, ausschließlich über Empfehlungen zu „T4“, wenngleich
zumindest Einzelne anschließend ihr Einverständnis mit dem so genannten „Euthanasie“-Programm
bekannten. Gratifikationen, die „T4“ an seine Mitarbeiter zahlte, konnten einen Anreiz zur Mitwirkung
darstellen.376 Die Dienstverpflichteten insgesamt leisteten einen eminenten Beitrag zu einem möglichst
reibungslosen Vollzug der Krankenmorde, waren aber nicht so unmittelbar oder offensichtlich an den
Tötungen beteiligt wie diejenigen, die die Kranken zur Gaskammer brachten, dort erstickten und anschließend die Leichen beseitigten. Dies war dem Landgericht Frankfurt im Hadamar-Prozess von
1947 Begründung für den durchgängigen Freispruch der Betreffenden.377
Die geschilderten Fälle von Personalbeschaffung belegen am Beispiel Frankfurts, wie weit gehend
regionale Dienststellen von Partei und öffentlicher Verwaltung – hier die NS-Gauleitung und das Arbeitsamt – in Zuarbeiten für die Krankenmordaktion der „T4“ einbezogen waren. Doch nicht nur Dritte, sondern auch der Bezirksverband Nassau stellte in umfangreichem Maße Personal für die Mitarbeit
in der Mordanstalt Hadamar ab. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Pflegekräfte (Schwestern und
Pfleger), in geringerem Maße auch um Verwaltungskräfte, die vorher bereits in der Landesheilanstalt
Hadamar gearbeitet hatten. Anders als bei den aus Frankfurt kommenden Mitarbeitern wurde bei den
Beamten und Angestellten des Bezirksverbandes nicht die Form der Heranziehung zum „Notdienst“
gewählt, sondern die direkte Abordnung. Dies bedeutete, dass die Betreffenden fortan in ebenso verantwortlichen Funktionen378 wie die Mitglieder des „Berliner Personals“ in der „T4“-Mordanstalt Hadamar mitarbeiteten. Formal aber blieben sie Beschäftigte des Bezirksverbandes und erhielten von
diesem auch ihre Bezüge, welche „T4“ dem Verband dann erstattete.379
Während ansonsten das für „T4“ ausgewählte Personal sich entweder in der Zentraldienststelle in
Berlin oder in den Anstalten direkt vorstellen musste, verzichtete „T4“ bei der En-bloc-Übernahme des
Hadamarer Personals auf diesen Überprüfungsschritt. Das Landgericht Frankfurt führte dies im Hadamar-Prozess 1947 zurück auf das „besondere[...] Vertrauen, das gerade Bernotat bei den Berliner Stellen genoß“.380 Hinzuzufügen ist dieser Einschätzung jedoch, dass der für die erste Personalausstattung
der Mordanstalten verantwortliche „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann die nun übernommenen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hadamar während seiner dortigen Aufbautätigkeit ab Oktober/November 1940 bereits hatte kennen lernen können. Offenbar hatte Bernotat aber tatsächlich bereits eine
Vorauswahl getroffen und mindestens vier Hadamarer Beschäftigte, die ihm wohl als zu unsichere
Kandidaten erschienen, zum 31. Oktober 1940 entlassen oder in eine andere Anstalt des Bezirksverbandes versetzt.381 Zu ihnen zählte beispielsweise die nun entlassene Verwaltungsangestellte Else M.,
deren Familie (nach ihrer eigenen Einschätzung) eine „nicht sehr parteifreundliche Einstellung“ gehabt
habe. Bernotat habe ihr nur erklärt, er könne sie „nicht gebrauchen“; im Entlassungszeugnis seien
„organisatorische[...] Gründe[...]“ für den Schritt angeführt worden.382 Zu den aus Hadamar Versetzten
zählte auch der Fahrer Karl K., der nun in der Landesheilanstalt Weilmünster eingesetzt wurde und
dessen nonkonforme Haltung in Bezug auf die Mordaktion sich nur wenige Wochen später erweisen
sollte.383
376
Zu den finanziellen Prämien und Zulagen siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 2. c).
Einzelne Verurteilungen unter den Genannten (Josef Hirtreiter, möglicherweise Robert Jührs) betrafen allein eine spätere
Mitwirkung an der „Aktion Reinhard“ zur Ermordung von Juden: siehe biogr. Anhang.
378
Eine evtl. unterschiedliche Aufgabenzuweisung zwischen „Bezirksverbändler[n]“ und „Stiftungsangestellten“ wird in der
Untersuchung von Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 298, S. 300, „eindeutig vernein[t]“.
379
Siehe dazu die Ausführungen weiter unten in diesem Kap. IV. 2. c).
380
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil mit Urteilsbegründung im Hadamar-Prozess, LG Ffm, Az. 4a
Js 3/46 (o. D., ca. 26.03.1947), hier Bl. 1347.
381
Außer den im Folgenden Genannten zählte dazu auch die Schwester Emilie („Emmy“) B. (1892–1962), die zum 01.11.
1940 von der LHA Hadamar zur LHA Eichberg versetzt wurde (siehe auch biogr. Anhang): LWV, Pers.-Akten Zug. 1981,
Br., Em. – Gründe für ihre Versetzung wurden nicht aktenkundig.
382
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 59, Aussage Else M. aus Hadamar-Faulbach ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar
(19.02.1946). – Else M. wurde zunächst ab 01.11.1940 noch für einige Wochen an der LHA Weilmünster beschäftigt (vermutlich bis zum Ende der Kündigungsfrist), nach ihrer Aussage wurden gemeinsam mit ihr auch der (im Folgenden genannte)
Karl K. sowie der Bäcker W. nach Weilmünster versetzt.
383
Karl K. wurde am 01.11.1940 von der LHA Hadamar zur LHA Eichberg versetzt: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2,
Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946). – Zu Karl K. (* 1906) siehe auch biogr. Anhang; zu
seiner öffentlichen Positionierung bezüglich der Krankenmorde und den Sanktionen siehe Kap. IV. 3. b).
377
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
427
Allein schon durch diese Vorauswahl erbrachte Bernotat als Anstaltsdezernent des Bezirksverbandes
eine Unterstützungsleistung für „T4“; dies kann um so mehr für die Personalabordnung überhaupt gelten. Indem der Bezirksverband Nassau der Organisation „T4“ Personal auf dem Wege der (freiwilligen) Abordnung bereitstellte, unterschied er sich von wahrscheinlich fast allen anderen Anstaltsträgern.
Allein für das Land Sachsen gibt es Hinweise, dass es möglicherweise ähnlich wie der Bezirksverband
Nassau gehandelt hat: Dort hatte – wie es bei „T4“ hieß – der Reichsstatthalter der Organisation „Kräfte für einen geheimen Sonderauftrag entgegenkommend zur Verfügung gestellt“.384
Dagegen geschah die Abgabe von Personal aus verschiedenen Berliner Anstalten oder aus der Anstalt Neuruppin (Provinzialverband Brandenburg) mittels Verpflichtungen zum „Notdienst“,385 und
selbst für die Anstalt Bernburg, die „T4“ teilweise vom Land Anhalt als Anstaltsträger übernahm, hat
sich eine Abordnung des zuvor dort beschäftigten Anstaltspersonals bislang nicht feststellen lassen.386
Ein vergleichsweise prominentes Mitglied der „T4“-Führungsriege, Hans-Joachim Becker, entstammte
dem Bezirksverband Hessen. Dessen Kasseler Hauptverwaltung stellte (noch zur Zeit der Anwesenheit
von Landeshauptmann Traupel) den Verwaltungsangestellten Becker für „T4“ frei – ebenfalls aufgrund
einer Notdienstverpflichtung und nicht infolge einer freiwilligen Abmachung. Die Dienstverpflichtung
hatte das Reichsministerium des Innern auf Vorschlag von Ministerialrat Dr. Herbert Linden veranlasst, dessen Ehefrau eine Kusine Beckers war. Während der gesamten Zeit seiner „T4“-Tätigkeit war
Becker formal weiterhin Angestellter des Bezirksverbandes Hessen, dessen Verwaltung sich die Bezüge – analog dem Vorgehen der Landesheilanstalt Hadamar – jeweils von der „T4“-Zentrale erstatten
ließ.387
Die Abordnungen hatten „T4“ und Bezirksverband in demselben Vertrag vereinbart, der auch die
Überlassung der Anstalt Hadamar insgesamt an die Mordorganisation regelte. Eine Anlage zum Vertrag nannte ursprünglich 24 „Gefolgschaftsmitglieder der Landes-Heilanstalt Hadamar“, die „für die
Dauer des Vertrages der Stiftung zur Dienstleistung zur Verfügung gestellt“ werden sollten, wobei
„Anstellungs-, Dienst- und Besoldungsverhältnisse dieser Gefolgschaftsmitglieder dadurch unberührt“
blieben.388 Realiter wurde die Abordnung nach einer Vereinbarung zwischen „T4“ und der Personalabteilung des Bezirksverbandes389 nicht für alle im Vertragsanhang aufgeführten Personen390 wirksam,
384
LWV, Best. 12/ehem. VA 153 (Kopie), o. Bl.-Nr., [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Personalabteilung,
an Verw.-Insp. Alfons Klein, LHA Hadamar (31.03.1944) (mit der unbestimmten Zeitangabe „seinerzeit“). – Zu einer der
davon betroffenen Kräfte, Hildegard S., die ab 1942 in Hadamar tätig war (zunächst für „T4“, ab 1944 als Angestellte d. BV
Nassau), siehe Kap. V. 3. a) u. biogr. Anhang. – Die Studie Schilter, Ermessen (1999), über die Mordanstalt Pirna-Sonnenstein
liefert jedoch keine Anhaltspunkte für eine Personalabordnung seitens des Landes Sachsen an die „T4“-Anstalt Sonnenstein.
385
Hühn, Psychiatrie (1989), S. 192 f. (Dienstverpflichtung von 5 Schwestern/Pflegern der Wittenauer Heilstätten ab Jan.
1940 nach Grafeneck); siehe dazu auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe
Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier Bl. 26. – Ebd., Bl. 2, Aussage Emma B. bei K. I. F. 5, Berlin
(06.03.1947) (Dienstverpflichtung der Schwester aus der Anstalt Berlin-Buch ab Jan. 1940 nach Grafeneck). – Friedlander,
Weg (1997), S. 387, S. 839 u. S. 570 (Anm. 148, Anm. 153) (Einsatz zweier Pfleger der Anstalt Neuruppin für „T4“ ab 1940
in Grafeneck); siehe dazu auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1013 f., Aussage Ernst Z. b. d. OStAnw b. d. LG
Ffm (17.02.1947).
386
Für Bernburg vgl. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 69.
387
Zu Hans-Joachim Becker (* 1909) siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: LWV, Pers.-Akten Zug. 1981, Becker, HansJoachim (dort Quellen zur Erstattung der Bezüge); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG
Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 13; NARA, T-1021, Roll 10, Frame 979-983, „T4“, „Geschäftsverteilungsplan für die Zentraldienststelle und für die Anstalt ‚C‘“ (o. D., gültig ab 08.08.1943), hier nach BA, All.
Proz. 7/110 (FC 1805)], als Kopie auch in BA, R96 I/1, Bl. 126498–126502; Klee, Ärzte (1986), S. 78–81; Aly, Fortschritt
(1985), S. 17, S. 26 f., S. 31; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 232; Friedlander, Weg (1997), S. 135, S. 316, S. 556 (Anm.
32); Kohl, Pyramiden (1997), S. 110 f.; Sandner, „Euthanasie“-Akten (1999), S. 395 f. – Zur Funktion der „Zentralverrechnungsstelle“ während der Krankenmordaktion nach 1941 und zum dortigen Einsatz Beckers, der ihm den Spitznamen „Millionenbecker“ einbrachte, siehe auch Kap. V. 3. b).
388
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch
OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez.
durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben: 27.06.1941]); ebd., Bl. 50–52, Personalliste als Anlage zu § 3
des Vertrages, Abschr. – Zur Überlassung der Anstalt Hadamar durch den BV Nassau an „T4“ siehe Kap. IV. 2. b).
389
Schreiben BV Nassau, Az. B (Ia) 9/2/4, an „T4“ (17.04.1941), erwähnt in LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl.
58, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Leiter der Wirtschaftshauptabteilung, an BV Nassau, betr. „Ihr
Schreiben vom 30. 4. 1942 – A (S/II)“ (11.05.1942), als Abschr. weitergesandt von BV Nassau, A (S/II), gez. LdsR Bernotat,
an LHA Hadamar, z. H. LI Klein (15.05.1942).
428
IV. Zeit der Gasmorde
sondern nur für diejenigen, die schließlich tatsächlich für die Mordanstalt tätig wurden. Das klammerte
insbesondere jene männlichen Mitarbeiter der Landesheilanstalt aus, die sich bei der Wehrmacht befanden, aber auch eine Verwaltungsangestellte.391 Somit reduzierte sich die Zahl der zur Verfügung
gestellten Personen auf gut die Hälfte,392 sodass der Bezirksverband Nassau der Mordanstalt in Hadamar in den Anfangsmonaten der Gasmordphase vier Schwestern und zwei Pfleger,393 je einen Koch und
eine Köchin,394 drei Handwerker,395 einen Pförtner/Telefonisten396 sowie (mit Verzögerung) den Verwaltungsbeamten Alfons Klein397 zur Verfügung stellte. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirkten in
den folgenden Monaten zum Teil im Wirtschaftsbereich der „T4“-Anstalt (Küche oder Waschküche)
mit, aber auch beim „Transport“ der Mordopfer nach Hadamar und bei deren Vorbereitung (Entkleidung, Bewachung) auf ihrem Weg in die Gaskammer.398
Sieht man einmal von Alfons Klein ab, lässt sich bei der ausgewählten Personengruppe eine besondere Prädestinierung für die Teilnahme an der Mordaktion, die über die reine Mitgliedschaft in der
NSDAP oder ihren Organisationen hinausgegangen wäre, überwiegend nicht feststellen. Im Gegenteil
hätte beispielweise die aus Oberbayern stammende und als „fromm“ geltende Schwester Irmgard Huber, die vor ihrer Tätigkeit in Hadamar der katholischen Schwesternschaft der Aquinater angehört
hatte, von ihrer Biografie her kaum zu den „typischen“ Kandidatinnen für eine Mitarbeit bei „T4“
gelten können. Dennoch unternahm nur eine der abgeordneten Beschäftigten ernsthafte – und erfolgreiche – Bemühungen, wieder aus der Mordanstalt auszuscheiden: Indem sie eine Schwangerschaft
390
Die im biogr. Anhang aufgeführten Daten zu sämtlichen 24 im Vertragsanhang genannten Personen beruhen (außer auf
dieser Vertragsanlage selbst) auf folgenden Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 42 f., Aussage Hedwig S. ggü.
d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946), hier Bl. 42; ebd., Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.
1946); ebd., Bl. 62 f., Aussage Wilhelm Sch. in Hadamar (19.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw
Ffm in Oberweyer (20.02.1946); ebd., Bl. 188, Aussage Käthe Gumbmann b. d. Kriminalpolizei Wiesbaden (30.08.1945);
ebd., Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel, geb. Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946); ebd.,
Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige
Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d.
LG Ffm (07./08./10.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 69–73, Bl. 77, Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess
Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 79, Aussage d. Angeklagten Agnes Schrankel im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag
(25.02.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. Landgerichts Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947);
ebd., Bd. 9, Bl. 1559–1582, Urteil d. OLG Ffm mit Urteilsbegründung im Revisionsverfahren zu Hadamar-Prozess u. Schwesternprozess (o. D. [verkündet am 20.10.1948]); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 106, Postamt Wiesbaden-Biebrich an LG
Ffm (09.08.1965); ebd., Nr. 1360, Bl. 256, Postamt Reitmehring an LG Ffm (12.10.1965); Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965), Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Emil S.
b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie; ebd., o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (31.10.1963 u. 24.08.
1965); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Br., Mi.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Gr., An., Bl. 3; ebd., Pers.Akten Zug. 1981, Hu., Ir.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha., Teil 1, Bl. 30, Bl. 37, Vermerke d. BV Nassau (24.09.1940
bzw. 19.02.1941); ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Ne., Pe., Teil 1, Bl. 55, LHA Hadamar an KV Wiesbaden (10.06.1946); ebd.,
Pers.-Akten Zug. 1981, Le., Fr., Teil 3, Bl. 43–47, Dokumente d. KV Wiesbaden betr. Anstellungen und Beförderungen
(24.04.1951), Abschr.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1982, Fö., Ma., Bd. I., Bl. 221 f., Vm./Vfg. d. BV Nassau (01.04.1942); ebd.,
Pers.-Akten Zug. 1982, Rö., Wi.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1988, Kü., Fr., Teil 2, Bl. 69, LHA Hadamar an BV Nassau (28.08.
1939), Abschr.; LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wg. der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (18.12.1940–14.07.1942) sowie mit anderem Betreff (03.–19.10.1942); ebd., ehem. VA
232 (Kopie), diverse Statistiken „Personalbestand“ d. LHA Hadamar (04.09.1942–01.03.1945), Entwürfe; Hadamar (1991),
S. 180 f.; Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 322–330 (zu Irmgard Huber).
391
Folgende 11 auf der Liste genannten Personen wurden in der Realität nicht an „T4“ abgeordnet, dementsprechend wurden
staatsanw. Ermittlungen 1946 entweder eingestellt oder gar nicht erst angestellt: Friedrich B. (* 1902), Helene M. (1889–
1942), Anton S. (* 1894), Jakob St. (* 1899), Michael B. (1908–1941), Georg K. (* 1897), Anton G. (* 1884), Wilhelm K.
(* 1896), August St. (* 1909), Stephan St. (* 1908); Johann H. (* 1911). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren
Personendaten siehe biogr. Anhang.
392
13 (von 24 in der maschinenschr. Abschr. d. Anlage zum Pachtvertrag genannten) Personen wurden tatsächlich (d. h. bei
Erstattung der Bezüge) an „T4“ abgeordnet (siehe die Quellen in obiger Anm., die Namen in den folgenden Anmerkungen
sowie die weiteren Personendaten im biogr. Anhang).
393
Es handelte sich um die Pflegekräfte Willi R. (1890–1941), Benedikt Härtle (* 1904), Isabella („Bella“) W., später verh.
W. (* 1901); Käthe Gumbmann (* 1898), Irmgard Huber (* 1901), Agnes Kappenberg, später verh. Schrankel (* 1907). – Zu
den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang.
394
Es handelte sich um den Koch Berthold H. (* 1910) und die Köchin Hedwig („Hede“) S. geb. L. (* 1905). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang.
395
Es handelte sich um den Schlosser Josef Sch. (1885–1959) , den Elektriker, Schlosser und Fahrer Emil S. (* 1902) u. den
Schreiner Wilhelm Sch. (* 1904). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zu weiteren Personendaten siehe biogr. Anhang.
396
Es handelte sich um den Pförtner Christian E. (* 1891). – Zu den Quellen siehe obige Anm., zur Person siehe biogr. Anhang.
397
Zu dem erst ab Apr. 1941 abgeordneten Alfons Klein (1909–1946) siehe biogr. Anhang. – Zu den Quellen siehe obige Anm.
398
Siehe dazu die o. g. Quellen über das beteiligte Personal.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
429
vortäuschte, konnte die Schwester Isabella W. 1941 ihre Kündigung erreichen, nachdem sie sich zuvor
bereits wegen eines Nervenzusammenbruchs für sechs Wochen krank gemeldet hatte, ohne dass sie
Sanktionen wegen ihrer Verweigerungshaltung getroffen hätten.399
Zwar haben Untersuchungen zur Belegschaft der Landesheilanstalt Hadamar in den 1930er Jahren
„auf ein hohes nationalsozialistisches Organisationsniveau“ und auf „ein fatales Maß an Anpassungsbereitschaft“ hingedeutet,400 doch dies kann allenfalls als Erklärung dafür dienen, warum die Betreffenden – bis auf die eine Ausnahme – schließlich klaglos oder gar bereitwillig mitwirkten. Es erklärt jedoch
nicht die konkrete Zusammenstellung des abgeordneten Personals. Ausgangspunkt für die Abordnung
war nicht ein bewusster Entschluss der Betreffenden zur Beteiligung, sondern die entsprechende Entscheidung der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes unter Federführung des Anstaltsdezernenten
Bernotat. In einer Untersuchung über die Pflegekräfte der Anstalt Hadamar kommt Wettlaufer zu dem
Ergebnis, dem leitenden Verwaltungsbeamten Alfons Klein müsse bei Entscheidung über Abordnung
oder Wegversetzung der Personalmitglieder eine zentrale Funktion zugekommen sein. Dieser Studie
zufolge wurde bei „der Zusammenstellung des Mordkaders auf langjährige Psychiatrieerfahrung, Anpassungsbereitschaft und politische Loyalität Wert gelegt“, wohingegen „niemand aufgrund sadistischer Persönlichkeitsstrukturen in den Kreis des Tötungspersonal[s] aufgenommen wurde.“401
Landessekretär Alfons Klein spielte auch während der Zeit der Gasmorde eine zentrale Rolle in der
Anstalt Hadamar, die wohl über die ihm tatsächlich übertragene Rolle als Leiter des Küchenbetriebs402
hinausging. „T4“-Mitarbeitern galt er als „Wirtschaftsleiter“ der „T4“-Anstalt Hadamar, bis diese
Funktion von dem durch die Berliner Zentraldienststelle geschickten Hans R.-G. wahrgenommen wurde.403 Insbesondere wurde Klein für die Hadamarer „T4“-Belegschaft der Kontaktmann zur Zentralverwaltung des Bezirksverbandes und dort hauptsächlich zu Bernotat. Zugleich personifizierte der
Landessekretär die Klammer zwischen den beiden nun nebeneinander (zum Teil sogar ineinander)
existierenden Institutionen auf dem Hadamarer Anstaltsgelände: der „T4“-Einrichtung namens „Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar“ und der Bezirksverbandseinrichtung unter der herkömmlichen
Bezeichnung „Landesheilanstalt Hadamar“.404 Klein arbeitete in beiden Einrichtungen und auch für
beide, welche ohnehin durch dieselben Wirtschaftsbetriebe (Küche, Waschküche) versorgt wurden.405
„T4“ erklärte sich deswegen (nach einer Besprechung zwischen dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten
Bernotat und dem Berliner „T4“-Personalchef Friedrich Haus) ab April 1941 bereit, den Landessekretär in ihre Dienst zu übernehmen, also dem Bezirksverband seine Bezüge zu erstatten, obwohl Klein
weiterhin auch als Leiter der Bezirksverbandsanstalt fungierte.406
399
Zu Isabella („Bella“) W., später verh. W. (* 1901) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2,
Bl. 11 f., Aussage Isabella W. geb. W. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 90, LHA Hadamar an
OStAnw in Ffm (25.06.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an
d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 174, Bl. 209 f.; ebd., Bd. 7, Bl. 104 f., Aussage d. Angeklagten Isabella W. im HadamarProzess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag
(26.03.1947); Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 311 f. – Zur grundsätzlichen Möglichkeit des Ausscheidens, „[w]enn wir [...]
den Eindruck hatten, daß jemand garnicht zu dieser Arbeit passte“, vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr.,
Zeugenaussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (27.05.1963), Durchschr., hier S. 5; vgl. auch ebd., Nr. 1368, B,
o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Thekla B. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.12.1965), Kopie (sie erreichte für sich u. ihre Schwester
1941 die Entlassung aus Hartheim); vgl. auch Friedlander, Weg (1997), S. 379.
400
Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 61.
401
Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 296 f. (Zitat auf S. 297). – Dennoch fanden sich unter der abgeordneten Mitarbeiterschaft durchaus grausame Persönlichkeiten: siehe etwa die Ausführungen zu Karl Willig in Kap. V. 3. a). – Zu den nur bedingt
durchgeführten Ausleseverfahren bei bestimmten NS-Tätergruppen und zur Motivation der Betreffenden, dennoch an den
Morden mitzuwirken, siehe die exemplarische Darstellung bei Browning, Männer (1993), S. 208–247 (am Beispiel des Reservepolizeibataillons 101).
402
Vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel geb. Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei
Ffm in Hadamar (03.05.1946), hier Bl. 46: „Klein wurde von der Stiftung übernommen und hatte dort verwaltungstechnisch
für den Küchenbetrieb die Verantwortung.“
403
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Rudolf H. ggü. d. LG Ffm in Springe (06.10.1965), Kopie,
hier S. 4.
404
Siehe dazu auch Kap. IV. 2. b).
405
Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 80 f.
406
LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 6, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Der Personalchef, Berlin, an LdsR Bernotat, Wiesbaden, Eichendorffstraße 1 (28.04.1941), hier als Abschr. von Bernotat, Wiesbaden,
Landeshaus, an LHA Hadamar (02.05.1941). – Es wird Bezug genommen auf eine Abmachung vom 21.04. 1941.
430
IV. Zeit der Gasmorde
Ein Nebeneinander von „T4“-Anstalt und der jeweils bisherigen Einrichtung fand sich auch in Bernburg und modifiziert ebenfalls in Pirna-Sonnenstein, allerdings ist in beiden Fällen kein derartiges Inund Miteinander wie in Hadamar festzustellen. Zwar nutzten in Bernburg die Mitarbeiter der „T4“Anstalt und der Landesanstalt dieselbe Küche, doch ansonsten waren die beiden Einrichtungen räumlich (durch Mauer und Bretterzaun) und organisatorisch voneinander abgeteilt; auch in Pirna war der
„T4“-Bereich von den übrigen, als Umsiedlerlager für „Volksdeutsche“ genutzten Gebäuden des Sonnensteingeländes durch eine Mauer separiert.407 Die personelle Doppelrolle Kleins fand allerdings eine
Entsprechung bei der „T4“-Anstalt Hartheim bei Linz (Gau Oberdonau), deren Leiter Dr. Rudolf Lonauer zugleich als Direktor der Gauanstalt Niedernhart bei Linz amtierte, die jedoch etliche Kilometer
von Hartheim entfernt lag.408 Wohl zu Recht kommt Friedlander bei einem Vergleich aller sechs „T4“Gasmordanstalten zu dem Ergebnis, dass Hadamar sich von den übrigen insbesondere dadurch unterschied, dass der zuständige Anstaltsdezernent Bernotat, auch über seinen Untergebenen Klein, eine
wichtige Funktion übernommen hat.409 All diese Befunde zusammengenommen ergeben das Bild, dass
die Frage von Kooperation oder Separation zwischen „T4“ und den regionalen Anstaltsträgern nicht
nach einem starren Konzept beantwortet wurde, sondern dass die Beteiligten von Fall zu Fall improvisierten und einen gangbaren Weg suchten, der durchaus eine Bereitschaft zur Unterstützung vor Ort
berücksichtigen konnte.
Die Kooperation zwischen Bezirksverband und „T4“ in personalpolitischer Hinsicht war mit der Abordnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Vertragsbeginn keineswegs beendet. Vielmehr kümmerte der Bezirksverband sich auch in den folgenden Monaten weiterhin um eine ausreichende Personalausstattung der Mordanstalt. Hierzu versetzte er mehrfach Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den
Anstalten Herborn und Weilmünster nach Hadamar, um sie sogleich an „T4“ abzuordnen. So wechselte
der Koch Hans L. im Februar 1941 von Weilmünster nach Hadamar, um dort seinen Berufskollegen
Berthold H. zu ersetzen, der zur Wehrmacht einberufen wurde.410 Einen eher untypischen Hintergrund
hatte die Abordnung der Weilmünsterer Schwester Gertrud H. Aus „rein persönlichen Gründen, die auf
einem ganz anderen Gebiet“ lagen (möglicherweise Differenzen mit Kollegen oder Vorgesetzten)
beantragte sie die Wegversetzung von Weilmünster. Der Bezirksverband erfüllte ihr im Februar 1941
diesen Wunsch und versetzte sie nach Hadamar, wo sie nunmehr zu „T4“ abgeordnet wurde.411
Im Hochsommer 1941 (wenige Wochen vor der überraschenden Beendigung der Gasmorde) schickten der Bezirksverband Nassau und seine Personalabteilung412 noch zehn Pflegekräfte aus den Anstalten Weilmünster und Herborn nach Hadamar, um dadurch das „T4“-Kontingent in der dortigen Mordanstalt zu verstärken.413 Das Prozedere der Versetzung macht deutlich, dass die Verwaltungsleiter in
407
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 67 f.; Schilter, Ermessen (1999), S. 68.
Zu Dr. med. Rudolf Lonauer (1910–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie: Klee, „Euthanasie“ (1983),
S. 267, S. 352, S. 498; Friedlander, Weg (1997), S. 188, S. 354–356, S. 542 (Anm. 156 f.).
409
Friedlander, Weg (1997), S. 334, S. 559 (Anm. 76). – Allerdings ist Friedlanders Formulierung, Bernotat scheine „einigen
Einfluß auf die dortige Mordaktion ausgeübt zu haben“ (S. 334), für das Jahr 1941 doch als zu weit gehend einzuschätzen.
410
Zu Hans L. (1895–1956) siehe biogr. Anhang. – Quellen: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha.;
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 203–205, Zeugenaussage Hans L. im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA
Hadamar – „T4“ wegen der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (22.12.1941–17.04.1942). – Zum Hadamarer Koch Berthold H. (* 1910), den Hans L. ab Feb. 1941 ersetzte, siehe biogr. Anhang.
411
Zu Gertrud H., später verh. S. (* 1910) siehe biogr. Anhang. – Quellen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß bzw. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (16.09.1963/25.11.1965), Kopie;
LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wegen der Erstattung der Dienstbezüge des
abgeordneten Personals (18.12.1940–14.07.1942); ebd., ehem. VA 232 (Kopie), Bl. 5, LHA Hadamar, gez. Klein, [an BV
Nassau,] Statistik „Personalbestand am 1. September 1942“ (04.09.1942, ab: 04.09.1942), Entwurf.
412
Zur Beteiligung der Personalabteilung siehe z. B. LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1989, Lückoff, Wilhelm,
o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. i. A. LdsR Kranzbühler, an LHA Herborn (25.07.1941), Abschr.
413
In der LHA Weilmünster waren bis Juli 1941 folgende 2 Personen tätig gewesen: Paul Reuter (1907–1990er Jahre) u. Erich
Moos (1903–1950). – In der LHA Herborn waren bis Juli 1941 folgende 8 Personen tätig gewesen: Paul H. (* 1905), Wilhelm
Lückoff (1909–1968), Lydia Thomas (* 1910), Karl Willig (1894–1946), Robert O. (1897–1974), Willi R., Helga R., Änne
J. – Zu allen 10 Personen siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Versetzung u. zu den Lebensdaten: HStA Wi, Abt. 461 Nr.
32061 Bd. 2, Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 84 f., Aussage Dr.
Ernst B. in Weilmünster (22.02.1946), hier Bl. 84; ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in
Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115 f.; ebd., Bl. 130 f., Aussage Lydia Thomas ggü. d. AG Herborn (01.03.1946); Bl. 149, Gemeindepolizei Weilburg, Einlieferungsschein Paul Reuter (07.03.1946); ebd., Bl. 151, Bl. 170–173, Bl. 175–178, Aussagen
408
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
431
Weilmünster und Herborn, die als Bernotats Vertraute vor Ort agierten, vollständig über den Zweck
der Versetzungen im Bilde waren; vermutlich waren sie sogar diejenigen, die Bernotat die nötigen Hinweise darauf gegeben hatten, wer von ihrem Personal am ehesten für einen Einsatz in Hadamar in
Frage kommen könnte. Die Krankenschwester Lydia Thomas schilderte die Art ihrer Akquirierung
durch den Weilmünsterer Landesamtmann Karl F. und ihre Versetzung nach Hadamar: „Da ließ mich
eines Tages Herr F[...] rufen und sagte zu mir: das was er mir jetzt zu sagen hätte, da hätte ich mit
niemand darüber zu sprechen. [...] Dann erklärte er mir, daß ich nach Hadamar versetzt werden würde.
Wann ich dahin käme, würde er mir noch sagen lassen, heute oder morgen käme Landesrat Bernotat
und da würde noch einmal Rücksprache genommen.“ Am folgenden Sonntagmorgen suchte dann einer
der Bürobeamten der Landesheilanstalt Weilmünster die Schwester auf und teilte ihr mit, sie solle am
nächsten Morgen nach Hadamar fahren. Entsprechend trat sie ihren Dienst dort gemeinsam mit einigen
Kollegen am Montag, dem 28. Juli 1941 an.414 Der Herborner erste Verwaltungsbeamte Landesoberinspektor Paul A. scheint mit den Versetzungskandidaten zumindest verklausuliert über deren künftige
Aufgabe in Hadamar gesprochen zu haben. Der Pfleger Wilhelm Lückoff erinnerte sich später: „A[...]
frug mich bei meinem Weggang, ob ich wüsste, was [... in Hadamar] los wäre. Ich habe ihm geantwortet, ich wüsste es nur vom Hören-Sagen. Man müsste kolossal vorsichtig sein.“415
Während die Personalauswahl bei den ersten Abordnungen Ende 1940 relativ willkürlich vonstatten
gegangen war, spielte nun, im Juli 1941, die politische Zuverlässigkeit eine gesteigerte Rolle. Die
Mehrzahl der nach Hadamar versetzten Männer zählten zur Gruppe derer, die Mitte der 1930er Jahre
als „alte Kämpfer“ eine Anstellung als Pfleger in den Anstalten Herborn oder Weilmünster erhalten
hatten, und mindestens eine der nun an „T4“ abgeordneten Frauen – die erwähnte Lydia Thomas – gehörte sogar der NSDAP an, was bei den Krankenschwestern in den Landesheilanstalten (wie bei Frauen im Allgemeinen) eher eine Seltenheit darstellte.
Bei der ersten Personalabordnung im November 1940 ging es dem Bezirksverband Nassau auch darum, sein in der abgetretenen Anstalt Hadamar verbliebenes Personal, das er für die eigenen Zwecke
fortan nicht mehr benötigte, auf einfache Weise unterzubringen. Letztlich stand auch die Personalbereitstellung Ende Juli 1941 aus Sicht des Bezirksverbandes im Zeichen praktischer Erwägungen, denn
wie schon ein Dreivierteljahr zuvor versuchte der Verband nun erneut, andere Einsatzmöglichkeiten für
jene Mitarbeiter zu finden, für die es in den Anstalten des Bezirksverbandes keinen Bedarf mehr gab,
was mittlerweile sehr konkret aus der gesunkenen Krankenzahl aufgrund der Mordaktion resultierte.416
Paul Reuter b. d. AG Weilburg (07.03.1946), b. d. Kriminalpolizei Ffm (14./15.03.1946) bzw. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in
der LHA Weilmünster (06.03.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); Bl. 49, Aussage Paul H. ggü. d.
Kriminalpolizei Ffm in Herborn (07.05.1946); ebd., Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens:
„Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]); ebd., Bl. 167–170,
Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im
Hadamar-Verfahren (02.04.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 58–60, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess, 2.
Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 63–67, Aussage des Angeklagten Paul Reuter im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.
1947); ebd., Bl. 85–88, Bl. 99, Aussage d. Angeklagten Wilhelm Lückoff im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947);
ebd., Bl. 91 f., Aussage d. Angeklagten Erich Moos im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 103 f.,
Aussage d. Angeklagten Paul H. im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im
Hadamar-Prozess Ffm, verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); ebd., Bd. 44, Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm im
Verfahren Az. 4a Js 30/46 (12.10.1946); ebd., Bd. 9, Bl. 1559–1582, Urteil mit Urteilsbegründung im Revisionsverfahren zum
Hadamar-Prozess Ffm u. zum „Schwesternprozess“ (o. D. [verkündet am 20.10.1948]); ebd., Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 89, 6seitige „Aufstellung der in der Landesheilanstalt Eichberg in der Zeit v. 1939 bis März 1945 beschäftigten Personen“ (o. D.,
Anschreiben: 13.02.[1946]); LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wegen der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (28.08.1941–14.07.1942) sowie weitere Dok. aus dieser Akte; ebd., ehem.
VA 232 (Kopie), div. Statistiken „Personalbestand“ d. LHA Hadamar (01.03.1943–01.03.1945), Entwürfe; LWV, Best. 100,
Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Wi., Ka.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Mo., Er.; ebd., Pers.-Akten Zug. 1989, Lü., Wi.; ebd.,
Pers.-Akten Zug. 1981, Ne., Pe., Teil 1, Bl. 31 f., Vfg. zum Schreiben BV Nassau an LHA Herborn (19.07.1941), Abschr.;
ebd., Pers.-Akten Zug. 1984, Op., Ro., u. a. Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau an HEA Kalmenhof, Idstein (30.07.1941), Abschr.
(zu Änne J.); ebd., Pers.-Akten Zug. 1989, Ei., He., Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Vm. (27.11.1940), Abschr.; ebd., Pers.Akten Zug. 1989, Lü., Wi.; Hadamar (1991), S. 180 f.; zu Robert O. u. Erich Moos siehe auch die weiteren Ausführungen (u.
Quellen) in Kap. II. 2. b).
414
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. HvTag (25.02.1947).
415
Ebd., Bl. 87, Aussage d. Angeklagten Wilhelm Lückoff im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947).
416
Zur deswegen im Juli 1941 vollzogenen weitgehenden Schließung der LHA Herborn siehe Kap. V. 1. a).
432
IV. Zeit der Gasmorde
Während allerdings den Abordnungen Ende 1940 eine Auswahl auf Zuverlässigkeit nur in negativer
Hinsicht (durch den Ausschluss Einzelner) vorausgegangen war, war nun bei der zweiten Folge von
Abordnungen eine positive Auswahl möglich und wurde auch vorgenommen. Dass die „alten Kämpfer“
hier den Vorzug erhielten, konnte einerseits dem Ziel dienen, den reibungslosen Fortgang der Mordaktion zu unterstützen. Andererseits könnten die Anstalten Herborn und Weilmünster aber auch die Gelegenheit genutzt haben, sich von einzelnen „schwierigen“ Mitarbeitern zu trennen, die bislang durch
Brutalität, „Querulantentum“ oder geringe Befähigung zum Pflegerberuf aufgefallen waren.417
Anders als für die Überlassung der Hadamarer Anstaltsräume geschahen die Personalabordnungen
durch den Bezirksverband nicht unentgeltlich. Bereits im Pachtvertrag, der auch die Abgabe der Anstalt regelte, hatte der Bezirksverband mit „T4“ vereinbart, dass zwar die „Zahlung der Dienstbezüge
an die zur Verfügung gestellten Gefolgschaftsmitglieder [...] wie bisher durch den Bezirksverband“
erfolgen würde, dass allerdings diese Beträge zuzüglich eines 20-prozentigen „Versorgungszuschlages“ (für spätere Pensionszahlungen und für die aktuellen Arbeitgeberanteile zur Rentenversicherung)
„dem Bezirksverband auf Anfordern [...] durch die Stiftung zurückerstattet“ werden sollten.418 Die
Abrechnung mit der „Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege“ übernahm die Verwaltung der Landesheilanstalt Hadamar selbst.419 Anfangs im mehrmonatlichen, später im monatlichen Rhythmus reichte der erste Verwaltungsbeamte der Anstalt Hadamar, Alfons Klein, eine Aufstellung des aktuell abgeordneten Personals bei der „T4“-Wirtschaftsabteilung ein, deren Leiter anschließend die Überweisung
der Personalkosten an die Hadamarer Anstalt tätigte.420
Offiziell waren die Rollen von „T4“ und Bezirksverband Nassau in Bezug auf die in Hadamar abgeordneten Mitarbeiter klar voneinander getrennt: „T4“ war für die Tätigkeit der Mitarbeiter zuständig,
der Bezirksverband für die Auszahlung der Bezüge (und für weitere administrative Aufgaben im Bereich Personalverwaltung, etwa für die Führung der Personalakten). In der Praxis allerdings vermischten sich die beiden Sphären. Um einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ und damit einem möglichen Neidpotenzial zwischen „Stiftungspersonal“ und „Bezirksverbandspersonal“ vorzubeugen, bedachte „T4“
Letzteres auch mit den finanziellen Zulagen und Prämien, die für die Beschäftigung bei der Mordorganisation ansonsten gezahlt wurden. Diese steuerfreien Zulagen, die etwa bei Bürokräften zunächst 30,
später 40 RM monatlich erreichen konnten,421 ließ „T4“ den abgeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bezirksverbandes beispielsweise Ende 1941 in Form eines Weihnachtsgeldes zukommen,
das sich je nach Tätigkeit und Dauer der Mitarbeit auf Beträge zwischen RM 60 und RM 395 für das
abgelaufene Jahr belief. Die Vermischung der Sphären wird noch deutlicher, wenn man sieht, dass
zwei der nicht abgeordneten Angestellten der Landesheilanstalt, nämlich die Verwaltungsangestellte
Helene M. und der Gärtner Anton G., für treue Dienste ebenfalls das Weihnachtsgeld von „T4“ erhielten.422 Will man nicht von einer versehentlichen Zahlung ausgehen, so legt das den Schluss nahe, dass –
auch über die Person des leitenden Verwaltungsbeamten Alfons Klein hinaus – die weiterhin für den
Bezirksverband tätigen Mitarbeiter der Landesheilanstalt Hadamar während der Zeit der Gasmorde
ebenfalls Hilfsdienste für „T4“ übernahmen und daher für ihre Kooperationsbereitschaft belohnt wur417
Dies könnte gelten insbesondere für Karl Willig, Robert O., Erich Moos und Paul Reuter. – Siehe dazu u. a. die entsprechenden Darstellungen in Kap. II. 2. b).
418
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 1, Teil 1, Bl. 48 f., „Vertrag. Zwischen dem Oberpräsidenten (Verwaltung des Bezirksverbandes Nassau) [...] und der Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4“, gez. durch
OP Philipp Prinz von Hessen (15.02.1941) mit Kenntnisnahme gez. LH Traupel sowie für die Gemeinnützige Stiftung gez.
durch Schneider (08.01.1941), hier Abschr. (o. D. [Anschreiben: 27.06.1941]), hier § 3.
419
Die Verwaltung der LHA Hadamar legte zu diesem Zweck eine eigene Verwaltungsakte an, wie eine Vfg. d. LS Klein
(30.01.1941) auf dem ersten Schriftstück zu diesem Betreff zu entnehmen ist: LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie),
Bl. 1, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Berlin, an LHA Hadamar, betr. „Erstattung der Gehälter und Arbeitgeberanteile für die von mir übernommenen Gefolgschaftsmitglieder Ihrer Anstalt“ (18.12.1940).
420
Ebd., Korresp. LHA Hadamar – „T4“ wg. der Erstattung der Dienstbezüge des abgeordneten Personals (18.12.1940–14.07.
1942). – Ansprechpartner bei „T4“, die der Korrespondenz zu entnehmen sind, waren die nacheinander amtierenden „T4“Wirtschafts- und Finanzchefs Willy Schneider u. Fritz Schmiedel.
421
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Klara M. geb. H. verwitw. D. ggü. d. LG Ffm in Freiburg/
Br. (17.02.1966), Kopie.
422
LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 60, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Gehaltsabteilung, an LHA Hadamar, betr. „Gezahlte Weihnachtszuwendungen 1941 an das zu uns abgestellte Pflegepersonal“ (18.03.
1942).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
433
den. Insgesamt wird ein enges Miteinander der beiden Anstalten unter einem Dach, der „Landes-Heilund Pflegeanstalt Hadamar“ („T4“) und der „Landesheilanstalt Hadamar“ (Bezirksverband) anzunehmen sein.
Ebenso wie „T4“ an der einen oder anderen Stelle finanziell über den Kreis seiner Mitarbeiter hinausgriff, so übernahm auch der Bezirksverband Zusatzleistungen, die die reibungslose Kooperation mit
„T4“ dokumentieren. Als beispielsweise der Koch Hans L. im April 1941 innerhalb der Landesheilanstalt Hadamar vom Bezirksverband zu „T4“ abgeordnet wurde und daher seinen beim Bezirksverband
aufgelaufenen Resturlaub nicht mehr nehmen konnte, zahlte der Verband ihm auf ausdrücklichen Beschluss der Wiesbadener Personalabteilung den Gegenwert aus. Damit verhinderte der Verband, dass
L. durch seine Abordnung finanzielle Einbußen erlitt und trug damit zum Betriebsfrieden in der Anstalt
bei.423 Der Bezirksverband Nassau übernahm auch an anderer Stelle in Einzelfällen solche Lasten, die
ihm ohne die Abordnung an „T4“ nicht entstanden wären. Als beispielsweise der an „T4“ abgeordnete
Hadamarer Pfleger Willi R. Anfang Juli 1941 in Köln bei der „T4“-Busfahrt zur Abholung rheinischer
Kranker gemeinsam mit zwei oder drei „T4“-Fahrern durch einen Bombentreffer ums Leben kam,424
übernahm der Bezirksverband und nicht „T4“ die Auszahlung des Sterbegeldes an die Witwe und die
Veröffentlichung eines Nachrufs in der Parteizeitung „Frankfurter Volksblatt“. Selbstverständlich
kümmerte der Bezirksverband sich auch um die Festsetzung der Hinterbliebenenbezüge, da mit dem
Zeitpunkt des Todes die Abordnung zu „T4“ endete. Eine Witwenrente zugunsten der hinterbliebenen
Ehefrau aus den Kassen des „Gemeindeunfallversicherungsverbandes für den Regierungsbezirk Wiesbaden“ (dem Bezirksverband als Abteilung angliedert) konnte mithilfe des Bezirksverbandes erzielt
werden, indem man die Abordnung an „T4“ verschwieg und den Todesfall in den Unterlagen des Versicherers als Folge „eines Unfalls auf einer Dienstfahrt für die Landesheilanstalt Hadamar“ deklarierte.425
Insgesamt stellte der Bezirksverband Nassau zwischen November 1940 und Juli 1942 also mindestens 25 Personen (für unterschiedliche Dauer) über Abordnungen an „T4“ zum Dienst in der Gasmordanstalt Hadamar ab. Anstaltsdezernent Bernotat war aufgrund der Kontakte, die er zu „T4“ entwickelt
hatte, fraglos die Zentralfigur bei der Initiierung der Abordnungen, doch er war keineswegs der einzige
Beamte innerhalb des Verbandes, der damit befasst war. Eingebunden war ebenso die Personalabteilung mit ihrem Dezernenten Landesrat Max Kranzbühler, eingebunden waren aber auch die ersten
Verwaltungsbeamten in den verschiedenen Landesheilanstalten des Bezirksverbandes. Mit den Abordnungen verbanden sich aus Sicht des Verbandes oder seiner Oberbeamten zwei Motivationsstränge:
Zum einen konnte auf diese Weise Personal, das zumindest vorübergehend in den Anstalten nicht
benötigt wurde, auf elegante und kostenneutrale Weise bis zu einem möglichen späteren Einsatz untergebracht werden, zum anderen konnten damit diejenigen in der Verbandsspitze, die Anhänger des
Krankenmordprogramms waren, ihren Beitrag zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ leisten.
Auch über die gruppenweise Abordnung von Pflege- und Verwaltungskräften des Bezirksverbandes
an „T4“ hinaus sind personalpolitische Initiativen des Anstaltsdezernenten Bernotat zu bemerken, die
sowohl zur Abordnung ärztlichen Personals an „T4“ als auch zur Bereitstellung einzelner weiterer
Mitarbeiter führten. Für Bernotat gaben nicht nur funktionale Gründe den Ausschlag für seine Mitarbeit bei der „T4“-Personalbeschaffung, sondern auch ein Engagement für die Sache. Dies stellte der
Anstaltsdezernent unter Beweis, indem er auch Personen an „T4“ vermittelte oder zu vermitteln suchte,
die entweder nicht dem Bezirksverband angehörten oder die 1940 zur Wehrmacht einberufen waren.
423
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha., Teil 1, Bl. 39, Hans L., Hadamar, durch die LHA Hadamar an
BV Nassau, Abt. Ia (10.09.1941); ebd., Vfg. zum Schreiben BV Nassau an LHA Hadamar (24.09.1941, ab: 30.09.1941).
Es muss sich um die geplante Abholung von Kranken aus der „Zwischenanstalt“ Galkhausen (heute Langenfeld bei Köln)
gehandelt haben. – HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946)
(Emil S. musste anschließend „noch zur Abholung der Fahrzeuge nach Köln fahren“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie.
425
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1982, Rö., Wi., Bl. 1 a, BV Nassau, Anstaltsdezernent LdsR Bernotat, Az.
A (S/II), an Abt. B (Ia) (10.07.1941); ebd., Bl. 2, Vfg. zu den Schreiben des BV Nassau an Minna R., Hadamar, sowie an das
Frankfurter Volksblatt, Ffm (11.07.1941, beide ab: 11.07.1941); ebd., Bl. 18, Rentenbescheid des Gemeindeunfallversicherungsverbandes für den Reg.-Bez. Wiesbaden, Wiesbaden, für Minna R. (28.11.1941) (Zitat „eines Unfalls [...]“); vgl. auch
ebd., Bl. 1, Fragebogen d. „Military Government of Germany“ zu Minna R. (ausgefüllt: 15.12.1945).
424
434
IV. Zeit der Gasmorde
Sogar beides trifft auf den 1941 am Gasmord in Hadamar beteiligten Arzt Hans Bodo Gorgaß zu, doch
auch in anderen Fällen kann Bernotats Initiative dokumentiert werden oder als wahrscheinlich gelten.
Nachdem in der Gasmordanstalt Hadamar zunächst ab Januar 1941 die beiden aus Grafeneck übernommenen „T4“-Ärzte Dr. Ernst Baumhard als Leiter und Dr. Günther Hennecke als dessen Stellvertreter
agiert hatten,426 kam es im Juni 1941 zu einem Revirement: nach Differenzen zwischen den beiden
Genannten und dem „T4“-Organisator Viktor Brack schieden diese Ärzte aus und meldeten sich zur
Kriegsmarine.427 An ihre Stelle traten von nun an zwei Ärzte aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden: der
Frankfurter Dr. Friedrich Berner als ärztlicher Leiter und der in Königshofen bei Niedernhausen ansässige und im Kalmenhof in Idstein angestellte Hans Bodo Gorgaß als dessen Stellvertreter.
Der im Jahr 1941 32-jährige Gorgaß, der aus Leipzig stammte und der auch dort studiert hatte, war
1936 ins Nassauische gekommen und zunächst in der Landesheilanstalt Eichberg (und vorübergehend
auch in Weilmünster) tätig geworden. Sein Eichberger Vorgesetzter, Direktor Dr. Hinsen, bescheinigte
Gorgaß zumindest anfangs in einem Zeugnis „Intelligenz und Charakter“ sowie „Neigung zum Beruf
des Psychiaters“. Im Rückblick allerdings prangerte er dessen Disziplinlosigkeit an: Gorgaß sei (gemeinsam mit dem damals noch als Anstaltsarzt beschäftigten Dr. Mennecke) 1936/37 oft laut grölend
in die Anstalt gekommen: „[...] es waren damals, sagen wir mal, meine jüngeren Kollegen recht unsolide; es wurde viel getrunken.“ Seinem opportunistischen Bekenntnis zum Nationalsozialismus und
seiner fast servilen Haltung gegenüber den Vorgesetzten in der Wiesbadener Zentralverwaltung des
Bezirksverbandes dürfte es Gorgaß zu verdanken gehabt haben, dass Bernotat ihn bereits 1938, mit 29
Jahren, zum leitenden Arzt der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof machte. Um die Tätigkeit in dieser
privaten Behinderteneinrichtung in Idstein, deren Vorsitz der Wiesbadener Anstaltsdezernent Bernotat
(als „Statthalter“ des Landeshauptmanns) ausübte, aufnehmen zu können, musste Gorgaß aus den
Diensten des Bezirksverbandes wieder ausscheiden. Zwar wurde er nicht Direktor des Kalmenhofes, da
traditionell ein Lehrer oder Verwaltungsleiter dieses Amt ausübte, doch führte er von nun an verantwortlich das „Krankenhaus“ der Einrichtung bis zu seiner Einberufung Anfang Dezember 1939. Unmittelbar vor seinem Antritt bei der Wehrmacht heiratete er eine Krankenschwester der Landesheilanstalt Eichberg.428
Eine Promotion im Fach Medizin scheint Gorgaß, anders als bislang angenommen und von ihm
selbst nach dem Krieg behauptet, tatsächlich nie erhalten zu haben. Keinesfalls trifft seine 1947 im
426
Zu Dr. Ernst Baumhard (1911–1943) u. Dr. Günther Hennecke (um 1913–1943) siehe biogr. Anhang.
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./
19.02.1947), hier Bl. 1026 (19.02.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im HadamarProzess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 350 f. (auf S. 350: „[...] die sind auf eigenes heftigstes Drängen ausgeschieden
wegen Differenzen von Seiten Bracks. Ich habe ihnen selber zugeredet, auszuscheiden.“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz
Mennecke, z. Zt. Vöcklabruck [Österreich], an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden [?] (30.–31.03.1944), hier n. d. Abdr. b.
Mennecke (1988), S. 964–971 (Dok. 260), hier S. 969 (31.09.1944) („Dr. Baumhardt [= Baumhard] u. Dr. Hennecke, die
beide 1941 in Hadamar waren, sind beide mit U-Booten untergegangen – fort!“); siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983),
S. 318.
428
Zu Hans Bodo („Bodo“) Gorgaß (1909–1990er Jahre) siehe auch biogr. Anhang. – Quellen: BA, R96 I/1, Bl. 127890 f.,
„T4“-Aufstellung ihres ärztlichen Personals (o. D. [1943/1944]), Kopie, hier Bl. 127890; HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12825,
o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben LHA Eichberg an Reichsärztekammer, Ärztliche Bezirksvereinigung Wiesbaden (04.10.1938,
ab: 04.10.1938); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 2–4, Bl. 17, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bl. 113–115, Beweisantrag d. Verteidigers d. Angeklagten Gorgaß
(26.02.1947), hier Bl. 114 f., Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 289–294,
Zeugenaussage Dr. Wilhelm Hinsen im Hadamar-Prozess, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 289 f. (auf S. 290 Zitat „[...] es
waren [...]“), Bl. 292 f.; ebd., o. Bl.-Nr. (zwischen Bl. 382 u. 383), div. Zeugnisabschr. für Hans Bodo Gorgaß, Anlage zum
Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947); ebd., Bl. 432 f., Urteil d. LG Ffm im Hadamar-Prozess Ffm,
verkündet am 14. Hv-Tag (26.03.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 89, 6-seitige „Aufstellung der in der Landesheilanstalt Eichberg in der Zeit v. 1939 bis März 1945 beschäftigten Personen“ (o. D., Anschreiben: 13.02.[1946]); HStA Wi,
Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hans Bodo Gorgaß ggü. d. LG Ffm in Bielefeld (07.10.1965), S. 3 f.,
Kopie; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Gorgaß, Hans Bodo, Teil 1, Bl. 9, LHA Eichberg, Dr. Hinsen, an
BV Nassau (14.09.1936) (Zitate „Intelligenz [...]“ u. „Neigung [...]“); ebd., Bl. 23, Personalbogen d. LHA Weilmünster (o. D.
[1937]); ebd., Bl. 26, Approbationsurkunde d. Landesregierung Sachsen (06.02.1937), Abschr.; ebd., Teil 2, Bl. 62/66, Meldeund Personalbogen I zu § 81 des Bundesgesetzes zu Art. 131 GG (o.D. [ca. 1953/54]); Frankfurter Rundschau (28.01.1947),
„Gorgaß verhaftet“, hier n. d. Abdr. in Euthanasie (1991), S. 169 (Kat. Nr. V. 7); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 230, S. 318;
Winter, Geschichte (1991), S. 179 f.; Sandner, Eichberg (1999), S. 178 f., S. 208 f. (Anm. 72); Greve, Vernichtung (1998),
S. 18 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 179, S. 358–362, S. 564 f. (Anm. 39, 48, 50–53). – Zur Gleichschaltung und Leitung des
Kalmenhofs nach dem „Führerprinzip“ siehe Kap. III. 1. a).
427
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
435
Hadamar-Prozess gemachte Angabe zu, er sei 1935 mit einer Arbeit über „Infantilismus“ promoviert
worden.429 Dieses erste Dissertationsvorhaben in Leipzig bei Privatdozent Dr. Hans Bürger-Prinz nämlich konnte Gorgaß in Wirklichkeit nicht vollenden – eigenen Angaben aus dem Jahr 1937 zufolge „aus
finanziellen Gründen“. Als Landeshauptmann Traupel ihn in diesem Jahr aufforderte, „sich baldigst
um die Erlangung des Doktorgrades [zu] bemühen“, da auf diesen Titel bei den Ärzten des Bezirksverbandes Wert gelegt werde, ließ Gorgaß sich von Prof. Dr. Karl Kleist in Frankfurt ein neues Thema
stellen. Die Aufgabe bestand nun darin, „das weitere Schicksal der Hebephrenen, die 1920 bis 1925 in
der Nervenklinik Frankfurt a. M. waren, zu erforschen“; nach Gorgaß’ Einschätzung war diese Arbeit
„sehr umfangreich und erfordert viel Zeit“. Zumindest bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst des
Bezirksverbandes zum Oktober 1938 war die Promotion nicht abgeschlossen, dennoch ließ er sich seit
seinem Anstellungsvertrag mit dem Kalmenhof vom August 1938 in den dortigen Unterlagen als „Dr.
med. Gorgaß“ führen.430 Alles spricht dafür, dass Gorgaß auch sein zweites Dissertationsprojekt nie
abgeschlossen hat.431
Bereits ein Dreivierteljahr vor seiner Einberufung zur Wehrmacht war Gorgaß im Februar 1939 wohl
zum ersten Mal mit den beiden späteren NS-„Euthanasie“-Verantwortlichen Dr. Herbert Linden
(Reichsinnenministerium) und Prof. Dr. Carl Schneider (Universität Heidelberg) zusammengetroffen,
als diese auf Vermittlung des SD-Hauptamtes die „nassauischen“ Anstalten inspizierten, um den in
Bedrängnis geratenen Landeshauptmann Traupel zu unterstützten.432 Die Kommission, deren Bericht
im Allgemeinen als tendenziös und schönfärberisch zu werten ist, attestierte Gorgaß „trotz der verhältnismäßig noch nicht großen psychiatrischen Erfahrung“ eine Eignung für seine Tätigkeit im Kalmenhof. Dennoch regte das Gremium an, Gorgaß – „[s]oweit es erwünscht ist“ –, „eine weitere psychiatrische Ausbildung angedeihen zu lassen“, beispielsweise durch den temporären Stellentausch mit einem
Assistenzarzt einer psychiatrischen Klinik.433 Als Gorgaß dann rund zwei Jahr später, 1941, von „T4“
zum zweiten Arzt der Gasmordanstalt Hadamar gemacht wurde, sah er sich in seiner Zustimmung zur
Mitarbeit dadurch bestärkt, dass Carl Schneider, den er sich zum Vorbild als Psychiater erkoren hatte,
führend daran mitwirkte.434
Bereits aus Sicht des Landgerichts Frankfurt im Hadamar-Prozess 1947 stellte der Einsatz von Hans
Bodo Gorgaß in Hadamar „nicht eine Laune des Schicksals“ dar, sondern war das Ergebnis einer bewussten Auswahl.435 Die Idee, Gorgaß u. k. stellen zu lassen, dürfte in einer der Besprechungen geboren worden sein, die Bernotat während der Zeit der Gasmorde in Personalfragen mit „T4“Verantwortlichen führte, möglicherweise geschah dies bereits in den ersten Wochen der Einrichtung
429
Zu dieser Behauptung: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 3, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); zur Angabe „Dr. Gorgaß“ siehe die Liste der Angeklagten ebd., Bl. 1; vgl. auch die
darauf beruhenden Angaben bei Winter, Geschichte (1991), S. 109, sowie bei Friedlander, Weg (1997), S. 360.
430
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Gorgaß, Hans Bodo, Teil 1, o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an Hans Bodo Gorgaß (16.07.1937), Abschr.; ebd., Teil 2, Gorgaß, LHA Eichberg, an BV Nassau, „[...] Bericht über
meine Bemühungen zur Erlangung der Doktorwürde“ (30.09.1937), mit Wv.- u. Z.-d.-A.-Vermerken d. BV Nassau (bis zum
04.10.1938); ebd., Bl. 71–73, Anstellungsvertrag zwischen dem Verein für die HEA „Calmenhof“ u. „Dr. Hans Bodo Gorgaß“, gez. Gorgaß (31.08.1938) u. Bernotat (03.09.1938), Abschr. – Auch „T4“ führte ihn als „Dr. Gorgass“: BA, R96 I/1,
Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung über ihr ärztliches Personal (o. D. [1943/44]), Kopie, hier Bl. 127890.
431
In schriftlichen Dokumenten, etwa bei Adressenangaben oder Unterschriften, nutzte Gorgaß selbst keinen Doktortitel: siehe
z. B. ebd. (Pers.-Akte), Teil 2, o. Bl.-Nr., Schreiben Hans Bodo Gorgaß an LWV Hessen (27.08.1960). – Weder über den
Hessischen Zentralkatalog noch über die Medizinische Hauptbibliothek Ffm noch im Med. Dekanat d. Univ. Ffm noch im
Jahresverzeichnis der Hochschulschriften bei der Deutschen Bibliothek in Leipzig ist eine evtl. Diss. von Hans Bodo Gorgaß
nachzuweisen: Auskunft der Stadt- u. Univ.-Bibliothek Ffm an d. Verf. (31.01.2002). – Ein erfolgreicher Abschluss des
Frankfurter Promotionsverfahrens kann besonders deshalb als unwahrscheinlich gelten, da Gorgaß anderenfalls 1947 wohl
nicht fälschlich eine Promotion in Leipzig angegeben hätte.
432
Zu diesem Visitationsauftrag im Feb. 1939, der Vorwürfe gegen den BV Nassau wegen katastrophaler Verhältnisse in
seinen (u. in den in seinem Auftrag genutzten) Anstalten entkräften sollte, siehe ausführlich Kap. III. 3. b).
433
LWV, Best. 1/276, Bl. 40–50, „Bericht über das Ergebnis der Überprüfung der nassauischen Anstalten“ am 27./28.02.1939,
erstattet von Dr. Linden, Dr. Lehmkuhl, Prof. Dr. C. Schneider u. Trenz (26.04.1939), hier Bl. 43 f.
434
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der
Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 4 f., Kopie: „Zu Schneider hatte ich gewisse Berührungspunkte, da er ebenfalls aus Sachsen
stammte und eine ähnliche Laufbahn hinter sich hatte, wie ich. Ich kannte ausserdem sein psy[c]hiatrisches Hauptwerk und
schätzte ihn danach als ernst zu nehmenden Wissenschaftler.“
435
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [ca. 26.03.1947]), spätere Ausfertigung, hier Bl. 1347.
436
IV. Zeit der Gasmorde
der Gasmordanstalt Hadamar im Herbst 1940, als Bernotat mit „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann
zusammentraf.436 Friedlander mutmaßt, Bernotat könnte mit der Benennung von Gorgaß versucht haben, „eine gewisse Kontrolle über die Vorgänge in Hadamar aus[zu]üben“.437 Entscheidender aber
scheint Bernotats Bedürfnis gewesen zu sein, seine eigene Bedeutung im Rahmen der reichsweiten
geheimen Mordaktion unter Beweis zu stellen und zugleich einen Beitrag zu deren reibungsloser Fortführung zu leisten.
In jedem Fall übernahm Anstaltsdezernent Bernotat als Vorsitzender des Idsteiner Trägervereins die
Aufgabe, seinen Angestellten Gorgaß zumindest dem Grundsatz nach über die künftigen Pläne ins Bild
zu setzen. Nach Gorgaß’ Zurückberufung von der Truppe beorderte Bernotat ihn im Frühjahr 1941 zu
sich ins Wiesbadener Landeshaus, instruierte ihn und schmeichelte ihm dabei zugleich – wie sich aus
Gorgaß’ Ausführungen ablesen lässt: „[...] ich sei für große Dinge ausersehen, es sei eine ausserordentlich ehrenvolle Aufgabe, ich könne stolz darauf sein, hierfür als besonders geeignet und zuverlässig
befunden zu sein, er hoffe, daß ich ihm keine Schande machen werde.“ Müßig sind Überlegungen, ob
Gorgaß die näheren Einzelheiten seines Auftrags, insbesondere die vorgesehene Tätigkeit bei der Gastötung in Hadamar, bereits durch Bernotat in Wiesbaden oder – wie er aussagte – erst kurz darauf
durch Brack in Berlin erfahren hat.438 Nach seinem Dienstantritt bei „T4“ Ende April/Anfang Mai 1941
schickte die Organisation Gorgaß zunächst für einige Wochen in die Mordanstalt Hartheim bei Linz
und anschließend noch für mehrere Tage nach Pirna-Sonnenstein, um ihm dort jeweils Einweisungen
in seine künftige Hadamarer Tätigkeit, den Gasmord, geben zu lassen. Auf dem Rückweg von Pirna
nach Hadamar machte Gorgaß (gemeinsam mit seinem künftigen Hadamarer Vorgesetzten Dr. Friedrich Berner) Mitte Juni 1941 im Konzentrationslager Buchenwald Station, wo beide als Hospitanten an
der Selektion kranker und/oder „rassisch“ verfolgter Häftlinge für die Ermordung in den Gaskammern
der „Euthanasie“-Anstalten teilnahmen, bevor sie am 18. Juni 1941 das ärztliche Kommando in der
„T4“-Mordanstalt Hadamar übernahmen.439
Gorgaß erwies sich in der Praxis als „williger Vollstrecker“ der Krankenmordpläne, zumal er die Tötungen mit seiner Überzeugung als bekennender „Anhänger der Euthanasie im weiteren Sinne“440 in
Einklang bringen konnte. Zwar bat Gorgaß nach eigener Aussage, in einer anderen „T4“-Anstalt eingesetzt zu werden, um am Heimatort nicht mit der Hadamarer „Aktion“ in Verbindung gebracht zu
werden,441 doch eine grundsätzliche Ablehnung der Mitarbeit war von ihm von vornherein kaum zu
erwarten. Ebenso wie sein früherer Kollege Mennecke wurde auch Gorgaß im Zusammenhang mit den
Morden durch eine von „T4“ beschaffte Facharztanerkennung als Psychiater belohnt, da er „während
der Zeit in Hadamar fachlich tätig gewesen“ sei.442
436
Gorgaß’ Ehefrau sagte aus, Bernotat habe bereits im Okt. 1940, als Gorgaß nach der Geburt seines Sohnes (19.10.1940) auf
Heimaturlaub in Wiesbaden war, die Absicht bekundet, Gorgaß u. k. stellen zu lassen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3,
Bl. 50, Aussage ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Königshofen (06.05.1946). – Ein Hinweis auf eine spätere Besprechung zwischen Bernotat u. „T4“-Personalchef Friedrich Haus am 21.04.1941, als die U.-k.-Stellung Gorgaß’ allerdings wohl schon
erfolgt war, findet sich in LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 6, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Der Personalchef, Berlin, an LdsR Bernotat, Wiesbaden, Eichendorffstraße 1 (28.04.1941), hier Abschr. (02.05.1941).
437
Friedlander, Weg (1997), S. 362.
438
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der
Haftanstalt Ffm (07./08.02.1947), Kopie, hier S. 1 (07.02.1947) (Zitat „[...] ich sei für [...]“); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061
Bd. 7, Bl. 11–13, Bl. 37, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947) (im
Gegensatz zu seiner Frau – siehe oben – behauptete Gorgaß auf Bl. 37, die U.-k.-Stellung sei „sehr überraschend“ gekommen); Friedlander, Weg (1997), S. 362 f.
439
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hans Bodo Gorgaß ggü. d. LG Ffm in Bielefeld (07.10.1965),
Kopie; ebd., o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07./08.02.
1947), Kopie, hier S. 1 f. (07.02.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 16, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo
Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318; Friedlander, Weg (1997),
S. 362; Sandner, Frankfurt (1998), S. 241 f. (zum Aufenthalt in Buchenwald).
440
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 6, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. HvTag (24.02.1947). – Lediglich das methodische Vorgehen von „T4“ lehnte Gorgaß im Nachhinein ab, da dadurch „das Vertrauen zum Arzt verloren geht“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 4, Kopie.
441
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1365, Bl. I–XII u. S. 1–94, GenStAnw Ffm an LG Ffm, Anklageschrift gegen Adolf Kaufmann (27.06.1966), hier S. 31.
442
Ebd., Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm
(07.02.1947), hier S. 5, Kopie. – Zur Facharztanerkennung für Mennecke siehe Kap. IV. 2. a).
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
437
Nahe liegt eine Vermittlungstätigkeit aus Kreisen des Bezirksverbandes auch bei der Anstellung des
ärztlichen Leiters der Gasmordanstalt Hadamar ab Juni 1941, Dr. Friedrich Berner,443 der den Dienst
dort gemeinsam mit seinem Vertreter Gorgaß antrat. Der zuvor an der Frankfurter Universitätsklinik
als Röntgenologe und Universitätsdozent tätige Berner, der 1940 seine Habilitation abgeschlossen hatte, war Mitglied des SS-Abschnitts Rhein. Man darf annehmen, dass in diesem Fall der Eichberger
Direktor Mennecke oder ebenfalls Anstaltsdezernent Bernotat, beide selbst SS-Mitglieder, als Mittelsmänner aufgetreten sind; denn das Ehepaar Mennecke war mit dem dort zuständigen Oberabschnittsarzt (also dem SS-Vorgesetzten Berners) Dr. Hans Friedrich und dessen Ehefrau eng befreundet, ebenso wie auch das Ehepaar Bernotat privat mit den Friedrichs verkehrte.444
Erfolglos versuchte Landesrat Bernotat offenbar in einem dritten Fall, einen Arzt, nämlich den
Weilmünsterer Oberarzt Dr. Karl V., als „T4“-Mitarbeiter anzuwerben. Im Oktober 1940 suchte Bernotat zunächst in Weilburg die Ehefrau des zur Wehrmacht Einberufenen auf und fragte sie, ob sie
ihren „Ehemann [...] reklamiert haben wollte, für eine besondere Aktion“. Frau V. verwies Bernotat auf
den baldigen Heimaturlaub ihres Mannes, den der Landesrat dann auch nutzte, um telefonisch mit Karl
V. zu verhandeln. Wahrscheinlich hat Bernotat bei Dr. Karl V. ein besonderes Engagement für die
Partei und deren Krankentötungsaktion erwartet, da der Arzt wohl ein Schwager des Hamburger Gauleiters Karl Kaufmann war. Seine Ehefrau Elisabeth V. wurde – nach Menneckes Einschätzung – als
„Schwester des Gauleiters [...] von Bernotat [...] geehrt“. Dennoch lehnte Dr. Karl V. das Ansinnen
Bernotats ab. Aufgrund der zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhänge kann kaum ein Zweifel daran
bestehen, dass es sich bei der „besondere[n] Aktion“ um die Gasmorde in Hadamar, die seinerzeit
gerade vorbereitet wurden, handelte.445
443
Zu Dr. med. habil. Friedrich Berner (1904–1945) siehe biogr. Anhang. – Quellen: BA, BDC-Unterlagen zu Berner, Friedrich, Dr.; BA, R96 I/1, Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung über ihr ärztliches Personal (o. D. [1943/44]), Kopie, hier Bl. 127890;
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der Haftanstalt Ffm (07./08.02.1947), Kopie, hier S. 1 (07.02.1947); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 17, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bl. 59, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 126, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 230, S. 318; ergänzende Mitteilung Ernst Klee;
Chroust/Groß u. a., Hadamar (1989), S. 52; Friedlander, Weg (1997), S. 179, S. 358, S. 563 (Anm. 30).
444
Zur Freundschaft zwischen Dr. Friedrich u. Eva Mennecke einerseits und dem Ehepaar Dr. Hans u. Ulla Friedrich (von
Mennecke in Briefen an seine Frau kontrahierend als „Hansulla“ bezeichnet) siehe Mennecke (1988), S. 1648 (danach war
Friedrich im Hauptberuf frei praktizierender Dermatologe in Wiesbaden); dazu sowie zum privaten Kontakt zwischen den
Bernotats u. den Friedrichs siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 16, Fritz Mennecke, z. Zt. Metz, an Eva Mennecke,
z. Zt. Wiesbaden (25.–27.01.1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 458–465 (Dok. 152), hier S. 459 (25.01.1943);
ebd. (HStA), Bd. 17, Fritz Mennecke, z. Zt. Russland, Feldpost-Nr. 02.296, an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden (20.–22.07.
1943), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 845–684 (Dok. 238), hier S. 846 (20.07.1943); ebd. (HStA), Bd. 18, Fritz
Mennecke, z. Zt. Bühl/Baden, an Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden (06.–08.05.1944), hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988),
S. 1051–1064 (Dok. 287), hier S. 1058 (07.05.1944); ebd. (HStA), Bd. 19, Fritz Mennecke, z. Zt. St. Blasien, an Eva Mennecke [z. Zt. Wiesbaden] (18.–21.08.1944), hier nach d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 1280–1296 (Dok. 342), hier 1290 (20.08.
1944).
445
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 16 f., Zeugenaussage Elisabeth V. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (02.08.
1945), hier Bl. 17 (Zitat „Ehemann [...] reklamiert [...]“). – Zu dem betreffenden Dr. med. Karl V. siehe auch biogr. Anhang. –
Quellen: HStA Wi, Abt. 403 Nr. 1202, Bl. 14 f., BV Nassau, „5. Verzeichnis der Änderungen im Fernsprechstellenverzeichnis
der Landeshaus-Anlage“ (o. D. [Anschreiben: 24.11.1936]), hier Bl. 14; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, (wahrscheinl.) Bd. 17,
Eva Mennecke, Eichberg bzw. z. Zt. Wiesbaden, an Fritz Mennecke, z. Zt. Russland (28.–30.06.1943), hier n. d. Abdr. b.
Mennecke (1988), S. 804–814 (Dok. 232), hier S. 809 (29.06.1943); HStA Wi, Abt. 520 Nr. BW 5406, Bl. 46, Eidesstattl.
Erkl. Dr. med. Karl V., Wiesbaden, für Hans K. in dessen Spruchkammerverfahren (07.01.1948); LWV, Best. 100, Dez. 11,
Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 90, handschr. Notizen d. BV Nassau (o. D. [ca. Juni 1937]); ebd., Bl. 102,
Vm./Vfg. d. BV Nassau (10.06.1940); BV Nassau, Verwaltungsbericht (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 2; dto. (Anfang
1936–31.03.1937), S. 4. – Zur Verwandtschaft der Ehefrau: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 34 f., Dr. Friedrich
Mennecke Text „Mein Dienstaustritt. (Zugleich der 2. Teil d. Abschnitts: Verhältnis zu Bernotat)“, hier Bl. 35, Anlage zur
Aussage Mennecke als Beschuldigter b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (02.–13.05.1946) (Zitat „Schwester des [...]“). – Nach
Mennecke war Elisabeth V. die „Schwester des Gauleiters (oder jedenfalls eines hohen Parteibeamten) in Westfalen“; greift
man diese Darstellung auf, so könnte es sich bei Elisabeth V. geb. Kaufmann (* 1903 in Wuppertal) um die Schwester von
Karl Kaufmann (1900–1969) gehandelt haben; dieser war geboren in Krefeld, stammte also wie Elisabeth V. aus der Rheinprovinz (nicht aus Westfalen) und war an deren Geburtsort Elberfeld [= später Wuppertal] politisch aktiv, bevor er NSDAPGauleiter zunächst im Rheinland und dann in Hamburg wurde; siehe dazu biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie Karl Kaufmann: Hamburg: Killy/Vierhaus, Enzyklopädie (1995–2000), hier Bd. 5 (1997), S. 473; Stockhorst, Köpfe (1967), S. 227 f.;
Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 215; Weiß, Lexikon (1998), S. 257 f.
438
IV. Zeit der Gasmorde
Schließlich ging auch die Abstellung des Hadamarer Anstaltselektrikers und -fahrers Emil S.,446 der
(wie schon erwähnt) am Bau der Gaskammer beteiligt war, auf Bernotats Initiative zurück. S. war –
anders als das übrige abgeordnete Hadamarer Anstaltspersonal – vor Einrichtung der Mordanstalt nicht
im Lazarett in Hadamar tätig gewesen, sondern hatte das erste Kriegsjahr als Soldat bei der Wehrmacht
verbracht. Folgt man den Angaben von Emil S., so wurde er Ende 1940 von der Wehrmacht entlassen
und wollte sich als Rüstungsarbeiter einsetzen lassen. Anstatt ihm das angeforderte Arbeitsbuch auszuhändigen, habe Anstaltsdezernent Bernotat ihn jedoch aufgefordert, „weiter auf der Anstalt tätig [zu]
bleiben“.447 Auf diese Weise gelangte S. zu dem Kader, das der Bezirksverband ab November 1940 an
„T4“ abordnete.
Durch die Vermittlung einzelner Mitarbeiter an „T4“ – über die Sammelabordnungen der Anstaltsmitarbeiter und -mitarbeiterinnen hinaus – festigte Bernotat seine Position als wichtiger Ansprechpartner der hauptamtlichen „T4“-Verantwortlichen, die sich (in Berlin oder Hadamar) mit der Mordanstalt
Hadamar befassten. Die Sonderrolle, die Bernotat nun als Nicht-„T4“-Mitarbeiter gegenüber dem Personal in der „T4“-Anstalt Hadamar einnehmen konnte, lässt sich exemplifizieren an der Art und Weise,
wie der Anstaltsdezernent sich in die Instruktion und „Einschwörung“ des neuen Personals einschaltete
und wie auch sein Hadamarer „Adlatus“ Alfons Klein (zu diesem Zeitpunkt formal noch allein für den
Bezirksverband tätig) hier einbezogen wurde.
Noch bevor die ersten „Berliner“ in Hadamar eingetroffen waren, erschien Bernotat in der Anstalt,
rief das Personal zusammen und teilte mit, „dass die Anstalt von einer Berliner Organisation für eine
Sonderaufgabe übernommen werde.“ Während Bernotat anscheinend anfangs den Zweck noch verschwieg,448 gab Landessekretär Klein gegenüber dem Pflegepersonal seine Kenntnisse bereits vor Eintreffen des „T4“-Vorkommandos preis, wie eine der Anwesenden beschrieb: „Er erklärte uns Schwestern [...], daß künftighin Kranke vergast und verbrannt werden. [...] Klein gab uns noch zur Kenntnis[,]
wie die Vernichtung vor sich geht.“449
Grundsätzlich wurde dem Personal der „T4“-Anstalten eine Schweigepflicht auferlegt, die vielfach
mit einer Strafandrohung – der Androhung der Todesstrafe oder von KZ-Haft – bewehrt war, wohingegen niemand „unter Drohungen [...] zur Teilnahme an der Aktion“ oder „zu einzelnen Tötungshandlungen genötigt worden“ ist.450 Ohnehin galt das Verbot eines Geheimnisverrats aber auch ansonsten in
Einrichtungen öffentlicher Träger, und zwar nicht nur für Beamte: Beispielsweise wurden Angestellte
oder Arbeiter des Bezirksverbandes Nassau (ganz unabhängig von der Mordaktion) bei ihrer Einstellung per Handschlag und Unterschrift auf ihre Obliegenheiten aus der „Verordnung gegen Bestechung
und Geheimnisverrat“ verpflichtet;451 angesichts der Krankenmorde jedoch erhielt die Schweigepflicht
446
Zu Emil S. (* 1902) siehe biogr. Anhang.
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946). – Rekapituliert
man die Zusammenhänge, so ist zu vermuten, dass S. regulär von der Wehrmacht entlassen wurde, weswegen sein Anstellungsverhältnis beim BV Nassau wieder relevant wurde, während einem Einsatz in der Rüstungsindustrie eine Kündigung
beim BV Nassau oder eine Dienstverpflichtung zugunsten des Rüstungsbetriebs hätte vorausgehen müssen.
448
Ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 870 (07.01.
1947).
449
Ebd., Bd. 3, Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel, geb. Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946),
hier Bl. 46; vgl. auch ebd., Bd. 7, Bl. 244 f., Aussage „Eugen“ [richtig: Emil] S. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.
1947).
450
Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche
Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 245 f. (dort auf S. 245 Zitat „unter Drohungen [...]“, hier bezogen auf die „T4“Aktion insgesamt); ebd., Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946),
hier Bl. 72; ebd., Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache
Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“, hier mit Aussage Alfons Klein (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 161;
ebd., Bd. 7, Bl. 47, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 58,
Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 256, Zeugenaussage
Alfred T. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage
Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (27.05.1963), Durchschr., S. 5; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage
Josef Hirtreiter für d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie; ebd., H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard
Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg (21.10.1965), S. 6, Kopie.
451
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Lo., Ha., Teil 1, Bl. 9, Formular d. BV Nassau zum Hinweis auf die
Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat, hier gez. v. Koch Hans L. und LS Klein (30.01.1940). – Dort Hinweis
auf RGBl., Jg. 1917, Nr. 87 (04.05.1917), S. 393–395, Verordnung (03.05.1917); Veröffentlichung einer neuen Fassung in
RGBl. I, Jg. 1920, Nr. 34 (17.02.1920), S. 230 f., unter der Überschrift „Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat
447
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
439
nun eine völlig andere Dimension. Teilweise existierte unter der Belegschaft der Mordanstalten ein
Klima des Misstrauens, welches sich unter anderem in einem Gerücht manifestierte, das in Hadamar
unter den zu dienstverpflichteten „T4“-Verwaltungsangestellten aus Frankfurt kursierte: Demnach sollten bei Beendigung der so genannten „Aktionszeit“ alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von „T4“ zu
einer Dampferfahrt eingeladen werden und dann kollektiv ertränkt werden, um die Geheimhaltung sicherzustellen.452
Die Geheimhaltungsauflagen wurden den Betreffenden anfangs in der erwähnten, von Bernotat einberufenen Personalversammlung,453 ansonsten in Einzelgesprächen vermittelt. Im Allgemeinen hatten
die Beschäftigten bei „T4“ eine schriftliche Erklärung über die Auferlegung der Schweigepflicht zu
unterzeichnen,454 einige erinnerten sich jedoch später nur noch an eine Erteilung des Schweigegebotes
auf mündlichem Wege oder an eine Bekräftigung per Handschlag.455 In erster Linie oblag es den hauptamtlichen „T4“-Mitarbeitern, den Neueingestellten die Verpflichtungserklärung abzunehmen: Sowohl
die für die Verwaltungsorganisation Verantwortlichen („T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann456 oder
der jeweilige „T4“-Büroleiter in Hadamar457) als auch die ärztlichen Leiter der „T4“-Anstalt Hadamar
(Dr. Baumhard458 und Dr. Berner459) übernahmen diese Aufgabe. Doch gerade gegenüber dem Teil des
Personals, den „T4“ vom Bezirksverband übernahm, war es meist auch der Anstaltsdezernent Fritz
Bernotat, der die „Einschwörung“ (einschließlich der Androhung der Todesstrafe oder der KZ-Haft)
übernahm, und zwar auch noch im Sommer 1941, als „T4“ sich in der Anstalt Hadamar längst etabliert
hatte.460 Dass „T4“ Bernotat diese Rolle zubilligte, verweist auf das enge Miteinander, das sich zwinichtbeamteter Personen“ (12.02.1920). – In HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 2–4, Aussage Fritz Sch. b. d. Kriminalpolizei Ffm (05.04.1946), hier Bl. 4, heißt es: „Da ich in ähnlicher Form bei meiner Einstellung in Weilmünster verpflichtet
worden war, fand ich an dieser neuen Verpflichtung nicht besonderes, zumal ich auch auf frühren [!] Arbeitsstellen [...]
entsprechend verpflichtet worden war.“
452
Ebd. (HStA), Bd. 7, Bl. 136 bzw. 139, Aussagen d. Angeklagten Paula S. u. Judith T. bzw. d. Angeklagten Johanna Sch. im
Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947).
453
Ebd., Bd. 2, Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 47, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 70, Aussage d. Angeklagten Benedikt
Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947).
454
Ebd., Bd. 3, Bl. 100 f., Aussage Josef Hirtreiter b. d. Kriminalpolizei Ffm (21.06.1946), hier Bl. 100; ebd., Bl. 158–166,
Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15.
Oktober 1945“, hier mit Aussage Alfons Klein (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 161; ebd., Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter für d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach (27.08.1965), Kopie. – Darauf, dass „jeder, der eingestellt
wurde, eine vorgedruckte Erklärung unterschreiben mußte, die besagte, daß sich der Betreffende zur Verschwiegenheit verpflichte“ und dass „[f]ür den Fall des Bruchs dieser Verpflichtung [...] Strafen angedroht [waren], die bis zur Todesstrafe
gingen“, verweist der ehem. stv. Personalchef von „T4“: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, O, o. Bl.-Nr., Aussage Arnold Oels in
Hannover (29.08.1962), Kopie d. Durchschr.
455
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 20 f., Aussage Maximilian L. (06.04.1946), Abschr.; ebd., Bl. 24 f., Aussage August S.
(15.06.1946), Abschr., hier Bl. 24 („Handschlag“); vgl. ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG
Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 34, Bl. 38.
456
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 100, Zeugenaussage Johann B. b. d. Kriminalpolizei Ffm (23.02.1946); ebd.,
Bd. 3, Bl. 100 f., Aussage Josef Hirtreiter b. d. Kriminalpolizei Ffm (21.06.1946), Abschr., hier Bl. 100; ebd., Bd. 7, Bl. 157 f.,
Zeugenaussage August S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 24 f., Aussage August S. (15.06.1946), Abschr., hier Bl. 24; ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.
1965); vgl. auch ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 30.
457
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Josef Hirtreiter für d. LG Ffm in der Strafanstalt Butzbach
(27.08.1965), Kopie („Büroleiter Wirth oder sein Stellvertreter“); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei Ffm (06.05.1946) (Bünger); ebd., Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im
Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947) (Bünger). – Zur Auferlegung der Schweigepflicht durch Wirth in Hartheim
vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1366, Teil 1, o. Bl.-Nr., Aussage Adolf Kaufmann ggü. d. LG Ffm in München (21.07.1965),
Kopie, hier S. 8; ebd., Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Aussage Mathias B. b. d. Landesgendarmeriekommando Linz/Österreich
(22.12.1947), Kopie; ebd., Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Aussage Vinzenz N. als Beschuldigter b. d. Kriminalpolizei Linz (04.09.
1945), Kopie/Abschr.
458
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 77, Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946).
459
Ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in der Anstalt Herborn (01.03.1946), hier Bl. 115;
ebd., Bd. 7, Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947).
460
Ebd., Bd. 2, Bl. 6, Vm. d. StAnw Ffm (12.02.1946); ebd., Bl. 7 f., Aussage Josef Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar
(12.02.1946), hier Bl. 7; ebd., Bl. 42 f., Aussage Hedwig S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946), hier Bl. 42; ebd.,
Bl. 44, Aussage Emil S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw
Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 145, Aussage Irmgard Huber b. d. Kriminalpolizei Ffm (30.06.1945);
ebd., Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm an LG Limburg, 53-seitige Anklageschrift im Hadamar-Verfahren (02.04.
1946), hier Bl. 180; ebd., Bd. 7, Bl. 47, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag
440
IV. Zeit der Gasmorde
schen diesen einzelnen Verantwortlichen des Bezirksverbandes und der Mordorganisation „T4“ sehr
schnell herauskristallisiert hat.
*
Die Akquirierung von Personal für die Gasmordanstalten war für „T4“ eine potenziell schwierige Angelegenheit, da man Mitarbeiter benötigte, die sowohl ein Mindestmaß an Bereitschaft zur Mitwirkung
an der Mordaktion mitbrachten als auch die Geheimhaltung der illegalen Krankentötungen gewährleisteten. Wie frühere Untersuchungen zeigen, versuchte „T4“, die Geheimhaltung durch die Androhung
drakonischer Strafen sicherzustellen, während die Mitarbeit selbst letzten Endes nicht gegen den Willen der Betreffenden erzwungen wurde. Umso wichtiger war das Ausfindigmachen von „geeignetem“
Personal; hieran beteiligte sich der Bezirksverband Nassau 1940/41 in umfangreichem Maße.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Mordanstalt Hadamar während der Zeit der Gasmorde
1941 lassen sich – nach der unterschiedlichen Art und Weise der Personalgewinnung – in fünf Gruppen
einteilen:
Eine erste Gruppe bildeten diejenigen, die bereits seit 1939 oder 1940 bei „T4“ mitwirkten und die
überwiegend in der Ende 1940 geschlossenen Gasmordanstalt Grafeneck Dienst getan hatten. Diese
Gruppe wurde Ende 1940/Anfang 1941 von Grafeneck (in Einzelfällen auch von anderen „T4“-Einsatzorten) nach Hadamar versetzt. An deren Akquirierung hatte der Bezirksverband keinerlei Anteil.
Eine zweite Gruppe von Hadamarer „T4“-Mitarbeitern wurde zwischen Oktober 1940 und Juni 1941
vom Arbeitsamt Frankfurt mit Rückendeckung der Frankfurter Gauleitung für „T4“ dienstverpflichtet.
Auf die Betreffenden wurde das Arbeitsamt anscheinend überwiegend durch Empfehlungen, teils aus
Parteikreisen, aufmerksam. Bei den insgesamt über 30 Dienstverpflichteten (von denen 20 nach Hadamar und die übrigen in andere „T4“-Anstalten kamen) handelte es sich zu einem gewissen Teil, aber
durchaus nicht durchgehend, um überzeugte NS-Anhänger. Eine unmittelbare Mitwirkung des Bezirksverbandes (oder einzelner seiner Beschäftigten) an diesen Heranziehungen zum „Notdienst“ lässt sich
nicht nachweisen, jedoch kann die Herstellung eines Kontaktes über Anstaltsdezernent Bernotat zu
Gauleiter Sprenger vermutet werden.
Eine dritte Gruppe von Hadamarer „T4“-Mitarbeitern bildete ein Teil der bisherigen Stammbelegschaft der Landesheilanstalt Hadamar, also Beamte, Angestellte und Arbeiter des Bezirksverbandes
Nassau. Der Bezirksverband Nassau ordnete 13 von ihnen – gegen Erstattung der Personalkosten – an
„T4“ zur Mitwirkung an der Mordaktion ab. Es war nur eine grobe Vorauswahl getroffen worden, um
die „unsichersten“ Beschäftigten herauszufiltern und von der Abordnung auszunehmen.
Eine vierte Gruppe repräsentierten die mindestens zwölf Beschäftigten (überwiegend Pflegekräfte)
der Landesheilanstalten Weilmünster und Herborn, die der Bezirksverband erst während der Morde
nach Hadamar versetzte und zu „T4“ abordnete. In diesen Fällen wurden die Betreffenden gezielt ausgewählt, eine erwartete Eignung für die Mitarbeit an der Mordaktion und eine langjährige Parteikarriere wurden nun zu Kriterien für die Abordnung durch den Bezirksverband. Auch hier erfolgte eine
Erstattung der Personalkosten durch „T4“.
Die fünfte und letzte Gruppe bildeten schließlich einzelne Personen, die auf Vermittlung und Empfehlung vermutlich aus Kreisen des Bezirksverbandes von „T4“ als Mitarbeiter gewonnen wurden,
obgleich die Betreffenden nicht (oder nicht aktuell) Beschäftigte des Bezirksverbandes waren. Dies
dürfte zutreffen auf den Arzt Hans Bodo Gorgaß, der ab Juni 1941 stellvertretender ärztlicher Leiter
der Mordanstalt Hadamar wurde, vermutlich auch auf dessen Chef, Dr. Friedrich Berner. Die Kenntnisse über deren Anwerbung für „T4“ in Verbindung mit der Herkunft der beiden aus dem Regierungs(25.02.1947); ebd., Bl. 58, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd.,
Bl. 70, Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 103, Aussage d.
Angeklagten Paul H. im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1359, Bl. 4, Aussage
Hedwig S. (o. D.), Abschr.; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Irmgard Huber ggü. d. LG Ffm in Wasserburg
(21.10.1965), Kopie, S. 6; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (06.09.1965), Kopie; Schmidtvon Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 81.
2. Mitwirkung bei der Vorbereitung der Gasmorde
441
bezirk Wiesbaden lassen insbesondere bei ihnen (aber auch bei einzelnen anderen) eine Vermittlung
durch Anstaltsdezernent Bernotat und/oder den Eichberger Direktor Dr. Mennecke als nahe liegend
erscheinen.
Durch die Abordnungen, Empfehlungen und Vermittlungsdienste profilierte der Bezirksverband
Nassau sich als verlässlicher Partner von „T4“ bei der personellen Ausstattung der „T4“-Anstalt Hadamar. Zwar spielte streckenweise auch das Eigeninteresse des Bezirksverbandes eine Rolle, seine vorübergehend nicht benötigten Mitarbeiter schnell und kostenneutral unterzubringen, doch letztlich
überwog die Bereitschaft, durch Mitwirkung an der Personalakquirierung das Funktionieren der Mordanstalt zu unterstützen und sicherzustellen. Im Vergleich mit anderen Anstaltsträgern stellt die freiwillige Abordnung eines ganzen Teams an „T4“ (ohne eine Heranziehung zum „Notdienst“) einen im
Deutschen Reich seltenen Fall dar. Wie schon bei Abtretung des Hadamarer Anstaltsgebäudes an „T4“
waren auch die Personalabordnungen zunächst ein Vorgang, der von wenigen Personen innerhalb des
Bezirksverbandes initiiert wurde. In diesem Fall aber wurde nun ein weiterer Kreis von Bezirksverbandsbeschäftigten involviert: Zum einen selbstverständlich die Abgeordneten selbst, die von nun ab
an den Morden der Krankentötungsorganisation mitwirkten, darüber hinaus aber auch die Verwaltungsbeamten und -angestellten in der Personalabteilung des Bezirksverbandes und in der Landesheilanstalt Hadamar, die die Abordnungen administrativ betreuten und abwickelten – im Rahmen der Personalverwaltung und der Abrechnung der ausgelegten Personalkosten gegenüber „T4“. Schließlich
wurden Beamte des Bezirksverbandes (Anstaltsdezernent Bernotat, aber auch die ersten Verwaltungsbeamten in den Anstalten) aktiv, um die abgeordneten Belegschaftsangehörigen auf ihre künftige Tätigkeit vorzubereiten oder sie auf die Geheimhaltungsbestimmungen und die Strafandrohung einzuschwören.
In der Praxis vermischten sich in Hadamar wie in wohl keiner anderen „T4“-Mordanstalt die Sphären von Organisation „T4“ und von bisherigem Anstaltsträger. Um eine gute Zusammenarbeit und
einen reibungslosen Ablauf der Mordaktion zu gewährleisten, griff sowohl „T4“ als auch der Bezirksverband mitunter über den vereinbarten Aufgabenkreis hinaus. Die gemeinsame Aufgabe der Krankentötungen, die der Organisation „T4“ ohnehin übertragen war und die der Bezirksverband sich insbesondere durch die Haltung seiner Führungsmannschaft zu eigen gemacht hatte, ließ eine kleinlich
erscheinende bürokratische „Geschäftsverteilung“ in den Hintergrund treten.
442
3. Kooperation während der Gasmorde
a) Krankenverlegungen und Unterhaltung von „Zwischenanstalten“
Etwa zur selben Zeit, als Anstaltsdezernent Bernotat für den Bezirksverband Nassau die Überlassung
der Anstalt Hadamar an „T4“ betrieb, fiel in Absprache mit ihm1 auch die Entscheidung, die übrigen
Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau (Eichberg, Weilmünster, Herborn) sowie die beiden
von ihm geleiteten Privatanstalten (Kalmenhof/Idstein und Scheuern) künftig als so genannte „Zwischenanstalten“ zu nutzen: dort sollten die Opfer aus dem größten Teil des „Einzugsgebietes“ der
„T4“-Anstalt Hadamar (nämlich aus dem Bezirk Kassel, den Provinzen Hannover und Westfalen sowie
aus dem Land Hessen) für die letzten Wochen vor ihrer Ermordung einquartiert werden.2 Hinzu kamen
vier weitere, nicht im Regierungsbezirk Wiesbaden liegende „Zwischenanstalten“: In den beiden rheinischen Provinzialheilanstalten3 Andernach bei Koblenz und Galkhausen bei Köln wurden die Patientinnen aus der Rheinprovinz vorübergehend untergebracht, und die badische Anstalt Wiesloch bei
Heidelberg sowie die württembergische Anstalt Weinsberg bei Heilbronn dienten der zwischenzeitlichen Einquartierung der verbliebenen Menschen aus Baden bzw. Württemberg, die zur Ermordung
vorgesehen, aber noch nicht in Grafeneck umgebracht worden waren.4 Die Zahl der „Zwischenanstalten“ für die Gasmordanstalt Hadamar addierte sich somit auf neun.5
Solche „Zwischenanstalten“ hatte „T4“ nicht von Anfang an genutzt, sondern sie wurden erst im
Laufe des Jahres 1940 eingeführt, um die Transporte der Opfer in Mordanstalten wie Hadamar besser
organisieren zu können:6 Die psychisch kranken Menschen aus dem „Einzugsgebiet“ wurden von ihrer
„Ursprungsanstalt“ zunächst in eine der „Zwischenanstalten“ in der Nähe der Mordanstalt gebracht und
erst dann von Hadamar aus per Bus abgeholt, sobald dort „Kapazitäten“ in der Gaskammer frei waren.
Dieses System ermöglichte eine genauere Planung, es sollte zudem Kraftstoffersparnisse mit sich bringen, da die „Transporte“ bis zu den Zwischenanstalten nun auch per Bahn abgewickelt werden konnten, während für den direkten Weg zur Mordanstalt aus Gründen der Planbarkeit und Geheimhaltung
nur Busse genutzt wurden.7 Darüber hinaus ersparte „T4“ sich nun die Kosten der „Bustransporte“ über
weite Strecken, denn die Aufwendungen für die Verlegungen in Zwischenanstalten waren von den
„Ursprungsanstalten“ selbst zu tragen.8 Einen Aspekt, durch den die Anstalt Hadamar sich von den
1
Bernotats Zustimmung, die ohnehin nahe liegt, wird auch bestätigt durch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 138–144,
Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vors. d. 4. Strafkammer b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier
Bl. 141.
2
Zur „Zwischenanstalt“ Eichberg siehe insg. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 20–22; Sandner, Eichberg (1999),
S. 189. – Zur „Zwischenanstalt“ Weilmünster siehe insg. ders., Landesheilanstalt (1997), S. 135–137.
3
Zu den beiden rheinischen „Zwischenanstalten“ siehe Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138–140; siehe auch Kaminsky,
Zwangssterilisation (1995), S. 342.
4
Vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–
22.12.1964), Kopie, hier S. 19 (03.12.1964), über eine Besprechung ca. Ende 1940/Anfang 1941 in Stuttgart mit Dr. Eugen
Stähle vom MdI: „Bei dieser Besprechung mit Dr. Staehle ging es um Kranke, die in verschiedenen württembergischen Anstalten saßen, für die Aktion vorgesehen waren, aber noch nicht abgeholt worden waren. [...] Das Ergebnis dieser Besprechung
bestand nach meiner Erinnerung darin, daß der erwähnte Personenkreis nun in einer oder zwei Anstalten zusammengefasst
werden sollte.“ – Zur Datierung siehe auch ebd., S. 25 (04.12.1964). – Auf eine Verlegung aus der württembergischen Anstalt
Weißenau nach Hadamar wird hingewiesen in StA Sigmaringen, Wü 29/3, Bü 1756, Bericht der Heilanstalt Weißenau für die
StAnw im Grafeneck-Prozess, hier n. Lang, Anzeige (1996), S. 129 (Anm. 425) (hierbei bleibt jedoch offen, ob es sich um
eine Direktverlegung handelte oder ob die „Zwischenanstalt“ Weinsberg einbezogen war).
5
Zu diesen 9 „Zwischenanstalten“ für Hadamar siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986),
S. 85 f.; entsprechend auch Hadamar (1991), S. 86 f. (Kat. Nr. 59: „Einzugsgebiet und Zwischenanstalten für Hadamar“).
6
Als erste bekannte „Zwischenanstalt“ gilt die Anstalt Neuruppin, in die ab Sommer 1940 psychisch kranke Menschen aus
Berlin verlegt wurden, die anschließend in Brandenburg ermordet wurden: Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 286; auch in die
Mordanstalt Grafeneck wurden 1940 bereits Opfer über „Zwischenanstalten“ verlegt: Stöckle, Aktion (1996), S. 22. – Nach
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964),
hier S. 23 (04.12.1964), S. 38 f. (15.12.1964), Kopie, soll die Einführung der „Zwischenanstalten“ auf Vorschlag des ärztlichen „T4“-Leiters Heyde erfolgt sein; vgl. dazu auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof.
Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 346 f.
7
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964),
hier S. 22 (04.12.1964), Kopie.
8
Siehe z. B. Psychiatrisches Krankenhaus in Wunstorf, Registratur, Schreiben d. PV Hannover an die Anstalt Wunstorf
(25.03.1941), hier zit. n. dem Abdr. b. Finzen, Dienstweg (1983), S. 72–74, hier S. 73: „Die Transporte sind auf Kosten der
3. Kooperation während der Gasmorde
443
übrigen „T4“-Anstalten der Jahre 1940/41 unterschied und von diesen abhob, entdeckt Schulze: „Die
geringere Entfernung zwischen der ‚Euthanasie‘-Anstalt Hadamar und den ihr zugeordneten Zwischenanstalten ermöglichte, daß die Gekrat-Busse zum Teil zweimal am Tag Patienten abholen konnten. Damit ist auch die höhere Zahl der Opfer zu erklären, obwohl die technischen Voraussetzungen
(Größe der Gaskammer, Anzahl der Öfen) ansonsten ähnlich waren.“9 Neben solchen praktischen
Gründen diente die Einführung von „Zwischenanstalten“ nicht zuletzt der Täuschung der Angehörigen,10 denen so eine Ermittlung des Aufenthaltsortes ihrer Familienmitglieder erschwert wurde.11
Ende November 1940 gab „T4“ bei einer Sitzung in der Berliner Tiergartenstraße, an der Dr. Friedrich Mennecke, aber beispielsweise auch mehrere sächsische Anstaltsdirektoren teilnahmen, neben der
anstehenden Eröffnung der neuen „T4“-Anstalt Hadamar auch die generelle Einführung des neuen
Systems der „Zwischenanstalten“ bekannt. Mennecke berichtete, dass „an Hand [...] einer Landkarte
vom Deutschen Reich, die mit Fähnchen besteckt war, erläutert [wurde], daß eine Planung bestände für
die Anstalt Hadamar als sogenannte Euthanasie-Anstalt. Und im Rahmen dieser Planung für Hadamar
wurden als weiteres Vorhaben die umliegenden Anstalten um Hadamar herum als sogenannte Zwischenanstalten vorgesehen“.12
Im Vorfeld der Patientenverlegungen informierten die Trägerbehörden der Anstalten (also die preußischen Provinzial- und Bezirksverbände, die Länder- oder Reichsgauverwaltungen) die ihnen unterstehenden Einrichtungen über die geplanten „Transporte“. Damit übernahmen die Behörden die Mittlerfunktion zwischen „T4“ (wo die „Transportlisten“ mit den zur Ermordung bestimmten Opfern
erstellt wurden) bzw. dem Reichsinnenministerium (das das Verfahren durch seine Begleitschreiben
scheinbar legitimierte) und den Anstalten, aus denen die Opfer nun in die „Zwischenanstalten“ verlegt
werden sollten.13 Nur in Einzelfällen in der Frühphase, etwa in Baden14 und Württemberg15 im November 1939, hatten die Länderregierungen die Verlegungen grundsätzlich per Erlass angekündigt, während die Verlegungen selbst anschließend von der „T4“-Organisation „Gekrat“ ausgeführt wurde.16 In
späterer Zeit aber ließen die vorgesetzten Behörden den Anstalten die fertigen „Transportlisten“ einfach per Post oder durch persönliche Übergabe zukommen und verbanden dies mit der Anordnung, die
Abholung der Kranken durch die „Gekrat“ vorzubereiten oder sogar die Verlegungen in die vorgegebenen „Zwischenanstalten“ mit eigenem Personal selbst durchzuführen. Entsprechende Vorgehensweisen sind beispielsweise festzustellen in Bayern,17 in Berlin18 sowie generell im Einzugsbereich der
Anstalten von diesen selbst durchzuführen. Ich ersuche daher, mit den zuständigen Stellen der Reichsbahn wegen Stellung der
Eisenbahnwagen unmittelbar zu verhandeln.“
9
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 87 (Anm. 103).
10
Nach Friedlander, Weg (1997), S. 187, dienten die „Zwischenanstalten [...] zweifellos zur Täuschung der Öffentlichkeit und
zur Wahrung der Geheimhaltung“. – Dagegen zieht der Autor organisatorische Gründe nicht in Betracht.
11
Zur Funktion der „Zwischenanstalten“ bereits grundlegend die Darstellung bei Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 263–269;
grundsätzlich auch Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 84–86; ebd. auf S. 110–115 auch Ausführungen zur flexiblen Handhabung
des Systems und der Umgehung der „Zwischenanstalten“ in Einzelfällen; zu den 8 „Zwischenanstalten“ für Bernburg (die Anstalten Görden, Neuruppin, Teupitz u. Wittstock des PV Mark Brandenburg, die Anstalten Jerichow, Uchtspringe, Altscherbitz
des PV Sachsen sowie Königslutter des Landes Braunschweig) siehe ebd., S. 87–110; zu den 4 sächsischen „Zwischenanstalten“ für Pirna (Arnsdorf, Großschweidnitz, Waldheim und Zschadraß) siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 128–149.
12
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 20 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. HvTag (03.12.1946) (Zitat auf Bl. 20); vgl. auch ebd., Bd. 2, Bl. 17–26, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Beschuldigter b. d.
OStAnw b. d. LG Ffm (02.–13.05.1946), hier Bl. 18 (02.05.1936), Bl. 20 (03.05.1936) (allerdings mit vielen Ungereimtheiten);
ebd., Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vors. d. 4. Strafkammer b. d. LG
Ffm (10.11.1946), hier Bl. 141; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 266 f. (dort auf S. 266 auch Datierung der Konferenz auf den
27.11.1940); Sandner, Eichberg (1999), S. 188. – Zur Teilnahme der sächsischen Direktoren: Schilter, Ermessen (1999), S. 88.
13
Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 80, stellt dar, die Anweisungen seien den Anstalten „entweder unmittelbar oder über das
für sie zuständige Innenministerium der Länder [!]“ zugegangen. – Eine unmittelbare Zusendung dürfte jedoch einen Ausnahmefall darstellen.
14
MdI Baden, Karlsruhe, Erl. No 87 431 9 (29.11.1939), abgedr. b. Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 218; vgl. auch Stöckle,
Aktion (1996), S. 21.
15
Zentrum für Psychiatrie Weißenau, Registratur, RMdI Württ., Erl. Nr. X 4792 (23.11.1939), zit. b. Stöckle, Aktion (1996),
S. 21. – Später kündigte das MdI Württemberg die Verlegungen auch noch konkret an: Stöckle, Aktion (1996), S. 21.
16
Einen Sonderfall stellen die Anstaltsleiter aus der Reichshauptstadt Berlin dar, die Anfang 1940 – wohl bedingt durch die
räumliche Nähe – sogar von „T4“ selbst informiert wurden: Hühn, Psychiatrie (1989), S. 192, mit Hinweis auf die Aussage
Dr. Hans Hefelmann (1960).
17
Friedlander, Weg (1997), S. 148 f., mit Hinweis auf Nürnb. Dok. NO-1131 bis NO-1134 zur Anstalt Eglfing-Haar (18.10.
1940, 14.01.1941, 13.02.1941); siehe insb. NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc.
444
IV. Zeit der Gasmorde
„T4“-Anstalt Bernburg,19 im Land Sachsen,20 schließlich auch im Hadamarer „Einzugsgebiet“,21 beispielsweise in den Provinzen Westfalen22 und Hannover23. Teilweise, wie beispielsweise in der Rheinprovinz, kündigte die zuständige Abteilung die bevorstehenden Wegverlegungen im Rahmen einer
Anstaltsleiterkonferenz an.24 Am Beispiel der Provinz Hannover kommen Seidel/Sueße zum Ergebnis:
„Die Durchführung der Verlegungen in der Provinz Hannover lag organisatorisch ganz in den Händen
der Provinzialverwaltung.“25
Die Anweisungen der vorgesetzten Behörden waren dabei zum Teil sehr affirmativ abgefasst, etwa
machte sich die Leitung des Provinzialverbandes Sachsen in Merseburg die Verlegungsaktion zu Eigen
und formulierte: „Die Abholung der Kranken erfolgt in meinem Auftrage durch die Gemeinnützige
Kranken-Transport G. m. b. H., die sich mit Ihnen ins Benehmen setzten wird.“26 Ähnlich bestimmt
artikulierte sich der bayerische Medizinaldezernent: „Im Auftrage des Reichsverteidigungskommissars
ordne ich die Verlegung von 140 Kranken aus Ihrer Anstalt an. Die Verlegung wird voraussichtlich am
24. Januar 1941 erfolgen.“27 Allenfalls im Ton zurückhaltender klingt die Formulierung des Provinzialverbandes in Hannover, die allerdings im Kern dasselbe aussagte: „Ich ersuche Sie, auf höhere Anweisung hin die Verlegung vorzunehmen [...]. [...] Die Aufnahmeanstalten sind mir unbekannt. Sie liegen
in Nassau. Ich werde sie Ihnen bald mitteilen.“28 Allein in der Rheinprovinz soll den Direktoren nach
deren Aussagen „empfohlen worden [sein], alle Möglichkeiten zur Zurückhaltung von Patienten auszuschöpfen, aber keinen Boykott zu versuchen, weil dies sinnlos wäre.“29
Wie die übrigen Anstaltsträger im „Einzugsgebiet“ der Gasmordanstalt Hadamar beteiligte sich auch
der Bezirksverband Hessen (Kassel) an der Instruierung der ihm zugehörigen Landesheilanstalten,
nachdem die ersten „Transportlisten“ in Kassel eingegangen waren.30 Unter Federführung des Anstaltsreferenten Karl Rücker, der sich mit Landeshauptmann Traupel entsprechend abgesprochen hatte,31
trug die Hauptverwaltung des Verbandes den drei Anstaltsdirektoren aus Haina, Marburg und Merxhausen erstmals Mitte April 1941 zunächst schriftlich auf, die in den übersandten „T4“-“Transportlisten“ genannten Patientinnen und Patienten in die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ Herborn, Weilmünster, Scheuern und Idstein zu verlegen. Wie auch andere Anstalten im Jahre 1941 hatten nun auch
die nordhessischen Anstalten selbst „die Transportmittel zu besorgen und den Transport zu begleiten.“32 Offensichtlich entstand aus Sicht von Landeshauptmann Traupel allerdings noch einmal der
Bedarf, die drei Direktoren auf die Verlegungsanweisung „einzuschwören“. So hielt der LandeshauptNO-1134, Staatsministerium des Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.
1941), hier zit. n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr.
18
Vgl. StA Potsdam, Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Reinickendorf der Reichshauptstadt Berlin, Wittenauer
Heilstätten, an Landesanstalt Neuruppin (07.09.1940), hier n. d. Faks. b. Hühn, Psychiatrie (1989), S. 190.
19
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 77 f.
20
Schilter, Ermessen (1999), S. 87.
21
Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 85/87.
22
Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; ders., Psychiatrie (1996), S. 719–722.
23
Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 62–64, S. 78, S. 82 f.
24
Am 29.03.1941 in Düsseldorf unter Leitung von Medizinaldezernent Dr. Walter Creutz: Werner, Rheinprovinz (1991);
Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 342; LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1223, Bl. 556–561, Urteil d. OLG Koblenz im
Strafverfahren u. a. gegen den ehem. Dir. d. Anstalt Andernach, Az. SS 228/50 (o. D. [Sitzungsdatum: 05.04.1951]), hier
Bl. 557.
25
Seidel/Sueße (1991), S. S. 257.
26
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 253, o. Bl.-Nr., hier zit. n. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 77.
27
NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-1134, Staatsministerium des Innern,
gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.1941), hier zit. n. d. begl. Kopie in HStA
Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr.
28
Psychiatrisches Krankenhaus in Wunstorf, Registratur, Schreiben d. PV Hannover an die Anstalt Wunstorf (25.03.1941),
hier zit. n. dem Abdr. b. Finzen, Dienstweg (1983), S. 72–74, hier S. 73; siehe auch Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 78.
29
Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138. – Zu den anfänglichen Bedenken des Düsseldorfer LHs Haake gegen die „T4“Aktion siehe auch Kap. IV. 2. a).
30
Schreiben [„T4“,] Gekrat, an BV Hessen (10.04.1941), zit. b. Klüppel „Euthanasie“ (1984), S. 38 f.
31
Siehe dazu Kap. IV. 2. b).
32
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1449–1454, Bericht von Prof. Dr. Langelüddeke, Marburg, für Spruchkammer II
Marburg-Stadt (05.09.1947), Abschr., hier Bl. 1451 (der ehem. Marburger Direktor datiert die schriftl. Anweisungen auf den
16. u. 17.04.1941); trotz der aktiven Rolle bei der Organisation der Verlegung war Langelüddeke später bemüht, den Anteil
herunterzuspielen: „Die [...] Aufgabe bestand lediglich darin [...]“). – In der LHA Merxhausen traf die erste von drei „Transportlisten“ am 18.04.1941 ein: LWV, Best. 17/130.
3. Kooperation während der Gasmorde
445
mann nur wenige Tage später, am 21. April 1941 (und damit lediglich eine Woche vor seinem Ausrücken zur Wehrmacht), im Kasseler Ständehaus noch eine Besprechung mit den drei Anstaltsleitern ab.
Auf dieser Konferenz, an der auch Anstaltsreferent Rücker teilnahm, versuchte Traupel, den Direktoren die Wichtigkeit der „Aktion“ nahe zu bringen. Der Landeshauptmann teilte – nach einer Darstellung des Hainaer Direktors Dr. Erich Zeiss (welche auch von dessen Marburger Amtskollegen und von
Anstaltsreferent Rücker bestätigt wurde) – mit, er habe „sich im Innenministerium über die Angelegenheit unterrichten lassen und dort erfahren, dass die Anordnungen auf einem vom Führer erlassenen
Gesetz beruhten [...]. Die Rechtmässigkeit der geplanten Massnahmen könne [...] nicht zweifelhaft
sein.“ Er habe das entsprechende Gesetz, das aufgrund der Kriegsverhältnisse nicht veröffentlicht
werden könne, eingesehen. Traupel habe dann den Anwesenden, die nach den Worten Rückers „von
dieser Eröffnung etwas betroffen waren“, anschließend eine Schweigepflicht auferlegt und bei Verstößen schwere Strafen angekündigt.33 Die drei Anstaltsleiter organisierten daraufhin die Verlegungen per
Bahn34 und ließen zwischen April und September 1941 nahezu 1.200 Menschen aus dem Bezirk Kassel
in die „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden bringen, von wo aus die meisten nur wenige Wochen später durch die „Gekrat“ zur Ermordung nach Hadamar weiterverlegt wurden.35 Durch
sein Eingreifen stellte Landeshauptmann Traupel eine reibungslose Abwicklung der angeforderten
Beihilfe durch die nordhessischen Anstalten sicher, wobei eine möglicherweise im Einzelfall reservierte Haltung der Anstaltsleitungen allenfalls in begrenztem Maße eine Rolle spielen konnte.36
Doch letztlich scheint ein engagiertes Eingreifen der vorgesetzten Dienststelle für eine reibungslose
Organisation der Verlegungen meist nicht einmal unbedingt erforderlich gewesen zu sein, wie ein
Blick auf das Land Hessen zeigt. Der in Darmstadt amtierende Medizinalreferent Dr. Jakob Schmitt37
beschränkte seine Unterstützung anscheinend darauf, die von „T4“ kommenden Informationen an die
Direktoren weiterzuleiten.38 Nach einer Nachkriegscharakterisierung verkörperte Schmitt den „typi33
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Zeiß, Erich, Dr., Bl. 56–58, nicht unterzeichneter „Bericht des Dr[.] med.
E[.] Zeiss über die Verlegung von geisteskranken Männern aus der Landesheilanstalt Haina in die Heil- und Erziehungsanstalt
Calmenhof und in die Landesheilanstalt Weilmünster“ (o. D. [Eingangsstempel d. LH in Kassel: 08.02.1947]), hier Bl. 56. –
Entsprechend HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1449–1454, Bericht von Prof. Dr. Langelüddeke, Marburg, für Spruchkammer II Marburg-Stadt (05.09.1947), Abschr., hier Bl. 1450; ebd., Bd. 6, Bl. 806 f., Aussage Karl Rücker b. d. Kriminalpolizei Kassel (19.12.1946), Abschr., hier Bl. 807; ebd., Bd. 7, Bl. 175 f., Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm,
5. Hv-Tag (04.03.1947) (auf Bl. 175 Zitat „[...] etwas betroffen [...]“); vgl. auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug.
1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 84–86, LdsR a. D. Dr. jur. Schellmann, Kassel, an KV Kassel, betr. „Spruchkammerverfahren gegen Professor Dr. med. Langelüddeke“ (29.10.1947), hier Bl. 85; siehe auch LWV, Best. 17, [BV Hessen,] „Niederschrift über die Besprechung am 21. 4. 1941 aus Anlass der Verlegung von rund 600 Geisteskranken aus den
Landesheilanstalten Haina, Marburg und Merxhausen in nassauische Anstalten“, gez. PVR Rücker (23.04.1941), hier nach
dem Faks. b. Klüppel, „Euthanasie“ (1984), S. 40 f.; siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1996), S. 431 f.
34
Ein überliefertes Foto (30.05.1941) zeigt elf Schwestern der LHA Merxhausen vor und in einem Eisenbahnwaggon auf dem
Bahnhof Herborn, wohin sie 165 Patientinnen begleitet haben: Hadamar (1991), S. 85 (Kat. Nr. 62).
35
Die folgenden Daten ergeben addiert eine Summe von 1.193 aus Anstalten des BV Hessen in die „Zwischenanstalten“
verlegten Menschen. – Zur Verlegung von 226 Menschen aus der LHA Marburg in die „Zwischenanstalten“ Herborn, Scheuern und Weilmünster im Zeitraum 28.04.1941 bis 05.09.1941 siehe Lilienthal, Opfer (2001), S. 281 f. (Tab. 5 u. 6); siehe auch
LWV, Best. 16/806, 847, 865; zum Schicksal eines Marburger Patienten, der über die „Zwischenanstalt“ Scheuern nach
Hadamar verlegt und dort ermordet wurde, siehe exemplarisch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 621, RA Dr. T.,
Marburg, an LG Ffm, IV. Strafkammer (29.11.1946), mit div. Anlagen (Bl. 622–625), u. a. Verlegungsmitteilung, Sterbeurkunde und „Trostbrief“ in Abschrift. – Zur LHA Merxhausen siehe LWV, Best. 17/130, worin sich „Transportlisten“ mit
annähernd 700 Personen finden; siehe auch ebd., 17/137, Bl. 208, LHA Herborn, gez. Dr. Schiese, an Dir. d. LHA Merxhausen, betr. „Verlegung von Patientin [= Patienten] aus der dortigen Anstalten nach hier“ (26.05.1941), auch abgedr. b. Klee,
„Euthanasie“ (1983), S. 180 f., sowie in Hadamar (1991), S. 90 f. (Kat. Nr. 63); 506 Menschen wurden schließlich von Merxhausen aus in „Zwischenanstalten“ verlegt: Klüppel, „Euthanasie“ (1984), S. 42. – Zur Verlegung von 461 Patient/inn/en der
LHA Haina siehe Klüppel, „Euthanasie“ (1984), S. 52; zur LHA Haina siehe auch BA, R179/5225 u. 5392, woraus hervorgeht, dass Dir. Dr. Zeiss sich die Patientenakten der Betroffenen noch einmal vorlegen ließ und die bevorstehende Verlegung
durch einen „Gesehen“-Vm. (hier z. B. vom 27. bzw. 29.04.1941) bestätigte.
36
Zur uneindeutigen Haltung des Marburger Direktors Langelüddeke siehe Lilienthal, Opfer (2001), S. 295–302; vgl. auch
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 84–86, LdsR a. D. Dr. jur. Schellmann, Kassel, an KV Kassel, betr. „Spruchkammerverfahren gegen Professor Dr. med. Langelüddeke“ (29.10.1947), hier
Bl. 84 (dort die allerdings tendenziöse Behauptung, die 3 Direktoren seien alle mit den Krankentötungen insb. wegen des
Vertrauensverlustes bei der Bevölkerung nicht einverstanden gewesen).
37
Zu Dr. med. Jakob Schmitt (1890–1949) siehe biogr. Anhang.
38
So z. B. die Mitteilung, dass die „Gekrat“ „die anläßlich der Verlegung von Kranken entstehenden Transportkosten nicht
übernehmen“ könne und dass daher „[d]iese Kosten [...] aus Anstaltsmitteln zu bestreiten“ seien: LWV, Best. 14/174, Reichsstatthalter in Hessen, Landesregierung, Abt. III (Innere Verwaltung), gez. Dr. Schmitt, an LHPAen Goddelau u. Heppenheim,
446
IV. Zeit der Gasmorde
schen Beamten, der eben jeden Befehl weitergab, ob er nun verbrecherisch war oder nicht, da er alles[,]
was er tat[,] ja gewißermaßen [!] nur im Auftrage unterzeichnete.“39 Indirekt bestätigte Schmitt selbst
im Jahr 1947 diese seine Haltung: „Ich versuchte immer[,] notwendige angeordnete Maßnahmen, auf
die ich keinen Einfluß hatte, den Betroffenen in anständiger Form begreiflich zu machen.“40 Es wirkte
letztlich keineswegs bremsend, dass Schmitt – so die Einschätzung des Nieder-Ramstädter Anstaltsdirektors Pfarrer Schneider – „innerlich die Aktion wohl nicht gutgeheißen haben wird und daß er dementsprechend im Sinne der Aktion nur das unternahm, wozu er kraft seiner amtlichen Stellung verpflichtet wurde“.41 Die Leiter der Landes-Heil- und Pflegeanstalten sowie der Landes-Alters- und
Pflegeheime des Landes Hessen verlegten nämlich, ohne dass irgendwelche Einsprüche bekannt geworden wären, über 1.400 ihrer Patientinnen und Patienten, die auf den „T4“-“Transportlisten“ genannt
wurden, in die „nassauischen“ Zwischenanstalten;42 sie verhielten sich damit ebenso wie die Leiter der
Einrichtungen anderer Regionen, die besonders instruiert worden waren. Möglicherweise machten die
Direktoren in Hessen aufgrund der ausbleibenden Kommunikation mit der vorgesetzten Behörde sogar
weniger von einer ansonsten zugestandenen Möglichkeiten der Patientenrückstellung Gebrauch als die
Anstaltsleiter in anderen Reichsteilen.43
Weit wichtiger als eine mögliche Unterrichtung und Einbindung der Leiter der „Ursprungsanstalten“
(etwa in Nordhessen oder in „Hessen-Darmstadt“) war die Instruierung der Direktoren der künftigen
„Zwischenanstalten“ im Bereich des Bezirksverbandes Nassau selbst. Hier überließ Traupel das Feld
voll und ganz dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten Bernotat. Dieser stattete den Direktoren der ihm
unterstehenden privaten Behinderteneinrichtungen persönlich einen Besuch ab und weihte sie in die
bevorstehende Funktion ihrer Anstalten ein.44 So erklärte er dem Scheuerner Direktor Todt sowie dem
dortigen Anstaltsarzt, „dass demnächst innerhalb der Anstalten Verlegungen stattfinden müssten [...,]
über die grösste Verschwiegenheit gewahrt werden müsse.“45 Dagegen rief Bernotat die ärztlichen
Leiter der bezirksverbandseigenen Landesheilanstalten (einschließlich des längst informierten Eichberger Direktors Dr. Mennecke) zu einer Konferenz in die Anstalt Weilmünster zusammen. Bei diesem
betr. „Verlegung von Kranken“ (22.03.1941), hier Exemplar an LHPA Heppenheim. – Falsch ist demnach Schmitts Behauptung, er habe nach der Meldebogenerfassung „nichts mehr amtlich mit dieser Angelegenheit zu tun gehabt“ und er habe „in
keiner Weise die Aktion gefördert, zumal ich mit diesen Dingen dienstlich nicht mehr befaßt worden bin“: StA Da, Abt. H 13,
Nr. 191, Hauptakte, Bl. 100–104, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. d. LG Darmstadt (03.12.1948), hier Bl. 102.
39
So die Wertung des angehenden Mediziners Fred Mielke (gemeinsam mit Alexander Mitscherlich Autor von Dokumentationen über den Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 [Mitscherlich/Mielke, Diktat (1947); dies., Medizin (1960)]), der Schmitt
allerdings nicht persönlich kannte: ebd. (StA Da), Bl. 125, Fred Mielke, Heidelberg, an RP Darmstadt (22.12.1948).
40
Ebd. (StA Da), Bl. 50, Aussage Dr. Jakob Schmitt b. Polizeipräsidium Darmstadt (08.01.1947). – Die konkrete Aussage
bezieht sich auf Gespräche mit Angehörigen verlegter Patient/inn/en.
41
Ebd. Bl. 76–78, Zeugenaussage Pfarrer Schneider, Nieder-Ramstadt, ggü. d. LG Darmstadt (24.11.1948), hier Bl. 76.
42
Zur Verlegung von 83 Männern u. 99 Frauen aus den LHPAen Heppenheim u. Goddelau sowie aus den Landes-Alters- u.
Pflegeheimen Heidesheim u. Darmstadt-Eberstadt in die „Zwischenanstalt“ Eichberg im Zeitraum 22.04.–11.06.1941 siehe
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 118 f., LHA Eichberg, Übersichten „Zugänge aus anderen Anstalten [in den Jahren
1941–1944]“ (o. D. [erstellt wahrscheinlich Feb./März 1946]). – Zur Verlegung von 66 Männern u. 115 Frauen aus den
LHPAen Alzey, Heppenheim u. Goddelau in die „Zwischenanstalt“ Scheuern im Zeitraum 03.04.–09.05.1941 siehe AHS,
Hauptkrankenverzeichnis (Einträge 1941); zum Schicksal einer Frau, die 1941 von der LHPA Heppenheim über die „Zwischenanstalt“ Scheuern nach Hadamar verlegt u. dort ermordet wurde, siehe exemplarisch StA Da, Abt. H 13, Nr. 191, Hauptakte, Bl. 48, Aussage d. Vaters Heinrich H. b. Polizeipräsidium Darmstadt (02.06.1945), Abschr. – Zur Verlegung von 530
Männern u. 527 Frauen aus den LHPAen Alzey, Heppenheim, Gießen u. Goddelau sowie aus den Landes-Alters- u. Pflegeheimen Gießen u. Darmstadt-Eberstadt in die „Zwischenanstalt“ Weilmünster im Zeitraum mindestens 21.02.–12.05.1941
siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Liste der „Zwischenanstalts“patienten der LHA Weilmünster (o. D. [erstellt Ende
1945/Anfang 1946]) sowie LWV, Best. 19/14, Hauptkrankenverzeichnis d. LHA Weilmünster (Eintragungen 1941); zum
Schicksal einer Frau, die 1941 von der LHPA Goddelau über die „Zwischenanstalt“ Weilmünster nach Hadamar verlegt u.
dort ermordet wurde, siehe exemplarisch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 1154, Bl. 1 f., (Vater) Alexander B., Bad Homburg, Strafantrag gegen Dr. Schneider, Weilmünster, wegen „Mithilfe am Mord“ (22.10.1945). – Die Summe der aus dem Land Hessen in
„Zwischenanstalten“ Verlegten (1.420) muss als Mindestzahl angesehen werden, da in Einzelfällen weitere (nicht dokumentierte) Verlegungen nicht ganz auszuschließen sind.
43
Zu den Rückstellungen siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). – Anders als etwa bei den Anstalten d. BV Hessen
wurde auf eventuelle Rückstellungen bei den Anstalten des Landes Hessen in Nachkriegsuntersuchungen der Justiz nicht
hingewiesen.
44
Dies wird bezeugt für die HEPA Scheuern, kann aber analog für den Kalmenhof in Idstein angenommen werden.
45
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 5–7, Dir. Karl Todt Anstalt Scheuern, an Gouvernement Militaire, Diez (o. D. [ca.
August 1945]), hier Bl. 6; siehe auch ebd., Bl. 2 f., Dr. A. Th., Scheuern, z. Zt. Schloss Diez, an Gouvernement militaire, Diez
(16.08.1945), hier Bl. 2; siehe auch AHS, Oberstaatsanwalt Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th. (06.08.1948), hier S. 7.
3. Kooperation während der Gasmorde
447
Treffen Anfang Januar 1941 erhielten die Direktoren die ersten „Transportlisten“ zur Verlegung von
Patienten nach Hadamar. Damit wurde der von nun an gültige Organisationsablauf des Mordsystems
zugleich präsentiert und initiiert: Zunächst transportierte „T4“ die zur Tötung ausgewählten Patientinnen und Patienten der „nassauischen“ Anstalten selbst nach Hadamar und ermordete sie dort, wodurch
in den Anstalten des Bezirksverbandes vorübergehend Plätze frei wurden. Diese wurden dann jedoch
sukzessive durch die „Zwischenanstaltspatienten“ aus den anderen Provinzen, Bezirken und Ländern
wieder belegt – bevor auch diese Gruppe mit einer Verzögerung von einigen Wochen in der Hadamarer
Gaskammer mit Kohlenmonoxyd ermordet wurde. Außer dem rein Organisatorischen stand bei der
Konferenz in Weilmünster auch die „Einschwörung“ der Direktoren durch eine propagandistische
Rede eines österreichischen Redners auf dem Programm – bei dem Vortragenden dürfte es sich wohl
um den „T4“-Abteilungsleiter Adolf Kaufmann gehandelt haben, der sich seinerzeit noch in Hadamar
bzw. Weilmünster aufhielt. Der Redner betonte den Sinn der so genannten „Euthanasie“ und versuchte,
für das Vorgehen von „T4“ zu werben.46
Ganz ähnlich wie im Einflussbereich des Bezirksverbandes Nassau klärten auch in anderen Reichsteilen die zuständigen Anstaltsdezernenten oder -referenten die Anstaltsleiter der künftigen „Zwischenanstalten“ über die Funktion auf, die ihren Einrichtungen zugedacht war. Dr. Alfred Fernholz beispielsweise, der Psychiatriereferent im sächsischen Innenministerium, informierte die Leiter der vier
Landesanstalten, die zu „Zwischenanstalten“ für die Mordanstalt Pirna wurden, bei einer Direktorenkonferenz Ende 1940 in Dresden offiziell über das „Euthanasie“-Programm.47 Im Falle der beiden rheinischen „Zwischenanstalten“ für die Mordanstalt Hadamar erfolgte die Unterrichtung durch den Psychiatriedezernenten des Provinzialverbandes der Rheinprovinz, Prof. Dr. Walter Creutz. Dem Direktor
der Anstalt Andernach etwa kündigte Creutz Anfang 1941 telefonisch an, „dass jetzt Kranke im Zusammenhang mit der Euthanasie-Aktion abtransportiert würden. [...] Und zwar sollten die Kranken der
südlichen Anstalten der Rheinprovinz in der Anstalt Andernach zum Abtransport gesammelt werden.“48
In unterschiedlicher Deutlichkeit informierten nach ihrer eigenen Unterrichtung die Direktoren der
„nassauischen“ Einrichtungen – oder Dezernent Bernotat selbst – die Anstaltsmitarbeiterinnen und
-mitarbeiter. Diesen wurde nun zudem – ähnlich wie dem Hadamarer „T4“-Personal49 – eine Schweigepflicht auferlegt. Am offensten scheint Mennecke sich in seiner Landesheilanstalt Eichberg verhalten
zu haben. Nachdem er bereits sehr frühzeitig seine Kenntnisse – oder zumindest Andeutungen über die
bevorstehende NS-„Euthanasie“ – bei der Eichberger Leitungskonferenz verbreitet hatte,50 gab er nun
der „Konferenz“ (also den Ärzten und dem Oberpflegepersonal) ganz konkrete Informationen, die
selbst Angaben über das Verfahren der Gastötung in der Hadamar umfassten. Um verwaltungsmäßig
eine Geheimhaltung zu gewährleisten, legte die Anstalt Eichberg für den Schriftverkehr im Zusammenhang mit der Krankenmordaktion eine so genannte „Sondermappe“ außerhalb der üblichen Registratur an. Im Januar 1941 wurde auch die übrige Mitarbeiterschaft im Rahmen eines „Betriebsappells“
grundsätzlich über die Verlegungen informiert, wenn auch ohne Angabe des tatsächlichen Ziels und
Zwecks.
Trotz aller Anstrengungen zur Geheimhaltung sickerte die Wahrheit sehr schnell durch. Bereits im
Herbst 1940 (also Monate vor Beginn der Hadamarer Morde) hatte eine Eichberger Ärztin durch einen
46
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 190 f., Aussage Dr. Paul Schiese ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn
(28.02.1946), Durchschr., hier Bl. 190; ebd., Bd. 3, Bl. 24 f., Aussage Dr. Ernst Schneider ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in
Weilmünster (22.02.1946), Abschr., hier Bl. 24; ebd., Bd. 7, Bl. 189, Bl. 193, Bl. 195, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im
Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bl. 200, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5.
Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 126, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag
(10.12.1946); HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier
Bl. 112; siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 267; Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 134. – Zu Adolf Kaufmann (1902–1974) siehe biogr. Anhang.
47
Schilter, Ermessen (1999), S. 87 f., S. 129.
48
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 195–204, Aussage Dr. Johann Recktenwald b. d. StAnw Koblenz (12.08.1947), hier
Bl. 197. – Im Falle der zweiten rheinischen „Zwischenanstalt“ Galkhausen bei Düsseldorf ist eine analoge (telefonische
oder persönliche) Unterrichtung der Anstaltsleitung durch Creutz anzunehmen.
49
Siehe dazu Kap. IV. 2. c).
50
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
448
IV. Zeit der Gasmorde
Dritten von den Krankenmorden in Grafeneck gehört; schon kurz nach Beginn der Verlegungen erfuhr
auch das übrige Eichberger Personal auf informellem Wege deren wirkliche Bedeutung.51 Auch leitende Mitarbeiter der Landesheilanstalt Weilmünster, die Oberschwester und der Direktor, hatten bereits
im Herbst 1940 von der NS-„Euthanasie“ gehört, wenn auch vielleicht nur indirekt.52 Ebenso wie in der
Anstalt Eichberg wurde dann im Januar 1941 auch das Weilmünsterer Personal zum Schweigen verpflichtet. Anstaltsdezernent Bernotat persönlich hielt ungefähr im Januar 1941 einen Betriebsappell im
Esssaal der Anstalt ab, bei dem er offenbar Andeutungen machte und Drohungen ausstieß, die die
Belegschaftsmitglieder zumindest teilweise nun bereits mit den Gerüchten und Berichten über die
Tötungen in Hadamar in Zusammenhang bringen konnten, die ihnen nach den ersten Krankenverlegungen zu Ohren gekommen waren.53 In den ihm unterstehenden Privatanstalten, die beide ab dem
Frühjahr 1941 als „Zwischenanstalten“ der Mordanstalt Hadamar fungierten, hielt Bernotat ebenfalls
Betriebsappelle ab oder ließ sie von den Direktoren abhalten: im Kalmenhof in Idstein54 und in der
Anstalt Scheuern.55 Eine ähnliche „Einschwörung“ für die Landesheilanstalt Herborn kann bislang nur
vermutet werden;56 dort teilte Anstaltsdirektor Dr. Paul Schiese seinen Mitarbeitern mit, „dass in der
nächsten Zeit Kranke verlegt und durch Kraftwagen abgeholt werden würden“,57 später erklärte er
seinen Ärzten, dass es jetzt ein „Gesetz über die Euthanasie“ gebe.58
51
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg
(09.08.1945); ebd., Bl. 152, Zeugenaussage Heinrich D. ggü. d. Kriminalpolizei Wiesbaden in Eichberg (28.08.1945); ebd.,
Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.1946), hier Bl. 13; ebd., Bl. 55,
Zeugenaussage Franziska P. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946); ebd., Bl. 55 f., Zeugenaussage Josef H. ggü. d.
StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946), hier Bl. 55; ebd., Bl. 56, Aussage Andreas Senft ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg
(22.05.1946); ebd., Bl. 57 f., Zeugenaussage Dr. Elfriede C. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946) (auf Bl. 57 u. a.
Hinweis auf Kenntnisse über Grafeneck); ebd., Bl. 71, Vm. d. StAnw Ffm über die Zeugenaussage Dr. Leopold C. ggü. d.
StAnw Ffm in Kloster Eberbach (22.05.1946); ebd., Bl. 176 f., Zeugenaussage Katharina Sch. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg
(21.08.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 36, Aussage d. Angeklagten Andreas Senft im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946); ebd.,
Bl. 111 f., Bl. 114, Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (auf Bl. 111 f. u. a. Hinweis
zu Kenntnissen über Grafeneck); ebd., Bl. 147, Zeugenaussage Katharina Sch. im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946);
siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 190. – Zur „Sondermappe“ siehe den Vm. Mennecke auf HStA Wi, Abt. 430/1 Nr.
12607, o. Bl.-Nr., Rundschreiben d. Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten, Az. 15/41 – 5107, betr. „Verlegung
von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ (22.12.1941), hier Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (08.01.1942); dazu
auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Fritz Mennecke, z. Zt. Heidelberg, an Eva Mennecke, Eichberg (15.–16.06.1942), hier n.
d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 355–361 (Dok. 120), hier S. 356 (15.06.1942) (dort Erwähnung der „Berliner Mappe“); zur
sog. „Sondermappe“ der HEA Kalmenhof (Idstein) siehe Kap. V. 1. b).
52
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 192–196, Aussage Maria [= Marie] Z. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster
(05.03.1946), Durchschr., hier Bl. 193 (die Oberschwester erfuhr während einer Kur in Karlsbad von unnormal vielen Todesfällen unter Anstaltspatienten in Wien u. berichtete Dir. Dr. Schneider darüber); vgl. auch ebd., Bd. 7, Bl. 386, Aussage Prof.
Dr. Karl Kleist als Sachverständiger im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947) (er habe ebenfalls im Herbst 1940 bei
einem Kongress in Wien erfahren, dass „die Insassen der Anstalt am Steinhof z. T. umgebracht würden“).
53
Ebd., Bd. 7, Bl. 64, Aussage d. Angeklagten Paul Reuter im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); ebd., Bl. 195,
Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bl. 204, Zeugenaussage Hans L.
im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Bl. 216, Zeugenaussage Georg Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 6.
Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 217 f., Zeugenaussage Jakob J. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); HStA Wi,
Abt. 463, Nr. 1154, Bl. 10, Aussage Elisabeth B. in Hadamar (14.02.1946), Abschr.; ebd., Nr. 1155, Bl. 102, Erich Moos an
LG Ffm (12.11.1946), Abschr.; ebd., Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier
Bl. 112 f.; vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 192–196, Aussage Maria [= Marie] Z. ggü. d. Kriminalpolizei
Ffm in Weilmünster (05.03.1946), Durchschr., hier Bl. 193; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 134. – Zum
Zusammenhang des Betriebsappells mit der Festnahme und Entlassung des Mitarbeiters Karl K. siehe Kap. IV. 3. b).
54
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage des Pflegers S. in einer Vernehmung in Idstein (26.04.1945) (danach rief der amtierende Dir. Grossmann das Pflegepersonal in einem Raum im sog. „Altenheim“ des Kalmenhofs zusammen und „erklärte, daß
wir über all dies[e] Sachen tiefes Schweigen zu bewahren hätten“). – Der Verweis auf Wilhelm Grossmann als Akteur lässt
jedoch darauf schließen, dass dieser Appell nicht am Beginn der Verlegungen stand, da Grossmann die Leitung erst im Juni
1941 übernahm; zu den Daten und der Leitung der HEA Kalmenhof siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a).
55
AHS, OStAnw Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th.
(06.08.1948), hier S. 7, Kopie (nach einer Zeugenaussage hielt Dir. Todt einen solchen Betriebsappell in Scheuern ab); LHptA
Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 27, Aussage Anita B. (Schwester in Scheuern) ggü. d. StAnw Koblenz in Scheuern (09.04.
1946) (danach hielt Bernotat selbst einen entsprechenden Betriebsappell ab); Koppelmann, Zeit (2000), S. 38.
56
Allerdings wird in keiner der bekannten Aussagen damaliger Mitarbeiter der LHA Herborn eine derartige „Einschwörung“
erwähnt, lediglich Dir. Schiese selbst behauptete, Bernotat habe ihm persönlich in Herborn gesagt, „es würde als Sabotage
aufgefaßt werden, wenn den Bestimmungen nicht Folge geleistet würde, da hätte man die Folgerungen zu ziehen“: HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 200, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947).
57
Ebd., Bd. 2, Bl. 64 f., Aussage Dr. [William] Altvater ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946), hier Bl. 64.
58
Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 154, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946). – Entsprechend ging auch der Direktor der „Zwischenanstalt“ Andernach in der Rheinprovinz vor, der „einigen Beamten der [...] An-
3. Kooperation während der Gasmorde
449
Diese vermeintliche Erkenntnis hatte Schiese von einer Konferenz in Berlin mitgebracht, zu der
„T4“ am 20. März 194159 die Leiter der (aktuellen oder künftigen) „Zwischenanstalten“ zusammengerufen hatte. Diese Tagung, die ursprünglich „in einer westdeutschen Stadt“60 hatte stattfinden sollen,
dann aber doch in der Kanzlei des Führers abgehalten wurde, war in erster Linie aufgrund diverser
Geheimhaltungspannen einberufen worden, aber auch wegen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der
Krankentötungen, wie sie etwa aus dem rheinischen Provinzialverband heraus geäußert worden waren.61 „T4“ war unter anderem durch seine ärztliche Leitung – Prof. Dr. Werner Heyde und Prof. Dr.
Paul Nitsche – vertreten, aber auch der Verbindungsmann im Reichsinnenministerium, Ministerialrat
Dr. Herbert Linden, wirkte mit.62 Der rheinische Provinzialverband hatte seinen Medizinialdezernenten
Prof. Dr. Walter Creutz sowie die Direktoren der in der Rheinprovinz gelegenen Hadamarer „Zwischenanstalten“ Andernach und Galkhausen nach Berlin geschickt;63 auch die Leiter der sächsischen
„Zwischenanstalten“ nahmen teil.64 Die „Zwischenanstalten“ aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden –
die Anstalten Eichberg, Herborn, Weilmünster, Scheuern und Kalmenhof/Idstein – waren bei der Sitzung ausnahmslos durch ihre Direktoren65 vertreten; zudem nahm der erst wenige Tage zuvor u. k.
gestellte Eichberger Oberarzt Dr. Walter Schmidt66 teil, ebenso auch Anstaltsdezernent Bernotat. Nach
Auskunft verschiedener Anwesender wurde bei der etwa einstündigen Sitzung, an der nach divergierenden Schätzungen zwischen 20 und 100 Personen – überwiegend Ärzte – teilnahmen, eine Rechtmäßigkeit der „Euthanasie“tötungen behauptet und zu belegen versucht. Der Wortlaut des Hitler’schen
„Euthanasie-Erlasses“ sei zu diesem Zwecke verlesen worden. Darüber hinaus wurde über „Schwierigkeiten mit Angehörigen in Bezug auf die Hinterlassenschaft der Kranken“ und über die Funktionsweise
der „Zwischenanstalten“ gesprochen. Letztlich intendierte „T4“ mit dieser Sitzung allerdings wohl
mehr die Herstellung einer inneren Bindung der „Zwischenanstalts“leiter an die Tötungsaktion als die
Lösung konkreter Probleme; denn im Anschluss stellten sich einzelne Teilnehmer, etwa die gemeinsam
reisenden Direktoren der Anstalten Weilmünster und Herborn die Frage, „was [...] diese furchtbar
strapaziöse Fahrt für einen Zweck gehabt“ habe.67
stalt [...] über diese Aktion [...] Bericht erstattet“ und zugleich „diese Leute zum Stillschweigen verpflichtet [hat]“: LHptA Ko,
Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 31–35, Vm. d. StAnw Koblenz (30.01.1947), hier Bl. 32 f.
59
Datierung nach Schilter, Ermessen (1999), S. 88. – Die geringfügig abweichende Datierung in HStA Wi, Abt. 461 Nr.
32061 Bd. 7, Bl. 200, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) („Die Berliner
Besprechung war im April“) ist wohl als Irrtum zu werten.
60
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 195–204, Aussage Dr. Johann Recktenwald b. d. StAnw Koblenz (12.08.1947), hier
Bl. 197 f.
61
Zu diesen Zweifeln, die zeitweilig offenbar auch der Düsseldorfer LH Heinz Haake hegte, siehe Kap. IV. 2. a). – Zur gescheiterten Geheimhaltung siehe Kap. IV. 3. c).
62
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 195–204, Aussage Dr. Johann Recktenwald b. d. StAnw Koblenz (12.08.1947), hier
Bl. 198. – Siehe darüber hinaus die weiter unten zit. Aussagen der Direktoren/Ärzte aus dem Reg.-Bez. Wiesbaden über diese
Sitzung.
63
Ebd. (Aussage Recktenwald v. 12.08.1947), hier Bl. 198 (Dr. Recktenwald hatte als Dir. d. PHA Andernach teilgenommen);
Werner, Rheinprovinz (1991), S. 138; Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 342. – Der Direktor der Anstalt Galkhausen,
Dr. Georg Beyerhaus, verstarb nach Werner, Rheinprovinz (1991), S. 140, am 17.04.1941, die Verlegungen von Galkhausen
nach Hadamar im Rahmen der „T4-Aktion“ fanden erst danach statt, größtenteils unter Verantwortung des Nachfolgers, der
seinen Dienst am 03.05.1941 antrat; zu den Verlegungsdaten vgl. ebd., S. 138, S. 140; siehe auch Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941).
64
Schilter, Ermessen (1999), S. 88.
65
Zu den Direktoren der LHA Eichberg, Dr. med. Friedrich (Fritz) Mennecke (1904–1947), der LHA Herborn, Dr. med. Paul
Schiese (1877–1957), der LHA Weilmünster, Dr. med. Ernst Schneider (1880–1960), der HEPA Scheuern, Karl Todt
jun. (1886–1961), sowie der HEA Kalmenhof, Ernst Müller (* 1891), siehe biogr. Anhang.
66
Zu Dr. med. Walter Schmidt (1911–1970) siehe biogr. Anhang.
67
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 189 f., Bl. 193, Bl. 197 f., Bl. 202, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (auf Bl. 189 kann Bernotats Teilnahme nicht bezeugt werden); ebd., Bl. 200,
Bl. 202, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 119–
125, Aussage Dr. Walter Schmidt b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (04./05./07.11.1946), hier Bl. 119 f. (04.11.1946) (Aussage zur
Teilnahme Bernotats an der Reise), Bl. 121 (05.11.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 8 f., Aussagen d. Angeklagten Dr. Walter Schmidt u.
Dr. Friedrich Mennecke im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 124 f., Zeugenaussage Dr. Ernst
Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (auf S. 125 die Zitate „Schwierigkeiten mit [...]“ u. „[...] strapaziöse
Fahrt [...]“, dort wird Bernotats Teilnahme für möglich gehalten); ebd., Bl. 152 f., Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946); HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm
(12.05.1952), hier Bl. 113; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 134; siehe auch ders., Eichberg (1999), S. 190. –
Zur Teilnahme des Scheuerner Direktors Karl Todt siehe LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1792, Bl. 36–78, LG Koblenz, Urteil mit
Urteilsbegründung in der Strafsache gegen Karl Todt u. Dr. Adolf Th., Az. 3 KLs 36/48 (o. D. [Eingang b. d. StAnw 20.10.
450
IV. Zeit der Gasmorde
Unter anderem auf administrativem Gebiet trafen die Leiter der „Zwischenanstalten“ des Bezirksverbandes Nassau dann Vorkehrungen, die eine möglichst reibungslose Abwicklung der Verlegungen
gewährleisteten. Davon zeugt beispielsweise die Korrespondenz, die die Landesheilanstalt Herborn mit
den „Ursprungsanstalten“ pflegte, aus denen sie Patientinnen und Patienten für einige Wochen übernahm. Um „aufgetretene Mißstände“ abzustellen, bat der Herborner Anstaltsdirektor Schiese seine
Amtskollegen um verschiedene Maßnahmen, die der leichteren Identifizierung der ankommenden
Menschen sowie deren weiterer verwaltungsmäßiger Erfassung dienten. So sollte jedem Menschen der
Name nicht mehr, wie anfangs, per Pflaster auf den Körper aufgeklebt, sondern „mit Tintenstift auf die
vorher angefeuchtete Hautstelle zwischen den Schulterblättern“ geschrieben werden, erforderlichenfalls sogar einschließlich des Geburtsdatums. Außerdem bat die Anstalt Herborn, „[d]em Transportleiter [...] eine genaue – mit Schreibmaschine geschriebene – Liste der verlegten Kranken mitzugeben, die
neben dem genauen Namen und Vornamen (bei Frauen auch Mädchennamen) Geburtstag, Geburtsort
und Wohnort enthält.“ Ergänzend hieß es: „Zu ganz besonderem Dank würden Sie uns verbinden,
wenn Sie uns diese Liste mindestens in dreifacher, besser aber in vierfacher Ausfertigung übersenden
könnten. Ihnen macht dies nicht allzuviel Mehrarbeit und Sie können sich vorstellen, wie wir durch
diese Transporte hier mit Arbeit überlastet sind, sodaß wir hoffen, keine Fehlbitte getan zu haben.“
Schließlich erbat Schiese eine (für seine Verwaltung) arbeitssparende und übersichtliche Verpackung
des Eigentums der Kranken. Fraglos handelte der Herborner Anstaltsdirektor mit einer derartigen Initiative im Interesse der Arbeitsökonomie innerhalb der von ihm geleiteten Anstalt; zugleich trug er damit zu einer effizienten Abwicklung der Verlegungen in den Tod bei.68
Die Leiter der „Zwischenanstalten“ konnten während der Mordaktion in der Praxis innerhalb bestimmter Grenzen einen gewissen Einfluss auf die endgültige Bestimmung der Mordopfer nehmen,
indem sie ein gewisses Kontingent von Patientinnen und Patienten, die durch „T4“ ursprünglich zur
Ermordung in der Gaskammer bestimmt worden waren, zurückstellten. Derartige Reklamationen waren insbesondere dann möglich, wenn Kranke als „gute Arbeiter“ Verwendung finden konnten, in
einem bestimmten Rahmen aber auch, wenn der Leiter der „Zwischenanstalt“ die Einstufung des
betreffenden Menschen als „lebensunwert“ aus anderen Gründen für falsch hielt. Zwar kritisierte „T4“,
dass „sich in einigen Zwischenanstalten im Laufe der Zeit der Brauch entwickelt“ habe, wonach „der
Anstaltsleiter von sich aus zwischenverlegte Patienten als gute Arbeiter reklamiert und dementsprechend zurückbehalten hat.“ Je weiter allerdings die Krankenmordaktion zeitlich fortschritt, desto mehr
duldete „T4“ diese (ursprünglich nicht eingeplante und halb ironisch so genannte) „Mitarbeit der Direktoren der Zwischenanstalten“, wenngleich die Mordorganisation darauf zu pochen versuchte, dass
„in jedem einzelnen Fall, bei dem eine Zurückhaltung erwünscht erscheint, ein eingehender Befundbericht“ an „T4“ zu schicken sei, wo die letztendlichen Entscheidung getroffen werden sollte.69 Durch
diese Zugeständnisse ab Sommer 194070 an die leitenden Ärzte schuf „T4“ ein Ventil gegen ein mögliches Widerspruchpotenzial, denn manche Entscheidungen der „T4“-Gutachter waren geeignet, selbst
bei prinzipiellen Befürwortern der NS-„Euthanasie“ Unmut und Zweifel hervorzurufen. Systematische
(und von „T4“ akzeptierte) Streichungen von Namen auf den „Transportlisten“ waren auch bereits in
1948]), hier Bl. 47 (hier wird Bernotats Anwesenheit in Berlin bei der Sitzung im März 1941 behauptet), auch abgedr. in
Skizzen (1990), S. 33; vgl. auch LHptA Ko, Best. 584,1, Nr. 1791, Bl. 28 f., Aussage Hedwig Sch. (Schwester in Scheuern)
ggü. d. StAnw Koblenz in Scheuern (09.04.1946), hier Bl. 28 (Todt sei „nach Berlin gefahren [...], um gegen die Verschleppung vorstellig zu werden“, scheine „aber nichts erreicht zu haben“); siehe auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 37 f.; siehe auch
AHS, [Dir. d. HEPA Scheuern] an Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- u. Pflegeanstalten, Berlin (30.04.1941), Durchschr. (= Abrechnung der Reisekosten mit „T4“).
68
LWV, Best. 17/137, Bl. 208, LHA Herborn, gez. Dr. Schiese, an Dir. d. LHA Merxhausen, betr. „Verlegung von Patientin
[= Patienten] aus der dortigen Anstalten nach hier“ (26.05.1941), auch abgedr. in Hadamar (1991), S. 90 f. (Kat. Nr. 63). –
Das Schreiben muss an mehrere (möglicherweise alle) Anstalten gerichtet gewesen sein, aus denen die LHA Herborn Patient/inn/en aufnahm. Dies lässt sich daran ablesen, dass die Zeilen „Merxhausen“ und „Bezirk Kassel“ im Adressfeld nachträglich per Schreibmaschine eingesetzt wurden.
69
Gleich lautende Schreiben an die Innenministerien in Baden u. Württemberg (Datum hier nicht angeben [ca. Feb. 1941]),
hier zit. n. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 267 f., dort entnommen den Akten des Verfahrens gegen Dr. Horst Schumann. – In
dem Schreiben heißt es, ein „Rundschreiben ähnlichen Inhalts haben unter dem 12. Februar 1941 sämtliche Zwischenanstalten
bekommen.“ – In Bezug auf die „Zwischenanstalt“ Wiesloch siehe auch Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 274.
70
Zur Datierung siehe Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 353, mit Hinweis auf die Praxis in Württemberg und Berlin.
3. Kooperation während der Gasmorde
451
den „Ursprungsanstalten“ möglich, belegt sind sie unter anderem für Anstalten des Bezirksverbandes
Hessen – etwa die Landesheilanstalt Marburg –,71 aber auch für Baden und Württemberg.72 In Westfalen setzte der Provinzialverband in Münster sogar eine zentrale Kommission unter Beteiligung des
Anstaltsdezernenten ein, die für den gesamten Verband die Zurückstellungen vornehmen konnte.73
Teilweise dienten die Zurückstellungen später dazu, Widerstandslegenden zu kreieren, deren Wahrheitsgehalt zumindest zweifelhaft erscheinen muss, die aber dennoch auch in der Literatur perpetuiert
werden. So nehmen Sueße und Meyer in ihren Forschungen zum Provinzialverband Hannover an, die
dortigen Rückstellungen im Jahre 1941 seien auf eine Ausnahmebestimmung zurückzuführen gewesen,
die der hannoversche Landeshauptmann Geßner bei „T4“ in Berlin erwirkt habe.74 In der Realität aber
waren es offenbar gerade Geßner und die Dezernenten in seiner Verwaltung, die in vorauseilendem
Gehorsam gegenüber vermeintlichen Einsprüchen von „T4“ einzelne ihrer Anstaltsleiter, etwa den
Direktor der Göttinger Heil- und Pflegeanstalt, Prof. Dr. Ewald, bewogen, die ursprünglich geplante
Zahl von Zurückstellungen zu reduzieren.75 Auch das durch die historische Forschung festgestellte
Ausmaß der Zurückstellungen in den beiden rheinischen „Zwischenanstalten“ Andernach und Galkhausen relativiert manche Widerstandsbehauptung aus den Nachkriegsprozessen,76 wenngleich die
Rückstellungsquoten aus der Rheinprovinz zum Teil immerhin doch wesentlich größer gewesen zu
sein scheinen als die in „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden.77
Auch der Blick auf diese „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ belegt, wie sehr die Zurückstellungen
später Anlass zu tendenziösen Deutungen geben konnte. Der Direktor der Anstalt Weilmünster, Dr.
Ernst Schneider, suchte sich 1945 und in den Jahren danach – wie viele andere – mit Hinweis auf die
Zurückstellung von Patientinnen und Patienten zu entlasten und behauptete fälschlicherweise sogar, er
habe „von dieser Möglichkeit der Reklamation umfangreichen Gebrauch gemacht.“78 In Wirklichkeit
aber scheinen – verglichen mit anderen „Zwischenanstalten“ – gerade in Weilmünster außerordentlich
wenige Menschen vor einer Weiterverlegung nach Hadamar bewahrt worden zu sein. Sogar der Hadamarer „T4“-Arzt Hans Bodo Gorgaß bekundete später, Dr. Schneider als Leiter der Anstalt Weilmünster sei „außerordentlich ängstlich“ gewesen und habe zu wenige Zurückstellungen arbeitsfähiger Patienten vorgenommen und „ohne weiteres seine Kranken nach Hadamar geschickt.“79 Möglicherweise
71
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 177, Zeugenaussage Karl Rücker im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag
(04.03.1947); zu den Marburger Zurückstellungen siehe Lilienthal, Opfer (2001), S. 282–284 (insb. Tab. 6 auf S. 282), S.
299 f., wonach von den 340 Patient/inn/en der LHA Marburg, die auf den „T4“-„Transportlisten“ standen, 63 Menschen (= 18,5 %) zurückgestellt wurden, davon 43 (= 12,6 % von allen) als gute Arbeitskräfte.
72
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 353.
73
Walter, Psychiatrie (1987), S. 132; ders., Psychiatrie (1996), S. 720, S. 722–724.
74
Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 55 f., S. 64–66.
75
Ebd., S. 108–110.
76
Werner, Rheinprovinz (1991), S. 140, nennt Rückstellungsquoten von 11,6 % für die „Ursprungskranken“ und 7,5 % für die
„Zwischenverlegten“ der Anstalt Andernach bzw. 8,8 % für die „Ursprungskranken“ und 4,6 % für die „Zwischenverlegten“
der Anstalt Galkhausen (insgesamt also Größenordnungen, wie sie durchaus auch anderswo festgestellt werden können) und
wertet, dass das Resultat in Andernach wesentlich weniger positiv ausfiel, als nach den Widerstandsbehauptungen der Ärzte
zu erwarten gewesen sei.
77
Siehe z. B. weiter unten die Angaben zur Anstalt Scheuern. – In die Bewertung einzubeziehen ist zudem die Tatsache, dass
in einzelnen Anstalten „T4“-Kommissionen erschienen, um vor Ort den Kreis der zu verlegenden „Stammpatient/inn/en“
festzulegen, was den Entscheidungsspielraum der jeweiligen Leitung eingeschränkt haben dürfte; derartige Kommissionen
wurden nach Aussagen z. B. aktiv in den Anstalten Andernach (am 29.03.1941 mit Prof. Dr. Paul Nitsche u. Dr. Curt Schmalenbach) und möglicherweise auch in Scheuern (mit Dr. Curt Schmalenbach, LdsR Dr. Erich Straub u. Dir. Dr. Hans Heinze):
zu Andernach siehe Schulte, Euthanasie (1989), S. 100; siehe auch Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 415; zu Scheuern siehe LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 5–7, Dir. Karl Todt, Anstalt Scheuern, an Gouvernement Militaire, Diez (o. D.
[ca. August 1945]), hier Bl. 6 (möglicherweise handelt es sich hier um eine falsche zeitliche Zuordnung, da sich, wie in Kap.
V. 1. b) gezeigt, erst für das Jahr 1942 ein Kontakt von Heinze u. Straub zur HEPA Scheuern belegt lässt).
78
HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 112 f. (Zitat
auf Bl. 112); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 127, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. HvTag (10.12.1946); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Schneider, Ernst, Dr., Bd. III, o. Bl.-Nr., div. Dok.; ebd.,
Teil 2, Bl. 14, Bl. 17 (Spruchkammer); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 187 f., Zeugenaussage Dr. Ernst
Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947). – Falsch ist auch die Behauptung des ehem. Oberpflegers, die
Arbeitsfähigen seien „grundsätzlich“ zurückgestellt worden: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 217–219, Zeugenaussage Jakob J. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 217.
79
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 22, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. HvTag (24.02.1947).
452
IV. Zeit der Gasmorde
suchte Schneider durch diese zögerliche und – im Sinne der radikalen Krankenmordbefürworter –
konforme Haltung auch, seine Stellung in der Anstalt Weilmünster zu sichern. Nachdem nämlich Landeshauptmann Traupel den Direktorenposten Schneiders bereits Anfang 1940 zur Disposition gestellt
hatte80 und nachdem Schneider dann bei der Meldebogenausfüllung Mitte 1940 Bedenken wegen zu
großer Arbeitsbelastung angemeldet hatte,81 könnte Anfang 1941 zumindest vorübergehend erwogen
worden sein, Schneider durch den Eichberger Arzt Dr. Walter Schmidt abzulösen.82
Die Ärzte der Landesheilanstalt Herborn beriefen sich bei der Zurückstellung von Arbeitskräften auf
eine ausdrückliche Verfügung, die dies genehmigte.83 Auch die „Zwischenanstalt“ Eichberg stellte
1941 im Einverständnis mit dem Wiesbadener Landeshaus einzelne Patientinnen und Patienten zurück;
teilweise konsultierte Mennecke (nach eigenen Angaben) vor Zurückstellungen noch den ärztlichen
„T4“-Leiter Nitsche (welcher die „Zwischenanstalt“ Eichberg im Übrigen mehrfach persönlich aufsuchte). Seinen Mitarbeiterinnen erklärte Mennecke dagegen großspurig, er selbst sei zu „Streichungen
[von den „Transportlisten“, P. S.] in Einzelfällen ermächtigt [...], da er einer kleinen Kommission in
Berlin angehöre, die die ganze Sache leite.“84 In einigen Fällen dürfte auch eine Fürsorgerin der Stadt
Wiesbaden den Verzicht auf Verlegungen von Eichberger Patientinnen und Patienten in die Hadamarer
Gaskammer erreicht haben, indem sie die Betreffenden, die in Kostenträgerschaft der Stadt Wiesbaden
standen, als nicht mehr anstaltspflegebedürftig einstufen ließ.85 Zumindest in den Anfangsmonaten der
Hadamarer Morde aber blieben Zurückstellungen auf dem Eichberg anscheinend die absolute Ausnahme. So ließ sich aus den Eichberger Akten rekonstruieren, dass die „ersten Transporte nach Hadamar
[...] so abgegangen [sind], wie sie auf dem Eichberg ankamen bzw. aus den Eichbergpatienten zusammengestellt waren“86 – also ohne dass auch nur eine Person zurückgestellt worden wäre.
Während Zurückstellungen von arbeitsfähigen Patienten in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in
Idstein nur in Einzelfällen stattfanden,87 scheint die Scheuerner Leitung mehr als andere versucht zu
haben, eine Reihe der schon länger in der Anstalt untergebrachten behinderten Menschen zu retten,
indem sie sie während der Hadamarer Gasmorde 1941 zu den Angehörigen entließ, in Arbeitsstellen
unterbrachte oder sie formal nicht mehr als „Pfleglinge“, sondern als Angestellte der Anstalt führte. Es
ist allerdings derzeit nicht zu beziffern, wie viele der rund 50 auf diese Weise entlassenen Menschen
unmittelbar von der Ermordung durch „T4“ bedroht waren (d. h. auf deren „Transportlisten“ standen)
und somit als „Gerettete“ gezählt werden können – immerhin 18 der Genannten jedenfalls stufte die
Anstalt zum Zeitpunkt der Entlassung als „ungeheilt“ ein, was eine „T4“-Qualifizierung als „lebens-
80
Siehe dazu Kap. IV. 1.
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
Schneider gab an, dies nach 1945 erfahren zu haben. Zwar ist eine genaue Datierung nicht genannt, doch dürfte der Vorgang
auf Anfang 1941 zu beziehen sein, als laut Mennecke ursprünglich eine Versetzung des gerade auf Veranlassung der Kanzlei
des Führers [d. h. hier: „T4“] u. k. gestellten Schmidt nach Weilmünster geplant gewesen war. Auch Schmidt selbst war davon
ausgegangen, in Weilmünster eingesetzt zu werden, um dort die Stationen der „Zwischenanstalt“, allerdings als Oberarzt, zu
leiten: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 197, Protokoll d. Zeugenvernehmung Dr. Ernst Schneider im HadamarProzess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 119–125, Aussage Dr. Walter Schmidt b. d. OStAnw b. d.
LG Ffm (04./05./07.11.1946), hier Bl. 119 (04.11.1946); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Co., El., Dr.,
Teil 2, Bl. 24, LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an BV Nassau (15.03.1941).
83
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 199, Zeugenaussage Dr. Paul Schiese im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag
(04.03.1947); zu den Zurückstellungen in Herborn siehe auch ebd., Bl. 236–238, Zeugenaussage Dr. Wilhelm [= William]
Altvater im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 237; vgl. auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten
Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 65 bzw. Bl. 73, zwei Schreiben von Dr. Ernst B., Weilmünster, an PV Nassau bzw. durch
RP Wiesbaden an d. Amerikanische Militärregierung Wiesbaden (06.08. bzw. 06.10.1945). – Zur Zurückstellung eines aus
Lüneburg verlegten Menschen in der LHA Herborn, der dann dort als Gärtner eingesetzt wurde, siehe Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 119 f.
84
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 22 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2.
Hv-Tag (03.12.1946); ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.1946)
(Zitat „Streichungen in [...]“). – Zu Nitsches Besuchen in der LHA Eichberg siehe ebd., Bl. 178, Zeugenaussage Dr. Otto
Henkel ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.08.1946).
85
Ebd., Bd. 4, Bl. 119, Zeugenaussage Elisabeth M. [Wiesbaden] im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946).
86
Ebd., Bd. 2, Bl. 98 f., LHA Eichberg, gez. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm (04.06.1946), hier Bl. 99.
87
Ein Einzelfall ist dokumentiert im Zentralarchiv d. Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, 0605/26a,
Bericht von Willi Walter, Wiesbaden, ggü. Pfarrer Geiler (20.11.1991), zit. b. Hofmann, Dokumentation (1974–1993), hier
Bd. 8,1 (Bd. 43, 1992), S. 141.
81
82
3. Kooperation während der Gasmorde
453
unwertes Leben“ nahe legt.88 Dieser tendenziell positivere Befund für die Anstalt Scheuern wird allerdings konterkariert durch die Feststellung, dass in Scheuern nur äußerst wenige „Zwischenanstalts“patienten zurückgestellt wurden (also Menschen, die erst im Rahmen der „T4-Aktion“ nach
Scheuern kamen), während einige andere „Ursprungs-“ und „Zwischenanstalten“ in diesem Punkte ein
deutlich positiveres Bild abgaben.89 Ein quantitativer Vergleich auf breiterer Basis über das Ausmaß
der Zurückstellungen in den verschiedenen „Ursprungs-“ und „Zwischenanstalten“ steht zwar noch
aus, doch die skizzierten Befunde lassen bereits erkennen, dass es durchaus Unterschiede in der Handhabung gab.
Generell lässt das Faktum der Zurückstellungen erkennen, dass „T4“ den mitwirkenden Anstaltsträgern sowie den Leitern der Einrichtungen einen gewissen Spielraum zubilligte. Die zentrale Koordinations- und Mittlerfunktion der Zentralverwaltung und des Anstaltsdezernenten Bernotat in diesem
Zusammenhang kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass „T4“ die „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden durch Bernotat instruieren ließ, die zurückgestellten Patientinnen und Patienten
in ihre ursprünglichen Anstalten zurückverlegen zu lassen.90 Spätere Einlassungen einzelner Direktoren, ihre Einflussmöglichkeit hinsichtlich der „T4“-Verlegungen sei gleich Null gewesen, sind angesichts der geschilderten Verhältnisse als Schutzbehauptungen zu anzusehen. Dass „T4“ die Spielräume
überhaupt einräumte, kann als ein Indiz dafür verstanden werden, wie sehr die Mordorganisation auf
ein Entgegenkommen und eine mehr oder weniger bereitwillige Kooperation der Anstalten im Deutschen Reich setzte, um das Mordprojekt als Ganzes weiter ungehindert in die Tat umsetzen zu können.
Sowohl den prinzipiellen Befürwortern der Tötungsaktion als auch den Skeptikern gab „T4“ durch die
Möglichkeit der Zurückstellungen im Einzelfall den Eindruck, einen Einfluss auf den Verlauf der Tötungsaktion nehmen zu können. Dennoch sind die darauf fußenden Behauptungen aus „T4“-Kreisen,
die „Zwischenanstalten“ hätten der nochmaligen Begutachtung der Kranken gedient,91 vollständig aus
der Luft gegriffen. Dass die vorliegenden Einzelbefunde im Bereich des Bezirksverbandes Nassau eine
eher restriktive Zurückstellungspolitik annehmen lassen, steht mit der Verbandspolitik, die der NS„Euthanasie“ grundsätzlich fördernd gegenüberstand, im Einklang.
Zwar standen die Zurückstellungen bei den juristischen Untersuchungen der Nachkriegszeit besonders im Fokus des Interesses, da sie als entlastendes Moment für Beschuldigte geltend gemacht wurden. Doch für die tatsächliche Bewertung der Mitwirkung der „Zwischenanstalten“ – und damit unter
anderem der Einrichtungen des Bezirksverbandes Nassau – an dem von „T4“ betriebenen Krankenmordprogramm ist die Organisation der schließlich vollzogenen Verlegungen, der so genannten
„Transporte“ in die Gasmordanstalt, von noch größerer Bedeutung. Eine Analyse der Aufgaben, die
diese Anstalten und ihre Mitarbeiter während der Hadamarer Morde in den Monaten Januar bis August
88
Insgesamt 52 Menschen wurden während der Hadamarer Gasmorde (13.01.–21.08.1941) durch die HEPA Scheuern entlassen (ohne die in andere LHAen usw. Verlegten), davon galten 18 als „ungeheilt“, 29 als „gebessert“ u. 4 als „geheilt“ (einmal
keine Angabe), 8 der 52 wurden ab dem Entlassungsdatum zu Angestellten der HEPA Scheuern, alle 52 waren bereits vor der
Mordaktion „Pfleglinge“ der HEPA Scheuern, z. T. seit vielen Jahren: AHS, Hauptkrankenverzeichnis (Eintragungen 1941);
siehe dazu auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 36 f.; vgl. auch AHS, 6-seitiges Typoskript unter dem Titel „Aus der Geschichte
der Anstalt Scheuern von den Jahren 1937–1947“, verfasst von dem ehem. Vorstandsvorsitzenden, Pfarrer i. R. Runkel (11.11.
1972), hier S. 2.
89
Dies gilt etwa im Vergleich zu den Anstalten in der Rheinprovinz: Siehe dazu die weiter oben referierten Daten nach Werner, Rheinprovinz (1991), S. 140; vgl. auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 93. – In AHS,
Hauptkrankenverzeichnis (Eintragungen 1941), lässt sich feststellen, dass gerade 3 „Zwischenanstalts“patienten und eine
-patientin zurückgestellt wurden. – Der Scheuerner Anstaltsdirektor Todt korrespondierte mit „T4“ wegen der Zurückstellung
einzelner Patienten: AHS, zwei Schreiben von [„T4“,] Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, Der Leiter,
Berlin, an HEPA Scheuern b. Nassau (21. bzw. 23.05.1941), hier begl. Abschr. (o. D. [1949]) (darin Bezugnahme auf Schreiben d. HEPA Scheuern v. 09. bzw. 15.05.1941, worin Todt wegen der Zurückstellung von Kriegsteilnehmern angefragt
hatte). – Zur Zurückstellung von „verdienten Kriegsteilnehmern“ aus dem Ersten Weltkrieg und von Ausländern siehe Kap.
IV. 3. b).
90
Dokumentiert ist diese Mittlerrolle Bernotats in Bezug auf die Zurückverlegungen von Zurückgestellten von der HEPA
Scheuern zur LHPA Heppenheim u. zur LHA Marburg: AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (21.08.1941)
mit Anlage „Liste der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern“.
91
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./
19.02.1947), hier Bl. 1022 (19.02.1947).
454
IV. Zeit der Gasmorde
1941 übernahmen, erhellt zugleich die Bedeutung, die die Installierung des Systems der „Zwischenanstalten“ im Gesamtkontext des Mordprogramms hatte (dies unbeschadet dessen, dass aus den Leitungen und aus der Mitarbeiterschaft der „Zwischenanstalten“ niemand rechtskräftig wegen der Mitwirkung an den Verlegungen nach Hadamar verurteilt wurde).92
Im Vordergrund des Interesses stehen hier die fünf „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden selbst, aus denen zwischen dem 13. Januar und dem 21. August 1941 drei Viertel der über
10.000 Mordopfer, die 1941 in der Gaskammer starben, durch die „T4“-Organisation „Gekrat“ nach
Hadamar gebracht wurden;93 nur ein verhältnismäßig geringer Anteil, nämlich das übrige Viertel der
Hadamarer Gasmordopfer, wurde durch „T4“ aus den vier außer„nassauischen“ „Zwischenanstalten“
abgeholt.94
92
Die Verurteilungen des Personals der LHA Eichberg erfolgte wegen der Teilnahme an Morden auf dem Eichberg selbst
bzw. im Fall von Mennecke (jedoch durch seinen Tod nicht rechtskräftig) wegen der Mitarbeit als „T4“-“Gutachter“: HStA
Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche
Urteilsverkündung: 21.12.1946]). – Zum Antrag, allein wegen der Verlegungen gegen den ehem. Direktor der LHA Weilmünster, Dr. Ernst Schneider, zu ermitteln, siehe HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 108, Vfg. zum Schreiben OStAnw b. d. LG
Limburg an Untersuchungsrichter b. d. LG Limburg (21.04.1952) (dies führte jedoch nicht zu einem Verfahren); 1953 wurde
Schneider außer Verfolgung gesetzt: ebd., Nr. 1157, Bl. 34 f., Beschluss d. 3. Strafkammer d. LG Limburg (14.11.1953); siehe
auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 153. – Die Angeklagten der HEPA Scheuern wurden nach z. T. mehrjähriger
Untersuchungshaft freigesprochen, da subjektiv ein Beihilfewillen zum Mord nicht erkennbar sei, „[s]elbst wenn objektiv in
der Tätigkeit des Angeklagten [Karl Todt, P. S.] eine gewisse Förderung des Mordprogramms [...] gesehen werden könnte“:
Urteilsbegründung aus dem Verfahren gegen den Leiter der Anstalt Scheuern, Karl Todt, und gegen den Anstaltsarzt Dr. Th.,
hier n. d. auszugsweisen Abdr. in Skizzen (1990), S. 31/33/35/37, hier S. 35; zu Karl Todt (1886–1961) siehe auch biogr.
Anhang – Die Mitglieder der Leitung der HEA Kalmenhof wurden entweder freigesprochen (Dir. Ernst Müller) bzw. nur wg.
Beihilfe zu den Morden im Kalmenhof selbst verurteilt (stv. Dir. Wilhelm Grossmann): siehe Angaben im biogr. Anhang. –
Der Dir. d. Anstalt Andernach (1934–1945), Dr. med. Johann Recktenwald (1882–1964), wurde 1948 zwar in erster Instanz
zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt, ein weiterer Arzt, Dr. Ewald K., zu 5 Jahren Zuchthaus, beide wurden jedoch 1950 in 2.
Instanz freigesprochen (1951 rechtskräftig): LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1220, Bl. 1–33, OStAnw Koblenz an Strafkammer
beim LG Koblenz (04.02.1948); ebd., Nr. 1222, Bl. 1–84, LG Koblenz, Urteil mit Urteilsbegründung in der Strafsache gegen
Dr. Johann Recktenwald, Dr. Ewald K., Dr. Elisabeth K. wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (o. D. [ca.
29.07.1948]); ebd., Nr. 1223, Bl. 380–443, Urteil des Schwurgerichts Koblenz in der Strafsache gegen Dr. Johann Recktenwald u. Dr. Ewald K., Az. 9/5 KLs 41/48 (o. D. [ca. 28.07.1950]); ebd., Bl. 556–561, Urteil d. OLG Koblenz in der Strafsache
gegen Dr. Johann Recktenwald u. Dr. Ewald K., Az. SS 228/50 (o. D. [Sitzungsdatum: 05.04.1951]); Haffke, „Eugenik“
(1998), S. 36–39; zu Recktenwald siehe auch biogr. Anhang – Zu den Freisprüchen betr. Scheuern u. Andernach vgl. auch
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1990, Grossmann, Wilhelm, Teil 2, Bl. 6, Dir. Karl Todt, HEPA Scheuern, an
Wilhelm Grossmann, Idstein (10.04.1951), Abschr.; zu den Urteilen über die Beteiligten aus den „Zwischenanstalten“ siehe
insg. Boberach, Verfolgung (1991), S. 165–173.
93
Tabellarische Übersicht: Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). – Eine Liste mit den Namen
der 1.630 zwischen Jan. u. Aug. 1941 aus der LHA Herborn nach Hadamar verlegten Menschen (774 „Stammpatient/inn/en“
und 856 Patient/inn/en aus anderen „Ursprungsanstalten“) findet sich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 17. – Angaben zu
mind. 2.602 im Jahr 1941 aus der LHA Weilmünster nach Hadamar verlegten Menschen lassen sich in HStA Wi, Abt. 461 Nr.
32061 Bd. 3, o. Bl.-Nr. (Bl. 38) u. in LWV, Best. 19/14, finden; mind. 651 von ihnen waren ursprünglich Patient/inn/en der
LHA Weilmünster (einschließlich der jüd. Patient/inn/en), die übrigen waren ursprünglich Patient/inn/en anderer „Ursprungsanstalten“; zu möglicherweise darüber hinaus gehenden Zahlen für Weilmünster siehe auch Sandner, Landesheilanstalt
(1997), S. 135, S. 159 (Anm. 81). – Die Zahl der zwischen Jan. u. Aug. 1941 von der LHA Eichberg in die LHA Hadamar
verlegten Menschen wurde auf 784 „Stamm-“ und 1.487 „Durchgangs-Patienten“ (also 2.261 Personen) beziffert: HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche
Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 22; vgl. ebd., Bd. 2, Bl. 173, LHA Eichberg, Dir. Dr. Hinsen, an OStAnw b. d. LG
Ffm (21.08.1946); vgl. auch ebd., Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 27a, LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm
(30.04.1946); siehe auch ebd., Nr. 32442 Bd. 13, Aktenteil „Sonderband III“, 57-seitige Liste d. LHA Eichberg „Abgänge
nach anderen Anstalten [im Zeitraum 08.05.1941 bis 1945]“ (o. D. [wahrscheinlich 1946]). – Aus dem Hauptkrankenverzeichnis (Eintragungen für 1941) im Archiv d. Heime Scheuern lassen sich die Daten von 682 im Rahmen der „T4-Aktion“
verlegten Patient/inn/en rekonstruieren, von denen 327 aus anderen „Ursprungsanstalten“ in die „Zwischenanstalt“ Scheuern
verlegt worden waren, während für die übrigen 355 die Anstalt Scheuern selbst die „Ursprungsanstalt“ war; die bei
Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367, angegebenen Daten addieren sich zu einer Zahl von 689 im Zeitraum 18.03.–
23.07.1941 von Scheuern nach Hadamar verlegten Menschen; allerdings sind in beiden Fällen auch die 39 Personen mitgezählt, die tatsächlich nicht nach Hadamar, sondern am 18.03.1941 von „T4“ zwecks Filmaufnahmen nach Sachsen verschleppt
wurden: siehe dazu weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). – Zu den unvollständigen Zahlenangaben über die Verlegungen aus
der „Zwischenanstalt“ Kalmenhof siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. a). – Eine Addition dieser Daten (mit der geschätzten Zahl von 400 für den Kalmenhof) ergibt eine Anzahl von 7.536 Menschen, die über die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ nach Hadamar verlegt worden sind.
94
Tabellarische Übersicht: Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941). – Werner, Rheinprovinz
(1991), S. 138, 140, fasst die Zahl der 1941 aus dem Rheinland nach Hadamar verlegten Menschen so zusammen: aus der
Anstalt Andernach im Zeitraum 23.04.–15.08.1941 insg. 917 Personen (davon 466 ursprünglich dort Untergebrachte, 447 aus
anderen Anstalten über die „Zwischenanstalt“ nach Hadamar Verlegte, 4 später nach Zurückstellungen in Hadamar Zurückverlegte), mitzurechnen sind wohl die 58 am 11.02.1941 von Andernach verlegten jüdischen Patient/inn/en, aus der Anstalt
Galkhausen im Zeitraum 28.04.–20.08.1941 insg. 870 Personen (darunter [mind.] 337 ursprünglich dort Untergebrachte u.
3. Kooperation während der Gasmorde
455
In den „Zwischenanstalten“ begann die konkrete Vorbereitung der Verlegungen nach Hadamar einige Tage vor dem jeweils geplanten Termin. „T4“ teilte den betroffenen Personenkreis samt dem vorgesehenen Verlegungsdatum dem Leiter der „Zwischenanstalt“ mittels einer „Transportliste“ mit – zum
Teil geschah deren Versand direkt durch die „T4“-Anstalt Hadamar, zum Teil über den Umweg der
Zentralverwaltung des Bezirksverbandes. Anschließend wurde diese Liste – wie Mennecke für die
Anstalt Eichberg darstellte95 – vom Anstaltsleiter „im Konferenzzimmer bekanntgegeben [...]. Es wurde [...] mitgeteilt, daß die in der Liste verzeichneten Kranken an dem und dem Tag abgeholt werden
sollten. Dann wurden Abschriften im Büro von den Namen dieser Listen angefertigt, damit die jeweiligen Stationsschwestern bezw. der Oberpfleger oder Stationspfleger sich aus den Abschriften orientieren konnte, welche Patienten für den soundsovielten bereit zu halten wären [...].“96 Das vom Anstaltsleiter informierte Pflegepersonal machte die genannten Patientinnen oder Patienten daraufhin für den
vorgesehenen Tag reisefertig.97
Spätestens zum vorgesehenen Abholungstermin wurden die Opfer meist in einem bestimmten Gebäude der jeweiligen „Zwischenanstalt“ zusammengezogen, das von den „T4“-Bussen gut angefahren
werden konnte. Im Eichberg handelte es sich um den so genannten „Frauenbau“,98 in der Landesheilanstalt Weilmünster um je eines der Krankengebäude auf der Männer- bzw. der Frauenseite der Anstalt,
wo von Vornherein sämtliche im Rahmen der „Zwischenverlegungen“ aufgenommenen Menschen
untergebracht waren;99 auch in einem Gebäude der Landesheilanstalt Herborn war bereits am 18. Januar 1941 Platz geschaffen worden, vermutlich um fortan die zu verlegenden Menschen sammeln zu
können.100 Die für die Abholung benutzten „Gekrat“-Busse haben sich in die kollektive Erinnerung als
die ominösen „grauen Bussen“ eingeschrieben (wenn auch die Fahrzeuge tatsächlich unterschiedlich –
anfangs auch rot – lackiert waren).101 Bei der Übergabe der Patientinnen und Patienten an das „Transport“personal begegneten die Schwestern und Pfleger der „Zwischenanstalt“ teilweise alten Kollegen,
denn auch vom Bezirksverband Nassau an „T4“ abgeordnetes Personal fuhr als Begleitkommando in
den „Gekrat“-Bussen mit.102 Mitunter waren Funktion und Bedeutung der Busse bereits den Opfern
[mind.] 496 aus anderen Anstalten über die „Zwischenanstalt“ nach Hadamar Verlegte). – Nach einer Feststellung d. ehem.
PV d. Rheinprovinz wurden von dort 1.951 Menschen ab etwa Apr. 1941 verlegt, deren Tod bis Aug. 1941 gemeldet wurde:
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1232, o. Bl.-Nr., StAnw Düsseldorf, Vm. zum Verfahren 8 Js. 116/47 (28.10.1947); siehe auch die
dazu gehörige Namensliste in ebd., Nr. 1230, o. Bl.-Nr., „Beglaubigte Abschrift des Katasterbandes IV des ehemaligen Landeshauptmanns der Rheinprovinz beim Oberpräsidenten in Düsseldorf[,] bet[r].: ‚Anstalten der Gemeinnützigen Stiftung für
Anstaltspflege‘“ (o. D. [1947]). – Aus der badischen „Zwischenanstalt“ Wiesloch wurden im Zeitraum 28.03.–21.07.1941 265
Menschen nach Hadamar verlegt: Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 282 (Tabelle 12). – Für die württembergische „Zwischenanstalt“ Weinsberg ist bei Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367, die Verlegung von 270 Menschen im Zeitraum
10.03.–17.06.1941 dokumentiert. – Eine Addition dieser Daten ergibt (bei Zugrundelegung der Angaben Werners) eine Anzahl von mindestens 2.380 Menschen, die über die vier außer„nassauischen“ „Zwischenanstalten“ nach Hadamar verlegt
worden sind, wobei die jüdischen Patienten aus dem nördlichen Rheinland (91 über die Sammelanstalt DüsseldorfGrafenberg) sowie aus dem südwestdeutschen Raum (mind. 98 über die Sammelanstalt Heppenheim) noch nicht berücksichtigt wurden: siehe dazu Kap. IV. 3. b).
95
Menneckes Darstellung ist im Grundsatz auch auf die anderen „Zwischenanstalten“ im BV Nassau übertragbar.
96
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 174 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 8.
Hv-Tag (13.12.1946).
97
Für Weilmünster: ebd., Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 533–535, Aussage Margarete W. b. OStAnw b. d. LG Ffm (27.09.1946), hier
Bl. 535; HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 10, Aussage von Elisabeth B. in Hadamar (14.02.1946), Abschr. (in beiden vorgenannten Aussagen wird bestätigt, dass auch in Weilmünster die Oberschwester die Listen der Abzuholenden mit auf die
Stationen brachte); ebd., Bl. 25, Aussage Stanislaus G. (11.02.1946); Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 135. – Für den
Eichberg: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 40 f., Aussage Helene Schürg als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. HvTag (05.12.1946); Bl. 21 f., Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946).
98
Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 21, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag
(03.12.1946).
99
Es handelte sich um die so genannten IIIer-Häuser (M III bzw. F III): ebd., Nr. 31898, Bl. 33–35, Aussage Erich
Moos (29.09.1946), hier Bl. 33; Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 135.
100
LWV, Best. 12/K5097, Krankengeschichte, o. Bl.-Nr., Eintrag d. LHA Herborn (18.01.1941) („Aus platztechnischen
Gründen nach – P. G. – verlegt.“) – Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung.
101
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 64 f., hier Bl. 64, Aussage Dr. [William] Altvater ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar
(19.02.1946) („teils rote, teils graue, später nur dunkle“); ebd., Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d.
Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945), hier Bl. 38 („schwarze, große Autos“); ebd., Bd. 2, Bl. 59 f., Zeugenaussage Wilhelm W. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946), hier Bl. 60 („dunkel angestrichen und schwarz verhängt“); ebd., Bd. 4,
Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946) („Farbe: grau“).
102
Ebd., Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd.,
Bl. 181 f., Aussage Benedikt Härtle ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Oberweyer (09.03.1946), hier Bl. 181; Bd. 7, Bl. 71,
456
IV. Zeit der Gasmorde
bekannt, sodass die kranken und behinderten Menschen teilweise Angst hatten mitzufahren. Laut Mennecke haben mehrfach die Betreffenden „[z]ur Beruhigung [...] vor dem Transport ihre Spritze bekommen, damit sie unterwegs nicht irgendwelche Schwierigkeiten machten.“103
In verschiedenen „Zwischenanstalten“ wurden die Menschen vor der Verlegung mit einer Identifikationsnummer versehen, die das Pflegepersonal mit einem blauen Fett- oder Kopierstift auf den Körper
(den Rücken und/oder die Arme) auftrug.104 Bei dieser Nummer handelte es sich – das lässt sich erschließen – um die meist fünf- oder sechsstellige so genannte „Z-Nummer“, mit der die Berliner Zentrale von „T4“ aus organisatorischen Gründen, unter anderem um Verwechslungen vorzubeugen, sämtliche ausgefüllten Meldebogen versehen hatte und die nun auf der übersandten „Transportliste“ erneut
auftauchte.105 Eine weitere Tätigkeit, die meist das Pflegepersonal in den „Zwischenanstalten“ übernahm, war die Verpackung der persönlichen Habe (überwiegend Kleidungsstücke und Wertgegenstände) der Patientinnen und Patienten, die verlegt werden sollten. Teilweise (so in Herborn) zogen die
Anstalten für diese Verpackungstätigkeit auch andere Patienten heran.106
Schließlich suchten die „Zwischenanstalten“ die Krankenakten der abzuholenden Patientinnen und
Patienten heraus, um die Unterlagen den „T4“-Mitarbeitern in den Bussen mitzugeben. Diese Akten,
die von „T4“ noch zu organisatorischen Zwecken verwendet und aufbewahrt wurden (und die teilweise
später – bis in die 1990er Jahre – verschlungene Wege nahmen),107 wurden 1941 in den „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden entweder vom Büro der Anstalt (z. B. in der Anstalt Eichberg) oder vom Oberpflegepersonal (z. B. in der Anstalt Weilmünster)108 zusammengestellt.
Obwohl der jeweilige Anstaltsdirektor bei der Organisation der Verlegungen letztlich die Verantwortung trug, war dessen persönliche Anwesenheit hierbei nicht zwangsläufig erforderlich. Als beispielsweise Mennecke aufgrund seiner „T4“-„Begutachtungs“reisen im Februar 1941 vom Eichberg abwesend war, konnte der aus dem Ruhestand zurückberufene 71-jährige Dr. Bernhard R. (der sich später –
zweifellos zu Unrecht – als Gegner der NS-„Euthanasie“ zu stilisieren suchte) dem Direktor brieflich
aus der Anstalt berichten: „Hier geht alles seinen ruhigen und friedlichen Geschäftsgang. [...] Montag,
Mittwoch und Samstag folgen Verlegungen von ca. 140 Männern und 75 Frauen. Es wird alles plan-
Aussage d. Angeklagten Benedikt Härtle im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947); vgl. auch die jeweiligen biografischen Angaben in Kap. IV. 2. c).
103
Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag
(03.12.1946). – Zu Kenntnissen der Opfer und zur Vergabe von Spritzen in der „Zwischenanstalt“ Scheuern siehe auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 33. – Zu den Kenntnissen der Kranken in der Anstalt Andernach siehe auch die in Wert (1989),
S. 242, abgedruckte Aussage einer Ärztin dieser Einrichtung.
104
Für den Eichberg: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b.
d. LG Ffm (03.05.1946), hier Bl. 13; ebd., Bl. 55, Zeugenaussage Franziska P. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946);
ebd., Bd. 4, Bl. 21, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); ebd.,
Bl. 147, Zeugenaussage Katharina Sch. im Eichberg-Prozess, 7. Hv-Tag (12.12.1946); ebd., Bl. 218–253, Urteil mit Urteilsbegründung d. LG Ffm im Eichberg-Prozess (o. D. [mündliche Urteilsverkündung: 21.12.1946]), hier Bl. 228. – Für Weilmünster: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 533–535, Aussage Margarete W. b. OStAnw b. d. LG Ffm (27.09.1946),
hier Bl. 535. – In der HEA Kalmenhof scheint abweichend ein runder Stempel mit Nummer für die Kennzeichnung verwendet
worden zu sein: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 31526, Aussage Hugo B. in Idstein (26.04.1945); ebd., Aussage des Pflegers S. in
Idstein (26.04.1945).
105
Für die in Hadamar ermordeten bzw. in den Hadamarer „Zwischenanstalten“ untergebrachten Menschen lassen sich bislang
„Z-Nummern“ in folgenden Tausenderbereichen feststellen: 70..., 74..., 84..., 114..., 119..., 122..., 123..., 127..., 132..., 133...,
157...: Archiv d. Heime Scheuern, zwei Schreiben d. LHPA Alzey an HEPA Scheuern (09.05.1941); ebd., [„T4“,] „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, Leiter, an HEPA Scheuern (21.05.1941), hier begl. Abschr. (o. D. [1949]); ebd.,
Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (21.08.1941), mit Anlage „Liste der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern“;
ebd., HEPA Scheuern an Bernotat, Wiesbaden (02.09.1941, Durchschr.; BA, R179/2117, 2119, 2127 f., 2131 f., 2221, 2223,
2239, 2434, 2501, 2642 f., 2718, 2857, 2933, 3042, 3051 f.; siehe auch Sandner, „Euthanasie“-Akten (1999), S. 391 f.; vgl.
auch Aly, Fortschritt (1985), S. 69.
106
HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1155, Bl. 114–123, Herbert B., Guxhagen-Breitenau, an StAnw d. IV. Strafkammer Ffm (30.12.
1946), hier Bl. 117.
107
Zur Überlieferungsgeschichte der erhaltenen ca. 30.000 Akten, die seit Ende des Krieges und später verschlungene Wege
über Oberösterreich und Thüringen in die Berliner Archive der DDR-Staatssicherheit nahmen, bevor sie nach der deutschen
Einheit in die Bestände des Bundesarchivs gelangten, wo sie heute den Bestand R179 bilden, siehe Sandner, „Euthanasie“Akten (1999), sowie Sandner, Schlüsseldokumente (2003).
108
HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 25, Aussage Stanislaus G. in Weilburg (11.02.1946) (danach hat Oberpfleger Jakob J. in
Weilmünster „die Akten von Berlin und anderen Orten [...] aussortiert“).
3. Kooperation während der Gasmorde
457
mäßig verlaufen.“109 Mitunter aber traten durch Menneckes Abwesenheit auch organisatorische Pannen
zu Tage. Mit Missfallen hat beispielsweise Mennecke im Februar 1941 gegenüber der Anstalt Hadamar
„schwer moniert“, dass „eine neue Transportliste [...] wieder an meine persönliche Adresse gerichtet
[wurde]“110 – wegen der Abwesenheit des Direktors hatte dies nämlich zur Folge, dass der Brief mit der
Liste ihm ungeöffnet nachgesandt wurde und nicht unmittelbar der Eichberger Anstalt zur Vorbereitung der Verlegung zur Verfügung stand. Doch derartige Pannen blieben die Ausnahme. Im Allgemeinen vollzog man die Wegverlegungen aus der Landesheilanstalt Eichberg selbst dann, wenn überhaupt
keine ärztliche Leitung anwesend war. In diesem Falle übernahm der für die Vertretung zuständige
erste Verwaltungsbeamte die Weitergabe der „Transportlisten“ an die Stationen.111
Neben den operativen Aufgaben bei der Verlegung der Patientinnen und Patienten in die Mordanstalt
Hadamar stellten die „Zwischenanstalten“ im Bezirksverband Nassau durch die Abrechnung der in
diesem Zusammenhang anfallenden Pflegekosten auch in administrativer Hinsicht eine reibungslose
Abwicklung der Verlegungsaktion im Jahre 1941 sicher. Bevor nämlich das Vertuschungssystem der
„T4“-„Zentralverrechnungsstelle“ griff, übernahmen die Anstalten selbst diese Verschleierung, indem
sie gegenüber den Kostenträgern – etwa den Kommunen als Bezirksfürsorgeverbänden – den tatsächlichen Aufenthaltsort der Verlegten in der „Zwischenanstalt“ buchungstechnisch verheimlichten. Dadurch erfuhren diese Kostenträger – wenn überhaupt – erst dann von den Verlegungen, wenn die von
ihnen unterstützten Menschen bereits in Hadamar ermordet waren. Gerade in den Anfangsmonaten der
Hadamarer Morde herrschte allerdings noch Unklarheit darüber, wann und gegebenenfalls mit welcher
Auskunft die Kostenträger durch die „Zwischenanstalten“ informiert werden sollten. Zunächst hatte
beispielsweise die Anstalt Scheuern (nach Verlegungen von Menschen nach Hadamar) die Kostenträger nicht informiert, bald aber erwies es sich „mit Rücksicht auf Pflegekostenabrechnung, Rentenbezüge usw. immer mehr als dringend notwendig, dass Anzeigen [an die Kostenträger, P. S.] erstattet
werden.“112 Es fanden sich aber – wie die Anstalt Weilmünster bewies – Wege, diese Mitteilung zu
vermeiden. Wenn beispielsweise die „Zwischenanstalt“ Weilmünster Patienten aus den hessischen
Landesheil- und Pflegeanstalten (etwa Alzey, Goddelau oder Heppenheim) aufnahm, meldete sie dies
nicht wie üblich den Kostenträgern, sondern sie ließ diese die Pflegekosten weiter an die „Ursprungsanstalten“ (hier also Alzey, Goddelau oder Heppenheim) zahlen. Anschließend forderte die Anstalt
Weilmünster diese Pflegesätze für die nun für einige Wochen (bis zur Weiterverlegung in die Mordanstalt Hadamar) in Weilmünster untergebrachten Menschen von den „Ursprungsanstalten“ zur Erstattung an.113 Dies verringerte einerseits den Arbeitsaufwand für die „Zwischenanstalt“, andererseits trug
es aber auch zur gewünschten Verschleierung bei. Schließlich verbot Anstaltsdezernent Bernotat in
109
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 197), Dr. Bernhard R., Eichberg, an Dr. Friedrich Mennecke
(14.02.1941), Abdr. auch b. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 127 (D[ok.]46), Abdr. teilweise auch b. Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 331 (Dok. 191). – Zu Dr. med. Bernhard R. (* 1869) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur
Biografie u. zu den Motiven für sein Ausscheiden im Sommer 1941: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 89, 6-seitige
„Aufstellung der in der Landesheilanstalt Eichberg in der Zeit v. 1939 bis März 1945 beschäftigten Personen“ (o. D. [Anschreiben: 13.02.[1946]]); ebd., Bd. 2, Bl. 13 f., Aussage Helene Schürg als Beschuldigte b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.05.
1946), hier Bl. 13; ebd., Bd. 3, Bl. 119–125, Aussage Dr. Walter Schmidt b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (04./05./07.11.1946),
hier Bl. 119 (04.11.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 191, Protokoll-Fragment der Aussage Medizinalrat Dr. R. ggü. d. StAnw Ffm (o. D.
[ca. 1946]); HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12826, o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an Staatl. Gesundheitsamt
Rüdesheim (08.03.1941), Durchschr., sowie zugehörige Vfg. (07.03.1941); ebd., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg an Reichsärztekammer, Ärztliche Bezirksvereinigung Wiesbaden (02.09.1941, ab: 03.09.1941), Durchschr.; BV Nassau, Verwaltungsbericht (Anfang 1934–Anfang 1935), S. 2.
110
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Fritz Mennecke, z. Zt. Bielefeld, an Eva Mennecke (19.–20.02.1941), hier zit. n. d. Abdr. b.
Mennecke (1988), S. 171–173 (Dok. 59), hier S. 172 (19.02.1941).
111
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, Bd. 4, Bl. 175, Aussagen Dr. Friedrich Mennecke u. Dr. Walter Schmidt als Angeklagte im
Eichberg-Prozess, 8. Hv-Tag (13.12.1946). – Zur Vertretungsregelung durch den ersten Verwaltungsbeamten Ludwig W. in
der LHA Eichberg siehe Kap. IV. 2. b).
112
AHS, HEPA Scheuern [Dir. Todt] an den Vorsitzenden [LdsR Bernotat, Wiesbaden] (25.04.1941).
113
StA Da, Abt. H 13 Darmstadt, Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 7 (= mehrere Dokumente), hier LHA Weilmünster an LHPAen
Heppenheim, Goddelau u. Alzey (18.03.1941), hier Exemplar an LHPA Goddelau („Wir bitten um sofortige Überweisung der
uns für Monat Februar 1941 zustehenden Pflegegelder für die von dort nach hier überführten Kranken“); LWV, Best. 14/174,
dasselbe Schreiben, hier Exemplar an LHPA Heppenheim; zur entsprechenden Verrechnung zwischen den „Zwischenanstalten“ u. der LHA Marburg siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 288.
458
IV. Zeit der Gasmorde
bestimmten Fällen sogar den Kontakt der „Zwischenanstalten“ mit den Kostenträgern der auswärtigen
Patientinnen und Patienten.114
Die Bedeutung der Kassengeschäfte belegt auch eine personelle Sofortmaßnahme der Landesheilanstalt Eichberg Anfang 1941. Nach einer Verabredung zwischen Anstaltsdezernent Bernotat und Direktor Mennecke bestellte die Anstalt wegen Personalmangels (durch Einberufungen und Erkrankungen)
ab Februar 1941 ihren bisherigen Telefonisten Johann E. zum kommissarischen Kassenleiter, damit die
anfallenden Abrechnungsarbeiten unverzüglich weitergeführt werden konnten. Nach Abschluss der
„T4“-Verlegungen lobte Mennecke E. in höchsten Tönen – dieser habe „die ihm übertragenen Sonderaufgaben [...] mit ganz besonders großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit durchgeführt“, er beweise
„täglich auf’s Neue, dass er derartigen Aufgaben gewachsen ist, und er setzt in erfreulicher Weise seinen ganzen Ehrgeiz darein [!], die Interessen der Verwaltung zu fördern.“ Eine beantragte Höhergruppierung E.s lehnte der Bezirksverband zwar vorerst ab, da der Betreffende keine Verwaltungsprüfung
abgelegt hatte. Man belohnte ihn aber Anfang 1942 in „Anerkennung seiner besonderen Leistungen“
mit einer Einmalzulage von RM 100; beinahe gleichzeitig konnte er aus den Händen des Anstaltsdezernenten Bernotat eine Kriegsverdienstmedaille entgegennehmen.115
Nicht nur durch derartige Änderungen in der Geschäftsverteilung, sondern auch durch einzelne Versetzungen oder Abordnungen an seine eigenen Landesheilanstalten116 traf der Bezirksverband vor oder
während der Zeit der Gasmorde Vorkehrungen in personeller Hinsicht, um einen reibungslosen Ablauf
in der Tätigkeit der „Zwischenanstalten“ zu sichern. So ordnete die Zentralverwaltung des Bezirksverbandes ab März 1941 für fünfeinhalb Monate ihre Verwaltungsangestellte Irene M., die 1938 aufgrund
von Parteireferenzen in Wiesbaden eingestellt worden war, zur Landesheilanstalt Herborn ab.117 Dort
verstärkte sie die Anstaltsverwaltung, die durch die Krankenneuaufnahmen und -verlegungen nach
Hadamar in diesen Monaten einen erheblichen administrativen Mehraufwand zu bewältigen hatte. Als
M. dann im September 1941 „infolge Umstellung der Landesheilanstalt Herborn [dort] entbehrlich“
war, berief der Bezirksverband sie zurück zur Wiesbadener Zentralverwaltung und setzte sie dort in
Bernotats Anstaltsabteilung „S/II/III“ ein.118 Eine entsprechende personelle Verstärkung im Bürobereich durch Abordnung einer Schreibkraft der Wiesbadener Zentralverwaltung lässt sich auch für die
Landesheilanstalt Eichberg feststellen.119
Die beiden von Bernotat geleiteten Privatanstalten in Scheuern und Idstein, die damit de facto auch
vom Bezirksverband Nassau mitverwaltet wurden, verhielten sich als „Zwischenanstalten“ für „T4“
insgesamt ähnlich wie die Landesheilanstalten des Bezirksverbandes selbst.120 Auch das Beispiel der
Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern dokumentiert, wie eigenständig und aktiv eine „Zwischen114
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (11.08.1941). – So durfte vom Tod von „Zwischenanstalts“patienten
nur die ursprüngliche Anstalt u. die Angehörigen, nicht aber der Kostenträger informiert werden.
115
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Er., Jo., Bd. I, div. Dok. zw. Bl. 74 u. Bl. 92 zur neuen Tätigkeit u. zur
Bemühung um Höhergruppierung (24.03.1941–19.08.1943), insb. Bl. 81, Dir. d. LHA Eichberg, Dr. Mennecke an BV Nassau
(16.02.1942), Abschr. (Zitat „[...] übertragenen Sonderaufgaben [...]“, „täglich auf’s [...]“), sowie Bl. 82, BV Nassau, B (Ia)
Pers., gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, durch Abt. A (S/II) an LHA Eichberg (25.02.1942) (Zitat „[...] besonderen Leistungen“); ebd., Bd. II, Teil 1, Bl. 37, Empfangsbescheinigung über Verleihung d. Kriegsverdienstmedaille an Johann E. (24.03.
1942); ebd., Teil 2, Bl. 42–52, div. Dok. zur „Verwaltungsprüfung II“ (19.01.–08.03.1949). – Nach einem neuerlichen Antrag
wurde die Höhergruppierung 1943 schließlich doch genehmigt mit der Auflage, nach Kriegsende die vorgeschriebene Prüfung
nachzuholen, welche E. jedoch im Jahre 1949 nicht bestand.
116
Zur Abordnung von Personal an „T4“ für die Mordanstalt Hadamar selbst siehe Kap. IV. 2. c).
117
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Ma., Ir., Teil 1, o. Bl.-Nr., Personalbogen d. BV Nassau für Irene M.
(o. D. [begonnen 22.11.1938]); ebd., Bl. 23–32, Vfgg./Vmm. d. BV Nassau sowie Schreiben LHA Herborn an BV Nassau
(11.03.–24.09.1941). – Die Abordnung sollte ursprünglich am 25.02.1941, dann am 11.03.1941 beginnen, erstreckte sich
jedoch schließlich auf den Zeitraum 25.03.–10.09.1941, tatsächlicher Dienstantritt war der 26.03.1941. – Zur Einstellung von
Irene M. im Jahr 1938 siehe Kap. II. 2. b).
118
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Ma., Ir., Teil 1, Bl. 30, Vm. d. BV Nassau [Pers.-Abt.] (01.09.1941);
sowie ebd., Vfg. zum Schreiben BV Nassau durch die LHA Herborn an Irene M. (01.09.1941, ab: 04.09.1941).
119
Siehe dazu Kap. IV. 3. b).
120
Zur HEA Kalmenhof als „Zwischenanstalt“ siehe unten. – Zur HEPA Scheuern als „Zwischenanstalt“ siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 268 f.; Skizzen (1990), S. 31; Otto, Heilerziehungs- und Pflegeanstalt (1993), S. 320; Koppelmann, Streifzug
(1997), S. 166 f.; ders., Zeit (2000), S. 33 f.; Wery, Heilerziehungs- und Pflegeanstalt (2002), S. 83–89; siehe auch Urteilsbegründung aus dem Verfahren gegen den Leiter der Anstalt Scheuern, Karl Todt, und gegen den Anstaltsarzt Dr. Th., auszugsweiser Abdr. in Skizzen (1990), S. 31/33/35/37, hier S. 33.
3. Kooperation während der Gasmorde
459
anstalt“ im Regierungsbezirk Wiesbaden die administrativen Anforderungen, die die Organisation der
„T4“-„Transporte“ bedeuteten, als Herausforderungen annahm und meisterte. Ebenso wie der Herborner Anstaltsdirektor121 korrespondierte und telefonierte auch die Leitung der Scheuerner „Zwischenanstalt“ überwiegend im Vorfeld der Verlegungen mit den so genannten „Ursprungsanstalten“ (etwa in
Marburg, Alzey oder Gütersloh), von wo ab April 1941 Patientinnen und Patienten zur späteren Weiterverlegung nach Hadamar aufgenommen wurden.122 Auch mit der Mordanstalt Hadamar selbst setzte
man sich telefonisch ins Benehmen, um Detailfragen bei der Krankenverlegung abzuklären. Der Versuch, sich die im Zusammenhang mit den Verlegungen angefallenen Telefonkosten von RM 25,00
durch „T4“ erstatten zu lassen, schlug allerdings fehl, da die „Gekrat“ dies mit folgender Begründung
verweigerte: „Es ist zwischen Behörden und Instituten, die ausschliesslich im Behördenauftrag arbeiten
wie wir, durchaus ungewöhnlich, derartige Kosten weiter zu berechnen. Wir bedauern daher, Ihre
Rechnung ablehnen zu müssen [...]“.123 In bürokratischer Ordentlichkeit ließ die Anstalt sich sogar die
Übergabe der Patientinnen und Patienten an das „T4“-Kommando, das diese zur Ermordung fuhr,
durch den „Transportführer“ quittieren.124 Diese Befunde von Mitwirkung der Scheuerner Direktion
stellen jedoch nicht grundsätzlich die Berechtigung der staatsanwaltschaftlichen Einschätzung von
1948 in Frage, dass der dortige Anstaltsvorstand „Bernotat [als] der Hauptschuldige an allen Massenmorden [...] in Hessen-Nassau [...] die Durchführung des Massenmordes auch in Scheuern persönlich
geleitet und mit allen Mitteln durchgeführt“ habe.125
Einen bemerkenswerten Sonderfall stellte der erste „Transport“ von knapp 40 behinderten Menschen
aus Scheuern dar, die am 18. März 1941 nicht – wie eigentlich nach der regionalen Aufteilung vorgesehen – nach Hadamar, sondern nach Sachsen verlegt wurden, zunächst in die dortige Anstalt Arnsdorf; die Mehrzahl der Verlegten wurde wenige Wochen später in der „T4“-Anstalt Pirna ermordet.
Die Verlegung von Scheuern, die nicht per Bus, sondern mit dem Zug erfolgte und von auswärtigem
Personal begleitet wurde, hatte den Zweck, die Menschen dort für einen „T4“-Dokumentarfilm über
die Krankentötungsaktion aufnehmen zu lassen. Der für die Mordorganisation tätige Filmautor Hermann Schwenninger hatte die Mehrzahl der betreffenden Behinderten wegen ihres vermeintlich besonders erschreckenden Aussehens zuvor in Scheuern ausgewählt. Der geplante Film, für den anschließend auch Aufnahmen der Ermordung in der Gaskammer in Pirna-Sonnenstein angefertigt wurden
(und der nicht überliefert ist), hätte sich einordnen sollen in die nationalsozialistische Filmpropaganda,
die bereits seit den 1930er Jahren die kranken- und behindertenfeindliche Politik des NS-Staats orchestrierte. Entscheidenden Anteil daran, dass es schließlich nie zur Veröffentlichung des Filmes kam,
hatte Propagandaminister Goebbels, der frühzeitig darum besorgt war, „daß man mir kein Kuckucksei
ins Nest legt und daß nicht der Film am Ende mehr Schaden als Nutzen stiftet.“126
121
Siehe oben in diesem Kap. IV. 3. a).
AHS, LHA Marburg an Dir. d. HEPA Scheuern (28.04.1941); ebd., LHA Marburg [an HEPA Scheuern], „Aufstellung der Angehörigen-Anschriften“ (11.06.1941); ebd., zwei Schreiben d. LHPA Alzey [an HEPA Scheuern] (09.05.1941); ebd., PHA Gütersloh an HEPA Scheuern, Dir. Dr. [!] Todt (20.06.1941); siehe auch die Angaben zu den Telefonaten in der folgenden Anm.
123
AHS, HEPA Scheuern [an „T4“, Gemeinnützige Kranken-Transport-G. m. b. H., Berlin], „Rechnung über in der Zeit vom
26. Mai bis 13. August geführte Ferngespräche“ (21.08.1941); ebd., [„T4“,] Gemeinnützige Kranken-Transport-G. m. b. H.,
Berlin, an HEPA Scheuern (27.08.1941). – Außer Telefonaten mit der „T4“-Anstalt Hadamar hatte die HEPA Scheuern auch
Gespräche mit verschiedenen „Ursprungsanstalten“ (hauptsächlich den Anstalten Marburg, Gütersloh, Elisabethenstift Katzenelnbogen) und den übrigen „Zwischenanstalten“ (Eichberg, Herborn, Weilmünster) aufgelistet.
124
AHS, HEPA Scheuern, „Transportliste Nr. 13“ (zum 01.07.1941): Der „Transportführer“ Adolf Seibel quittierte durch
seine Unterschrift auf der Liste („Abgabe-Anst.: Scheuern“, „durchgeführt am 1. Juli 1941“) unter den 112 aufgeführten Namen: „Transport mit Listen und Akten ordnungsgemäss übernommen. Scheuern, den 1. Juli 1941.“ – 111 dieser am 01.07.
1941 verlegten Patient/inn/en (für die die HEPA Scheuern oder die LHA Marburg, in einem Fall das Sanatorium Katzenelnbogen „Ursprungsanstalten“ waren) lassen sich im AHS, Hauptkrankenverzeichnis (Einträge 1941), nachweisen.
125
AHS, OStAnw Koblenz an Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf
Th. (06.08.1948), hier S. 5.
126
Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (05.09.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996),
S. 357–365, hier S. 364. – Aus AHS, HKV (mit Eintragungen 1941), lassen sich die Namen von 39 am 18.03.1941 verlegten
Menschen rekonstruieren; zumindest für jene drei von ihnen, für die der LFV Kassel Kostenträger war, lässt sich die Aufnahme in der sächsischen Anstalt Arnsdorf am folgenden Tag nachweisen: ebd., Landesanstalt Arnsdorf/Sachsen an LFV Kassel
(22.03.1941), hier Abschr. f. HEPA Scheuern; ebd., [„T4“,] Gekrat, an HEPA Scheuern, betr. „Verlegungstransport am 18.
März 1941“ (Schreiben: 08.03.1941), Abschr., als Faks. auch in Dokumentation (2000), S. 33; AHS, OStAnw Koblenz an
Strafkammer des LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl Todt und Dr. Adolf Th. (06.08.1948), hier S. 5, Kopie;
122
IV. Zeit der Gasmorde
460
Weit mehr als die Anstalt in Scheuern, die ihren Charakter als Institution der Inneren Mission zumindest in Ansätzen aufrechtzuerhalten suchte, repräsentierte die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in
Idstein – nicht zuletzt durch ihre Leitung – in radikaler Weise das Bild einer „nationalsozialistischen
Anstalt“.127 Wie in den anderen „Zwischenanstalten“ wurde auch im Kalmenhof zuerst ein Teil der
„eigenen Zöglinge“ nach Hadamar gebracht, bevor Menschen aus anderen Anstalten über den Kalmenhof in die Hadamar Mordanstalt verlegt wurden.128 Gegen Ende der Verlegungen, aber noch während der Hadamarer Gasmorde, wechselte im Juni 1941 in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof die
Leitung: Direktor Ernst Müller, der als NS-„Euthanasie“-Befürworter bereits „etwa um die Zeit des
Kriegsausbruches Andeutungen in dieser Richtung“129 gemacht habe, wurde zur Wehrmacht einberufen
und fortan (bis Kriegsende) durch seinen Stellvertreter, den Bürovorsteher Wilhelm Grossmann ersetzt,
der die Kranken- und Behindertenmorde nicht weniger engagiert unterstützen sollte.130
*
Durch die Bereitstellung und den Betrieb von „Zwischenanstalten“ für die „T4“-Gasmordanstalten in
den Jahren 1940/41 unterstützten verschiedene regionale Anstaltsträger die Krankenmordaktion in
logistischer Hinsicht, denn erst mit der Zwischenschaltung derartiger Institutionen konnte „T4“ die
permanente Nutzung seiner Gaskammern sicherstellen. Dagegen wurde das zweite mit den „Zwischenanstalten“ verbundene Ziel, die Täuschung der Angehörigen, zumindest nicht durchgehend erreicht.131
LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1791, Bl. 2 f., Dr. A[dolf] Th., Scheuern, z. Zt. Schloss Diez, an Gouvernement militaire, Diez
(16.08.1945), hier Bl. 2; ebd., Bl. 5–7, Dir. Karl Todt Anstalt Scheuern, an Gouvernement Militaire, Diez (o. D. [ca. August
1945]), hier Bl. 6 (Todt bezifferte die Zahl der Betroffenen auf 60; das Begleitpersonal habe angegeben, aus Arnsdorf „in
Thüringen“ zu kommen); siehe auch Schilter, Ermessen (1999), S. 81, dort u. a. mit Hinweis auf HStA Wi, Abt. 631a Nr. 476,
Bl. 99, Aussage Hermann Schwenninger (28.10.1970); siehe auch Koppelmann, Zeit (2000), S. 31 (dort wird die Zahl der
Verlegten mit 38 angegeben). – Zur Filmpropaganda in Bezug auf die Krankenmordaktion siehe Roth, Filmpropaganda
(1985); zum genannten Film, dessen Kopien vor Kriegsende vernichtet wurden, siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 344;
Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 288–290; sowie das dort abgedr. Dokument aus BA, R96 I/8, „Entwurf für den wissenschaftlichen Dokumentarfilm G. K. [= Geisteskranke] von Hermann Schwenninger“ (29.10.1942), Abschr.
127
Zur nationalsozialistischen „Machtübernahme“ in der HEA Kalmenhof siehe Kap. III. 1. a); zu den Morden in der Anstalt
selbst, insb. im Rahmen der sog. „Kindereuthanasie“, siehe Kap. V. 1. b).
128
Wegen Aktenverlustes lassen sich die Verlegungen vom und über den Kalmenhof nur unzulänglich dokumentieren; datenmäßig präzise festgehalten ist allein die Verlegung von 232 Menschen nach Hadamar im Zeitraum 17.01.–29.04.1941, für die
der Kalmenhof die „Ursprungsanstalt“ war: Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 35; ebenso Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367
(Verlegungsstatistik 1941); vgl. auch Frankfurter Rundschau (21.01.1947), „Der Kalmenhof-Prozeß begann. ‚Sie haben sich
kein Gewissen gemacht‘. Das Gift im Abendessen. 232 Jugendliche in die Gaskammern geschickt“, hier zit. n. d. Fask. b.
Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 117 f., hier S. 117. – Nicht mitgerechnet sind dabei jedoch z. B. die Menschen, die z. B. von der
LHA Haina, d. westfälischen PHA Gütersloh oder der Hannoveraner Anstalt Wunstorf über die „Zwischenanstalt“ Kalmenhof
nach Hadamar verlegt wurden: Siehe dazu Hadamar (1991), S. 87 (Kat. Nr. 59: „Einzugsgebiet und Zwischenanstalten für
Hadamar“); zu den Verlegungen von Haina zum Kalmenhof siehe auch LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981,
Zeiß, Erich, Dr., Bl. 56–58, „Bericht des Dr[.] med. E[.] Zeiss über die Verlegung von geisteskranken Männern aus der Landesheilanstalt Haina in die Heil- und Erziehungsanstalt Calmenhof und in die Landesheilanstalt Weilmünster“ (o. D., Eingangsstempel d. LH in Kassel: 08.02.1947); zur Verlegung Haina – Kalmenhof siehe auch BA, R179/5225; zur Verlegung
von 82 Menschen von Wunstorf nach Idstein am 23./24.04.1941, bei denen in mindestens 37 Fällen der Tod in Hadamar
beurkundet wurde, siehe Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 82 f., S. 218. – Von einer Gesamtzahl von „etwa 400 Insassen“,
die „nach Hadamar zur Vergasung und Einäscherung gebracht worden“ sind, ist die Rede in den Unterlagen d. Ev. Kirchengemeinde Idstein, Chronik Bd. 3, S. 49 (Eintragung für 1945 [verfaßt 1948]), hier zit. n. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 95. –
Zur Verlegung der Kalmenhof-„Zöglinge“ und zur „Zwischenanstalts“funktion der Anstalt siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr.
31526, Aussage Mathilde Weber in Idstein (28.04.1945).
129
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der
Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 4, Kopie. – Müller selbst behauptete dagegen 1952 im Strafprozess wegen der „T4“Verlegungen, „es sei ihm nur übrig [geblieben], sich zur Wehrmacht zu melden“, da „offener Widerstand gegen den Führerbefehl [...] soviel wie Selbstmord gewesen“ sei: Idsteiner Zeitung (18.03.1952), „Heute in Wiesbaden: Prozeß um 232 getötete
Kinder. Beihilfe zur Euthanasie – Wußte Direktor Müller, was mit seinen Zöglingen geschah?“, hier zit. n. d. Faks. in Maaß,
Verschweigen (1988), S. 342.
130
Zu Ernst Müller (* 1891) und Wilhelm Grossmann (1891–1951) siehe biogr. Anhang. – Quellen zu Grossmann: HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 18871, Handakte Freitag, o. Bl.-Nr. OStAnw b. d. LG Ffm als Leiter d. Anklagebehörde b. d. Sondergericht an
Sondergericht Ffm, Anklageschrift gegen Wilhelm Grossmann, Az. 7 Js 79/44 (21.01.1945), Abschr.; ebd., Nr. 31526, Prozessakten d. LG Ffm im Kalmenhof-Prozess, Az. 4 Ks 1/48; LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1990, Grossmann,
Wilhelm, Teil 1, Bl. 10 f., Dienstvertrag zw. dem Verein für die HEA Calmenhof, Idstein, und Wilhelm Grossmann
(30.11.1935), Abschr. einer Abschr. (19.05.1950); ebd., andere Dok. in dieser Akte; Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 96, S. 98;
Klee, Ärzte (1986), S. 204 f.; Maaß, Verschweigen (1988), S. 338–341, S. 347 f.; Boberach, Verfolgung (1991), S. 167.
131
Siehe dazu Kap. IV. 3. c).
3. Kooperation während der Gasmorde
461
Zweifellos war das Engagement des Bezirksverbandes Nassau und seines Anstaltsdezernenten Bernotat
besonders groß, da sie (noch zusätzlich zur Bereitstellung der Mordanstalt Hadamar selbst) mit fünf
„Zwischenanstalten“ auf relativ engem Raum im Regierungsbezirk Wiesbaden die reichsweit größte
Dichte solcher Institutionen boten. In diesem Ausmaß konnte das nur deshalb erreicht werden, weil der
Verband durch seine rabiate Anstaltspolitik in den 1930er Jahren die beiden größten Privatanstalten im
Bezirk (Scheuern und Kalmenhof) unter die Herrschaft des Landeshauptmanns gezwungen hatte.132
Vom Grundsatz her allerdings war der Bezirksverband als Träger von „Zwischenanstalten“ keine Ausnahme. Auch andere Provinzialverbände (z. B. in der Rheinprovinz oder in den Provinzen Sachsen und
Brandenburg) sowie mehrere Länder (z. B. Baden, Württemberg, Sachsen und Braunschweig) stellten
ihre Einrichtungen zu diesem Zweck zur Verfügung. Dennoch zeigte „T4“ sich offenbar auch in diesem Punkte – wie schon bei der Auswahl der Standorte für die Mordanstalten133 – flexibel und griff nur
dort zu, wo ein Entgegenkommen des regionalen Anstaltsträgers (oder des Repräsentanten, etwa des
Anstaltsdezernenten) erwartet werden konnte. Auf der anderen Seite nämlich gab es durchaus Provinzialverbände (etwa in Westfalen und Hannover), in deren Häusern keine „Zwischenanstalten“ eingerichtet wurden.134
Im Vorfeld der Verlegungsserien im Rahmen der „T4“-Gasmorde 1940/41 kam den regionalen Anstaltsträgern – den Provinzial- und Bezirksverbänden und den Landesregierungen – die Aufgabe zu,
ihre jeweiligen Anstaltsleitungen über die bevorstehenden „Transporte“ zu informieren – sei es, um
Grundsätzliches zu klären, sei es mit Blick auf konkrete Verlegungstermine. Damit einher ging – mehr
oder weniger engagiert – die Einschwörung der Direktoren auf eine aktive Mitwirkung. Sowohl Landeshauptmann Traupel in Kassel als auch Anstaltsdezernent Bernotat im Bezirk Wiesbaden ließen
keinen Zweifel daran, dass sie von den jeweiligen Direktoren und deren Anstalten eine rückhaltlose
Mitwirkung bei der Organisation der Krankenverlegungen erwarteten. Im Bezirksverband Nassau
initiierte Bernotat darüber hinaus Betriebsappelle, bei denen auch die übrige Mitarbeiterschaft der
Anstalten einerseits eingeschüchtert, andererseits angestachelt wurde. In den folgenden Monaten vollbrachten die Anstalten eine weit gehend reibungslose Organisation der ein- und ausgehenden „Transporte“. Von der Möglichkeit zu der in gewissem Rahmen akzeptierten Zurückstellung von Patientinnen
und Patienten scheinen die Anstaltsdirektoren im Regierungsbezirk Wiesbaden nur in sehr eingeschränktem Maße Gebrauch gemacht zu haben.
Ein diachroner Blick auf die Gesamtheit der Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich zeigt,
dass die Einrichtungen sich im Verlauf der Gasmordaktion – vom Planungsstadium Ende 1939 bis zur
partiellen Unterbrechung der Mordaktion im August 1941 – mehr und mehr von reinen Befehlsempfängern zu aktiven Mitwirkenden bei der Mordaktion entwickelten. Hatte ihr Auftrag sich anfangs
darauf beschränkt, die Abholung einer Anzahl der bei ihnen untergebrachten Kranken zu dulden, waren
sie im Jahr 1941 zum Teil mit den vielfältigen konkreten Beiträgen zur Mordaktion befasst, die etwa
der Status einer „Zwischenanstalt“ mit sich brachte. Zugleich wurde den Anstaltsleitern eine deutlich
gesteigerte Mitwirkungsbefugnis (etwa bei Zurückstellungen) zugemessen. Es würde zu kurz greifen,
wollte man diesen Kompetenzzuwachs allein auf die bekannten praktischen Komponenten – insbesondere Effizienzsteigerung und gezielte Irreleitung der Angehörigen – zurückführen. Ebenso bedeutend
dürfte die offenkundige Mitwirkungsbereitschaft bestimmter Anstaltsträger (Provinzialverbände, Länder- und Reichsgaubehörden) gewesen sein, auf die „T4“ im Verlauf der Mordaktion bei den Kontakten mit diesen regionalen Stellen stieß. Gerade das Sendungsbewusstsein, mit dem manche „T4“Verantwortlichen die so genannte „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ betrieben, ließ ihnen eine
aktive Einbeziehung relativ breiter Kreise von Anstaltsmitarbeitern nur allzu logisch erscheinen, wenn
sich auch bald herausstellen sollte, dass damit erhebliche Geheimhaltungslücken geschaffen wurden.
132
Siehe dazu Kap. III. 1. a).
Siehe dazu Kap. IV. 2. b).
134
Hierfür konnte auch die Ferne von der „T4-Anstalt“ eine Rolle spielen: vgl. analog den Plan, die Patient/inn/en aus dem PV
Schleswig-Holstein über die „Zwischenanstalt“ Königslutter (Land Braunschweig) zur Ermordung nach Bernburg zu verlegen: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 95 f. – In den PVen Pommern u. Ostpreußen erübrigten sich „Zwischenanstalten“
wegen der früh durchgeführten Mordaktionen: siehe Kap. III. 3. c).
133
462
IV. Zeit der Gasmorde
b) Die Gasmorde in Hadamar und der Bezirksverband
War der Bezirksverband an der Vorbereitung der Hadamarer Gasmorde (besonders durch die Bereitstellung der Mordanstalt Hadamar,135 durch die Akquirierung von Personal im Verband,136 durch Krankenverlegungen und die Unterhaltung der „nassauischen“ „Zwischenanstalten“137) aktiv beteiligt, so
liefen die Gasmorde in Hadamar selbst weitgehend ohne direkte Beteiligung des Verbandes vor Ort
ab.138 Dennoch entstanden auch hier vielfältigste Berührungspunkte zwischen der „T4-Aktion“ und der
Wiesbadener Zentralverwaltung des Bezirksverbandes.
Die Gasmorde in der Anstalt Hadamar als NS-„Euthanasie“-Anstalt139 der „T4“ begannen Anfang
1941 nicht allein mit jenem Personal von rund 25 Beschäftigten, die bis dahin in den Anstalten des
Bezirksverbandes oder über das Arbeitsamt Frankfurt akquiriert worden waren,140 sondern überwiegend
mit Kräften, die zuvor bereits bei „T4“ mitgewirkt hatten. Insbesondere die Belegschaft der Ende 1940
geschlossenen Gasmordanstalt Grafeneck in Württemberg, unter der es eine so genannte „Stuttgarter
Gruppe“141 gab, kam nun größtenteils nach Hadamar;142 nur vereinzelt fanden auch Versetzungen von
Grafeneck in andere „T4“-Einrichtungen wie beispielsweise nach Bernburg statt.143 Bereits kurz vor
Weihnachten 1940 hatte der „T4“-Personalbestand in Hadamar die Größe von annähernd 70 Personen
erreicht; nach einem Weihnachtsurlaub für die meisten erhöhte die Zahl sich nochmals und überschritt
im Laufe des Jahres 1941 zeitweise sogar die 100.144 Von diesen Personen145 waren (nach früheren
135
Siehe dazu Kap. IV. 2. b).
Siehe dazu Kap. IV. 2. c).
Siehe dazu Kap. IV. 3. a).
138
Aus diesem Grund wird zu den Hadamarer Gasmorden im Folgenden nur ein relativ knapper Überblick gegeben.
139
An dieser Stelle werden die in der deutschsprachigen Literatur eingeführten Begriffe „NS-‚Euthanasie‘-Anstalt“, „T4Anstalt“ oder „Gasmordanstalt“ bevorzugt, nicht zuletzt da der Begriff „Anstalt“ terminologisch die Einbettung der Krankenund Behindertenmordaktion in ein zuvor schon existierendes „Anstaltswesen“ verdeutlicht; vgl. dazu z. B. die Aufsatz- oder
Bandtitel in Winter, Geschichte (1991); Hadamar (1991); Winter, Hadamar (1991); vgl. auch die Betitelung „[...] Anstalt
Hadamar [...] im Rahmen von T4“ bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986); vgl. auch bereits die
durchgehende Verwendung des Begriffes „Anstalt“ (bzw. entsprechender Komposita) bei Klee, „Euthanasie“ (1983). – Dagegen vertritt Henry Friedlander – ebenfalls nicht ohne Berechtigung – im Rückgriff auf ältere Bezeichnungen (von 1949) die
Position, man solle diese Mordeinrichtungen als „Mordzentren“ (bzw. im Englischen „killing centers“) bezeichnen, da dies
„am besten die Einrichtungen [beschreibt], in denen der fabrikmäßige Massenmord stattfand“ und da sich die Bezeichnung
daher zugleich auch auf die (mit der selben Mordtechnologie ausgestatteten) Vernichtungslager im Osten, etwa die Mordeinrichtungen der „Aktion Reinhard“ (Belzec, Sobibor, Treblinka) anwenden lässt: Friedlander, Weg (1997), S. 509 f. (Anm. 1).
140
Siehe dazu die Aufzählung der Betreffenden in Kap. IV. 2. c) sowie die zugehörigen Angaben im biogr. Anhang.
141
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, F, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud F. geb. K. ggü. d. LG Ffm in Heilbronn (15.02.1966),
Kopie (die Schreibkraft, in Grafeneck, Hadamar u. Bernburg eingesetzt, benannte namentlich allein 3 Personen, die wie sie
zuvor beim SD oder der Kripo in Stuttgart beschäftigt gewesen waren); ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hedwig
S. geb. L. b. d. LG Ffm (31.10.1963), Kopie („Gruppe Stiftungspersonal [...] aus Stuttgart“).
142
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js
3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 180; ebd., Bd. 6, Bl. 1008–1012, Aussage Pauline Kneissler b. d. OStAnw b. d.
LG Ffm (14.02.1947), hier Bl. 1009 f.; ebd., Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 2, Aussage Emma B. in Berlin (06.03.
1947); ebd., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth in Nienburg/Saale (04.02.1948), Abschr., hier insb. Bl. 25–27; HStA Wi,
Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Thekla B. geb. M. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.12.1965), Kopie; ebd.,
Nr. 1373, U, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Heinrich Unverhau ggü. d. LG Ffm in Hagen (24.11.1965), Kopie; Klee, „Euthanasie“
(1983), S. 291; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82/84; Friedlander, Weg (1997), S. 163
(allgemein); ebd., S. 376, S. 389, S. 568 (Anm. 110), S. 570 (Anm. 153) (zu Unverhau – siehe oben); ebd., S. 387,
S. 570 (Anm. 146 f.) (zu August M., der u. a. in Grafeneck, Hadamar u. Treblinka eingesetzt war, meist als Leichenverbrenner).
143
Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 69. – Analog wurde in Bernburg der größte Teil des „T4“-Personals aus der in Brandenburg geschlossenen „T4“-Mordanstalt übernommen.
144
Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82/84, mit Hinweis auf Rapportbuch d. LHA Hadamar,
ehem. in LWV, Best. 12.
145
Wegen der Vielzahl der Personen muss auf die Aufnahme des Hadamarer „T4“-Personals in den biogr. Anhang weitgehend verzichtet werden, soweit keine Bezüge zum BV Nassau erkennbar sind. Es sei aber verwiesen auf die dort berücksichtigten Kurzbiografien der 1940–1942 vom BV Nassau an „T4“ abgeordneten Personen – vgl. Kap. IV. 2. b) u. Kap. IV. 2. c) –
sowie der 1942–1945 von „T4“ in den Anstalten des BV Nassau eingesetzten Personen – vgl. Kap. V. 1. a) u. Kap. V. 3. a).
Über das in diesen Kapiteln aufgeführte Personal hinaus sind die in den folgenden Anmerkungen genannten Hadamarer „T4“Mitarbeiter/innen des Jahres 1941 namentlich bekannt. Entsprechende Namenslisten u. ä. finden sich insb. in folgenden Quellen: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js
3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946); ebd., Bd. 2, Bl. 51 f. bzw. Bl. 53, Aussagen Judith T. geb. S. b. d. Kripo Ffm (16. bzw.
17.02.1946); ebd., Bl. 72 f., Aussage Benedikt Härtle für d. StAnw Ffm in Oberweyer (20.02.1946), hier Bl. 72; ebd., Bl. 77,
Zeugenaussage Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bl. 87, Zeugenaussage Hildegard R. b. d.
Kriminalpolizei Ffm (26.02.1946); ebd., Bl. 115–117, Aussage Lydia Thomas ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn
(01.03.1946), hier Bl. 115; ebd., Bd. 3, Bl. 17, Vfg. d. StAnw Ffm (15.04.1946); ebd., Bl. 46 f., Aussage Agnes Schrankel geb.
136
137
3. Kooperation während der Gasmorde
463
Zählungen146) rund sieben für das Transportwesen147 zuständig, etwa 25 Personen bildeten die „Mordabteilung“ im engeren Sinne (hier übernahmen Pflegekräfte148 die Begleitung, Bewachung und Abfertigung der Opfer auf dem Weg von den „Zwischenanstalten“ bis zur Hadamarer Gaskammer, Ärzte149
deren Ermordung und so genannte „Brenner“150 die Leichenverbrennung im Krematorium), weitere
rund 20 Personen waren mit Verwaltungsangelegenheiten151 befasst, und die restlichen Personen, ebenfalls etwa 20, wirkten im Wirtschaftsbereich mit.152
Ebenso wie in den anderen „T4“-Gasmordanstalten bestand auch in Hadamar eine nicht bis ins Letzte geklärte Leitungssituation. Formal hatte der leitende Arzt die Direktorenfunktion inne – in Hadamar
also zunächst der aus Grafeneck gekommene Dr. Baumhard oder bei dessen Abwesenheit sein Vertreter Dr. Hennecke – beide mit knapp 30 Jahren noch sehr jung.153 Eine besondere Bedeutung erhielten
die Ärzte generell in den „T4“-Mordanstalten dadurch, dass sie als einzige befugt waren, den Gashahn
zu betätigen. Diese Direktive diente wohl nicht zuletzt dem Zweck, gegenüber allen Mitwirkenden die
Fiktion der Tötung als einer Form „medizinischer Behandlung“ aufrechtzuerhalten.154 In der Praxis aber
Kappenberg ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Hadamar (03.05.1946), hier Bl. 46; ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard
Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie; Akten d. Hess. Justizministeriums, Az.
IV – 149/49, Bl. 1–4, Vm. d. Hess. Justizministeriums, Az. IV – 147/46 (13.01.1949), Durchschr. – Diesen (sowie einzelnen
weiteren) Quellen aus HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061, bzw. ebd., Abt. 631a Nr. 1368–1373, entstammen auch die Personenangaben in den folgenden Anmerkungen; in Einzelfällen auch den Personendaten b. Friedlander, Weg (1997).
146
Zu den Zahlenangaben für die einzelnen Abteilungen: Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986),
S. 84; siehe auch Winter, Geschichte (1991), S. 80.
147
Namentlich sind bekannt: Fahrer Ex., Otto K. (Fahrer), Rudi L. (Fahrer), Willi P. (Fahrer), der Fahrer Ro., Gerhard S.
(„Transportleiter“, ein Vetter des „Gekrat“-Chefs Vorberg), Martin T. (Fahrer). – Zeitweise in Hadamar anwesend war auch
der eigentlich in Berlin stationierte Kurier Erich F. und der Chemiker Dr. August Becker (der aus Gießen stammende Beschaffer des Kohlenmonoxydgases).
148
Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Kurt A. (Pfleger), Max B. (Pfleger), Theodor F. (Pfleger),
Fritz G. (Pfleger), Margot G. (Pflegerin), Franz Fromm (Oberpfleger, * 22.10.1885 in Berlin), Erwin K. (Pfleger), Hedwig
Michael (Oberschwester), Margot R.-G. (Pflegerin), Karl Sch. (Pfleger), Heinrich („Heinz“) Unverhau (Pfleger, später auch
eingesetzt in Sobibor). Neben den Pflegekräften zählte auch der Fotograf Franz W. (* 09.04.1907 in Krumau/Moldau) in
Hadamar zu dieser Gruppe.
149
Zu den am Hadamarer Gasmord beteiligten Ärzten Dr. Ernst Baumhard (1911–1943), Dr. Günther Hennecke (um 1913–
1943), Dr. Friedrich Berner (1904–1945) sowie Hans Bodo Gorgaß (1909–1990 Jahre) siehe biogr. Anhang; ebenso zu Dr.
Curt Schmalenbach (1910–1945 oder früher), der die „T4“-Anstalt Hadamar 1941/42 nach dem Ende der Gasmorde noch
leitete.
150
Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Leichenverbrenner Ba., Kurt B. (später Mitwirkung in
Sobibor), Leichenverbrenner Br., Karl Werner („Werner“) Dubois (* 1913 in Wuppertal, 1942/43 Mitwirkung in Belzec u.
Sobibor, deswegen 1966 Verurteilung in Hagen), Herbert F., Karl F., Hubert Gomerski (* 11.11.1911 in Schweinheim b.
Aschaffenburg, SS-Mitglied, 1947 Freispruch im Hadamar-Prozess, später in Haft wegen Mitwirkung in Sobibor), August
M. (* 1908 in Westfalen, ab 1942 Mitwirkung in Treblinka).
151
Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Else A. (Büroangestellte), Polizeibeamter Be., Thekla B.
geb. M. (Schreibkraft), Polizei(ober)leutnant Bünger (zeitweise Verwaltungsleiter), die (mutmaßliche) Schreibkraft Frl. Eb.,
Gertrud F. geb. K. (Schreibkraft, 1942 Teilnahme am „T4“-Osteinsatz), Werner K. (Büroangestellter), Büroangestellter Kü.
(Nachlassverwaltung), Polizeibeamter Gottlieb Hering (* 02.06.1887, zeitweise Verwaltungsleiter, später Kommandant in
Belzec), Hans R.-G. (Wirtschaftsleitung, Rechnungswesen), Netscher (zeitweise Verwaltungsleiter), Gerhard S. (Leitung d.
„Abwicklungsabt. Grafeneck“ in Hadamar), Margot Sch. (* 02.01.1914 in Ffm, 1941–1942 Büroangestellte [Poststelle,
„Trostbriefe“, „Abwicklungsabt. Grafeneck“] in Hadamar, Teilnahme am „T4“-Osteinsatz, ab 1942 bei der OT, März 1947
Freispruch im Hadamar-Prozess Ffm), Polizeihauptmann Christian Wirth (* 24.11.1885 in Oberbalzheim/Württemberg,
+ 26.05.1944, beerdigt in Costermano b. Verona, in Hadamar sporadisch anwesend als Oberaufseher über die Verwaltung, später Inspekteur aller Vernichtungslager der „Aktion Reinhard“).
152
Außer den a. a. O. Erwähnten (s. o.) sind namentlich bekannt: Willi B. (Waschküche), Walter W. (Bauwesen).
153
Zu Dr. med. Ernst Baumhard (nicht – wie z. T. angegeben – „Baumhardt“) (1911–1943) und Dr. med. Günther Hennecke
(um 1913–1943) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 230; ders., Ärzte (1986), S. 95; Schmidt-von
Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 84; Chroust/Groß u. a., Hadamar (1989), S. 44, S. 52; Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 220; Friedlander, Weg (1997), S. 179, S. 354 f., S. 358, S. 562 f. (Anm. 15, 19, 30); Kaul, Nazimordaktion
(1973), S. 68; BA, R96 I/1, Bl. 127890 f., „T4“-Aufstellung über ihr ärztliches Personal (o. D. [1943/44]), Kopie, hier
Bl. 127890; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 167–170, Vm. d. OStAnw Ffm (03.08.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 1015–
1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1026 (19.02.1947); ebd., Bd. 7,
Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 350 f.; ebd.,
Nr. 32442 Bd. 13, Ermittlungsakte B., Bl. 25–30, Aussage Käthe Hackbarth b. d. Kriminalpolizei in Nienburg/Saale
(04.02.1948), Abschr., hier Bl. 28; HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 18, Fritz Mennecke, z. Zt. Vöcklabruck [Österreich], an
Eva Mennecke, z. Zt. Wiesbaden [?] (30.03.1944–31.03.1944), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 964–971 (Dok. 260),
hier S. 969 (31.03.1944) („Dr. Baumhardt [!] u. Dr. Hennecke [...] sind beide mit U-Booten untergegangen – fort!“).
154
Siehe die Diskussion dieses Punktes bei Friedlander, Weg (1997), S. 354 (dort auch der Hinweis auf „Hitlers Befehl, daß
nur Ärzte töten sollten“).
464
IV. Zeit der Gasmorde
nahmen neben den ärztlichen Leitungen die „Aufseher“ oder „Büroleiter“, die sich durchgehend aus
dem Polizeidienst rekrutierten, als Verwaltungsspitzen der „T4“-Anstalten eine starke Stellung ein.
Wie Friedlander darstellt, mussten selbst „einflußreiche und willensstarke Ärzte [...] bald fest[stellen],
daß sie die Macht mit den nichtmedizinischen Aufsehern zu teilen hatten.“155 Die Rolle der Verwaltungsabteilungen der „T4“-Anstalten wurde zusätzlich dadurch ausgebaut, dass ihnen de facto die
Funktion von Ortspolizeibehörden eingeräumt wurde und dass sie Meldewesen und Standesamtsangelegenheiten selbstständig – an den kommunalen Behörden vorbei – regelten.156 So schien das von der
Mordanstalt Hadamar 1941 betriebene Sonderstandesamt „Hadamar-Mönchberg“ als unabdingbare
Voraussetzung, um die Beurkundung von über 10.000 Todesfällen in gut sieben Monaten reibungslos
vornehmen zu können.157 In der hier festzustellenden Stärkung der Verwaltung finden die Entwicklungen im Bezirksverband Nassau eine Parallele, in dessen psychiatrischen Anstalten ebenfalls – je mehr
die Bedeutung des rein Medizinischen Ende der 1930er Jahre zurückgedrängt wurde – die Verwaltungsbeamten ihre Position gegenüber den ärztlichen Direktoren ausbauen konnten.158
Die verwaltungsmäßig autarke Stellung der Mordanstalt Hadamar, die sich durch das Sonderstandesamt ausdrückte, spiegelte sich auch in der gesellschaftlichen Stellung des „T4“-Personals vor Ort wider. Zwar war eine Kasernierung der Belegschaft nur geplant und wurde letztlich nicht durchgeführt,
doch der Ausgang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ort Hadamar galt als unerwünscht. Zum
Ausgleich hatte „T4“ in der Anstalt „sehr bequem eingerichtete Geselligkeitsräume mit Klubmöbeln“
für die Freizeit herrichten lassen. Dennoch gab es offenbar zahlreiche Besuche in örtlichen Gastwirtschaften. Nicht nur dort machte das „T4“-Personal durch starken Alkoholkonsum und Exzesse von sich
reden: so heißt es, eine Gruppe von Mitarbeitern habe den Kopf der Nepomukstatue auf der alten Brücke in Hadamar abgeschlagen.159 „T4“ versuchte, seinem Personal die Tätigkeit in der Mordanstalt so
normal wie möglich zu gestalten. So lässt sich für 1941 feststellen, dass zwei Wochen Oster- und eine
Woche Sommerurlaub gewährt wurden; an Sonn- und Feiertagen unterblieb der Betrieb der Mordanstalt.160 Als zusätzliche Leistung hatte „T4“ ein Erholungsheim in Weißenbach am Attersee (im Gau
Oberdonau), das „Haus Schoberstein“, angekauft, wo die gesamte Belegschaft „unter sich“ ihren Urlaub verbringen konnte. Gemeinsame Ausflüge, etwa von Weißenbach aus in die nahe gelegene „T4“Anstalt in Schloss Hartheim, rundeten das Freizeitprogramm ab.161 Die Ausnahmesituation, die die
155
Ebd., S. 327.
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 229, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag
(06.03.1947); vgl. in Bezug auf Bernburg HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 7, o. Bl.-Nr., 310-seitige Anklageschrift d.
GenStAnw in Ffm gegen Dr. Aquilin Ullrich, Dr. Heinrich Bunke, Dr. Kurt Borm u. Klaus Endruweit wegen Mordes, Az. Js
15/61 (GStA) (15.01.1965), darin zit. auf S. 189–197: Organisationsplan d. „Abteilung Dr. Eberl“ [= „T4“-Anstalt Bernburg],
erstellt von Dr. Irmfried Eberl (o. D. [ca. Dez. 1941/Jan. 1942]), hier S. 192 (dort Hinweis auf „Ortspolizeibehörde BernburgGröna“ und „Standesamt Bernburg II“); als Dokument 50 auch abgedr. b. Klee, Ärzte (1985), S. 129–135; siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 173, S. 517 f. (Anm. 91 f.).
157
Siehe die Sterbeurkunden aus dem Jahr 1941 mit dem Dienstsiegel „Der Standesbeamte – Hadamar-Mönchberg“: z. B.
abgedr. in Hadamar (1991), S. 101 (Kat. Nr. 82). – Zum Sonderstandesamt in Hadamar siehe auch Winter, Geschichte (1991),
S. 95.
158
Siehe dazu Kap. III. 3. a).
159
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 122, Bl. 126, Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4.
Hv-Tag (03.03.1947) (auf Bl. 122: „Es wurde Wert darauf gelegt, daß wir nicht nach Hadamar gingen; verboten wurde es
nicht direkt“; dort auch z. B. Bericht über einen gemeinschaftlichen Besuch der „Wirtschaft Gotthard“ in der Hadamarer
Hauptstraße); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier
Bl. 874 f. (10.01.1947); ebd., Bd. 2, Bl. 6, Vm. d. StAnw Ffm (12.02.1946) (Zitat „sehr bequem [...]“); ebd., Bl. 42 f., Aussage
Hedwig S. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (14.02.1946) („Gelage waren an der Tagesordnung“; Hinweis auf häufige Besuche
im Kino „und in dem Café Tuchscherer und dem Lokal Gotthard (jetzt Ratskeller)“); HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.Nr., Zeugenaussage Emil S. b. d. LG Ffm (06.09.1965), Kopie (betr. Nepomukstatue); vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr.
32442 Bd. 4, Bl. 4–8, Bl. 10, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 1. Hv-Tag (02.12.1946),
hier Bl. 6; siehe auch Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 120; generell zu den „T4“-Anstalten
siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 159 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 380, S. 569 (Anm. 127–130).
160
Von Samstag, 5. April, bis Sonntag, 20. April 1941 (einschließlich) fanden in Hadamar keine Gasmorde statt, auch von
Freitag, 1. August, bis Sonntag, 10. August 1941 (einschließlich) waren die Morde unterbrochen. – Zu den Daten vgl. Roer/
Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941).
161
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1361, Bl. 495, Adolf Kaufmann, schriftl. Erklärung für GenStAnw (o. D. [ca. 25.04.1966]); ebd.,
Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d. LG Ffm (25.08.1965), Kopie; Friedlander, Weg (1997), S. 133. – Beim
gemeinsamen Besuch einer Kleingruppe von Hadamarer „T4“-Mitarbeitern „in einem Lokal am Main“ in Ffm dürfte es sich
156
3. Kooperation während der Gasmorde
465
Gasmorde trotz aller Bemühungen um scheinbare „Normalität“ darstellten, brachte eine erhebliches
Maß an Zynismus unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hervor. Beispielsweise begegnete man
den „Gekrat“-Bussen mit dem „Scherzwort“ „Gehst mit, biste hin“.162 Den Gipfel des zynischen Umgangs mit dem mörderischen Alltag stellte sicherlich die „Jubiläumsfeier“ anlässlich der 10.000. Tötung in Hadamar dar, als die Belegschaft sich an einem Tag im August 1941 um eine aufgebahrte Leiche
im Keller versammelte, je eine Ansprache des ärztlichen Direktors Dr. Berner und des Verwaltungschefs Bünger anhörte und den Anlass anschließend mit Musik und Freibier beging.163
Die Ermordung der Opfer in Hadamar ging im Allgemeinen ebenso vonstatten, wie „T4“ es bislang
schon in ihren vorher bestehenden Gasmordanstalten praktiziert hatte. In bestimmten Punkten allerdings, die aus Sicht der Mordorganisation Probleme aufgeworfen hatten, kam es zu gewissen Modifikationen des Prozederes. Wie bereits mehrfach beschrieben,164 traf die Busstaffel mit den aus den
„Zwischenanstalten“ abgeholten Opfern – meist 60 bis 90 Personen – im Hinterhof der Anstalt ein.
Von der Garage aus schleuste das Pflegepersonal die Patientinnen und Patienten durch einen gezimmerten Gang ins Haus, wo alle sich in einem großen Raum zu entkleiden hatten. Anhand der Akten
wurde eine Identitätskontrolle durchgeführt; eine sich meist anschließende Vorstellung beim Arzt
diente in erster Linie der Festlegung der später angegebenen falschen Todesursachen. Eine durchgehende Fotografierung der kurz vor ihrer Ermordung stehenden Menschen sollte schließlich der späteren
medizinischen Forschung eine Dokumentation des so genannten „lebensunwerten Lebens“ überliefern,
da die ärztliche „T4“-Leitung „sich davon Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen äusserem
Habitus und seelischer Struktur“ versprach.165
Bei den allermeisten der Hadamarer Opfer handelte es sich um geistig behinderte oder psychisch
kranke Menschen (darunter auch die wegen Delikten gerichtlich in der Psychiatrie Untergebrachten),
die nach den Rassengesetzen als Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“ galten.166 Obwohl die
um eine privaten Ausflug gehandelt haben: Vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 78, Zeugenaussage Emilie G. b. d.
Kriminalpolizei Ffm (22.02.1946).
162
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Thekla B. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.12.1965), Kopie;
ebd., Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Freya M. ggü. d. LG Ffm in Stuttgart (16.02.1966), Kopie; Harms, Hungertod (1996), S. 18.
163
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 11 f., Aussage Isabella W. geb. W. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (12.02.1946),
hier Bl. 12 (diese Ende Juli 1941 ausgeschiedene Mitarbeiterin erlebte die Feier nicht mehr); ebd., Bl. 77, Zeugenaussage
Johanna Sch. geb. M. b. d. Kriminalpolizei Ffm (20.02.1946); ebd., Bd. 3, Bl. 42, Aussage Elisabeth U. b. d. Kriminalpolizei
Ffm (06.05.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 107, Aussagen d. Angeklagten Hubert Gomerski u. Maximilian L. im Hadamar-Prozess
Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Bl. 138 bzw. 141, Aussagen d. Angeklagten Johanna Sch. u. Hildegard R. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 243 f., Zeugenaussage Hedwig S. geb. L. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. HvTag (06.03.1947); ebd., Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D.
[verkündet 26.03.1947]), hier Bl. 1305; ebd., Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm
zum Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 32; HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johann B. b. d.
LG Ffm (25.08.1965), Kopie; ebd., Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Maximilian L. ggü. d. LG Ffm (25.08.1965),
Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussagen Emil S. u. Hedwig S. geb. L. b. d. LG Ffm (06.09.1965 bzw.
24.08.1965), Kopie; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 336; Friedlander, Weg (1997), S. 189.
164
Darstellungen zu dem letzten Weg der Opfer in Hadamar finden sich z. B. bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky,
Geschichte (1986), S. 91; Chroust/Groß u. a., Hadamar (1989), S. 45–47; Winter, Geschichte (1991), S. 89–93, Cramer, Spuren (1991), S. 199 f. – Auf eine ausführlichere Darstellung kann daher an dieser Stelle verzichtet werden.
165
Zu diesen Einzelschritten in der Mordanstalt siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 13, Aussage Isabella W. ggü. d.
StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946); ebd., Bl. 19, Protokoll eines Ortstermins in der LHA Hadamar durch die StAnw Ffm
(13.02.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 32, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.
1947); ebd., Bd. 46, Bl. 43 f., Aussage Edith Korsch im sog. „Schwesternprozess“ Ffm, Hauptverhandlung (09.01.1948); ebd.,
Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945), hier Bl. 38; HStA
Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie. –
Speziell zur Fotodokumentation siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1015–1027, Aussage Prof. Dr. Werner Heyde
b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (17./19.02.1947), hier Bl. 1020 (19.02.1947) (Zitat „sich davon Erkenntnisse [...]“); ebd., Bd. 7,
Bl. 18, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bd. 46, Bl. 43 f.,
Aussage Minna Zachow im sog. „Schwesternprozess“ Ffm, Hauptverhandlung (09.01.1948). – Allgemein zur Festlegung der
falschen Todesursachen durch die Ärzte siehe auch Friedlander, Weg (1997), S. 177 f.
166
Zu den „Nürnberger Gesetzen“ siehe Kap. III. 2. a). – Auch die forensischen (nach § 42b StGB eingewiesenen) Patienten
wurden meist Opfer der Gasmordaktion: Scheer, Paragraph (1986), S. 245; Friedlander, Weg (1997), S. 282–284. – Für eine
mögliche Ermordung von KZ-Häftlingen in der Anstalt Hadamar (wie im Rahmen der Aktion „14f13“ für die Anstalten
Bernburg, Hartheim u. Pirna-Sonnenstein bekannt) gibt es zwar einzelne Aussagen, die jedoch für eine gesicherte Annahme
nicht ausreichend erscheinen: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gerhard S. ggü. d. LG Ffm in
Düsseldorf (25.11.1965), Kopie („Nach meiner Kenntnis sind während meiner Tätigkeit in Hadamar [= erste Hälfte 1941,
466
IV. Zeit der Gasmorde
Beteiligten später – wohl aus prozesstaktischen Gründen und begünstigt durch die Verschleierungstaktik von „T4“ – versuchten, die Ermordung jüdischer Psychiatriepatienten in Hadamar zu leugnen,167
kann kein Zweifel daran bestehen, dass in der ersten Februarhälfte 1941 auch mehr als 300 psychisch
kranke oder behinderte Jüdinnen und Juden aus zwei Landesheilanstalten des Bezirksverbandes (Eichberg und Weilmünster) und aus auswärtigen Anstalten nach Hadamar gebracht und dort in der Gaskammer ermordet wurden,168 nachdem die jüdischen Kranken aus den übrigen Landesheilanstalten des
Bezirksverbandes Nassau (Hadamar und Herborn) sowie aus den Einrichtungen des Bezirksverbandes
Hessen bereits im Oktober 1940 in der „T4“-Anstalt Brandenburg zu Opfern der Mordaktion geworden
waren.169 In Abweichung zur sonstigen Struktur des Systems der Hadamarer „Zwischenanstalten“ des
Jahres 1941 diente nun neben Andernach auch Düsseldorf-Grafenberg als Sammelanstalt für die Verlegung der Juden aus der Rheinprovinz,170 während die Sammelanstalt Heppenheim die verbliebenen
jüdischen Kranken und Behinderten aus dem Land Hessen und aus Anstalten Badens, Württembergs,
der Pfalz und aus einer Frankfurter Einrichtung konzentrierte, bevor sie verlegt wurden.171 Offenbar
versuchte „T4“, selbst die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ über das Verlegungsziel der jüdischen
Patienten im Unklaren zu lassen. So nahm der erste Verwaltungsbeamte der Anstalt Eichberg, Louis
W., zunächst an, die 19 am 5. Februar abgeholten jüdischen Patienten seien in die Sammelanstalt Heppenheim (und nicht nach Hadamar) verlegt worden. Erst als W. mit der Anstalt Heppenheim die Pflegekosten verrechnen wollte, erfuhr er durch den dortigen Anstaltsdirektor, dass dies nicht zutraf: „Von
Ihrer Anstalt wurden keine jüdischen Kranken hierher verlegt. Sämtliche aus anderen Anstalten hierher
verlegten jüdische [!] Kranke [!] wurden am 4. 2. mittels Sammeltransport in eine für Juden vorbehaltene Anstalt verlegt.“ Wir können daraus nur schließen, dass am 4. Februar 1941 die in Heppenheim
und einen Tag später die auf dem Eichberg untergebrachten jüdischen Patientinnen und Patienten sofort – ohne eine weitere Zwischenstation – zur Ermordung in die Anstalt Hadamar verbracht wurden.
Nachdem man in der Anstalt Eichberg die Information hatte, wurde von dort aus die „hierdurch verzögerte Schlußabrechnung mit den jüdischen Verbänden“ abgewickelt.172 Als wenige Monate später, im
P. S.] auch dort Transporte mit Konzentrationslagerhäftlingen eingetroffen“); ebd., Nr. 1373, W, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage
Franz W. b. d. LG Ffm (05.09.1963), Kopie („Das Pflegepersonal erwähnte allerdings gelegentlich, daß auch Asoziale dabei
seien“).
167
Zum Versuch der Vertuschung durch „T4“ siehe Kap. IV. 2. a). – Siehe z. B. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl.
192, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (Schneider bestritt dies, obwohl
am 07.02.1941 insgesamt 91 jüdische Patient/inn/en aus der LHA Weilmünster – ebenso wie in den Tagen und Wochen zuvor
und danach auch die nicht jüdischen Kranken – aus der LHA Weilmünster abgeholt worden waren).
168
Siehe bereits die überzeugende Argumentation zum Todesort bei Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte
(1986), S. 88 f.; zur Zahl der Opfer, den Herkunftsanstalten u. den Verlegungsdaten im Zeitraum 04.–14.02.1941 siehe
Roer/Henkel, Psychiatrie (1986), S. 367 (Verlegungsstatistik 1941) (dort sind 235 Personen angegeben, hinzuzurechnen ist die
dort nicht aufgeführte Anzahl von 91 Personen, die am 14. u. 15.02.1941 aus Düsseldorf-Grafenberg abgeholt wurden); zur
Zahl der 91 aus Grafenberg verlegten Juden siehe Griese, Opfer (2001), S. 150; vgl. auch Hoss, Patienten (1987), S. 72. – Die
Angehörigen der jüdischen Kranken erhielten Sterbeurkunden, die als Todesort die „Irrenanstalt Cholm“ im besetzten Polen
angaben. – Zur Verlegung jüdischer Kranker aus d. LHA Eichberg siehe u. a. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 289–
294, Zeugenaussage Dr. Wilhelm Hinsen im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 291; Sandner, Eichberg (1999), S. 190. – Zu den jüdischen Opfern aus d. LHA Weilmünster siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 131.
169
Zu den Morden im Okt. 1940 an jüdischen Psychiatriepatient/inn/en, die zuvor in der LHPA Gießen als Sammelanstalt
konzentriert worden waren, siehe Kap. IV. 2. a).
170
Hoss, Patienten (1987), S. 72 f.; Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 402 f., mit Hinweis auf Archiv d. LVR, 13070,
Bl. 24–27, Bl. 45; Friedlander, Weg (1997), S. 435, S. 581 (Anm. 86–89), mit Hinweis auf Nürnberger Dokumente PS-3871
u. PS-3883, auf GenStAnw Ffm, Vernehmung Johann Recktenwald (17.05.1961); Griese, Opfer (2001), S. 147–150; zum
Todesort Hadamar siehe u. a. LHptA Ko, Best. 584,1 Nr. 1219, Bl. 31–35, Vm. d. StAnw Koblenz (30.01.1947), hier Bl. 32. –
Zur Verlegung d. jüd. Patient/inn/en aus Andernach siehe auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage d.
Angeschuldigten Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm (01.–22.12.1964), hier S. 50 (22.12.1964), Kopie.
171
Zur Sammelanstalt Heppenheim siehe Winter, Heil- und Pflegeanstalt (1993), S. 88–86.
172
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12557, o. Bl.-Nr., Korrespondenz LHPA Heppenheim – LHA Eichberg (30.01.–26.03.1941)
(Zitat „Von Ihrer [...]“ im Schreiben d. LHPA Heppenheim v. 26.03.1941); ebd., o. Bl.-Nr., zwei Vfgg. zu den Schreiben LHA
Eichberg an BV Nassau (01.04.1941, ab: 02.04.1941, bzw. 28.04.1941, ab: 28.04.1941) (Zitat „hierdurch verzögerte [...]“ im
Schreiben v. 01.04.1941); ebd., o. Bl.-Nr., Vfgg. zu den Schreiben LHA Eichberg an Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Bezirksstelle Hessen-Nassau, Ffm, bzw. an Jüdische Gemeinde Ffm, Abt. Wohlfahrt (beide 31.03.1941, ab: 02.04.1941);
siehe auch Sandner, Eichberg (1999), S. 190; Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 20; Roer/Henkel, Psychiatrie (1986),
S. 367 (Verlegungsstatistik 1941); zur anzunehmenden Verlegung am 04.02.1941 von Heppenheim nach Hadamar siehe auch
Winter, Heil- und Pflegeanstalt (1993), S. 85, dort auch Angaben zur Zahl der Opfer aus der Sammelanstalt Heppenheim (98
nachgewiesen, jedoch mit Sicherheit deutlich über 100).
3. Kooperation während der Gasmorde
467
Mai und Juni 1941, zusätzlich fünf jüdische Bewohner des Landes-Alters- und Pflegeheimes Heidesheim in Rheinhessen über die „Zwischenanstalt“ Eichberg zur Ermordung nach Hadamar verlegt wurden, folgte die Eichberger Verwaltung dann auch nicht mehr der Fiktion einer Verlegung in „eine für
Juden vorbehaltene Anstalt“, sondern dokumentierte in ihren Büchern die Weiterverlegung dieser
Jüdinnen und Juden ebenso wie die Verlegung der nicht jüdischen Kranken, die nach Hadamar gebracht wurden.173
Als Novum für Hadamar und für die anderen „T4“-Anstalten des Jahres 1941 ist die reguläre Zurückstellung einzelner Personen noch in der Gastötungsanstalt selbst und damit die Bewahrung vor der
Ermordung zu benennen; derart späte Zurückstellungen waren beispielsweise noch in der Vorgängeranstalt Grafeneck nur äußerst selten vorgenommen worden.174 Erst in Reaktion auf Proteste und Beschwerden175 schuf „T4“ im März 1941 Ausnahmebestimmungen, wonach Kriegsteilnehmer des Ersten
Weltkrieges, „die sich entweder an der Front verdient gemacht haben, die verwundet wurden oder
Auszeichnungen erhalten haben“ sowie ausländische Kranke zu verschonen waren; „grösste Zurückhaltung“ sollte bei Menschen gelten, die als „Senile“ eingestuft waren.176 Im Zuge dieser Neuregelung
wurden in der Gasmordanstalt Hadamar insbesondere Kriegsteilnehmer zurückgestellt, allerdings in
jedem Einzelfall nur nach telefonischer Rückversicherung bei der „T4“-Zentrale in Berlin. In keinem
Fall ist bekannt geworden, dass in der Mordanstalt selbst (so wie in den „Zwischenanstalten“) noch
Menschen als „gute Arbeitskräfte“ zurückgestellt und damit verschont worden wären. Die Zurückstellung einer schwangeren Frau in Hadamar scheiterte letztlich – die Betreffende wurde nach einer neuerlichen Verlegung doch noch in der Gaskammer ermordet.177 Die Zahl der 1941 in Hadamar zurückgestellten Menschen dürfte sich auf weniger als ein Prozent der aus „Zwischenanstalten“ ankommenden
Patientinnen und Patienten belaufen. Die auf diese Weise Verschonten wurden nach einem nur kurzen
Aufenthalt in Hadamar zunächst in eine der „Zwischenanstalten“, überwiegend nach Weilmünster,
gebracht, was aber vielfach keine endgültige Rettung bedeutete, da viele der Betroffenen danach dort
ebenfalls zu Opfern des Mordprogramms wurden; nur eine gewisse Zahl gelangte nach kurzem Aufenthalt in Weilmünster von dort aus in eine Anstalt ihres Herkunftsgebietes zurück.178 Berichte über das
Schicksal der äußerst wenigen in Hadamar zurückgestellten Menschen, die das Jahr 1945 überlebten,
dokumentieren eindrücklich die Perspektive der Opfer; Zeugenaussagen einer Überlebenden aus Wiesbaden waren und sind geeignet, dem ansonsten vorherrschenden Blickwinkel der Tatbeteiligten über
die Vorgänge in der Mordanstalt und auf dem Weg dorthin das Erleben der Opfer entgegenzusetzen.179
173
Sandner, Leben (1994), S. 112 f.; ZSP Rheinblick, „D[urchgangs]-Buch“ (1941–1944), hier nach Kopien im LWV-Archiv.
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 276; May, Heilanstalt (1996), S. 78, S. 80.
BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 76, Vm. d. Reichsjustizministeriums (16.11.1940), unter auszugsweiser Zitierung eines
Berichts d. OLG-Präs. Stuttgart (06.11.1940) (darin werden Klagen angeführt, „daß da und dort auch Kriegsteilnehmer, die
durch Kriegsverletzung am Geist gelitten haben und anstaltsbedürftig geworden sind, von diesen Maßnahmen betroffen
worden sind“, zudem existiere das Gerücht, jetzt „gehe es an die Alten und Gebrechlichen“).
176
BA, R96 I/2, Bl. 127398 f., „Entscheidungen der beiden Euthanasie-Beauftragten hinsichtlich der Begutachtung (unter
Einbeziehung der Ergebnisse der Besprechung in Berchtesgaden am 10. 3. 1941)“ (o. D. [1941]); siehe auch HStA Wi, Abt.
461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 32, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947);
HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1156, Bl. 110–114, Aussage Dr. Ernst Schneider b. d. LG Ffm (12.05.1952), hier Bl. 113 (danach
wurden die Ausnahmebestimmungen auch im März 1941 auf der in Kap. IV. 3. a) dargestellten Ärztekonferenz bei „T4“ in
Berlin mitgeteilt); Friedlander, Weg (1997), S. 284 f.
177
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 14, Bl. 18 f., Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess
Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 147, Zeugenaussage Katharina Sch. im Eichberg-Prozess, 7. HvTag (12.12.1946); Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 141; Winter, Geschichte (1991), S. 93; Friedlander, Weg (1997), S. 274.
178
In LWV, Best. 19/14 u. 19/16 (Hauptkrankenverzeichnisse d. LHA Weilmünster) finden sich während der Hadamarer Gasmorde Eintragungen zu 14 Frauen u. 45 Männern, die aus der Anstalt Hadamar aufgenommen wurden; es handelte sich um
Menschen, die zuvor aus den „Zwischenanstalten“ Andernach, Herborn, Scheuern, Weilmünster, Wiesloch nach Hadamar verlegt worden waren: vgl. dazu Archiv d. Heime Scheuern, HKV d. HEPA Scheuern (Eintragungen zu 1941); HStA Wi, Abt. 461
Nr. 32061 Bd. 17, Verlegungsliste Herborn; LWV, Best. 19/14, LHA Weilmünster, HKV. – Offenbar sammelte der BV Nassau die Zurückgestellten dem Grundsatz nach in der LHA Weilmünster, während Verlegungen in andere Anstalten wie die LHA
Herborn nicht oder nur in Ausnahmefällen stattfanden: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 188, Aussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (zu Weilmünster); ebd., Bd. 2, Bl. 190 f., Aussage Dr. Paul Schiese
ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Herborn (28.02.1946), Durchschr., hier Bl. 190 (zu Herborn); Sandner, Landesheilanstalt
(1997), S. 139. – Zur Organisation von Zurückverlegungen von Weilmünster ins Land Hessen: StA Da, Abt. H 13 Darmstadt,
Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 7, Korrespondenz LHA Weilmünster – LHPA Goddelau – LHPA Heppenheim (03.–10.09.1941).
179
Die Malerin Clara Sch. wurde aus unbekannten Gründen (und obwohl keine der Ausnahmebestimmungen auf sie zutrafen)
in Hadamar zurückgestellt: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 153–156, Protokoll d. Zeugenvernehmung Klara
174
175
468
IV. Zeit der Gasmorde
Im Keller der Anstalt Hadamar, wohin das Pflegepersonal die kranken und behinderten Menschen –
angeblich zum Zwecke des Duschens – brachte, wurden die Opfer „von den Pflegern mit Gewalt in den
Gasraum getrieben“180 und dort auf zwölf Quadratmetern Raum in Gruppen von bis zu rund 100 Menschen durch Kohlenmonoxyd erstickt, das der Arzt vom Nachbarraum aus einströmen einließ.181 In
Hadamar besichtigte eine Reihe von Mitgliedern des in der Anstalt tätigen Personal das Sterben durch
ein eingebautes Sichtfenster;182 auch Dr. Mennecke reiste eigens einmal an, um der Tötung beizuwohnen.183 Nach der Ermordung entnahmen Mitarbeiter der „T4“-Anstalt in einem benachbarten Sezierraum ausgewählten Opfern das Gehirn, um es der Forschung zur Verfügung zu stellen.184 Über eine
Lorenbahn schafften die Tatbeteiligten die Leichen zum ebenfalls im Keller gelegenen Krematorium,
wo in zwei Öfen die Einäscherung (von jeweils mehreren Toten zugleich) stattfand.185 Die Verwaltung
der Mordanstalt mit dem schon erwähnten Sonderstandesamt, einer so genannten „Trostbriefabteilung“
und einer Nachlassabteilung übernahm die Formalien, die mit den Todesfällen einhergingen: die Beurkundung des Todes mit falschen Angaben zur Todesursache, zum Todesdatum und teilweise auch zum
Sterbeort, die Abrechnung mit den Kostenträgern und insbesondere die Versendung von Todesmitteilungen an die Angehörigen; Ascheurnen wurden auf Anforderung an die zuständigen Heimatfriedhöfe
geschickt, während man den Familienmitgliedern Nachlassgegenstände mit dem Hinweis auf deren
angeblich geringen Wert vielfach gar nicht zusandte.186
[= Clara] Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 63, Zeugenaussage Clara Sch.
ggü. d. StAnw Ffm in Wiesbaden (23.05.1946); vgl. auch ebd., Bd. 4, Bl. 29, Aussage Dr. Walter Schmidt als Angeklagter im
Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). – Das Schicksal des als Ausländer von Hadamar über Weilmünster nach Württemberg zurückverlegten Walter K., der bis 1974 lebte, dokumentiert May, Gaskammer (1997).
180
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 181–182, Aussage Benedikt Härtle ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Oberweyer
(09.03.1946), begl. Kopie einer Durchschr., hier Bl. 181 (Zitat „[...] mit Gewalt [...]“); ebd., Bd. 44, Bl. 5, Aussage Erich
Moos ([kein Datum angegeben, ca. 1946/47]), hier n. Wettlaufer, Beteiligung (1986), S. 305; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 91.
181
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js
3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 182; ebd., Bd. 7, Bl. 14 f., Bl. 19 f., Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß
im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 91;
Winter, Geschichte (1991), S. 89. – Der Raum der Gaskammer misst ca. 4,85 x 2,45 m.
182
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 181–182, Aussage Benedikt Härtle ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Oberweyer
(09.03.1946), begl. Kopie einer Durchschr., hier Bl. 181; ebd., Bd. 7, Bl. 104 bzw. Bl. 106 bzw. Bl. 106 f., Aussagen d. Angeklagten Paul H., Hubert Gomerski u. Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); ebd., Nr. 32442
Bd. 1, Bl. 38 f., Zeugenaussage Katharina E. ggü. d. Kriminalpolizei in Eichberg (09.08.1945), hier Bl. 38; HStA Wi, Abt.
631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Neuß (16.09.1963), Kopie. – Vgl. auch
analog zu Bernburg: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, D, o. Bl.-Nr., Edith D., Bonn, an LG Ffm (22.11.1965), Kopie.
183
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 13–16, „Text der mündlich erhobenen Anklage“, Anlage zum Protokoll d. Eichberg-Prozesses, 1. Hv-Tag (02.12.1946), hier Bl. 14; ebd., Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); ebd., Bl. 122, Zeugenaussage Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag
(10.12.1946); ebd., Bd. 2, Bl. 81–85, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Beschuldigter ggü. d. StAnw Ffm in Ffm (28.05.
1946), hier Bl. 84; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 147.
184
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 107, Aussagen d. Angeklagten Hubert Gomerski u. Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947). – Zur geplanten Forschung an diesen Gehirnen im Jahr 1942 in Heidelberg siehe
Kap. V. 1. b).
185
Ebd. (HStA), Bl. 15, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd.,
Bd. 7, Bl. 106, Aussage d. Angeklagten Hubert Gomerski im Hadamar-Prozess Ffm, 3. Hv-Tag (27.02.1947); HStA Wi, Abt.
631a Nr. 1368, D, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Karl Werner Dubois ggü. d. LG Ffm in Schwelm (15.09.1965), Kopie; Schmidtvon Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 92; zur entsprechenden Existenz von Krematorien in allen KZs
dieser Zeit siehe Broszat, Konzentrationslager (1984), S. 127. – Die einzige bekannte Aussage zur Lorenbahn in Hadamar
findet sich in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 22, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im EichbergProzess, 2. Hv-Tag (03.12.1946); bauarchäologische Befunde aus dem Jahre 1990 zur ehem. Lorenbahn in Hadamar sind
dokumentiert bei Cramer, Spuren (1991), S. 204, S. 208; zur Existenz einer entsprechenden Lorenbahn zum Leichentransport
in der „T4“-Anstalt Bernburg siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 60.
186
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm, 53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js
3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 218; ebd., Bd. 7, Bl. 15, Aussage d. Angeklagten Hans Bodo Gorgaß im Hadamar-Prozess Ffm, 1. Hv-Tag (24.02.1947); ebd., Bl. 134, Bl. 138, Bl. 141 f., Bl. 147, Aussagen d. Angeklagten Paula S. bzw.
Johanna Sch. bzw. Hildegard R. bzw. Ingeborg S. geb. W. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947); ebd., Bl. 229,
Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bd. 48, Bl. 34, Aussage eines Verwaltungsmitarbeiters der „T4“-Anstalt Hadamar, zit. b. Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 96;
HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, Bl. 237 f., Bl. 242 f., 239 f., Aussagen Elfriede H. bzw. Hildegard „F.“ [= R.] bzw. Ingeborg S. (alle 1949), hier n. d. Zitierung bei Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 207–209; Winter,
Geschichte (1991), S. 95; Friedlander, Weg (1997), S. 171, S. 173. – Zu den sog. „Trostbriefen“ siehe auch Kap. IV. 3. c).
3. Kooperation während der Gasmorde
469
Ebenso wie der „T4-Gutachter“ Mennecke besuchten auch verschiedene „T4“-Hauptverantwortliche,
aber auch andere Eingeweihte die Mordanstalt Hadamar oder die sonstigen „T4“-Anstalten. Beispielsweise informierten sich verschiedene Spitzenbeamte aus den Landesinnenministerien vor Ort über das
Prozedere der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – besichtigten also die Tötung in der Gaskammer.187 Auch Reichsinnenminister Wilhelm Frick, sein Gesundheitsstaatssekretär Leonardo Conti, aber
auch verschiedene Gauleiter suchten „T4“-Anstalten auf.188 Zum Teil hatten die Besuche in den Mordanstalten aber auch den Zweck, durch organisatorisches Eingreifen einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen; hierzu diente etwa die Anwesenheit des „T4“-Führungspersonals (so von Viktor Brack und
Werner Blankenburg) in Hadamar.189 Auch Besuche des ärztlichen „T4“-Leiters Prof. Dr. Werner Heyde, der anscheinend unter anderem zur Auswahl von Leichen für die universitäre Forschung nach
Hadamar kam, sind organisatorischen Zweckbestimmungen zuzuordnen.190 „T4“ nutzte die Gasmordanstalten auch als Versammlungsstätten für ihre so genannten „Büroleitertagungen“, bei denen die Verwaltungschefs der verschiedenen „T4“-Anstalten, meist unter Leitung des „T4“-Abteilungsleiters
Friedrich Tillmann, sich über mögliche Verbesserung im Ablauf der Mordorganisation austauschten.191
Eine dieser Tagungen, zu der auch die ärztlichen Leiter der Mordanstalten hinzugezogen wurden, fand
im Mai 1941 in Hadamar statt und diente dazu, aufgetretene Pannen, etwa beim Versand der Ascheurnen, abzustellen und darüber hinaus die Übermittlung der entnommenen Gehirne an Forschungsabteilungen zu optimieren.192
Die Todesbilanz der etwas über sieben Monate lang betriebenen Gasmordanstalt Hadamar ist erschreckend. Nach dem im Sommer 1945 entdeckten so genannten „Hartheim-Dokument“, einer der
Realität sehr nahe kommenden193 statistischen Aufstellung von „T4“, waren bis Ende August 1941 in
Hadamar 10.072 Menschen ermordet worden, in allen sechs Gasmordanstalten zusammen 70.273
Menschen.194 Verglichen mit den anderen fünf Gasmordanstalten hatte die Anstalt Hadamar im Sinne
des Regimes bei weitem am effizientesten „gearbeitet“, also die meisten Menschen innerhalb eines
vergleichbaren Zeitraums ermordet.195 Betrachtet man die Herkunft der 1941 in Hadamar ermordeten
187
Besichtigungen des Gasmordes sind bezeugt für folgende Personen: Den Leiter der „T4“-Büroabteilung Friedrich Tillmann: Klee, Ärzte (1986), S. 36; Friedlander, Weg (1997), S. 316, S. 556 (Anm. 31). – Den ärztlichen „T4“-Leiter Prof. Dr.
Paul Nitsche: BA, DP 3, Strafprozessakten Nitsche, Bd. 1, Bl. 47, Aussage Paul Nitsche (26.03.1946), hier n. Schilter, Ermessen (1999), S. 81. – In Grafeneck für Dr. Herbert Linden vom RMdI, Dr. Eugen Stähle sowie Dr. Otto Mauthe vom MdI
Württemberg u. Dr. Ludwig Sprauer vom MdI Baden, sowie mit Wahrscheinlichkeit für Gauleiter Murr: Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 163; Friedlander, Weg (1997), S. 324.
188
Friedlander, Weg (1997), S. 315. – Z. B. ist der Besuch von Gauleiter Fritz Sauckel (Weimar) u. August Eigruber (Linz) in
Hartheim bezeugt; zu Letzterem siehe auch Kap. IV. 2. a). Siehe ebd. auch zum Besuch von Gauleiter Sprenger in der Anstalt
Eichberg 1941.
189
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965),
Kopie; vgl. ebd., Nr. 1366, Teil 1, Bl. 26–35, Aussage Adolf Kaufmann b. LG Ffm (29.12.1965), Kopie, hier Bl. 30. – Zur
Anwesenheit diverser „T4“-Abteilungsleiter usw. in der „T4“-Anstalt Pirna-Sonnenstein vgl. auch Schilter, Ermessen (1999),
S. 80 f.
190
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm in der
Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 5, Kopie; ebd., Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in
Düsseldorf (25.11.1965), Kopie; Aussage Robert Jührs im „Heyde-Verfahren“ (15.02.1962), hier n. d. Zit. in Schmidt-von
Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 92.
191
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, T, o. Bl.-Nr., Aussage Friedrich Tillmann als Beschuldigter b. d. LG Dortmund
(21.03.1961), S. 23, Kopie; ebd., Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Johannes H. b. d. LG Ffm (08.09.1965), S. 2, Kopie;
Klee, Ärzte (1986), S. 36; Schilter, Ermessen (1999), S. 81 f.; Friedlander, Weg (1997), S. 316.
192
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1368, B, o. Bl.-Nr., Aussage Dr. Heinrich Bunke als Beschuldigter b. d. AG Ffm (19.04.1962),
Kopie; NARA, T-1021, Roll 12, Frame 128218, Vm. Prof. Nitsche an Allers (21.05.1941), Durchschr., auch in BA, All. Proz.
7/112 (FC 1807); Aly, Fortschritt (1985), S. 53.
193
Die weitgehende Zuverlässigkeit der dortigen Daten wird belegt durch alle anderen bekannten Dokumente. – Siehe dazu
die Angaben über die Opferzahlen im Folgenden.
194
NARA, T-1021, Roll 18, Frame 94–145, so genanntes „Hartheim-Dokument“, auch in BA, All. Proz. 7/118 (FC 1813);
Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 169–171; Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 98; vgl. dagegen Friedlander, Weg (1997), S. 189. – Zur Unsicherheit über die Hadamarer Opferzahlen noch 1946 während des EichbergProzesses und des Hadamar-Prozesses Ffm („Schätzungen hinsichtlich der Zahl der Getöteten schwanken zwischen 12 –
40 000“) siehe HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 3, Bl. 21–68, 48-seitige Anklageschrift d. OStAnw b. d. LG Ffm zum
Eichberg-Prozess (07.10.1946), hier Bl. 32, sowie gleich lautend ebd., Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 172–224, OStAnw b. d. LG Ffm,
53-seitige Anklageschrift im Verfahren 4a Js 3/46 an d. LG Limburg (02.04.1946), hier Bl. 184.
195
Berechnet man die durchschnittliche Zahl der Ermordeten pro Monat (Beginn- und Endmonat jeweils als halbe Monate
angenommen), so ergibt sich für Hadamar die Zahl von 1.439 pro Monat, während die Vergleichszahlen für Grafeneck bei
894, für Pirna-Sonnenstein bei 856, für Bernburg bei 1.042, für Hartheim bei 1.075 und für Brandenburg bei 1.215 lagen:
470
IV. Zeit der Gasmorde
Patientinnen und Patienten, so kommt die besonders aktive Rolle der „nassauischen“ Anstaltsverwaltung deutlich zum Ausdruck: Von den über 10.000 in Hadamar ermordeten Menschen waren (wobei
die folgenden Zahlen dokumentengestützte Annäherungswerte darstellen196) allein fast 2.800 ursprünglich in Anstalten im Regierungsbezirk Wiesbaden, und das heißt fast ausschließlich: in Einrichtungen
des Bezirksverbandes Nassau (oder in den Privatanstalten unter Leitung Bernotats) untergebracht gewesen.197 Mit einigem Abstand folgen die übrigen Herkunftsregionen: Mehr als 1.900 Menschen entstammten der Rheinprovinz,198 etwa 1.400 kamen aus dem Land Hessen.199 Für die Provinz Westfalen
wurden über 1.300 Menschen als Hadamarer Mordopfer festgestellt.200 Der Regierungsbezirk Kassel
(Bezirksverband Hessen) war die Heimatregion für annähernd 1.200 der Ermordeten gewesen;201 die
Zahl der Opfer aus dem Provinzialverband Hannover lag in einer Größenordnung von 900;202 schließlich entstammten jeweils 260 bis 270 der Hadamarer Mordopfer des Jahres 1941 den Südwestländern
Württemberg und Baden.203
Sowohl diese absoluten Zahlenangaben zu den Ermordeten als auch der jeweilige prozentuale Anteil
der Ermordeten an allen Anstaltspatienten sind nur eingeschränkt aussagekräftig, will man verschiedene Regionen vergleichen. Es vermittelt sich jedoch der Eindruck, dass der Bezirk Wiesbaden sich zwar
von der „Mordrate“ nicht signifikant von anderen vergleichbaren Reichsteilen unterschied, dass aber
die hohe absolute Zahl von Ermordeten außergewöhnlich ist.204 Bei allen Einschränkungen, die die
Errechnet aus den Daten des „Hartheim-Dokuments“ (s. o.) unter Berücksichtigung der Monatsangaben in Winter, Geschichte (1991), S. 76.
196
Eine noch exaktere Feststellung von Opferzahlen wären zwar im einen oder anderen Fall bei detaillierter Dokumentenauswertung möglich, würde jedoch für das Verständnis der Zusammenhänge keinen grundsätzlichen Erkenntniszugewinn erbringen. Eine Vollständigkeit könnte ohnehin nicht erreicht werden, da – wenn auch nur in geringem Ausmaß – einzelne hierzu
erforderliche Unterlagen nicht mehr existieren (oder zumindest bislang nicht ausfindig gemacht werden konnten).
197
Zur Zahl der Opfer aus den LHAen Weilmünster (651), Herborn (774), Eichberg (784), der HEPA Scheuern (314) und der
HEA Kalmenhof (232) als „Ursprungsanstalten“ siehe die Quellenangaben in Kap. IV. 3. a); hinzuzurechnen sind die 12 bis
Aug. 1941 ermordeten Patient/inn/en aus der „Rumpf“-LHA Hadamar (Hofgut Schnepfenhausen): zu dieser Zahl siehe
Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 82. – In wenigen Einzelfällen kamen Opfer auch ursprünglich aus anderen Anstalten im Reg.-Bez. Wiesbaden, nämlich 3 Personen (davon 2 jüdisch) aus dem Dr. Dr. Wolff’schen
Sanatorium Katzenelnbogen u. 5 Personen aus dem „Monikaheim“ in Ffm: siehe AHS, HKV (Aufnahme 10.06.1941); ebd.,
LdsR Bernotat, gez. LVR Müller, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (05.06.1941); LWV, Best. 19/14, HKV d. LHA Weilmünster (Aufnahmen 04.02. u. 10.06.1941). – Insg. kommt man rechnerisch auf die Zahl von 2.775 Hadamarer Gasmordopfern, bei
denen die ursprüngliche Anstalt im Reg.-Bez. Wiesbaden lag.
198
Siehe die Quellenangaben in Kap. IV. 3. a). – Legte man die ebd. zit. Zahlenangaben von Werner zugrunde, käme man
allerdings nur auf eine Zahl von 1.845 aus der Rheinprovinz nach Hadamar verlegten Menschen (davon überlebten mind. 4),
es wäre jedoch wohl die Zahl der 91 jüdischen Opfer aus der Anstalt Düsseldorf-Grafenberg – siehe weiter oben in diesem
Kap. IV. 3. b) – hinzuzurechnen, während die Zahl der jüdischen Opfer aus Andernach bereits berücksichtigt wurde. – Die
Daten addieren sich zur Zahl von 1.936 Mordopfern aus der Rheinprovinz.
199
Zur Quellengrundlage für die Angabe von 1.420 Menschen, die aus dem Land Hessen 1941 in „Zwischenanstalten“
d. Reg.-Bez. Wiesbaden verlegt (und von denen nur äußerst wenige zurückgestellt) wurden, siehe Kap. IV. 3. a).
200
Die Detailrecherchen von Bernd Walter ergaben die Zahl von 1.334 Menschen aus Heilanstalten d. PV Westfalen, die 1941
in der Gaskammer in Hadamar ermordet wurden: Provinzialverband (1996), S. 20.
201
Zur Quellengrundlage für die Angabe von 1.193 Menschen, die aus dem BV Hessen 1941 in „Zwischenanstalten“ d. Reg.Bez. Wiesbaden verlegt (und von denen nur äußerst wenige zurückgestellt) wurden, siehe Kap. IV. 3. a).
202
Feststellen lässt sich die Zahl von 381 Mordopfern aus den hannoverschen Anstalten Lüneburg u. Göttingen in HStA Wi,
Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 17, Verlegungsliste Herborn; in ebd., Bd. 3, o. Bl.-Nr. (Bl. 38) (Verlegungsliste Weilmünster); in
LWV, Best. 19/14; in AHS, HKV (mit Eintragungen 1941). – Hinzuzurechnen ist der allergrößte Teil der 572 Menschen, die
im Apr. 1941 von Hildesheim, Osnabrück u. Wunstorf in die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ verlegt wurden, während
die im Juli u. Aug. 1941 von Wunstorf u. Rotenburg/Wümme in den Reg.-Bez. Wiesbaden verlegten Menschen durch den
„Euthanasie“stopp nicht mehr nach Hadamar weiterverlegt wurden; zu den Zahlen dieser Verlegungen siehe Sueße/Meyer
(1988), S. 218. – Zum weiteren Schicksal der im Juli/Aug. 1941 nicht mehr nach Hadamar weiterverlegten Menschen siehe
Kap. V. 2. a) u. V. 3. b).
203
Zu den Zahlen der 270 über die württembergische „Zwischenanstalt“ Weinsberg und der 265 über die badische „Zwischenanstalt“ Wiesloch nach Hadamar verlegten Menschen siehe die Angaben in Kap. IV. 3. a). – Diese relativ kleinen Zahlen erklären sich damit, dass die meisten badischen u. württembergischen „T4“-Opfer bereits 1940 in Grafeneck ermordet worden waren.
204
Für einen Vergleich mittels der aussagekräftigeren relativen Zahlen (Ermordete im Verhältnis zur Zahl der in Anstalten
untergebrachten psychisch kranken u. geistig behinderten Menschen in einer Region) müsste als Bezugsgröße die Zahl der
insgesamt (also in allen Mordanstalten) ermordeten Menschen herangezogen werden, da aus bestimmten Reichsteilen die
Opfer in verschiedenen „T4“-Anstalten ermordet wurden. So gehen die hier genannten geringen Zahlen für Baden u. Württemberg wie erwähnt darauf zurück, dass die meisten der dortigen Opfer bereits in Grafeneck ermordet worden waren. Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 284–287, versucht eine solche Darstellung der regional unterschiedlichen Prozentanteile von
Ermordeten (unter allen Anstaltspatienten) für 1940/41, wobei (je nach Berechnungsmodus) vielfach Zahlen in einer Größenordnung von 50 %, aber auch von unter 30 % (Westfalen) oder rund 20 % (Rheinprovinz) genannt werden. Selbst diese
relativen Zahlen unterliegen starken Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft über die Aktivität des jeweiligen Anstalts-
3. Kooperation während der Gasmorde
471
Statistik gebietet, geben die immensen Opferzahlen, die der relativ kleine Regierungsbezirk Wiesbaden
(mit 1,5 Millionen Einwohnern) gegenüber großen Provinzen wie etwa der Rheinprovinz oder Hannover (8,0 bzw. 3,5 Millionen Einwohner) aufweist,205 doch eine Ahnung davon, wie umfassend die psychisch kranken und geistig behinderten Menschen im Einflussbereich des Bezirksverbandes Nassau
den Gasmorden zum Opfer fielen. Insoweit scheint sich Faulstichs These zu bestätigen, wonach „die
Zahl der Opfer umso größer ist, je näher der oder die Verantwortlichen der Aktion T4 standen“.206 Die
große Zahl der „nassauischen“ Opfer war auch durch die Überbelegungspolitik gefördert worden, die
der Bezirksverband Nassau in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre betrieben hatte: Die beständigen
Aufnahmen von behinderten und kranken Menschen, die zuvor in privaten Anstalten, etwa in konfessionellen Heimen, untergebracht gewesen waren, führte nun – im Zusammenspiel mit der restriktiven
Praxis bei den Zurückstellungen – zu einer vergleichsweise sehr großen Zahl von Opfern aus dem
Regierungsbezirk Wiesbaden. Dagegen hatten anderswo die Menschen in kirchlichen Einrichtung
vielfach größere Chancen auf eine Verschonung (wenn auch keineswegs eine sichere Gewähr). Ebenso
wie die Aufnahmen aus den kirchlichen Anstalten hatten auch die in den 1930er Jahren durch den
Bezirksverband forcierten Aufnahmen aus dem Bereich anderer Landesfürsorgeverbände (beispielsweise aus der Rheinprovinz oder aus dem Saarland) nun die Verlegung besonders vieler Menschen zur
Ermordung nach Hadamar ermöglicht.207
Aufgrund bisheriger Forschungen zu einzelnen Provinzialverbänden dominierte die Vorstellung, die
Verwaltungen seien beinahe ausschließlich durch die Organisation der Krankenverlegungen in die
„Zwischenanstalten“ oder im Höchstfall durch den Betrieb solcher Durchgangsstationen in den Ablauf
der Gasmordphase der nationalsozialistischen Krankenmorde involviert gewesen.208 Dies trifft zwar für
einige Verbände zu, für den Bezirksverband Nassau aber ist angesichts der dortigen Befunde eine
solche Auffassung zu revidieren. Um eine Einordnung der Rolle der Wiesbadener Zentralverwaltung in
diesem Kontext zu ermöglichen, sei zunächst ein Blick auf die verfassungsrechtliche und die tatsächliche Situation der Kommunalverbände höherer Ordnung in dieser Zeit geworfen. Nach der Gleichschaltung durch das Oberpräsidentengesetz 1933/34209 hatten sich die preußischen Provinzial- und Bezirksverbände bis Kriegsbeginn eine relativ eigenständige Position im Gefüge des NS-Staats erhalten
können. Durch die Unterstellung unter die Oberpräsidenten waren sie zwar formal an die Staatsverwaltung angenähert, in der Realität überließen die Oberpräsidenten als Behördenleiter die tatsächliche
Führung der Verwaltung jedoch den Landeshauptleuten als ihren Vertretern. De facto hatten die Verwaltungen der Verbände durch die Einführung des „Führerprinzips“ sogar einen Autonomiezuwachs
erlangt, da sie nach Abschaffung des Provinzial- bzw. Kommunallandtags jeglicher parlamentarischer
Kontrolle enthoben waren.210 1939 nun plante Reichsinnenminister Frick einen weiteren tatsächlichen
Schritt zur Anbindung der Provinzial- und Bezirksverbände an die Staatsverwaltung. Sämtliche höheren Beamten in diesen Körperschaften, also beispielsweise die Landesräte und selbst die Landeshauptträgers, denn zu berücksichtigen ist hier außerdem insb. das Datum der Erfassung. Je später der Reichsteil erfasst wurde, umso
niedriger lag tendenziell die Mordrate. Kranke u. Behinderte aus bestimmten Reichsteilen (z. B. komplett aus Bremen u.
Oldenburg, z. T. aus Hannover u. Westfalen) wurden durch den „Euthanasiestopp“ gar nicht mehr in eine Gasmordanstalt wie
Hadamar verlegt; siehe dazu auch Kap. IV. 2. b). – Die Mordrate bei den Anstaltspatient/inn/en im Reg.-Bez. Wiesbaden lässt
sich für 1941 (wg. nicht voll kompatibler Daten) nur annäherungsweise mit rund 45 % festzustellen, wenn man der a. a. O.
(siehe oben) erwähnten Zahl von 2.775 Hadamarer „T4“-Opfern aus dem Bez. Wiesbaden die Zahl von 5.246 Anstaltspatienten (im März 1940) in den 4 LHAen gegenüberstellt, der noch eine Zahl der rd. 950 behinderten Menschen insb. in den Anstalten Scheuern u. Kalmenhof hinzugerechnet werden muss: BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941),
S. 25; zur Zahl von 950 „Geisteskranken“, „Schwachsinnigen“ u. „Epileptischen“ in der HEA Kalmenhof u. in der HEPA
Scheuern am 31.03.1939 siehe dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 24.
205
Einwohnerzahlen nach der Volkszählung (17.05.1939)/Personenstandsaufnahme (10.10.1941), hier n. Gemeindeverzeichnis (1944), S. 8. – Zu den jeweiligen Zahlen der in Hadamar ermordeten Opfer siehe oben.
206
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 286.
207
Zur Ausschaltung der konfessionellen Anstalten u. zur Überbelegungspolitik d. BV Nassau vor dem Krieg siehe Kap.
III. 1. a) bzw. III. 3. b); zu den Zurückstellungen in den „Ursprungs-“ u. „Zwischenanstalten“ siehe Kap. IV. 3. a).
208
Zum PV Hannover siehe Sueße/Meyer, Abtransport (1988); Seidel/Sueße, Vernichtung (1991). – Zum PV Rheinprovinz
siehe Werner, Rheinprovinz (1991). – Zum PV Westfalen siehe Walter, Psychiatrie (1996), S. 704–744.
209
Preuß. Gesetzsammlung, Jg. 1933, Nr. 79 (19.12.1933), S. 477–479, „Gesetz über die Erweiterung der Befugnisse der
Oberpräsidenten“ (15.12.1933); siehe Kap. II. 1. b).
210
Siehe dazu Kap. II. 1. b).
472
IV. Zeit der Gasmorde
leute (zudem die Gauhauptleute in den Reichsgauen), bislang Zeitbeamte, sollten zu unmittelbaren
lebenszeitlich angestellten Reichsbeamten gemacht werden, was deren Versetzung beispielsweise in
die Reichsverwaltung ermöglicht hätte. Mit dieser – noch durch das Deutsche Beamtengesetz von
1937211 ausgeschlossenen – Regelung wollte man dem Mangel an Beamten entgegenwirken, der sich
durch Erwerb und Okkupation neuer Territorien entwickelte und der sich mit Beginn des Zweiten
Weltkriegs noch verstärkte. Letztlich wurde dieser Plan Fricks jedoch bis zu dessen Ausscheiden aus
dem Amt 1943 und darüber hinaus bis Kriegsende nicht realisiert, sodass die Beamten der Provinzialund Bezirksverwaltungen ihre selbstständige Stellung behielten.212 Dies begünstigte, dass die leitende
Beamtenschicht dieser Behörden eine jeweils eigenständige, durchaus von Region zu Region divergierende Haltung gegenüber der Mordaktion der „T4“ entwickeln konnte – weit eigenständiger, als sie es
als Reichsbeamte, die dem Innenministerium unterstellt gewesen wären, gekonnte hätten.
Der Personalmangel in der Verwaltung machte sich auch im Bezirksverband Nassau deutlich bemerkbar. Phasenweise war rund ein Drittel der Gesamtbelegschaft zum Militärdienst einberufen, wovon sowohl die Wiesbadener Zentralverwaltung als auch die Außenverwaltungen und Einrichtungen
betroffen waren.213 Darüber hinaus sah der Bezirksverband sich auch einer Vielzahl von freiwilligen
Abordnungen und Meldungen zu anderen Dienststellen und Einsätzen gegenüber, beispielsweise auch
Meldungen für den „Verwaltungsdienst in den Kolonien (Afrika)“.214 Verwaltungsmitarbeiter, die sich
für den Dienst in Russland gemeldet hatten, wurden tatsächlich ins Generalgouvernement oder zum
Regierungspräsidenten in Posen abgeordnet, sodass der Bezirksverband sich Anfang 1942 gegenüber
dem Innenministerium zu dem Hinweis veranlasst sah, nunmehr sei die „Personallage des Bezirksverbandes [...] derart, dass [...] kein Ersatz gestellt werden“ könne, falls noch zusätzliche Abordnungen
nach Russland erforderlich werden sollten.215 Die neue Situation im Krieg brachte karrieremäßige Einschränkungen für die am Heimatort verbliebenen Verwaltungsmitarbeiter mit sich, was mitunter Unmut hervorrief. So setzte der Bezirksverband mit der Begründung, man wolle die einberufenen Soldaten nicht benachteiligen, die Beförderung von Mitarbeitern, die aufgrund einer U.-k.-Stellung in
Wiesbaden Dienst taten, aus. Ein betroffener Verwaltungsangestellter bemühte sich, wenn auch vergeblich, dennoch seine Höhergruppierung mit dem Hinweis zu erreichen: „Es ist ja nicht meine Schuld,
dass ich nicht den grauen Rock trage, wie die einberufenen Berufskameraden. Ich hatte ja bereits zwei
Mal die Einberufung in Händen und nur durch die Verwaltung wurde meine Einberufung vereitelt.“ Im
Bezirksverband entschloss man sich daraufhin, den Betreffenden für den Dienst in der Wehrmacht
freizugeben.216 Der Personalmangel hatte zur Folge, dass nun, 1939/40, selbst politisch unliebsame
Mitarbeiter wiedereingestellt wurden, die 1934 nach dem „Berufsbeamtengesetz“ in den Ruhestand
211
RGBl., Jg. 1937, Nr. 9 (27.01.1937), S. 39–70, „Deutsches Beamtengesetz (DBG)“ (26.01.1937); siehe dazu Kap. II. 2. a).
Zu dieser Diskussion siehe Teppe, Provinz (1977), S. 146 f., S. 152 f. – Zu Fricks Ausscheiden und zur weiteren Stellung
der Selbstverwaltungsverbände siehe auch Kap. V. 4. b).
213
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 1 (danach waren bis etwa Juni 1940 894 Mitarbeiter des
gesamten BV Nassau zur Wehrmacht einberufen worden); LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil
1, Bl. 111, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR Schlüter, an Leutnant G. B., Feldpost-Nr. 19209 B (28.08.1941, ab:
28.08.1941) (nunmehr „fast 800 Einberufungen zur Wehrmacht und Abordnungen in die besetzten Gebiete“); ebd., Pers.Akten Zug. 1986, Bo., Wi., Teil 2, Bl. 72, BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an Polizeipräsident, Kommando
der Schutzpolizei, Wiesbaden (20.05.1943), Abschr. (allein die Einberufungen zur Wehrmacht hatten einen Stand von 985
erreicht); zum Gesamtpersonalbestand d. BV Nassau von 2.836 am 01.04.1939 siehe Tab. 12); zur Einberufung von Anstaltspersonal siehe auch BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940), S. 23; dto. (01.04.1940–31.03.1941).
214
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1990, Mü., Ot., Pers.-A., Teil 2, Bl. 63, BV Nassau, gez. Kranzbühler i. V. d.
LH, an RMdI, betr. „Meldung des Landesinspektors Otto M[...] für den Kolonialdienst“ (25.02.1942), Abschr., mit Hinweis
auf RMBliV., 5. (101.) Jg., Nr. 27 (03.07.1940), Sp. 1303–1304b, RMdI, RdErl. II SB 2171 II/40–6755, betr. „Kolonialdienst“ (29.06.1940). – Laut Schreiben vom 25.02.1942 hatte der BV Nassau „unterm 4. Oktober 1940 [...] eine Liste derjenigen Gefolgschaftsmitglieder [...] vorgelegt, die sich damals für eine Verwendung im Kolonialdienst gemeldet hatten.“ –
Tatsächlich wurde der Betreffende dann an das Generalgouvernement nach Krakau abgeordnet: ebd. (LWV), Teil 3, Bl. 3,
RMdI, Az. P 9 – 78 M[...]/42, Schnellbrief an OP in Kassel (10.04.1942), hier als Abschr. von OP in Kassel an BV Nassau
(14.04.1942). – Im Mai 1943 waren dann 106 Mitarbeiter d. BV Nassau „zu anderen Verwaltungen, insbesondere nach dem
Osten, abgeordnet“: ebd., Pers.-Akten Zug. 1986, Bo., Wi., Teil 2, Bl. 72, BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an
Polizeipräsident, Kommando der Schutzpolizei, Wiesbaden (20.05.1943), Abschr.
215
Ebd., Pers.-Akten Zug. 1990, Mü., Ot., Pers.-A., Teil 3, Bl. 4, Vfg. zum Bericht BV Nassau durch OP in Kassel an
RMdI (20.04.1942).
216
Ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Fa., Jo., Bl. 168, Josef F., Wiesbaden, an BV Nassau (28.08.1941); ebd., Bl. 170, Vfg. z.
Schr. BV Nassau, gez. Kranzbühler, an Wehrmeldeamt Wiesbaden (09.10.1941).
212
3. Kooperation während der Gasmorde
473
versetzt worden waren.217 Wie die Sparmaßnahmen im Fürsorgebereich nun unmittelbar nutzbar gemacht werden konnten, um Personalengpässe in der Verwaltung zu schließen, zeigt die Verwendung
des Personals der 1939 geschlossenen Frankfurter Landesgehörlosenschule des Bezirksverbandes: Als
der Unterricht im September eingestellt worden war, wurden die verbliebenen Gehörlosenlehrer kurzerhand von Frankfurt nach Wiesbaden abgeordnet und für mehrere Monate als Verwaltungsmitarbeiter in der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes verwendet.218
Es ist nach wie vor zumindest in der Akzentuierung umstritten, welchen Anteil „normale“ öffentliche Verwaltungsapparate und ihr Personal an der Umsetzung der Mordaktionen des „Dritten Reiches“
hatten oder haben konnten. Friedlander vertritt die Auffassung, die Federführung der „T4“ bei den
Krankenmorden habe den Zweck gehabt, jene „Behinderung der Aktion zu vermeiden, die eine Beteiligung des üblichen Beamtenapparates automatisch mit sich gebracht hätte.“219 Diese hinsichtlich der
Intention der Aufgabenverteilung gewiss richtige Einschätzung lässt jedoch die Tatsache in den Hintergrund treten, dass die Staats- und Kommunalverwaltungen durchaus eigenständige Tatbeiträge zu
liefern in der Lage waren und dass eine „Beteiligung des üblichen Beamtenapparates“ zumindest sektoral jedenfalls gegeben war. Cording führt mit Bezug auf die Krankenmordaktion aus: „Für die Durchführung der nationalsozialistischen Verbrechen waren die zentralistisch organisierten Verwaltungsstrukturen und das streng hierarchisch gegliederte Beamtentum, bei dem niemand in eigener
Verantwortung handelte, sondern stets nur ‚im Auftrag‘, günstige Voraussetzungen, zumal die psychiatrischen Anstalten ohnehin ganz überwiegend in staatlicher Hand waren. Auf diese Weise konnten
ursprünglich positive deutsche Beamtentraditionen wie Loyalität, Disziplin, Gehorsam, Fleiß und Korrektheit ohne weiteres auch für die Organisation der Krankentötungen ausgenutzt werden. Die Aktion
T4 war in eine Vielzahl scheinbar unbedeutender Einzelhandlungen unterteilt worden, so dass niemand
sich für das Ganze verantwortlich fühlen musste, jeder einzelne war nur ein winziges Rädchen in einem mörderischen Apparat.“220 Ähnlich stuft auch Teppe für den westfälischen Provinzialverband das
Verhalten der Verwaltungsbeamten (und Ärzte) gegenüber den NS-„Euthanasie“-Verbrechen ein, ohne
allerdings dabei „eine uniforme Typologie“ der Mitarbeiter zu postulieren: „Ihre Mitwirkung und Einbeziehung in das bürokratisch tiefgestaffelte Tötungssystem vollzog sich auf verschiedenen Ebenen
und in abgestufter Verantwortlichkeit. Aber charakteristisch und überall spürbar ist das Bestreben, die
gestellte Aufgabe ordentlich, regelhaft, nachprüfbar, eben bürokratisch abzuwickeln. Nicht allein der
Tatbestand der Pflichterfüllung ist es, der auffällt. Es ist das Bemühen um möglichst effiziente, beanstandungsfreie Pflichterfüllung, was auch den vorauseilenden Gehorsam einschloß.“221 Wie ausschlaggebend dabei die Haltung insbesondere der leitenden Beamten letztlich für die kollektive Haltung des
gesamten Verwaltungsapparates sein konnte, ergibt sich aus Schilters Einschätzung zur Abteilung
„Volkspflege“ im sächsischen Innenministerium in Dresden, wo der Abteilungsleiter eigenständige
Entscheidungen zur reibungslosen Umsetzung der Mordaktion traf, mit der Folge, dass die Ministerialbeamten „von Anfang an über Zweck und Ziel der ‚Aktion T4‘ informiert“ waren und „rückhaltlos für
deren Umsetzung“ eintraten.222
Unübersehbar übernahm innerhalb der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes Nassau der Anstaltsdezernent Fritz Bernotat die Führungsrolle in allen Bereichen, die einen Bezug zu den Krankenund Behindertenmorden hatten.223 Mit dieser Sonderstellung war eine Vielzahl von Einzelvorgängen
verbunden, die erst in ihrer Gesamtheit die Bedeutung Bernotats und des ihn tragenden Bezirksverban217
Ebd., Pers.-Akten Zug. 1981, Ur., Ma., Bd. I, Teil 1, Bl. 20–28, Korresp. BV Nassau – RMdI, Provinzialaufsicht, Berlin –
Betroffener Max U. (10.07.–18.11.1939). – Obwohl die befragte Gauleitung die Einstellung des ehem. SPD-Mitglieds abgelehnt hatte, wurde diese vollzogen, nachdem man festgestellt hatte, dass eine Zustimmung in diesem Fall gar nicht einzuholen
gewesen sei. – Zum 31.12.1940 wurde Max U. wegen des „Freiwerden[s] von Kräften an anderen Stellen“ wieder entlassen:
ebd., Bl. 34, Vfg. zum Schreiben BV Nassau an Max U. (20.11.1940, ab: 27.11.1940).
218
Ebd., Pers.-Akten Zug. 1985, Th., Ph., Bd. I, Bl. 105 f. Vfg. d. BV Nassau (09.09.1939), Abschr., hier Bl. 105; ebd.,
Bl. 108, BV Nassau an Taubstummenoberlehrer T., z. Zt. Wiesbaden (02.12.1939), Abschr.
219
Friedlander, Weg (1997), S. 199.
220
Cording, Psychiatrie (2001), S. 14. – Hervorhebung (kursiv) im Orig.
221
Teppe, Massenmord (1989), S. 30.
222
Schilter, Ermessen (1999), S. 84–89 (Zitat auf S. 84).
223
Siehe dazu die bisherigen Darstellungen in Kap. IV. 2. u. IV. 3.
474
IV. Zeit der Gasmorde
des auch für jenen Zeitraum offenbaren, in dem eigentlich „T4“ die Krankentötungen in eigener Regie
durchführte. Dies gilt beispielsweise für die Unterstützung von Menneckes Tätigkeit als „Gutachter“
für „T4“, wovon Bernotat (wie gezeigt) frühzeitig informiert war.224 Bernotat deckte diese Aktivitäten
Menneckes, die zum Teil mit erheblichen Fehlzeiten an dessen Dienstsitz einhergingen: Als der Eichberger Direktor beispielsweise im August 1940 im „T4“-Auftrag zu einer umfangreichen Reise durch
die Anstalten in den fränkischen Bezirken von Bayern aufbrach, genügte eine mündliche Zustimmung
Bernotats, um die dadurch entstehenden organisatorischen Erfordernisse (wie Urlaubs- und Vertretungsregelungen) verwaltungsintern zu legitimieren und abzusichern.225
Frühzeitig machte Bernotats Anstaltsdezernat von den Kenntnissen über die Mordaktion Gebrauch
und zog fürsorgepolitische Konsequenzen daraus. So lehnte der Dezernent Mitte Oktober 1940 (also
bevor überhaupt Patientinnen und Patienten aus dem Bereich des Bezirksverbandes durch „T4“ ermordet worden waren)226 die weitere Unterbringung von Kranken aus Anstalten in Familienpflegestellen ab
mit einer Begründung, welche die Tötungen gewissermaßen planerisch vorwegnahm: „Nachdem wieder genügend Unterbringungs- und Arbeitsmöglichkeiten in den Landesheilanstalten vorhanden ist [!],
wird die Aufhebung der Familienpflegestellen für Geisteskranke im Regierungsbezirk Wiesbaden in
nächster Zeit allgemein durchgeführt werden.“ Während Bernotat verklausuliert auf die „Notwendigkeit dieser grundsätzlichen Ordnung des Pflegewesens“ hinwies, begründete auch Mennecke in derselben Angelegenheit gegenüber Antragstellern die Ablehnung der Zuweisung von „Familienpfleglingen“
damit, dass „sowieso eine Neuregelung des Anstaltsfürsorgewesens zu erwarten ist“.227
Während der Zeit der Hadamarer Gasmorde ab Januar 1941 kümmerte Bernotat sich – über die Informierung und Einschwörung des Personal hinaus228 – in vielfacher Hinsicht um die Absicherung der
Mordaktion. In umfangreichem Maße befasste das Anstaltsdezernat sich damit, die Verlegungen in die
„Zwischenanstalten“ zu organisieren und zu koordinieren: Bernotat oder seine Mitarbeiter kündigten
gegenüber den „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden an, zu welchem Zeitpunkt wie
viele Menschen mit „Transporten“ aus auswärtigen Anstalten zu erwarten und aufzunehmen seien.229
Wo Menschen aus einzelnen kleinen (nicht konfessionellen) Privatanstalten im „nassauischen“ Bezirk
in „Zwischenanstalten“ zu verlegen waren, delegierte Bernotat die Vornahme der Verlegung an Einrichtungen wie die Anstalt Scheuern, nicht ohne bis ins Detail Vorgaben für die Erledigung zu machen:
Das Anstaltsdezernat führte die Namen der Betroffenen einzeln auf, setzte Fristen für die Verlegung
und überwachte die Erledigung des Auftrags, indem es sich über dessen Durchführung Bericht erstatten ließ.230
Bernotats Anstaltsdezernat fungierte auch als zuständige Instanz für die Festlegung, in welche der
„Zwischenanstalten“ die ankommenden Patientinnen und Patienten aus anderen Regionen geleitet
werden sollten; zu diesem Zweck setzte Bernotat sich mit den dortigen Anstaltsträgerverwaltungen wie
beispielsweise dem Provinzialverband Westfalen in Verbindung, um die jeweilige „Zwischenanstalt“
mitzuteilen.231 Um stets einen aktuellen Überblick über die Aufnahmekapazitäten der fünf „Zwischenanstalten“, für die er zuständig war, zu gewährleisten, ließ der Anstaltsdezernent sich wöchentlich
durch die Einrichtungen die Zahl der freien Plätze melden; erst nach dem Ende der Hadamarer Gasmorde hob Bernotat diese Meldepflicht auf.232
224
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an BV Nassau, Personalabteilung (18.08.1940), hier zit. n. d.
Abdr. b. Mennecke (1988), S. 160 f. (Dok. 52). – Zur Rolle der Personalabteilung siehe weiter unten in diesem Kap. IV. 3. b).
226
Mit Ausnahme der jüdischen Patient/inn/en aus den LHAen Hadamar u. Herborn: siehe dazu Kap. IV. 2. a).
227
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12528, o. Bl.-Nr., Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. Dir. Dr. Mennecke, an „Frau Rudolf
B[...]“, Diethardt (16.10.1940, ab: 16.10.1940); ebd., BV Nassau, Az. A (S II) 4113/2, gez. i. A. LdsR Bernotat, an Johann J.,
Hausen v. d. H. (16.10.1940), hier als Abschr. an LHA Eichberg.
228
Siehe dazu Kap. IV. 3. a).
229
AHS, div. Schreiben von LdsR Bernotat (z. T. gez. LVR Müller), Wiesbaden, an HEPA Scheuern (05.06./14./28.07./
04./11./21.08./27.10./01.12.1941).
230
Siehe z. B. zur Organisation der Verlegungen aus dem Dr. Dr. Wolff’schen Sanatorium Katzenelnbogen in die HEPA
Scheuern: AHS, LdsR Bernotat, gez. LVR Müller, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (05.06.1941).
231
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (04.08.1941) („Ich habe angeordnet, dass der Transport [aus Eickelborn, P. S.] nach der dortigen Anstalt [= Scheuern, P. S.] geleitet wird“); vgl. auch Walter, Psychiatrie (1996), S. 721.
232
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (13.10.1941).
225
3. Kooperation während der Gasmorde
475
Die verantwortliche Rolle der einzelnen Anstalten im Rahmen der Verlegungen hatte dazu geführt,
dass diese auch selbstständig – am Anstaltsdezernat vorbei – mit „T4“ korrespondierten. Das Bestreben
des Anstaltsdezernenten, innerhalb des Bezirksverbandes die Schlüsselposition in diesem Bereich zu
behalten, lässt sich daran ablesen, dass Bernotat nach Abschluss der Gasmorde die anschließende,
Abwicklungsfragen dienende Korrespondenz zwischen den Anstalten und „T4“ in seiner Anstaltsabteilung monopolisierte: „Jeglicher unmittelbare Schriftverkehr zwischen der dortigen Anstalt und den in
Berlin mit der Durchführung der Aktion befassten Dienststellen hat in Zukunft unbedingt zu unterbleiben. Dieser Schriftwechsel wird allein von mir geführt. Alle Vorgänge, deren Weitergabe nach Berlin
nach pflichtgemässem Ermessen wünschenswert erscheint, sind daher zunächst an mich zu senden. Ich
erwarte, dass diese Verfügung zukünftig genau beachtet wird, damit sich die weitere Abwicklung der
Aktion reibungslos vollzieht.“233
Generell liefen auch sämtliche Kontakte der Zentralverwaltung des Bezirksverbandes zu „T4“ über
deren „Sonderbeauftragten“ Bernotat. Während der Gasmorde führte er in organisatorischen Fragen
Verhandlungen mit der Mordorganisation,234 hielt sich hierzu mitunter auch in der Gasmordanstalt Hadamar auf und sprach dort mit den „T4“-Verantwortlichen Brack, Blankenburg und Kaufmann.235 Soweit „T4“ schriftlich mit Bernotat verkehrte, bediente die Organisation sich teilweise der Privatadresse
des Landesrats in der Wiesbadener Eichendorffstraße.236 Ansonsten telefonierte Bernotat eher mit „T4“;
beispielsweise in Personalfragen wandte die Kanzlei des Führers sich fernmündlich an ihn.237
Obwohl Bernotat, der „Tatmensch“,238 offenbar eine Vielzahl von Verwaltungsvorgängen im Zusammenhang mit der „T4“-Mordaktion persönlich erledigte, darf nicht der Eindruck entstehen, er habe
in der Verwaltung des Bezirksverbandes allein gewirkt. Außer seiner Sekretärin stand ihm neben den
Mitarbeitern der (relativ kleinen) Anstaltsabteilung239 des Bezirksverbandes besonders seit dem Jahr
1941 auch der Hilfsdezernent des Landesfürsorgeverbandes, der Jurist Landesverwaltungsrat Kurt
Müller, zur Seite, der in Fragen der Mordaktion auch eine Reihe von Schreiben in Bernotats Vertretung
unterzeichnete. Besonders als Bernotat im Herbst 1941 krankheitshalber zeitweise ausfiel,240 avancierte
Müller zu dessen ständigem Vertreter, der nun selbstständig Abwicklungsarbeiten im Zusammenhang
mit der Krankenmordaktion übernahm.241
233
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, Dir. Todt (27.10.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an
andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich
eingesetzt ist).
234
Vgl. LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 44, Vm. d. LHA Hadamar, gez. LS Klein (15.09.1941).
235
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1372, S, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Gertrud S. geb. H. ggü. d. LG Ffm in Düsseldorf (25.11.1965),
Kopie.
236
LWV, Best. 12/ehem. VA 636 Bd. 1 (Kopie), Bl. 6, [„T4“,] „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“, Der Personalchef, Berlin, an LdsR Bernotat, Wiesbaden, Eichendorffstraße 1 (28.04.1941), hier als Abschr. von Bernotat, Wiesbaden,
Landeshaus, an LHA Hadamar (02.05.1941).
237
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 16, Vm. d. BV Nassau bzw. Entwurf
zum Schreiben BV Nassau an Kanzlei des Führers (o. D. [Juli 1941] bzw. 16.07.1941) („Die Kanzlei des Führers hat Herrn
Landesrat Bernotat angerufen“ bzw. „Auf den fernmündlichen Anruf vom 8. Juli 1941“); siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr.
32442 Bd. 2, Bl. 182 f., Zeugenaussage [d. Sekretärin v. Bernotat] Therese H. geb. D. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946), hier Bl. 183.
238
In BA, BDC-Unterlagen (SSO) zu Bernotat, Fritz, SS-Personalbericht (28.09.1943), antwortete der Führer des SSOberabschnitts Rhein/Westmark, Berkelmann, auf die Frage nach Bernotats Fähigkeit des Vortragens: „genügt. Mehr Tatmensch“.
239
Zur Anstaltsabteilung „S II“ siehe Kap. III. 3. a).
240
Zu Bernotats Erkrankung siehe Kap. V. 1. b).
241
AHS, Einschreiben LdsR Bernotat, Wiesbaden, gez. LVR Müller, an HEPA Scheuern (01.12.1941) (zur Entlassung verbliebener „Zwischenanstalts“patienten); HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12618, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S/II) 1002/3, gez.
i. A. LVR Müller, an LHA Eichberg (02.12.1941) (Mitteilung über die Befugnisse des neuen Reichsbeauftragten für die Heilund Pflegeanstalten); ebd., Nr. 12513, o. Bl.-Nr., LdsR Bernotat, Landeshaus Wiesbaden, gez. i. A. LVR Müller, an LHA
Eichberg (24.12.1941) (betr. Verlegung ehem. „Zwischenanstalts“patienten); ebd., Nr. 12607, o. Bl.-Nr., Der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten, Az. 15/41 – 5107, Rundschreiben, hier an LdsR Bernotat, betr. „Verlegung von Insassen
der Heil- und Pflegeanstalten“ (22.12.1941), hier als Abschr. von BV Nassau, gez. Müller, an LHA Eichberg (08.01.1942);
LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 133, BV Nassau, Az. A (S II) 1002/3, gez. i. A. LVR Müller, an LHA Hadamar,
betr. „Planwirtschaftliche Maßnahmen“ (21.11.1941). – Die Korrespondenz betraf u. a. die Frage der Verlegung der (durch
den sog. „Euthanasiestopp“) in den Einrichtungen verbliebenen „Zwischenanstalts“patienten oder bezog sich auf die Ernennung des neuen „Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten“; siehe dazu auch Kap. V. 1. – Zu Kurt Müller (1908–
1954) siehe biogr. Anhang.
476
IV. Zeit der Gasmorde
Die Krankenmorde wurden innerhalb der Leitungsebene der Wiesbadener Verwaltung des Bezirksverbandes nicht als Geheimnis behandelt. Über Bernotats Anstaltsabteilung hinaus waren nämlich auch
weitere Abteilungen des Verbandes mit der Flankierung der Aktivitäten von „T4“ oder mit den Auswirkungen der Morde befasst. Das gilt insbesondere für die Dezernate der Landesräte Kranzbühler
(Allgemeine Verwaltung und Personal) und Schlüter (Finanzen), eingeschränkt auch für Landesrat
Johlen (Landesfürsorgeverband). Jeweils auf ihrem Gebiet sorgten diese Oberbeamten mit ihren Abteilungen dafür, dass die „T4“-Morde reibungslos erfolgen konnten oder dass sie sich für den Bezirksverband, auch in finanzieller und machtpolitischer Hinsicht, zuträglich auswirkten.
Eine herausgehobene Funktion kam Landesrat Max Kranzbühler242 als Abteilungsvorstand für die Allgemeine Verwaltung und den Personalbereich zu. Besonders da Landeshauptmann Traupel sich nach dem
verlorenen Kampf gegen Sprenger de facto auf seinen Kasseler Behördenteil beschränken musste und erst
recht, nachdem Traupel im April 1941 zur Wehrmacht gegangen war,243 erlangte Kranzbühlers Funktion
als stellvertretender Landeshauptmann in Wiesbaden mehr Bedeutung denn je. Das Spektrum der Absicherungsleistungen, die Kranzbühler in seiner uneingeschränkten Loyalität gegenüber den expliziten und
impliziten politischen Vorgaben erbrachte, betrifft verschiedene (zum Teil auch bereits dargestellte) Bereiche. Die Meldebogenausfüllung durch die Anstalten im Juli 1940 scheint der erste Berührungspunkt
Kranzbühlers mit der Krankenmordaktion gewesen zu sein, wobei er die in Weilmünster zeitweise aufgetretenen Probleme durch eine rasche Einschaltung der verbandseigenen „Experten“ – Bernotat und Mennecke – behob.244 Seine Mitwirkung hinderte Kranzbühler, der sein Image als „korrekter Beamter“ pflegte,
nicht daran, 1946 jedes Wissen abzustreiten und zu behaupten, ihm sei „die Abgabe von Meldebogen und
die Durchführung von Verlegungen gänzlich unbekannt [geblieben], zumal es sich hierbei um rein interne Anstaltsfragen handelte.“ Kranzbühlers angebliche Unwissenheit ging sogar noch weiter: „Mir waren
die Vorgänge in den Heilanstalten während des Krieges überhaupt weder dienstlich noch ausserdienstlich irgendwie bekannt geworden. [...] Von den Vorkommnissen in Hadamar habe ich nie etwas erfahren.
L[andes-]R[at] Bernotat hüllte sich in tiefstes Schweigen und sprach sich über diese Dinge nie aus.“245
Dass all dies nicht der Wahrheit entsprach, ergab sich allein schon aus Funktion und Handeln Kranzbühlers und seines Dezernates im Bezirksverband. Bereits die offenen Mitteilungen des Eichberger
Direktors Mennecke an die Wiesbadener Personalabteilung über einen „Sondereinsatz“, zu dem er im
„Rahmen der mir zugewiesenen Sonderaufgaben [...] durch die ‚Kanzlei des Führers‘ in Berlin [...] berufen“ worden sei,246 legen nahe, dass Kranzbühler und darüber hinaus weitere Mitarbeiter der Personalabteilung über Menneckes Tätigkeit als „T4“-„Gutachter“ zumindest dem Grundsatz nach informiert waren. Vollends deutlich wird dies bei einer Betrachtung des Vertuschungssystems, mit dem
Kranzbühler (als stellvertretender Landeshauptmann oder als Personaldezernent) gegenüber Dritten die
Ermordung von Kranken verbal zu verschleiern suchte. Zwei Wochen nach Beginn der Hadamarer
Morde im Januar 1941 lehnte Kranzbühler gegenüber der Stadt Frankfurt die von dort beantragte und
noch im Vormonat bewilligte „Verlegung geisteskranker Personen aus den Landesheilanstalten in die
Nervenklinik der Stadt und Universität in Frankfurt a/M. zur erbbiologischen Untersuchung“ nun aus
„besonderen Gründen [...] für die Dauer des Krieges“ ab. Damit verhinderte er, dass die zur Verlegung
und Ermordung vorgesehenen Menschen möglicherweise am geplanten Verlegungstag nicht in den
„Zwischenanstalten“ anwesend gewesen wären. So hatte Kranzbühler auch „nichts dagegen einzuwenden, wenn die Nachuntersuchungen [...] durch einen Arzt der Universitäts-Nervenklinik in den Landesheilanstalten vorgenommen werden.“247
242
Zur Biografie von Max Kranzbühler (1878–1964) siehe insb. Kap. I. 2. a); siehe auch biogr. Anhang; zu seiner Stellung im
Bezirksverband während der NS-Zeit siehe Kap. II. 1. a).
243
Zum Kampf Sprenger – Traupel und zu Traupels Einberufung im Apr. 1941 siehe Kap. IV. 1. b).
244
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
245
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 226, Zeugenaussage Max Kranzbühler ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Ffm (17.09.
1946).
246
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1652, Dir. Dr. Mennecke, Eichberg, an BV Nassau, Personalabteilung (18.08.1940), hier zit. n. d.
Abdr. b. Mennecke (1988), S. 160 f. (Dok. 52).
247
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12541, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 1, gez. LdsR Kranzbühler i. V. d. LH, an OB Ffm,
Fürsorgeamt, betr. „Verlegungen von Geisteskranken aus den Landesheilanstalten in die Nervenklinik Frankfurt a/M. und
zurück“ (25.01.1941), hier als Abschr. von BV Nassau an LHA Eichberg (25.01.1941); vgl. auch ebd., o. Bl.-Nr., Nervenkli-
3. Kooperation während der Gasmorde
477
Im Januar 1941 bemühte sich Kranzbühler als Personaldezernent darum, außerhalb des Bezirksverbandes einen neuen Posten für Dr. Peter Masorsky248 zu finden. Masorsky, seit 1938 Direktor der Landesheilanstalt Hadamar, jedoch seit Kriegsbeginn zur Marine einberufen, galt im Bezirksverband mittlerweile als überzählig, da man von einer dauerhaften Abtretung der Anstalt Hadamar an „T4“ ausging
und daher dort keinen Direktor mehr benötigte. Der Verband hatte Masorsky zwar formal an die Anstalt Herborn versetzt (und damit auch den Umzug von dessen Ehefrau dorthin veranlasst), konnte
jedoch auch darin keine Lösung für die Zeit nach dem erwarteten Kriegsende sehen, da ja die Anstalt
Herborn mit Dr. Paul Schiese bereits einen Direktor hatte. Daher schlug Kranzbühler den Arzt Masorsky nun Ende Januar 1941 dem Reichsinnenminister für eine Verwendung im Reichsdienst, etwa als
Amtsarzt, vor. Dass Kranzbühler die Sprachregelungen zur Verschleierung der Morde durchaus geläufig waren, bewies er in diesem Bericht an das Ministerium: Bezug nehmend auf die „[p]lanwirtschaftliche[n] Massnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten“ formulierte er nämlich dort, die Anstalt Hadamar sei „anderen Zwecken im Rahmen der aufbauenden Gesundheitsfürsorge zur Verfügung gestellt
worden“.249
Der Bezirksverband Nassau unterstützte „T4“ in einem nicht unwichtigen Punkt, indem er Widerspruch oder unbotmäßiges Verhalten seiner Mitarbeiter mit Macht einzudämmen versuchte. Während
sich unter den Verwaltungsbeamten und -angestellten der Wiesbadener Zentralverwaltung – soweit
bekannt – in keinem Fall250 Verweigerungen oder Kritik an den Krankenmorden offenbarten, ließ sich
dies in den Anstalten des Verbandes in Einzelfällen feststellen. Die Art und Weise, wie die zuständigen
Abteilungsleiter des Verbandes (Personaldezernent Kranzbühler und Anstaltsdezernent Bernotat), zum
Teil auch die örtlich Verantwortlichen, diesen Formen von Resistenz begegneten, gestaltete sich von
Fall zu Fall unterschiedlich.251
Gleich zu Anfang der Krankenverlegungen statuierte der Bezirksverband Nassau ein Exempel an
Karl K., einem 35-jährigen Mitarbeiter der Landesheilanstalt Weilmünster. Kraftfahrer K. hatte bereits
1940 in Hadamar, wo er bis zum Oktober (also noch vor der „T4“-Zeit) in der Landesheilanstalt gearbeitet hatte, die Vorbereitungen zum Umbau der Anstalt wahrgenommen.252 Als er nun im Januar 1941
die Verlegungen von Weilmünster nach Hadamar beobachtete, äußerte er (nach eigener Erinnerung) in
Weilmünster: „die kommen nach Hadamar in den Backofen, die werden verbrannt.“ Anwesende bezeugten später K.s sarkastisches Wort von der Hadamarer „Brezelbäckerei“. Kurz nach Karl K.s Ausspruch ließ der Bezirksverband ihn durch den ersten Verwaltungsbeamten der Anstalt Weilmünster,
Karl F., verhören und entließ den Mitarbeiter dann fristlos aus dem Dienst. Anstaltsdezernent Bernotat
nahm den Vorfall zum Anlass für drohende Bemerkungen beim Betriebsappell gegenüber der übrigen
Belegschaft in Weilmünster, während er Karl K. der Gestapo überließ, die ihn festnahm und zehn Tage
lang in Frankfurt in Haft hielt.253
nik d. Stadt u. Universität Ffm, gez. Kleist, an Verwaltung der Klinik, Ffm (07.11.1940), hier als Abschr. von Verwaltung d.
Klinik Ffm an LHA Eichberg (13.11.1940); vgl. auch ebd., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 567, gez. i. A. LdsR Johlen, an
Nervenklinik d. Stadt u. Univ. Ffm, betr. „Verlegung von Geisteskranken in die dortige Klinik“ (02.12.1940), hier als Abschr.
von BV Nassau an LHA Eichberg (02.12.1940).
248
Zu Dr. med. Peter Masorsky (1887–1966) siehe auch biogr. Anhang.
249
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Masorsky, Peter, Dr., Teil 2, Bl. 9, BV Nassau, gez. LdsR Kranzbühler
i. V. d. LH, an RMdI, betr. „Planwirtschaftliche Massnahmen in den Heil- und Pflegeanstalten“ (29.01.1941), Abschr.; einer
neuen Verwendung Masorskys diente auch eine Initiative Bernotats, der den Arzt ggü. d. KdF als „Chefarzt für die Ostgebiete“ namhaft machte: ebd., Bl. 16, BV Nassau an Kanzlei des Führers (16.07.1941), Entwurf.
250
Abgesehen von der unten genannten Wilhelmine R., die allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Zentralverwaltung tätig war.
251
Zur kritischen Diskussion von Begriffen wie „Widerstand“, „Resistenz“, „Dissens“ siehe z. B. Kershaw, Widerstand (1986),
S. 780 f., S. 785 f.; siehe auch insg. Mehringer, Widerstand (1997).
252
Siehe dazu Kap. IV. 2. b).
253
Zu Karl K. (* 1906) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie u. zum Vorfall: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2,
Bl. 14, Aussage Karl K. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (13.02.1946); ebd., Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü.
d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 874 (10.01.1947); ebd., Bd. 7, Bl. 203 f., Zeugenaussage Hans L. im
Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947) (auf Bl. 204 Zitat „Brezelbäckerei“); ebd., Bl. 219–221, Zeugenaussage Karl
K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947) (auf Bl. 220 Zitat „[...] Backofen [...]“); ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 129,
Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (Zitat „Brezelbäckerei“); vgl. auch ebd., Nr.
32061 Bd. 2, Bl. 61, Aussage Ottilie V. ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946) (V. sagte allerdings, sie u. K. seien
478
IV. Zeit der Gasmorde
Ein ähnliches Schicksal traf im Juni 1941 die Verwaltungsmitarbeiterin der Landesheilanstalt Eichberg, Wilhelmine R. Die 46-Jährige war erst im März 1941 von der Wiesbadener Zentralverwaltung
zum Büro der Anstalt Eichberg versetzt worden, um dort Abschriften der „T4“-Verlegungslisten anzufertigen. Da die Tätigkeit sie seelisch sehr belastete, beantragte sie telefonisch bei Personaldezernent
Kranzbühler und persönlich bei Anstaltsdezernent Bernotat ihre Rückversetzung nach Wiesbaden, was
beide ihr jedoch abschlugen. Daraufhin meldete sie sich krank, was Bernotat mit den Worten quittierte:
„Nach meiner Ansicht hat Frau R[...] keine Lust mehr, in der Anstalt Eichberg weiterzuarbeiten.“ Wie
schon bei Karl K. in Weilmünster wurde auch bei Wilhelmine R. bekannt, dass sie über die Geschehnisse in der Landesheilanstalt Eichberg gesprochen hatte, wenn auch nur im privaten Kreis. Als R.
nach vierwöchiger Krankschreibung zum Eichberg zurückkehrte, erschien Bernotat in Begleitung
zweier Gestapobeamter, die Wilhelmine R. verhafteten, verhörten und wegen angeblicher „Verbreitung
unwahrer Geruechte ueber die Landesheilanstalt Eichberg“ zehn Tage lang in Haft behielten. Bernotat
nutzte auch diesen Fall zur Abhaltung eines Betriebsappells in der Anstalt, während der Bezirksverband der Angestellten R. fristlos kündigte mit der Begründung, ihre Äußerungen stellten „eine grobe
Verletzung des Dienstgeheimnisses und damit [i]hrer Dienstpflichten“ dar. Mit demselben Argument –
sie habe 1941 „gegen die Verschwiegenheitspflicht verst[o]ßen“ – lehnten 1951 bis 1958 der Bezirkskommunalverband Wiesbaden und dann der Landeswohlfahrtsverband Hessen die Wiedereinstellung
von Wilhelmine R. ab.254
Nicht zwangsläufig endete eine Verweigerungshaltung mit Festnahme und Entlassung. Nach allen
bekannten Unterlagen wurde allein wegen einer Arbeitsverweigerung im Zusammenhang mit den
Mordaktionen niemand belangt, sondern immer nur beim Vorwurf eines Geheimnisverrats. Unter anderem damit ist zu erklären, dass die Eichberger Oberärztin Dr. Elfriede C., die Stellvertreterin Menneckes, sich im März 1941 ebenfalls krank melden konnte und ihre dortige Arbeitsstelle im April ohne
einen Eklat sogar ganz verlassen konnte. Aber auch andere Faktoren spielten dabei eine Rolle, so das
gute Verhältnis zu den Vorgesetzten. Dadurch war es ihr sogar gelungen, eine Versetzung im Einvernehmen mit ihrem Chef Mennecke und mit Anstaltsdezernent Bernotat, den sie persönlich angesprochen hatte, zu erreichen. Man traf die Sprachregelung, ihr sei „das Klima im Rheingau nicht zuträglich“ und sie müsse aus Gesundheitsgründen an einem anderen Ort arbeiten. Mit Anklängen von
Sarkasmus urteilte eine Zeugin später, nicht jeder habe „sich [e]inen Lungenspitzenkatarrh zulegen“
können. Schließlich waren Mennecke und Bernotat wohl am Freiwerden von C.s Planstelle interessiert,
denn dadurch konnten sie diese mit einem Befürworter der Mordaktion besetzen. Dr. C. arbeitete fortan
in verschiedenen Einrichtungen, meist in Kinderheimen des Bezirksverbandes; sie wurde jedoch auch
noch mehrere Monate in Anstalten eingesetzt, wo sie mit der Krankenmordaktion in Berührung kam
(wie 1941 in der Landesheilanstalt Weilmünster als „Zwischenanstalt“ oder 1942 in der Idsteiner Heilerziehungsanstalt Kalmenhof als Einrichtung der so genannten „Kindereuthanasie“). 1946 schließlich
kehrte Dr. Elfriede C. zur Landesheilanstalt Eichberg zurück.255 Nach allen Unterlagen wird man an C.s
bereits vor Beginn der Morde wegen Aussagen zum Krematorium durch die Gestapo vernommen worden). – Zum Betriebsappell in Weilmünster im Jan. 1941 siehe Kap. IV. 3. a).
254
Zu Wilhelmine R. (* 1895) siehe biogr. Anhang. – Quellen zur Biografie u. zum Vorfall: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.Akten Zug. 1981, Ga., Wi., Bl. 1, Personalbogen (o. D. [ca. ab 1937]); ebd., o. Bl.-Nr., Fragebogen d. Military Government of
Germany (10.07.1946); ebd., Teil 1, Bl. 69–86, div. Dok. (1941), insb. Bl. 74, BV Nassau, Bernotat an Personalabteilung
(26.05.1941) (Zitat „Nach meiner Ansicht [...]“), sowie Bl. 83, BV Nassau an Wilhelmine R. (20.06.1941), Durchschr. (Zitat
„eine grobe [...]“); ebd., Teil 2, Bl. 116 f., Vfg. zum Schreiben KV Wiesbaden an LG Wiesbaden, Wiedergutmachungsstelle
(07.06.1951, ab: 11.06.1951), hier Bl. 116 („Verletzung der von ihr eingegangenen Schweigepflicht“); ebd., o. Bl.-Nr., Vfg.
zum Schreiben LWV Hessen, Kassel, an die Betroffene (14.10.1958, ab: 14.10.1958) (Zitat „gegen die [...]“); HStA Wi, Abt.
461 Nr. 32442 Bd. 1, Bl. 134 f., Aussage Katharina K. als Beschuldigte durch die Kriminalpolizei Ffm im Gerichtsgefängnis
Wiesbaden (20.03.1946), hier Bl. 134; ebd., Bd. 2, Bl. 189, Zeugenaussage Wilhelmine G. geb. R. b. Polizeipräsidium Wiesbaden (23.08.1946); ebd., Bd. 7, Bl. 191, Aussage Dr. R. ggü. StAnw Ffm (Protokollfragment o. D. [ca. 1946]); ebd., Nr.
32061 Bd. 5, Bl. 508, Aussage Karl Sch. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (21.08.1946), Abschr. (zum Betriebsappell, der hier jedoch auf Mai 1941 datiert wird); HStA Wi, Abt. 486, Karteikarte der Gestapo Ffm zu R., Wilhelmine (Eintrag:
05.07.1941) (Zitat „Verbreitung unwahrer [...]“); Sandner, Eichberg (1999), S. 191.
255
Zu Dr. med. Elfriede („Frieda“) C. (1894–1966) siehe biogr. Anhang. – Quellen: LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten
Zug. 1981, Co., El., Dr., o. Bl.-Nr., Personalbogen (13.12.1947); ebd., o. Bl.-Nr. Fragebogen d. Military Government of
Germany (08.08.1945); ebd., Teil 2, Bl. 22–24, div. Dok., insb. Teil 2, Bl. 24, LHA Eichberg an BV Nassau (15.03.1941)
(Zitat „das Klima [...]“), sowie weitere Dok. in d. Akte; LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 109, Entwurf zum Schrei-
3. Kooperation während der Gasmorde
479
ehrlichem Bemühen, sich dem Mordsystem zu entziehen, kaum zu zweifeln haben, auch wenn sie die
Tätigkeiten in Weilmünster und Idstein in ihren Nachkriegsaussagen wohlweislich verschwieg.
Mitunter müssen behauptete Widerstandshaltungen oder Ausstiegsbemühungen zumindest mit einem
Fragezeichen versehen werden. So behaupteten in den „Euthanasie“prozessen 1946/47 die beiden –
dann wegen Mordes verurteilten – Oberschwestern der Anstalten Hadamar und Eichberg, sie hätten
sich beim Bezirksverband vergeblich um eine Entlassung oder Versetzung bemüht. Die Eichberger
Oberschwester Helene Schürg berichtete, sie sei hierzu sogar nach Kassel zu Landeshauptmann Traupel gefahren, den sie von einer früheren Tätigkeit her persönlich kannte.256 Dagegen wollte die Hadamarer Schwester Irmgard Huber unter anderem mit Bernotat wegen eines möglichen Ausscheidens
gesprochen haben, der sie jedoch mit den Worten vertröstet habe: „Wir müssen damit bis nach dem
Krieg warten, und die Soldaten im Felde müßten noch mehr leisten“.257 Während in diesen beiden
Fällen die behaupteten Haltungen zwar nachträglich bezeugt wurden, aber ohne zeitgenössische Belege
bleiben und Motive prozesstaktischer Natur daher nicht ausgeschlossen werden können, kennen wir in
umgekehrten Fällen nicht die Hintergründe für ein bestimmtes, belegtes Handeln: So meldete sich der
Herborner Pfleger Wilhelm H. im Februar 1941 (einen Monat nach den ersten Verlegungen von Herborn nach Hadamar) krank und bemühte sich dann nach über dreimonatiger Krankheitsdauer, gleich
seinen Resturlaub von 1940 anhängen zu können.258 In einem Fall wie diesem wäre man aus heutiger
Perspektive auf Spekulationen angewiesen, wollte man die Hintergründe für das Verhalten (ob Verweigerung wegen der „T4“-Verlegungen oder tatsächliche Krankheit) benennen.
Besser nachvollziehbar ist der Fall des Oberarztes der Landesheilanstalt Herborn, Dr. William Altvater.259 Dieser nahm zwar für sich in Anspruch, er habe sich „krank gemeldet [...], um aus dieser Geschichte rauszukommen“;260 im Mai 1945 übertrug der Bezirksverband ihm als Unbelastetem dann
auch die Leitung der Anstalt Hadamar, und 1956 befürwortete man im Landeswohlfahrtsverband Hessen die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an ihn, da er eine „strikte Ablehnung des Euthanasieprogramms“ gezeigt habe.261 Tatsächlich hatte Altvater sich 1941 für zwei Monate krank gemeldet,
ben LHA Hadamar an Reichsgesundheitsamt, Berlin (13.05.1939, ab: 13.05.1939); HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12826, o. Bl.Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. Dr. Mennecke, an Staatl. Gesundheitsamt Rüdesheim (08.03.1941), Durchschr.; HStA Wi, Abt.
461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 15 f., Aussage Helene Schürg b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (08.05.1946), hier Bl. 16; ebd., Bl. 57 f.,
Zeugenaussage Dr. Elfriede C. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946); ebd., Bd. 4, Bl. 40 f., Aussage Helene Schürg als
Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. Hv-Tag (05.12.1946), hier Bl. 41; ebd., Bl. 111 f., Bl. 114, Zeugenaussage Dr. Elfriede C.
im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Bl. 122, Zeugenaussage Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag
(10.12.1946) (Zitat „[...] Lungespitzenkatarrh zulegen“); Sandner, Eichberg (1999), S. 191; McFarland-Icke, Nurses (1999),
S. 312 (Anm. 73) (die Autorin betrachtet Elfriede C. jedoch fälschlicherweise als Krankenschwester). – Zur Besetzung der
Stelle mit Dr. Walter Schmidt (1911–1970) siehe Kap. V. 1. b); zu Schmidt siehe auch biogr. Anhang.
256
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 15 f., Aussage Helene Schürg b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (08.05.1946), hier
Bl. 16; ebd., Bl. 57 f., Zeugenaussage Dr. Elfriede C. ggü. d. StAnw Ffm in Eichberg (22.05.1946), hier Bl. 57; ebd., Bd. 4, Bl.
41 bzw. Bl. 83, Aussagen Helene Schürg als Angeklagte im Eichberg-Prozess, 3. bzw. 5. Hv-Tag (05. bzw. 09.12.1946); ebd.,
Bl. 111, Bl. 114, Zeugenaussage Dr. Elfriede C. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); ebd., Bl. 122, Zeugenaussage
Elisabeth M. im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946).
257
Möglicherweise ist die angebliche Kündigung auf die Zeit ab 1942 zu datieren. – HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6,
Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 873 (08.01.1947); ebd., Bd.
7, Bl. 51, Aussage d. Angeklagten Irmgard Huber im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag (25.02.1947) (Zitat „Wir müssen
[...]“); ebd., Bl. 227, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 254, RAin u.
Notarin Dr. A. S., Ffm, an LG Ffm (06.03.1947), Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947);
ebd., Bl. 258–263, Zeugenaussage Maria K. geb. R. im Hadamar-Prozess Ffm, 7. Hv-Tag (10.03.1947), hier Bl. 258, Bl. 260;
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Huber, Irmgard, Teil 1, Bl. 9 f., Min. f. polit. Befreiung in Bayern, München, an LH in Wiesbaden (23.01.1952). – Irmgard Huber (* 1901) war ab 1942 kommissarisch u. ab 1944 definitiv Oberschwester der LHA Hadamar; siehe auch biogr. Anhang.
258
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1984, He., Wi., Bl. 7 f., Wilhelm H. an LHA Herborn (03.06.1941), von dort
weitergeleitet an BV Nassau (06.06.1941); Vfg. zur Antwort BV Nassau durch LHA Herborn an Wilhelm H. (12.06.1941,
ab: 17.06.1941) (die Personalabt. d. BV Nassau genehmigte den Resturlaubs nicht, da dieser nur nachgeholt werden könne,
wenn er aus dienstlichen Gründen nicht habe genommen werden können). – Die krankheitsbedingte Abwesenheit begann am
26.02.1941, also einen Tag nach der fünften „T4“-Verlegung nach Hadamar: vgl. dazu Roer/Henkel, Psychiatrie (1986),
S. 367 (Verlegungsstatistik 1941).
259
Zu Dr. med. William Altvater (1880–1961) siehe biogr. Anhang.
260
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 236–238, Zeugenaussage Dr. Wilhelm [= William] Altvater im Hadamar-Prozess
Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 238.
261
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1981, Altvater, William, Dr., Teil 2, Bl. 113, Schreiben LWVZweigverwaltung, Wiesbaden, an LWV-Hauptverwaltung, Kassel (11.05.1956).
480
IV. Zeit der Gasmorde
hatte sich deshalb erheblichen Ärger mit Anstaltsdezernent Bernotat eingehandelt und war schließlich
in einen gesundheitsbedingten Vorruhestand gegangen, bevor man ihn im Mai 1945 reaktivierte. Die
Krankmeldung datierte jedoch erst vom August, also einem Zeitpunkt, als die „T4“-Verlegungen aus
der „Zwischenanstalt“ Herborn bereits abgeschlossen waren und als Altvater wegen der geplanten
Schließung der Landesheilanstalt zur Anstalt Eichberg versetzt werden sollte.262 Ohne dass dies eine
Aussage über seine Haltung zu den Krankenmorden zuließe, scheint seine Krankmeldung zu diesem
Zeitpunkt doch eher davon beeinflusst gewesen zu sein, dass der 60-jährige stellvertretende Anstaltsleiter nach langjähriger Ansässigkeit in Herborn einen Wechsel zur rund 90 Kilometer entfernten Landesheilanstalt Eichberg nicht mehr auf sich nehmen wollte, zumal er die Versetzung als Degradierung
empfand. Wie Dr. Altvater selbst bestätigte, hielt er es „mit [s]einem Dienstalter und [s]einen langjährigen Erfahrungen für unvereinbar“, nun auf dem Eichberg „als einfacher Oberarzt [...] den jungen SSÄrzten Dr. Mennecke und Schmidt unterstellt“ zu werden.263
So sehr im Einzelfall auch die Motivationen der handelnden Personen divergieren konnten, so war
doch übereinstimmend die Handlungsweise von Anstalts- und von Personaldezernat des Bezirksverbandes dem Ziel untergeordnet, die Krankenmordaktion nicht durch eine wie auch immer ablehnende
Haltung aus der Mitarbeiterschaft heraus behindern zu lassen. Scharf sanktioniert wurde das Publikmachen der Morde, während man in den – allerdings wohl äußerst seltenen – Fällen, in denen Belegschaftsangehörige die weitere Mitarbeit zu umgehen versuchten, flexibel reagierte: nach Möglichkeit,
indem man das Ansinnen einfach ablehnte, und wenn das nicht aussichtsreich erschien, indem man
lösungsorientiert nachgab. Oberstes Ziel war nicht die Disziplinierung oder der Zwang zur Mitwirkung
des Einzelnen, sondern die Beteiligung der ganz überwiegenden Mehrheit der Betreffenden264 und
damit die möglichst reibungslose Fortführung der Mordaktion von „T4“, welche der Bezirksverband
durch dieses Vorgehen gegenüber dem Personal seiner Anstalten aus eigenem Antrieb unterstützte.
Kranzbühlers Agieren als stellvertretender Landeshauptmann und als Verwaltungs- und Personaldezernent (seine Kenntnis über die Verpachtung der Anstalt Hadamar an „T4“, seine Mitwirkung in Personalfragen, etwa bei den Abordnungen der Bezirksverbandsmitarbeiter an „T4“, bei den Versetzungen265 und Disziplinierungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Mordaktion) lassen ihn als eine
Führungskraft im Bezirksverband erscheinen, die sich zwar nie als fanatischer Antreiber der „T4“Morde positionierte, aber jederzeit zugunsten einer Förderung, Aufrechterhaltung und Absicherung des
Mordsystems eintrat. Wenngleich Kranzbühlers innerste Haltung in diesem Kontext letztlich nicht zu
ergründen ist, so spielte sie auch insofern keine entscheidende Rolle, als sie den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Bezirksverbandes nicht offenbar wurde. Die Haltung Kranzbühlers lässt annehmen,
dass der Landesrat die Anforderungen im Zusammenhang mit den „T4“-Krankenmorden nicht etwa
aufgrund rassenideologischer Ansichten so perfekt erfüllte, sondern weil er sich mit der von ihm geleiteten Behörde identifizierte und die „T4“-Krankenmorde als ein Projekt verstand, das die Bedeutung
des Bezirksverbandes im Gefüge des „Dritten Reiches“ zu stärken versprach.
Die von Landesrat Ludwig Johlen geleitete Abteilung „Volksfürsorge“266 war zwar mit der organisatorischen Vorbereitung oder Begleitung der Krankenmordaktion innerhalb des Bezirksverbandes überhaupt nicht befasst267 – hierfür sorgte Bernotat, der in dem Kollegen Johlen zunehmend einen Konkurrenten sah, dessen Hauptarbeitsgebiet er über kurz oder lang zu übernehmen trachtete (was 1943
gelang).268 Aber mit der Nachbereitung der Morde, mit der nachträglichen Verschleierung und mit der
262
Ebd., Teil 1, Bl. 1–23. – Die Versetzung galt zum 01.08.1941, wurde jedoch durch die Krankmeldung nicht vollzogen.
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 2, Bl. 64 f., hier Bl. 64, Aussage Dr. [William] Altvater ggü. d. StAnw Ffm in Hadamar (19.02.1946).
264
Zu dieser Art von Kollektivauftrag vgl. auch Browning, Männer (1993), S. 241 f. (in Bezug auf das Ersatzpolizeibataillon
101), wonach der Tötungsbefehl nicht an den Einzelnen, sondern an die Gruppe erging, mit der Folge, dass 80–90 Prozent sich
beteiligten.
265
Siehe dazu Kap. IV. 2. b) bzw. IV. 2. c).
266
Zu Ludwig Johlen (1885–1960) siehe biogr. Anhang; zum Neuzuschnitt seiner Abt. II („Volksfürsorge“) ab 1933, worin
der Landesfürsorgeverband die Unterabteilung IIa bildete, siehe Kap. II. 1. a); siehe auch Tab. 6.
267
Z. B. sind Dokumente aus dem Jahr 1941, die Kontakte zwischen Johlen und „T4“ belegen würden, nicht bekannt.
268
Zum gespannten Verhältnis zwischen Bernotat u. Johlen bereits in den 1930er Jahren siehe Kap. III. 1. a). – In HStA Wi,
Abt. 520 W Nr. 24451, Bl. 7, Willy E., Lager Darmstadt, Eidesstattliche Erklärung für Ludwig Johlen im Verfahren b. d.
263
3. Kooperation während der Gasmorde
481
Bearbeitung der finanziellen Auswirkungen, hatte Johlens Abteilung durchaus zu tun. Beim dortigen
Landesfürsorgeverband, über den innerhalb des Bezirksverbandes die Zahlung der Pflegekosten für die
Anstaltsunterbringung abgewickelt wurde, schlugen sich nun die Einsparungen durch die dezimierte
Krankenzahl nieder und führten 1941 zu einer „erhebliche[n] finanzielle[n] Entlastung“.269 Letztlich
war nicht der pekuniäre Nutzen, sondern die rassenideologische Utopie eines gesunden deutschen
„Volkskörpers“ das Hauptmotiv für den Kranken- und Behindertenmord.270 Der wirtschaftliche Aspekt
bildete aber einen „willkommene[n] Nebeneffekt“,271 und besonders aus der Perspektive der Kriegswirtschaft wurde die Einsparung von kriegswichtigen Ressourcen (besonders von Lebensmitteln und
Arbeitskraft) intern mehrfach herausgestellt.272 Auch im Bezirksverband hatte die Wegverlegung und
Ermordung einer großen Zahl von Patienten und Patientinnen, die zuvor durch den Wiesbadener Landesfürsorgeverband unterstützt worden waren, zur Folge, dass den Anstalten nun weit weniger Pflegekosten als zuvor überwiesen wurden.273 Ebenso wie der Wiesbadener Landesfürsorgeverband reduzierten auch die entsprechenden Institutionen aus anderen Regionen ihre Überweisungen an die Anstalten;
in der Gewissheit, dass viele der von ihnen bislang unterstützten Patientinnen und Patienten mittlerweile tot waren, stellten Landesfürsorgeverbände in Einzelfällen „[z]ur Vermeidung von Überzahlungen“
die bisher üblichen Abschlagszahlungen sogar ganz ein, so geschehen durch den Landesfürsorgeverband Saarbrücken gegenüber der Landesheilanstalt Eichberg.274
Die Vorgänge verweisen darauf, dass die Kostenträger, und zwar sowohl die auswärtigen Landesfürsorgeverbände (Länder und Provinzialverbände) als auch die Bezirksfürsorgeverbände (Kommunen)
in der eigenen Region, häufig nicht zeitnah über die Verlegungen in „Zwischenanstalten“ und den Tod
in der Anstalt Hadamar informiert wurden.275 Dabei war die Vorgehensweise jedoch seitens „T4“
zunächst nicht koordiniert und unterschied sich daher von einer Region zur anderen. Während die bayerische Landesregierung die Kostenträger auffordern ließ, die Pflegekostenüberweisung nach der Verlegung der Kranken zunächst einzustellen, bis eine Anforderung von der neuen Anstalt – der „Zwischenanstalt“ – erfolgte,276 ließ der Provinzialverband Hannover sich die Pflegekosten auch für die
wegverlegten Patientinnen und Patienten zunächst weiterhin durch die Bezirksfürsorgeverbände (die
Kreise und Städte) erstatten, als sei nichts geschehen, und erst als sich „in der Praxis verwaltungs- und
auch kassentechnisch Schwierigkeiten herausgestellt haben“ (als nämlich durch die Schlussabrechnungen der Tod der Kranken implizit bekannt wurde), instruierte der Provinzialverband seine Anstalten,
die Bezirksfürsorgeverbände vom Ableben der Betreffenden zu informieren.277 Das Vorgehen vereinSpruchkammer Wiesbaden (09.06.1946), wird über „erhebliche Spannungen“ zwischen Bernotat u. Johlen ab Feb. 1941, „die
auch nach außen hin in Erscheinung traten“, berichtet (wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass es sich bei dem Dokument
um einen sog. „Persilschein“ handelt). – Zur zwangsweisen Pensionierung Johlens und zum Neuzuschnitt von Bernotats
Dezernat 1943 siehe Kap. V. 4. a).
269
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 15. – Zu dieser Darstellung im Verwaltungsbericht sowie zur
Verschleierung insg. siehe ausführlicher weiter unten in diesem Kap. IV. 3. b).
270
Friedlander, Weg (1997), S. 250. – Vgl. auch HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1653, Heft mit Aufzeichnungen von Fritz Mennecke, z. Zt. Reservelazarett Paulinenberg, Bad Schwalbach, über die Entwicklung auf dem Eichberg (15.10.1943), hier n. d.
Abdr. b. Mennecke (1988), S. 917–938 (Dok. 246), hier S. 924.
271
Friedlander, Weg (1997), S. 120.
272
Z. B. in NARA, T-1021, Roll 18, Frame 94–145, sogenanntes „Hartheim-Dokument“, auch in BA, All. Proz. 7/118 (FC
1813); vgl. Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (19.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1
(1996), S. 293–299, hier S. 299 („[...] unerträglich, daß während eines Krieges hunderttausende für das praktische Leben gänzlich ungeeignete Menschen [...] mitgeschleppt werden [...].“).
273
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12506 (Akte d. LHA Eichberg „Anforderung der Abstandszahlung auf Pflegegelder“, Laufzeit
1937–1942). – Die Formulare des Jahres 1941 dokumentieren, wie der Zahl der Orts- u. Landeshilfsbedürftigen sowie der
gerichtlich Eingewiesenen sich z. B. vom 31.10.1940 bis zum 30.06.1941 jeweils etwa halbierte; zugleich halbierten sich in
etwa die vom LFV angeforderten Abschlagszahlungen.
274
Ebd., Nr. 12511, o. Bl.-Nr., Reichsstatthalter in der Westmark u. CdZ in Lothringen, Saarbrücken, an LHA Eichberg,
betr. „Pflegekostenabrechnung III. u. IV. Vierteljahr 1940“ (03.07.1941).
275
Zum Vorgehen der „Zwischenanstalten“ im Bez. Wiesbaden siehe Kap. IV. 3. a).
276
NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-1134, Staatsministerium des
Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.1941), hier n. d. begl. Kopie in
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr.
277
Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 63, S. 87, dort Hinweis auf HStA Hannover, Hannover 155 Göttingen Acc. 58/83 Nr.
4, PV Hannover, gez. Dr. Andreae, Vfg. an die Anstalten des PV Hannover (26.07.1941) (darin das Zitat); vgl. auch HStA
Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, Bl. 152, Aussage Landesamtmann a. D. B., ehem. Anstalt Göttingen
482
IV. Zeit der Gasmorde
heitlichte sich erst, als „T4“ das Abrechnungswesen mit Einrichtung seiner „Zentralverrechnungsstelle
Heil- und Pflegeanstalten“ vereinheitlichte. Um die nun erforderlichen Angaben an „T4“ weiterleiten
zu können, bemühte Anstaltsdezernent Bernotat sich im Sommer 1941 bei den verschiedenen ihm
unterstehenden Anstalten, ausfindig zu machen, welcher Kostenträger für welchen ermordeten Menschen zuständig gewesen ist.278
Gerade da die Landesfürsorgeverbände als überörtliche Träger der Fürsorgekosten überwiegend in
denselben Behörden angesiedelt waren, die auch die Anstaltsträgerschaft in der jeweiligen Region
innehatte, war die Mordaktion dort dem Grund nach bekannt,279 selbst wenn die tatsächlichen Aufenthaltsorte oder der schließliche Tod der von ihnen unterstützten Menschen erst verspätet mitgeteilt
wurde. Für den von Landesrat Ludwig Johlen geleiteten Landesfürsorgeverband im Bezirksverband
Nassau steht diese Kenntnis der Mordaktion außer Frage. Doch auch den Bezirksfürsorgeverbänden,
beispielsweise in Preußen den Kreisen oder kreisfreien Städten, konnten die Krankenmorde nicht lange
verborgen bleiben, selbst wenn die jeweilige Kommune nicht zum Kreis derer gezählt haben sollte,
deren Vertreter im April 1940 durch „T4“ informiert worden waren.280 Spätestens wenn ihnen der zahlreiche Tod der in psychiatrischen Anstalten untergebrachten Menschen mit den Pflegekostenschlussabrechnungen bekannt wurde, legte dies nahe, was geschehen war. Der für das Abrechnungswesen zuständige „T4“-Mitarbeiter Hans-Joachim Becker räumte später diese anfängliche Tarnungslücke ein:
„Selbst dem Einfältigsten mußte anhand dieser Rechnungen auffallen, was hier vor sich ging, daß es
eine planmäßige Aktion war.“281 Zwar wurden die Fürsorgeträger durch „T4“ teilweise mithilfe der
Angabe falscher Sterbedaten um die Pflegekosten für einige Unterbringungstage betrogen,282 doch
letztlich versuchte „T4“ nicht unzutreffend, „die Kommunen selbst als Nutznießer der Aktion erscheinen zu lassen.“283 Auf längere Sicht nämlich sparten die Kreise und kreisfreien Städte summa summarum erhebliche Ausgaben, nachdem ein großer Teil der Empfänger der Leistungen der „außerordentlichen Fürsorge“ ermordet worden war, denn – wie „T4“ den Kommunen gezielt vermittelte – „es fallen
bei jedem einzelnen Falle [die] künftigen Unterhalts[-] und Pflegekosten weg.“284 Bereits Schmidt-von
Blittersdorf/Debus/Kalkowsky weisen darauf hin, dass „Hinweise auf Anfragen, Proteste oder gar
Versuche von Widerstand aus diesen Institutionen“ bislang nirgends aufzufinden waren.285
Im Gegenteil bemühte man sich beispielsweise im Fürsorgeamt der Stadt Frankfurt sogar, kritische
Nachfragen von Seiten Dritter ins Leere laufen zu lassen. Offenbar auf die zahlreichen Todesfälle von
Anstaltspatienten 1941 aufmerksam geworden, hatte nämlich Wilhelm Avieny286 im Januar 1942 eine
Anfrage an die Stadt gerichtet. Avieny war in Frankfurt kein Unbedeutender: als ehemaliger Leiter der
Nassauischen Landesbank in Wiesbaden und aktueller Vorstandsvorsitzender der Metallgesellschaft in
Frankfurt war er zugleich Wehrwirtschaftsführer und Provinzialrat der Provinz Hessen-Nassau. Als er
nun von der Stadt wissen wollte, welche Krankheitsursachen bei den auf Frankfurter Kosten verpflegten Menschen in Anstaltsunterbringung vorlägen, zeigte man sich im Fürsorgeamt alles andere als
Willens, den von Avieny zugespielten Ball aufzunehmen und – wenn auch vielleicht nicht offen – auf
die NS-„Euthanasie“-Verbrechen einzugehen. Nachdem die städtische Fürsorgestelle für Daueranstalts(18.08.1948), hier n. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 106 („Wir bekamen vor allem Kenntnis von dem Ableben der
Patienten durch Pflegekostenabrechnungen“).
278
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern (08.08.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere
Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt und einzelne Zahlen
nachträglich eingesetzt sind). – Zur „Zentralverrechnungsstelle“ siehe auch Kap. IV. 2. a) u. V. 3. b).
279
Siehe die Ausführungen zur Informierung der regionalen Stellen in Kap. IV. 2. a).
280
Siehe dazu ebenfalls Kap. IV. 2. a).
281
Aussage Hans-Joachim Becker (12.05.1966), hier zit. n. Aly, Fortschritt (1985), S. 26.
282
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Aussage Robert Lorent als Angeschuldigter b. d. LG Ffm (18.–29.10.1965),
hier S. 15 (19.10.1965); Friedlander, Weg (1997), S. 131;
283
Walter, Psychiatrie (1996), S. 671 f.
284
Stadtarchiv Plauen, Vm. d. OB, Plauen, „Geheime Reichssache“ (04.04.1940), hier n. d. Faks. b. Aly, Medizin (1985),
S. 32 f.; siehe auch ders., Aktion (1989), S. 50–52; zur Sitzung am 03.04.1940 auf Einladung d. DGT u. dem dortigen Vortrag
von Brack siehe auch Kap. IV. 2. a).
285
Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 117. – Dieser Befund ist heute weiter gültig. – Zu den
finanziellen Auswirkungen der Morde z. B. für die Stadt Ffm u. zu Reaktionen seitens der Stadt (allerdings erst nach der Phase
der Gasmorde) siehe Kap. V. 2. b).
286
Zu Wilhelm („Willi“) Avieny (* 1897) siehe biogr. Anhang.
3. Kooperation während der Gasmorde
483
pflege erst kurz zuvor viel sagend konstatiert hatte, dass „in den Landesheilanstalten am 13. 1. 1942
noch [!] 1 003 Personen auf unsere Kosten (Spezialpflegekosten) untergebracht“ waren, bemerkte Amtsleiter und Stadtrat Dr. Werner Fischer-Defoy287 intern summarisch: „Diese Personen sind sämtlich als
chronisch Kranke zu bezeichnen. Wieviel unheilbar sind, läßt sich nicht feststellen!“ Unterdessen
scheint der Amtsjurist und stellvertretende Amtsleiter Dr. Rudolf Prestel288 nach Ausflüchten gesucht
zu haben: die gegenwärtigen Krankheiten könne man gar nicht herausfinden, sondern nur diejenigen,
die einst zur Anstaltsunterbringung geführt hätten, aber auch mit deren Ermittlung sei „eine ganz erhebliche Verwaltungsarbeit verbunden“, da man „die Durchsicht aller bei der Fürsorgestelle für Daueranstaltspflege geführten Akten anordnen“ müsste. Abschließend empfahl Prestel, Avieny solle sich an
den Bezirksverband Nassau wenden, wo man „in der Lage [sei], [...] die gewünschte Auskunft zu erteilen.“ Davon, dass Avieny dort eine den Tatsachen entsprechende Auskunft über die Vorgänge in den
Anstalten am allerwenigsten erhalten würde, konnte man auch im Frankfurter Fürsorgeamt ausgehen.289
Insgesamt zeigt die Behandlung der Anfrage durch das Fürsorgeamt den Unwillen, die Angelegenheit
um die in Anstalten untergebrachten Menschen näher beleuchten zu lassen. Dann nämlich wäre unweigerlich zum Vorschein gekommen, dass innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes im Jahr 1941 auch
mehr als tausend Anstaltspatienten plötzlich verstorben waren, für welche die Stadt Frankfurt fortan
keine Pflegekosten mehr zu zahlen brauchte.290 Avienys Beharrlichkeit (und möglicherweise auch die
Unterstützung des Frankfurter Oberbürgermeisters Krebs) sollten dazu führen, dass die kritischen Anmerkungen des Provinzialratsmitgliedes nicht völlig im Sande verliefen.291
Die Einsparungen infolge der „T4“-Mordaktion des Jahres 1941 ermöglichten dem Bezirksverband
unter Federführung seines Finanzdezernenten Willi Schlüter292, sich (ebenso wie schon durch die radikale Sparpolitik im Anstaltswesen der 1930er Jahre293) auf Kosten seiner Träger, der Kreise und kreisfreien Städte, weiter zu sanieren, Rücklagen zu bilden und Schulden zu tilgen. Überdies nutzte der
Verband die Ausnahmesituation dazu, die Haushaltssatzung 1941/42 festzustellen, ohne diese zuvor
ordnungsgemäß durch das Innenministerium genehmigen zu lassen. Nunmehr machte die dortige
Kommunalabteilung (die eher als konservativ denn als nationalsozialistisch galt)294 ihr Kontrollrecht
geltend und schwang sich zum Verteidiger der Interessen der kommunalen Kostenträger des Bezirksverbandes auf. Im August 1941, noch vor dem so genannten „Euthanasiestopp“, erteilte die Abteilung
daher dem Bezirksverband eine deutliche Rüge: Man bemängelte, dass die Haushaltssatzung erst nach
ihrer Feststellung vorgelegt worden sei, dass die „geforderte Übersicht über die gesamte Finanzwirtschaft des Bezirksverbands im abgelaufenen Rechnungsjahr“ (also 1940/41) fehle und dass darüber
hinaus auch der „Vermögens- und Schuldenstand zum Jahresende 1940 nicht pflichtgemäß mitgeteilt“
worden sei. Die Kommunalaufsicht forderte nun, die fehlenden Unterlagen nachzureichen. Zu Recht
nahm man in Berlin an, „daß sich im abgelaufenen Rechnungsjahre auf dem Gebiete der Anstaltsfür287
Zu Dr. med. Werner Fischer-Defoy (1880–1955) siehe biogr. Anhang.
Zu Dr. jur. Rudolf Prestel (1898–1979) siehe biogr. Anhang. – Quellen: Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 406; Heibel,
Prestel (1999), S. 261–264, S. 297, S. 301–303.
289
IfStG Ffm, Mag.-A. 8.974, Fürsorgeamt Ffm, interner Vm. der „Fürsorgestelle für Daueranstaltspflege, Wanderer und
Auswärtige“ an die Fürsorgeleitung (14.01.1942); ebd., Generaldirektor W. Avieny, Ffm, an Mag. d. Stadt Ffm (26.01.1942);
ebd., Magistratsrat Prestel an Hauptverwaltungsamt Ffm (12.02.1942); ebd., Vm. Stadtrat Fischer-Defoy (ca. 15.02.1942). – In
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 917 f., Aussage Dr. Anneliese P., Ffm, b. d. OStAnw b. d. LG Ffm (22.01.1947),
wird bestätigt, dass man in der Stadtverwaltung Ffm bereits frühzeitig „gerüchtweise [!] erfahren hatten, dass in den Heilanstalten Pfleglinge beseitigt würden“.
290
Zur Anzahl der Opfer von 1941 in bisheriger Kostenträgerschaft der Stadt Ffm vgl. die o. g. Zahl von 1.003 Frankfurter
Ortshilfsbedürftigen (Anfang 1942) mit der Zahl von 2.290 Ortshilfsbedürftigen aus Frankfurt (Anfang 1937): zu letztgenannter Zahl siehe IfStG Ffm, Mag.-A. 4.051, Bl. 70–72, BV Nassau, gez. i. V. LH Traupel, an Stadt Ffm (01.03.1937), hier
Bl. 71. – Zur grundsätzlichen Kostenträgerkonstruktion in Preußen zwischen Landesfürsorgeverband (hier BV Nassau) u.
Bezirksfürsorgeverbänden (Kreisen usw.) siehe Kap. I. 2. b), III. 1. a) u. III. 3. b).
291
Die Intervention Avienys wurde schließlich nicht im Hinblick auf die Hadamarer Gasmordaktion weiterverfolgt, sondern
mit Bezugnahme auf Beköstigungssätze und Hungersterben in den Anstalten des BV Nassau: siehe dazu Kap. V. 2. b).
292
Zu Willi Schlüter (* 1884) siehe auch biogr. Anhang.
293
Siehe dazu Kap. III. 3. b); zur ihrer Fortsetzung bis 1945 siehe auch Kap. V. 2.
294
Nach Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 502, galt der Leiter der Kommunalabteilung, Surén, bei „den Gauleitern [...] als
der typische Exponent der Ministerialbürokratie, die durch immer neue sachliche Bedenken und Hinweise auf Verwaltungsvorschriften dem ungezügelten Aktionismus der Parteiinstanzen entgegentrat“; siehe auch ders., Verwaltung (1985), S. 771. –
Zu Dr. Friedrich Karl Surén (1888–1969) siehe auch biogr. Anhang.
288
484
IV. Zeit der Gasmorde
sorge wieder erhebliche Überschüsse ergeben haben“, der Bezirksverband sollte hierzu „besonders
Stellung nehmen“. In erster Linie missfiel der Kommunalabteilung, dass der Bezirksverband die Implikationen der Krankentötungen völlig unberücksichtigt gelassen hatte und bei den Ausgaben des Landesfürsorgeverbandes „trotz der inzwischen durchgeführten planwirtschaftlichen Maßnahmen [also der
„Euthanasie“-Morde, P. S.] noch von den Ansätzen des Rechnungsjahres 1940“ ausging, anstatt „die
seit Jahren notwendig gewordene Senkung der Pflegesätze“ vorzunehmen.295
Landesrat Willi Schlüter sah sich nunmehr zu einer Rechtfertigung genötigt. Mit Hinweis auf mündliche Absprachen mit dem Ministerium versuchte er, die Vorwürfe der verspäteten Vorlage zu entkräften, um dann auf die „Ergebnisse der Landesheilanstalten“ einzugehen: „Die Frage, wie sich als Folge
der Planwirtschaft die Verwertung der freiwerdenden Anstalten für den Bezirksverband finanziell auswirken wird, ist noch vollkommen offen. Eine Entscheidung kann vor dem Abschluß der Planwirtschaft
und vor Kriegsende nicht getroffen werden. Bei den Überlegungen über die Pflegegeldfestsetzung für
1941 mußte auch dieser Unsicherheitsfaktor angemessen berücksichtigt werden. Nach der Gesamtlage
erschien es daher für richtig, die bisherigen Pflegegeldsätze für 1941 noch unverändert beizubehalten.“296 Der Finanzbericht, den der Bezirksverband nun nachreichte, bestätigte die Vermutungen des Ministeriums, „dass sich die Finanzlage des Bez.-Verb. Nassau im R[echnungs-]J[ahr] 1940 weiter erfreulich gestaltet hat.“ Einsparungen und Mehreinnahmen – „vor allem im Fürsorgehaushalt“ – hätten es
dem Verband ermöglicht, außerplanmäßig 300.000 RM an Schulden zu tilgen, 1,5 Millionen RM zusätzliche Rücklagen zu bilden (die unter anderem für den künftigen Straßenbau reserviert wurden) und
schließlich noch einen Überschuss von annähernd 400.000 RM in das folgende Haushaltsjahr zu übertragen.297 Von diesen Mitteln stammten allein „700 000,-- RM aus Mehreinnahmen der 4 Landesheilanstalten“, es handelte sich also um Summen, die bis Ende März 1941 zu einem erheblichen Teil durch Unterbringung der „Zwischenanstalts“patienten hatten erwirtschaftet werden können. Auf der anderen Seite
war nach Darstellung des Bezirksverbandes an „dem Minderaufwand des Landesfürsorgeverbandes [...]
mit rd. 295 600,-- RM am weitaus stärksten [...] die Fürsorge für Geisteskranke pp.“ beteiligt.298
In aller Offenheit bekannte Kämmerer Schlüter im Behördenschriftverkehr: „Die Massnahmen zur
Durchführung der Planwirtschaft auf dem Gebiete der Irrenpflege haben auch in Nassau einen weiteren
erheblichen Rückgang der Krankenzahl und damit eine Entlastung der öffentlichen Fürsorge zur Folge
gehabt.“299 Das Ministerium akzeptierte die Erläuterungen zunächst einmal, bestand aber selbst angesichts (angeblich) unklarer Verhältnisse hinsichtlich der so genannten „planwirtschaftlichen Massnahmen“ darauf, es könne im folgenden Jahr 1942 nicht länger auf eine Prüfung der Pflegesätze verzichtet
werden.300
Doch auch 1942 akzeptierte die Kommunalabteilung die Position des Bezirksverbandes, dass weder
eine Senkung der Pflegesätze noch der Bezirksumlage möglich sei.301 In der Argumentation von Finanzdezernent Schlüter musste nun gerade die Ermordung so vieler Menschen als Begründung dafür
dienen, dass den Anstalten kein Minus bei ihren Einnahmen zugemutet werden könne: „Die Zahl der
295
BA, R1501/50506, o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17. 2. 41 – 2800, Vfg. zum Schreiben an OP in Kassel, BV Nassau (15.08.
1941, ab: 20.08.1941). – Zur Debatte um die Reduzierung der Pflegesätze siehe Kap. III. 3. b); zur Tarnbezeichnung „planwirtschaftliche Maßnahmen“ siehe Kap IV. 2. a).
296
Ebd. (BA), o. Bl.-Nr., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. B (IVa) 651, gez. LdsR u. Kämmerer Schlüter i. V. d. LH, durch OP, Kassel, an RMdI, betr. „Haushaltssatzung für das Rechnungsjahr 1941. Zum Erlaß vom 15. 8. 41 – V b 17. 2. 1941 – 2800“ (18.09.
1941). – Hervorhebungen im Orig. durch Unterstreichung.
297
Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17. 2. 41 – 2800, Vfg. zum Schreiben an OP in Kassel, BV Nassau (22.10.1941, ab: 27.10.
1941).
298
Ebd., o. Bl.-Nr., „Finanzbericht“ d. BV Nassau (18.09.1941), hier S. 4 (Zitat „700 000,-- RM [...]“), S. 7 (Zitat „dem Minderaufwand [...]“), hier als Anlage zum Schreiben BV Nassau, Az. B (IVa) 651, gez. LdsR u. Kämmerer Schlüter i. V. d. LH,
durch OP, Kassel, an RMdI, betr. „Haushaltssatzung für das Rechnungsjahr 1941. Zum Erlaß vom 15. 8. 41 – V b 17. 2.
1941 – 2800“ (18.09.1941), beides weitergereicht mit Anschreiben von OP, Kassel, Az. I D Nr. 357/41, gez. Philipp Prinz von
Hessen, an RMdI (07.10.1941). – Hervorhebungen im Orig. durch Unterstreichung.
299
Ebd. („Finanzbericht“ v. 18.09.1941), hier S. 7.
300
BA, R1501/50506, o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17. 2. 41 – 2800, Vfg. zum Schreiben an OP in Kassel, BV Nassau (22.10.
1941, ab: 27.10.1941).
301
Ebd., o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17 1. 42 – 2800, Vm. (25.06.1942). – Zum Dissens zwischen dem BV Nassau u. der Stadt
Ffm über die Pflegesätze im Allgemeinen (u. die Beköstigungssätze im Speziellen) in den Jahren 1942–1944 siehe Kap.
V. 2. b).
3. Kooperation während der Gasmorde
485
vom Landesfürsorgeverband Nassau in bezirkseigenen Anstalten untergebrachten Geisteskranken pp.
beträgt nur noch rd. 1.200 gegenüber annähernd 3.000 zu Beginn des Rechnungsjahres 1941.“ Schlüter
malte das Szenario aus, dass die Landesheilanstalten unter bestimmten Bedingungen infolge „starker
Unterbelegung, aber mit allgemein unveränderten Generalunkosten, mit erheblichen Einnahmeausfällen rechnen müssen.“302 Dies freilich konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem „Bez.-Verb.
Nassau [...] nach wie vor recht gut“ ging, wie das Innenministerium vermerkte. Auch das Rechnungsjahr 1940/41 konnte mit einem deutlichen Überschuss von 1,2 Millionen RM abgeschlossen werden.
Die Rücklagen hatten sich innerhalb zweier Jahre von 5,2 Millionen (März 1940) über 6,7 Millionen
(März 1941) auf nunmehr acht Millionen RM (März 1942) erhöht; das Mehraufkommen steckte man
zu einem großen Teil in die Straßenbaurücklage, um nach Kriegsende das in diesem Bereich Versäumte nachzuholen. Ganz wie vom Bezirksverband gewünscht akzeptierte das Ministerium auch 1942, dass
die „Senkung des Anstaltspflegesatzes [...] noch einmal zurückgestellt worden [ist], weil sich die weitere Entwicklung des Betriebes der Landesheilanstalten im Augenblick noch nicht übersehen lässt.“303
Die unklare Übergangssituation von den in Hadamar beendeten Gasmorden der „T4“ hin zu den Medikamentenmorden304 gab dem Bezirksverband Veranlassung, in haushalterischer Hinsicht alles beim
Alten zu lassen und die Sanierung seiner Finanzen weiterhin unvermindert zu betreiben.305
Mit der Veröffentlichung seiner Verwaltungsberichte und mit den dortigen Ausführungen veranschaulichte der Bezirksverband, dass die Krankenmorde innerhalb der Verwaltung allgemein bekannt
waren. Für die Zusammenstellung dieser jährlich publizierten Berichte zeichnete die von Landesrat
Kranzbühler geleitete Abteilung „Allgemeine Verwaltung“ verantwortlich, wobei jedoch die Texte für
die einzelnen, nach Aufgabengebieten gegliederten Kapitel durch die zuständigen Fachabteilungen
erstellt wurden.306 Gerade der im Sommer 1941 fertig gestellte Bericht über das Rechnungsjahr 1940/41
weist eine gewisse Unentschiedenheit über den Grad der möglichen Offenheit auf: Passagen, in denen
gezielt bestimmte Informationen fehlen und die verschleiernde Aussagen enthalten, stehen neben kaum
noch verhüllten Mitteilungen, die jedem auch nur gerüchteweise über die Krankenmorde orientierten
Zeitgenossen kundtaten, was tatsächlich in den Anstalten vor sich ging.
Die von Landesrat Johlen geleitete Unterabteilung IIa (Landesfürsorgeverband) hatte schon 1940, also vor der Mordaktion, ihre bisherige Praxis aufgegeben, die Unterbringungsanstalten für die auf ihre
Kosten betreuten kranken und behinderten Menschen im Verwaltungsbericht aufzuschlüsseln.307 Lässt
dies sich vielleicht noch mit Personalmangel erklären, so ist der ein Jahr später zu bemerkende zusätzliche Verzicht auf die Darstellung von Sterberaten in den Anstalten wohl auf Verschleierungsbestrebungen zurückzuführen.308 Trotzdem stellte die Abteilung die Konsequenzen der Mordaktion recht deutlich
heraus, freilich ohne die Tötungen als solche zu benennen: „Die Zahl der auf Kosten des Landesfürsorgeverbandes Nassau in den zur Unterbringung benutzten Anstalten der Bezirksverbände Nassau und
Hessen sowie der beiden der Weisung des Bezirksverbandes Nassau unterstehenden Privatanstalten in
Idstein und Scheuern untergebrachten Personen ist erheblich zurückgegangen. [...] durch eingetretene
302
Ebd. (BA), o. Bl.-Nr., BV Nassau, gez. OP Philipp Prinz von Hessen, Az. B (IVa) 278, an RMdI, betr. „Haushaltssatzung
und Voranschlag 1942“ (11.06.1942). – Wie sich dem Az. (IVa) entnehmen lässt, stammt das Schreiben aus der Finanzabteilung Schlüters. – Zu Hintergründen dieser Argumentation, besonders zur weiteren Unterbringung auswärtiger Patient/inn/en in
den Anstalten des BV Nassau, siehe auch Kap. V. 1. b).
303
Ebd. (BA), o. Bl.-Nr., RMdI, Az. V b 17 1. 42 – 2800, Vm. (25.06.1942); siehe auch IfStG Ffm, Mag.-A. 4.053, Bl. 38,
Stadtrat Dr. Müller, Ffm, „Niederschrift über die Besprechung mit Landesrat Schlüter am 27. Mai 1942“ (02.06.1942).
304
Zur Übergangssituation siehe Kap. V. 1.; zu den Medikamentenmorden siehe insb. Kap. V. 2. a) u. V. 3. a).
305
Zu weiteren Konflikten um Haushalt (und Pflegesätze) des BV Nassau ab 1942 siehe Kap. V. 2. b).
306
Vgl. dazu z. B. HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12845, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. S/II, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg, betr. „Verwaltungsbericht für 1940“ (16.05.1941). – Bernotat weist darin auf eine Vfg. der von Kranzbühler geleiteten
Abt. hin (Az. B (Ia) 1/2/4 vom 06.05.1941), wonach u. a. das Kapitel der Anstaltsverwaltung bis zum 10.06.1941 vorzulegen
sei. Damit die Anstaltsabteilung in ihr Kapitel die Mitteilungen der LHAen noch einarbeiten konnte, mussten die Anstalten
ihre jeweiligen Beiträge bis zum 05.06.1941 dorthin senden.
307
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1939–31.03.1940); dto. (01.04.1940–31.03.1941); zur Praxis der Vorjahre vgl.
dto. (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 18 f.; dto. (Anfang 1936–31.03.1937), S. 25 f.; dto. (01.04.1937–31.04.1938), S. 25 f.;
dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 24.
308
Dto. (01.04.1940–31.03.1941); zur Praxis der Vorjahre siehe dto. (Anfang 1935–Anfang 1936), S. 35; dto. (Anfang 1936–
31.03.1937), S. 43; dto. (01.04.1937–31.03.1938), S. 39; dto. (01.04.1938–31.03.1939), S. 39; dto. (01.04.1939–01.04.1940),
S. 27.
486
IV. Zeit der Gasmorde
Sterbefälle ist ein erheblicher Abgang des bisherigen Bestandes an Geisteskranken usw., die auf Kosten des Landesfürsorgeverbandes Nassau in Anstalten untergebracht waren, eingetreten. Jedenfalls waren die Abgänge im abgelaufenen Berichtsjahr höher als die Zugänge. Es ist dadurch eine erhebliche
finanzielle Entlastung des Landesfürsorgeverbandes in diesem Fürsorgezweige zu verzeichnen.“309
Auch die Berichte der von Bernotat geleiteten Anstaltsabteilung wurden durch die Folgen der Mordaktion beeinflusst. Zum Rechnungsjahr 1940/41 gab die Abteilung (im Gegensatz zu den Vorjahren)
nur noch rudimentäre Durchschnittsbelegungszahlen bekannt.310 Bernotat hatte die Einrichtungen zuvor
ausdrücklich aufgefordert, ihre Beiträge zu dem Gesamtbericht „in einfachster gekürzter Form einzureichen. Von der Verwendung des bisherigen Berichtsschemas ist abzusehen. Statistiken und Übersichten sind nach Möglichkeit fortzulassen.“311 In diesem Fall war nun keinesfalls die Notwendigkeit der
Arbeitsersparnis ausschlaggebend, sondern die Absicht der Vertuschung. Als nämlich die Anstalt
Eichberg dennoch den (bereits fertig gestellten) ausführlichen statistischen Bericht in der seit Jahren
üblichen Form schickte, sandte Bernotat diesen postwendend zurück: „Unter Berücksichtigung der in
der heutigen Kriegszeit gebotenen Einschränkung soll in dem geforderten Verwaltungsbericht nur das
unbedingt Notwendige aufgenommen werden. Erbeten wird ein kurzer Bericht von etwa 2 Schreibmaschinenseiten, der Entwickelung [!], wirtschaftliche Gestaltung u. Krankenbewegungen in knappen
Worten aufzeichnet. Er soll, wie gesagt, nur das Allerwesentlichste enthalten u. nicht wie bisher an
eine bestimmte Form gebunden sein. Ich bitte, den nach dem vorjährigen Schema gefertigten Bericht
entsprechend zu ändern.“312 Die Anstalt Eichberg legte daraufhin einen neuen Entwurf vor, der schließlich Eingang in den gedruckten Verwaltungsbericht des Bezirksverbandes fand. Ebenso wie der erste
Entwurf enthielt allerdings auch der zweite den Hinweis darauf, dass die Belegungszahl des Landesheilanstalt Eichberg sich vom Anfang bis zum Ende des Rechnungsjahres 1940/41 beinahe halbiert
hatte. Die Hintergründe für diese drastische Reduzierung deutete der lapidare Satz an: „Die Abgangszahlen erhöhten sich infolge der Verlegung von Kranken in andere Anstalten auf höhere Anordnung.“313 Ähnliches galt auch für die Anstalt Herborn, über die dem Verwaltungsbericht des Bezirksverbandes schließlich zu entnehmen war: „Der Krankenbestand betrug am 1. April 1940 [...] 1 665
Personen, stieg zeitweise auf über 1 700 Personen und verringerte sich bis zum 31. März 1941 im
wesentlichen durch Verlegungen in andere Anstalten auf [...] 853 Personen.“314 Die Landesheilanstalt
Weilmünster schließlich ließ verlauten: „Eine starke Krankenbewegung trat im Kalenderjahr 1941 infolge der Kriegsmaßnahmen des Herrn Reichsverteidigungskommissars ein. In der Zeit vom 1. Januar
1941 bis 31. März 1941 fanden 994 Abgänge und 647 Zugänge statt.“315
Der veröffentlichte Gesamtbericht aus Bernotats Anstaltsabteilung konnte den Stolz über die Leistungen bei der verwaltungsmäßigen Begleitung und Koordination der NS-„Euthanasie“ nicht verleugnen: „Bei der Anstaltsverwaltung kommt im abgelaufenen Geschäftsjahr eine straffe Ausrichtung auf
die Kriegserfordernisse zum Ausdruck. [...] Trotz größter Belegung der Landesheilanstalten – die Zahl
der Geisteskranken hat sich durch Ueberweisung von anderen Anstalten annähernd verdoppelt – und
großer Personalausfälle sind die Aufgaben mustergültig gemeistert worden. Hier ist der elastische
Aufgaben- und Arbeitseinsatz, eine Art Wendigkeit im guten Sinne, das Hilfsmittel gewesen. Daß der
Paragraph zuweilen etwas unter pari stand, hat sich dabei nirgends als hemmend erwiesen. Jedenfalls
309
Dto. (01.04.1940–31.03.1941), S. 15.
Ebd., S. 21 f. (es fehlen Zahlen für Herborn u. Hadamar); zur Praxis in den Vorjahren siehe dto. (Anfang 1935–Anfang
1936), S. 36; dto. (Anfang 1936–31.03.1937), S. 44; dto. (01.04.1937–31.03.1938), S. 39; dto. (01.04.1938–31.03.1939),
S. 39; dto. (01.04.1939–31.03.1940), S. 27.
311
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12845, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. S/II, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg, betr. „Verwaltungsbericht für 1940“ (16.05.1941).
312
Ebd., o. Bl.-Nr., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. i. V. Dr. Schmidt, an BV Nassau, betr. „Verwaltungsbericht“
(21.05.1941), mit dem Jahresbericht als Anlage, urschr. zurückgesandt, Az. A (S II) 1102/8, gez. i. A. Bernotat (27.05.1941). –
Die LHA Eichberg hatte den Bericht erstmals bereits mit Schreiben v. 21.04.1941 an den BV Nassau gesandt und schickte
nun (21.05.1941) eine Zweitschrift.
313
Ebd., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. i. A. W., an BV Nassau, betr. „Verwaltungsbericht“ (21.06.1941), Durchschr. – Angegeben sind die Belegungszahlen von 1.428 (01.04.1940) u. 762 (31.03.1941) (dabei sind die „Zwischenanstaltspatienten“ nicht
mitgerechnet); dieselben Daten u. das Zitat auch in BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 21.
314
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1940–31.03.1941), S. 22.
315
Ebd.
310
3. Kooperation während der Gasmorde
487
ist trotz aller Personalschwierigkeiten nirgends ein Stillstand oder auch nur ein Abbau der Arbeit festzustellen gewesen, im Gegenteil: trotz des Uebermaßes an Arbeiten wurde durch Bereitstellung von
Gebäuden und Einrichtungen die Planung des gesamten Anstaltswesens unterstützt und zum wesentlichen Inhalt der Arbeit gemacht.“316 Für die Anstalt Hadamar berichtete man darüber hinaus, die
Einrichtung sei „[s]eit dem 1. November 1940 [...] an die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege
verpachtet.“317 Gerade diese Passagen machen das Dilemma deutlich, in dem sich die beteiligten Abteilungen des Bezirksverbandes sahen: einerseits hätten sie ihre Organisationsleistungen bei den Krankentötungen und ihre sonstigen Beiträge dazu gerne publik gemacht, ja man war sogar bereit zu konzedieren, dass man sich mit den ergriffenen Maßnahmen außerhalb der Rechtsvorschriften bewegte (dass
„der Paragraph zuweilen etwas unter pari stand“), andererseits gebot die Geheimhaltung, dass die ganze Wahrheit nicht dargestellt werden konnte. Dennoch mussten die Ausführungen denen, die bereits
auf anderem Wege von der Hadamarer Mordaktion gehört hatten, nun als volle Bestätigung der umlaufenden Gerüchte gelten.
Das Dilemma zwischen Verkünden und Verheimlichen löste sich schließlich vom Rechnungsjahr
1941/42 an dadurch auf, dass der Bezirksverband die Publikation seines Verwaltungsberichtes gänzlich
einstellte, offiziell „aus Gründen der Papier- und Arbeitsersparnis“. Von nun an nahm man die „Berichte in gekürzter Form“ nur noch zu den Akten, um weiterhin „einen urkundlichen Nachweis über die
Tätigkeit der Gesamtverwaltung des Bezirksverbandes Nassau zu erhalten“.318 Selbst die Aktenabgabe
an das Staatsarchiv – als potenzielle Geheimhaltungslücke – wurde 1942 ins Visier genommen und in
Bernotats „politischer Abteilung“ S/I monopolisiert. Während bislang die „Geschäftsabteilungen unmittelbar mit dem Staatsarchiv Wiesbaden verkehrt und ihre Akten selbständig an dasselbe abgegeben“
hatten, blieb diese Aufgabe nun – wie es hieß – im „Interesse einer einheitlichen Handhabung der
Aktenabgabe und einer zentralen Kontrolle“ Bernotat vorbehalten.319 Dies betraf zwar in erster Linie
ältere Akten und wohl noch nicht die Unterlagen aus der Zeit der Mordaktion, doch man wird darin
eine Vorkehrung sehen können, die die Geheimhaltung stärken sollte. In beiden Fällen, sowohl beim
Verzicht auf den gedruckten Verwaltungsbericht als auch bei der Aktenabgabe, lässt sich der Zusammenhang mit der Krankenmordaktion und den damit einhergehenden Verschleierungsbemühungen
zwar nur vermuten. Gleichwohl hatten die Verheimlichungsmaßnahmen, insbesondere das Ausbleiben
der Verwaltungsberichte, zur Konsequenz, dass die tief greifenden Änderungen infolge der „T4“Gasmorde sich für die Öffentlichkeit nicht anhand konkreter Daten nachvollziehen ließen. Deren Veröffentlichung nämlich hätte sichtbar gemacht, dass im Jahr 1940 noch über 5.000 Menschen in den
Landesheilanstalten des Bezirksverbandes untergebracht waren, während die Zahl zwei Jahre später
deutlich unter 3.000 gesunken war.320 Wenn auch derart konkrete Zahlen nun nicht (mehr) an die Öffentlichkeit weitergegeben wurden, so hatte sich dennoch die Kenntnis über die Morde in Hadamar
längst bis in weiteste Bevölkerungsschichten ausgebreitet.321
*
Die Funktionsweise der „T4“-Mordanstalt Hadamar unterschied sich nicht von der der übrigen fünf
Gasmordanstalten. An den Gasmorden 1941 war der Bezirksverband vor Ort, also in Hadamar selbst
316
Ebd., S. 21.
Ebd.
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12845, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S II) 1102/8, gez. i. A. LdsR Bernotat, an LHA Eichberg,
betr. „Verwaltungsbericht 1941“ (10.07.1942) (der Verzicht auf die Drucklegung basierte auf einer Vfg. der Abt. Ia vom
13.05.1942). – Dem entspricht, dass im damaligen Bestand der Nassauischen Landesbibliothek in Wiesbaden (heute in der
Bibliothek d. HStA Wi, Sign. XXXI 759) die Überlieferung mit dem Bericht über das Rechnungsjahr 1940/41 endet und dass
sich jüngere Exemplare aus der NS-Zeit bislang nirgends auffinden ließen.
319
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12838, o. Bl.-Nr., Rund-Vfg. d. BV Nassau, Az. Ia/10/3 H., gez. Kranzbühler i. V. d. LH,
betr. „Aussonderung von entbehrlichem Aktengut“ (19.08.1942), hier das Exemplar d. LHA Eichberg.
320
Stöffler, Krankenhäuser (1957), S. 60, Schaubild Nr. 13 („Belegung der kommunalen psychiatrischen Krankenhäuser im
Reg.-Bezirk Wiesbaden [1912–1957]“). – Die (vermutlich jeweils auf den Stichtag 31. März bezogenen) Belegungszahlen
betrugen danach 4.355 (1939), 5.038 (1940), 2.935 (1941), 2.846 (1942); siehe Tab. 8.
321
Siehe dazu Kap. IV. 3. c).
317
318
488
IV. Zeit der Gasmorde
(über die Vorbereitungen und die Personalabordnung hinaus) nicht beteiligt. Seine besondere Rolle
erwies sich aber dadurch, dass mehr als ein Viertel – annähernd 2.800 der mehr als 10.000 zwischen
Januar und August 1941 in Hadamar ermordeten Menschen – aus dem Zuständigkeitsgebiet des Bezirksverbandes Nassau kam; erst die Überbelegungspolitik der Vorjahre hatte dies möglich gemacht.
Die Wiesbadener Zentralverwaltung allerdings war während der Gasmordaktion umfassend mit dieser
befasst, indem etwa Bernotat und sein Anstaltsdezernat als permanente Kontaktstelle für „T4“ fungierten und u. a. die Verteilung der auswärtiger Patienten auf die „Zwischenanstalten“ organisierten. Die
übrigen Abteilungsleiter – nicht zuletzt der Kämmerer – waren bestrebt, für den Bezirksverband einen
Nutzen aus der Mordaktion zu ziehen. Der Verband bemühte sich, gegenüber der Öffentlichkeit seine
eigene Bedeutung herauszustellen, ohne die Maßgaben der Geheimhaltung zu konterkarieren.
c) Konfrontation mit Angehörigen und Öffentlichkeit
Während der „T4“-Gasmorde in Hadamar übernahm der Bezirksverband Nassau in vielen Fällen eine
Mittlerposition und damit auch eine Pufferfunktion zwischen den Angehörigen der verlegten und ermordeten Menschen einerseits und „T4“ andererseits. Sowohl durch seine „Zwischenanstalten“ als
auch durch die Zentralverwaltung in Wiesbaden versuchte der Verband so, der größten Schwachstelle
im Geheimhaltungssystem von „T4“ – dem Wissen der Familien – durch verwaltungstechnische und
andere Maßnahmen ihre Brisanz zu nehmen. Wenn auch die Geheimhaltung im Endeffekt 1941 komplett scheiterte und zur vorübergehenden Einstellung der Morde in Hadamar führte, so waren die Bemühungen des Bezirksverbandes zur Fernhaltung und Irreführung der Angehörigen doch bis dahin
vielfältig und wurden flexibel angewandt.
Ein erstes Mittel hierzu war im Januar 1941 die Verhängung einer Besuchssperre für sämtliche Anstalten des Verbandes und für die von Bernotat geführten Privatanstalten, die alle zugleich nun als
„Zwischenanstalten“322 für „T4“ bereit gemacht wurden. Neun Tage nachdem die ersten Krankenverlegungen von den „Zwischenanstalten“ nach Hadamar stattgefunden hatten, ordnete Anstaltsdezernent
Bernotat – anscheinend im Benehmen mit dem Reichsinnenministerium323 – aus „Gründen der Reichsverteidigung [...] während der Dauer des Krieges die Aufhebung der Besuchstage in den Anstalten an.“
Lediglich noch in „besonders dringenden Fällen“ durfte „nach vorheriger schriftlicher Vereinbarung
eine Einzelausnahme durch die Anstaltsleitung zugelassen werden.“324 Der Kalmenhof übermittelte den
Angehörigen diese „durch höhere Verfügung“ verhängte Besuchssperre mit der Begründung, es müsse
„die Reichsbahn unter allen Umständen entlastet bleiben [...]. Räder müssen rollen für den Sieg!“ Man
appellierte an die Familien, den Kalmenhof „mit unerfüllbaren Anträgen zu verschonen“; schließlich
sei es „[e]rste Pflicht für jeden Volksgenossen [...], das Seine zum endgültigen Sieg beizutragen! Für
dieses Ziel“, so hieß es in dem Formbrief an die Angehörigen, „müssen eben Opfer gebracht werden!“325 In Wirklichkeit bezweckte die Besuchssperre nicht die Entlastung des Bahnverkehrs, sondern
die Sicherstellung eines störungsfreien Ablaufs der so genannten „Transporte“ für „T4“. Wohl um Nutzen und Schaden der Beschränkung abwägen zu können, forderte das Reichsinnenministerium im
Monat nach Beginn der Hadamarer Morde bei Bernotat einen Bericht „über die seither mit der Besuchssperre gemachten Erfahrungen“ an.326 Die Erkenntnisse schienen einer Fortführung nicht im Wege zu stehen. Zwangsläufig fügten die Familienmitglieder sich meist in die neuen Vorschriften, wenn
322
Zu Funktion u. Tätigkeit der „Zwischenanstalten“ 1941 siehe Kap. IV. 3. a).
Vgl. HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12618, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S/II), gez. i. A. LdsR Bernotat, an LOI W., LHA
Eichberg, betr. „Besuchssperre“ (18.02.1941).
324
AHS, Der Vorsitzende der HEPA Scheuern, LdsR Bernotat, an HEPA Scheuern (22.01.1941). – Wie die weitere Handhabung zeigt, trifft diese Anordnung auch auf die LHAen des BV Nassau zu.
325
Formbrief d. HEA Kalmenhof, Idstein, an Angehörige, gez. i. V. Großmann, zit. n. d. Faks. b. Orth, Transportkinder (1989), S. 44, bzw. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 73.
326
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12618, o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (S/II), gez. i. A. LdsR Bernotat, an LOI W., LHA Eichberg,
betr. „Besuchssperre“ (18.02.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage
eines Durchschlages gefertigt, in den der Personenname u. die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist).
323
3. Kooperation während der Gasmorde
489
die Maßnahme doch auch von den Angehörigen, wie ein Eichberger Arzt im Februar 1941 berichtete,
„vielfach beklagt“ wurde.327 Dennoch erreichte die Vorschrift offenbar zunächst ihr Ziel, denn nur
wenige Patientinnen und Patienten erhielten – wie etwa für die Landesheilanstalt Weilmünster festgestellt – nun noch Angehörigenbesuch.328 Schon nach kurzem aber wurde unübersehbar, dass die Anordnung, die „die Besuche der Angehörigen in den Anstalten verbietet, [...] Misstrauen in der Bevölkerung
erregt habe.“329
„T4“ hatte zunächst kein einheitliches Konzept entwickelt, wann und durch welche Behörde im
Rahmen der Mordaktion die Angehörigen über Verlegung und/oder Tod ihres Familienmitgliedes informiert werden sollten. Anfangs übte man die Praxis, eine Verlegung überhaupt nicht mitzuteilen und
die Angehörigen erst durch ein Schreiben aus der „T4“-Anstalt, also nach der Ermordung, zu informieren, das beispielsweise mit folgenden Worten beginnen konnte: „Wie Ihnen sicherlich bereits bekannt
ist, wurde Ihre Schwester [...] vor kurzem aus verwaltungstechnischen Gründen in unsere Anstalt überführt.“330 An diesen Satz schloss sich dann die Mitteilung über den plötzlichen Tod an. Derartige böse
Überraschungen hatten sich angesichts der damit häufig verbundenen Schockwirkung aus „T4“-Sicht
als negativ erwiesen.
Deshalb führte man spätestens mit Einrichtung des Systems der „Zwischenanstalten“ ein dreistufiges
Informationsschema ein. Dieses sah zumeist eine erste Information der Angehörigen über die Verlegung von der ursprünglichen Unterbringungsanstalt in die „Zwischenanstalt“ vor, die zweite Information betraf die Wegverlegung aus der „Zwischenanstalt“ einige Wochen später, und die dritte Information bestand in der Todesfallmeldung aus der „T4“-Anstalt.
Die erste Information über die Verlegung in die „Zwischenanstalt“ geschah – so ist es für das „Einzugsgebiet“ der Gasmordanstalt Hadamar 1941 dokumentiert – nicht durch die ursprüngliche Anstalt,331
sondern erst durch die „Zwischenanstalt“ selbst. Diese Beauftragung der „Zwischenanstalten“ bedeutete, dass „T4“ die Federführung für diese wichtige erste Benachrichtigung der Angehörigen den regionalen Kooperationspartnern, so auch dem Bezirksverband Nassau, überließ. Darüber hinaus übernahmen die „Zwischenanstalten“ auch die zweite Benachrichtigung über die Weiterverlegung aus der
Anstalt einige Wochen später. Der Weilmünsterer Anstaltsdirektor Dr. Schneider bestätigte, „dass die
Anstalt Weilmünster formularmässig angehalten war, den Angehörigen eines aus der Anstalt Weilmünster abtransportierten Kranken Nachricht zu geben.“332 Zusammengenommen bedeutete der Auftrag für die fünf „Zwischenanstalten“ im Regierungsbezirk Wiesbaden, die dem Anstaltsdezernenten
Bernotat unterstanden, dass zwischen Januar und August 1941 in der Summe über 12.000 Benachrichtigungsschreiben an die Familienangehörigen zu schreiben und zu versenden waren.333
327
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 197), Dr. Bernhard R., Eichberg, an Dr. Friedrich Mennecke (14.02.1941), Abdr. teilweise auch b. Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 331 (Dok. 191).
328
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 217–219, Zeugenaussage Jakob J. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.
1947), hier Bl. 217. – Lediglich noch über einzelne Besuche im Jahr 1941 wurde berichtet: ebd., Bl. 215–217, Zeugenaussage
Georg Sch. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947), hier Bl. 216 (Weilmünster); BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 130 f.,
Abschriften von 3 Schreiben von Prof. Dr. L., Mainz, an AG Wiesbaden, betr. „Pflegschaft Maria E[...], geb. L[...]. 4b VII
15609“ (Daten der Originalschreiben: 05./13./17.02.1941, Abschrift o. D. [1941]) (der dort erwähnte Besuch in der LHA
Eichberg fand allerdings am 19.01.1941 u. damit vor Einführung der Besuchssperre statt).
329
Dies wurde als Information der Univ.-Klinik Ffm im Jan. 1942 über den RP Wiesbaden an das RMdI gemeldet: NARA,
T-1021, Roll 12, Frame 612–619, [„T4“,] Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, „Zusammenfassender Bericht
über das Ergebnis der Berichte der Oberpräsidenten, Landesregierungen usw. zum Rundschreiben des Reichs-Innenministeriums vom 6. I. 42 – IV g 8410/41 – 5114.“ (Bericht: 11.07.1942), hier zit. n. der Kopie in BA, R96 I/2, Bl. 128145–126152,
hier Bl. 128147, als Kopie auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1807) [im Folgenden zit.: „‚T4‘-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942)“].
330
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 295, [„T4“,] „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. H.“, an Monika T., Freistadt (10.06.1940), Fotokopie.
331
Für die Prov. Hannover: Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 78, mit Hinweis auf HStA Hannover, Nds. 721 Hannover
Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, PV Hannover, gez. Andreae, an Anstalt Wunstorf (28.03.1941). – Für das Land Hessen: StA Da,
Abt. H 13 Darmstadt, Nr. 191, Heft Goddelau, Bl. 4, Zeugenaussage Peter M. ggü. d. StAnw Ffm in Goddelau (11.08.
1948) (Verlegungsinformation nur bei konkreten Anfragen).
332
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 24 f., Aussage Dr. Ernst Schneider ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (22.02.1946), Abschr, hier Bl. 25.
333
Die Zahl (12.297) ergibt sich rechnerisch aus der Summe der ca. 4.761 auswärtigen (nicht „nassauischen“) „Zwischenanstalts“patient/inn/en in „nassauischen“ Anstalten (erste Verlegungsmitteilung) und der ca. 7.536 insgesamt aus „nassauischen“
„Zwischenanstalten“ nach Hadamar verlegten Menschen (zweite Verlegungsmitteilung). – Zur Zahlenangabe von 7.536 siehe
490
IV. Zeit der Gasmorde
Um diese Verwaltungsarbeit der Anstalten zu rationalisieren, ließ der Bezirksverband in seiner Hausdruckerei, die der Beschaffungsstelle in Bernotats Dezernat angegliedert war,334 die Mitteilungsschreiben als Formbriefe herstellen. Derartige Sammelaufträge waren zu anderen Betreffen bereits seit einigen
Jahren im Bezirksverband üblich geworden und wurden von diesem 1938 in seine Rationalisierungsund Sparbestrebungen eingeordnet: „Durch gemeinsame Herstellung und Vereinheitlichung von Vordrucken, insbesondere für die Bezirksanstalten, konnten nicht unerhebliche Ersparnisse erzielt werden.“335 Nun, 1941, erstellte die Druckerei die Formbriefe an die Angehörigen, anscheinend in zehn
verschiedenen Varianten: Von jeder der beiden genannten Versionen der Verlegungsmitteilung (in die/
aus der „Zwischenanstalt“) scheint es fünf Fassungen, nämlich jeweils mit den unterschiedlichen Briefköpfen der fünf Anstalten, gegeben zu haben; die Anstalten konnten dann im Bedarfsfall Nachschub
bei Bernotat bestellen.336
Aufgrund der Formularform brauchten die Anstalten nur noch die jeweiligen Namen und Daten auszufüllen. Bei der Aufnahme in die „Zwischenanstalt“ teilte man den Angehörigen mit relativ kurzen
Worten mit: „D... Kranke ............. geboren am ...... in .......... ist am ........... unserer Anstalt zugeführt
worden. Die Verlegung erfolgte auf Grund einer Anordnung des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars. Der Anstaltsdirektor.“337 Teilweise waren auf den DIN-A5-großen Schreiben noch
maschinenschriftlich oder per Stempel die Worte „Besuch ist auf weiteres gesperrt“ eingefügt.338 Bei
der Weiterverlegung war die Darstellung umfangreicher und das Blatt doppelt so groß (DIN A4), wie
beispielsweise in diesem von den Anstalt Weilmünster verwandten Formular: „Auf Grund eines Erlasses des zuständigen Herrn Reichsverteidigungskommissars wurde ................. am ......... durch die Gemeinnützige Kranken-Transport-G. m. b. H., Berlin W 9, Potsdamer Platz 1, in eine andere Anstalt
verlegt, deren Name und Anschrift mir nicht bekannt ist. Die aufnehmende Anstalt wird Ihnen eine
entsprechende Mitteilung zugehen lassen. Ich bitte Sie, bis zum Eingang dieser Mitteilung von weiteren Anfragen abzusehen. Sollen sie jedoch innerhalb 14 Tagen von der aufnehmenden Anstalt keine
Mitteilung erhalten haben, so empfehle ich Ihnen, sich bei der Gemeinnützigen Kranken-TransportG. m. b. H. unter Angabe der genauen Personalien und des Tages der Verlegung aus Weilmünster zu
erkundigen. Den etwaigen sonstigen Angehörigen des Kranken bitte ich, erforderlichenfalls hiervon
Mitteilung zu geben. Heil Hitler! Der Anstaltsdirektor“339
Formulierungsdetails dieser Benachrichtigungsschreiben blieben wohl den jeweiligen regionalen
Stellen, welche „Zwischenanstalten“ unterhielten (etwa den Provinzial- und Bezirksverbänden), überlassen; so wich beispielsweise der Text des Provinzialverbandes Brandenburg von dem des Bezirksverbandes Nassau in Nuancen ab. Die Hauptbestandteile jedoch waren 1941 in der jeweils zweiten
Verlegungsmitteilung überregional einheitlich, größtenteils wortgleich, und somit offenbar von „T4“
die Daten in Kap. IV. 3. a). – Die Zahl 4.761 ist die Differenz zwischen eben dieser Gesamtzahl (ca. 7.536) und der Zahl für
die ursprünglich in „nassauischen“ Anstalten untergebrachten Hadamarer Opfer des Jahres 1941 (ca. 2.775); zu dieser Zahl
von ca. 2.775 siehe die Daten in Kap. IV. 3. b).
334
Die Druckerei zählte zu Bernotats Abt. S/III: siehe Kap. III. 3. a).
335
BV Nassau, Verwaltungsbericht (01.04.1937–31.03.1938), S. 74.
336
Zu einzelnen überlieferten Originalexemplaren siehe die folgenden Anmerkungen. – Zur Bestellung von Vordrucken beim
BV Nassau siehe z. B. AHS, Dir. d. HEPA Scheuern an den Vorsitzenden, LdsR Bernotat, Wiesbaden (18.07.1941), Durchschr. (es wird darum gebeten, „dass uns von den mitfolgenden Formblättern eine Anzahl – vielleicht 1 000 Stück von jeder
Sorte – beschleunigt zugesandt werden“).
337
AHS, Vordruck (nur teilweise ausgefüllt mit Datum 24.06.1941), hier als Rückseite eines anderen Dokuments (dieses vom
10.07.1941); siehe auch Zentralarchiv d. Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, 03/47, S. 30, HEPA Scheuern an Franz O., Mainz (30.04.1941), zit. b. Hofmann, Dokumentation (1974–1993), hier Bd. 8,1 (Bd. 43, 1992), S. 142; HStA
Wi, Abt. 463 Nr. 1154, Bl. 4, LHA Weilmünster an Alexander B., Ffm (24.02.1941) (dort z. B. Hinweis auf Besuchssperre);
wortgleich auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, zu Bl. 566, LHA Eichberg, gez. Mennecke, an Juliane L., Lampertheim (22.04.1941); siehe auch Sandner, Landesheilanstalt (1997), S. 136.
338
Z. B. in der Mitteilung d. LHA Weilmünster (siehe vorausgehende Anm.).
339
Zwei Schreiben d. LHA Weilmünster, gez. Dr. Schneider, an den Vater von Hans Frank (30.07.1941) bzw. an dessen
Mutter (07.08.1941), hier zit. n. d. Faks. b. Frank, Bruder (1994), S. 15 bzw. S. 20; siehe auch Sandner, Landesheilanstalt
(1997), S. 136. – In der Substanz wortgleiche Formulare sind auch überliefert für die LHA Eichberg u. die HEA Kalmenhof/Idstein: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, zu Bl. 566, LHA Eichberg, gez. i. V. Dr. Schmidt, an Juliane L., Lampertheim (20.05.1941); ebd., Bd. 6, o. Bl.-Nr. (Anlage zu Bl. 887), HEA Kalmenhof, ausgefülltes Formular zu Heinz S. (angegebenes Verlegungsdatum 29.04.1941), siehe auch das b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 75, abgedruckte Formular.
3. Kooperation während der Gasmorde
491
zentral vorgegeben: nämlich die Adresse der „Gekrat“, die Verlegung in eine angeblich „unbekannte“
Anstalt, die 14-tägige Benachrichtigungsfrist und die Empfehlung, im Falle der Nichtbenachrichtigung
eine Erkundigung bei der „Gekrat“ einzuholen.340
Zu einer solchen Anfrage sollte es jedoch in den allermeisten Fällen gar nicht mehr kommen, da die
Mordanstalt Hadamar noch innerhalb der zweiwöchigen Wartezeit den Angehörigen den Tod durch
Übersendung von zwei Sterbeurkunden und einem – von den „T4“-Mitarbeitern selbst so genannten –
„Trostbrief“ mitteilten; dies war in der Regel die dritte Mitteilung an die Angehörigen. Anstatt des
wirklichen Todestages wurden dabei erfundene Daten genannt, die im Allgemeinen zwischen zehn und
14 Tagen nach dem Tag des Mordes lagen.341 Dies gab „T4“ die Möglichkeit, für die Spanne zwischen
tatsächlichem und angeblichem Todesdatum Millionenbeträge unrechtmäßig von den Kostenträgern zu
kassieren und damit die Ausgaben für die Mordaktion zu refinanzieren.342 Sogar den „Selbstzahlern“
(wenn also der erkrankte Mensch oder dessen Angehörige die Kosten der Anstaltsunterbringung selbst
trugen) wurden durch „T4“ sowohl die Pflegekosten für den „Aufenthalt in Hadamar“ als auch die so
genannten „Nebenkosten“ (das waren die angeblichen Kosten der Einäscherung) in Rechnung gestellt.343 Die gewählte Zeitspanne von meist knapp zwei Wochen schien aus „T4“-Sicht einen Kompromiss darzustellen zwischen dem Bestreben, möglichst lange noch die Pflegekosten für den ermordeten Menschen kassieren zu können, und dem Anliegen, nicht durch übermäßiges Hinauszögern den
Verdacht der Angehörigen zu erregen.
Die Todesmitteilung aus Hadamar war nicht wie die vorausgegangenen Verlegungsmitteilungen
ein ausgefülltes Formular, sondern eine maschinenschriftliche Ausfertigung, die eine DIN-A4-Seite
füllte und den Eindruck eines individuell verfassten Schreibens erwecken konnte. Tatsächlich waren
die „Trostbriefe“ inhaltlich jedoch eine Aneinanderreihung von Textbausteinen, die sich mit relativ
geringen Änderungen von Brief zu Brief stets wiederholten. „Die Trostbriefe wurden nach einem bestimmten Schema geschrieben; die Arbeit war ziemlich stur“,344 wie eine der Hadamarer Schreibkräfte zusammenfasste. Man teilte zunächst den Todesfall mit, äußerte Bedauern, warb aber dafür, den
Tod als eine Erlösung aufzufassen. Dann ging man zu den Formalitäten über und thematisierte die
bereits stattgefundene Einäscherung, die mögliche Urnenübersendung und die Regelung des Nachlas340
Vgl. den Wortlaut der weitgehend einheitlichen Schreiben aus den „Zwischenanstalten“ im PV Brandenburg: Stiftung
Archiv Parteien und Massenorganisationen, V/227/1/19, Dir. d. Anstalt Teupitz an Angehörige [1940/41], hier n. Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 85.
341
Da die angeblichen Todesdaten sich bislang meist nur aus den Sterbeurkunden und „Trostbriefen“ an die Angehörigen
(oder ggf. aus Unterlagen bei den Heimatstandesämtern) ermitteln lassen, liegen hierzu nur relativ wenige Daten vor. Für
Menschen, die 1941 in Hadamar ermordet wurden, lassen sich folgende Spannen zwischen der Verlegung in die Mordanstalt
Hadamar (= im Allgemeinen tatsächliches Morddatum) und dem angeblichen Sterbedatum ermitteln: 8 Tage bei Johann D.
(am 27.01.1941 verlegt von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 04.02.1941), 10 Tage bei Karl L. (am 16.06.
1941 verlegt von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 26.06.1941), 11 Tage bei Ernst U. (am 13.03.1941 verlegt
von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 24.03.1941), 12 Tage bei Erich Sch. (am 16.02.1941 verlegt von Herborn nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 28.02.1941, angebl. Sterbeort Hartheim), 12 Tage bei Karoline F. (am 08.05.1941
verlegt nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 20.05.1941), 12 Tage bei Ilse K. (am 01.07.1941 verlegt von Scheuern nach
Hadamar, angebl. Sterbedatum 13.07.1941, angebl. Sterbeort Bernburg), 14 Tage bei Minna Sch. (am 20.06.1941 verlegt von
Herborn nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 03.07.1941), 14 Tage bei Lina W. (am 24.03.1941 verlegt von Herbon nach
Hadamar, angebl. Sterbedatum 07.04.1941, angebl. Sterbeort Hartheim), sogar 18 Tage bei Willi E. (am 03.04.1941 verlegt
von Weilmünster nach Hadamar, angebl. Sterbedatum 21.04.1941) u. 19 Tage bei Inge G. (verlegt von Scheuern nach Hadamar am 01.04.1941, angebl. Sterbedatum 20.04.1941), möglicherweise sind diese beiden Verzögerungen bedingt durch den
bis 20.04.1941 dauernden Osterurlaub – siehe dazu Kap. IV. 3. b). – Quellen: LWV, Best. 19/14, HKV d. LHA Weilmünster
(Eintragungen 1941); HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1050 f., Ludwig G., Ffm-Griesheim [an den vors. Richter im
Hadamar-Prozess Ffm] (28.02.1947); ebd., Bd. 17 (Verlegungsliste Herborn); Hadamar (1991), S. 108 (Kat. Nr. 84); Lilienthal, Opfer (2001), S. 289; priv. Unterlagen (der Gedenkstätte Hadamar/dem LWV Hessen von Angehörigen überlassen).
342
Ginge man allein von einer 10-tägigen Frist und einem Pflegesatz von RM 2,50 aus, so errechnete sich bei ca. 70.000 Toten
der Jahre 1940 und 1941 ein Gewinn 1,75 Mio. RM, hinzuzurechnen wären die vereinnahmten „Nebenkosten“ von 30 RM pro
Totem (für die angebl. Einäscherung), also 2,1 Mio RM, was sich zu einer Gesamteinnahme von RM 3,85 Mio RM addiert. –
In den Aussagen und Darstellungen zu dieser Frage sind häufig sogar noch weitaus größere Summen angeführt, die jedoch
zum Teil den Zeitraum bis 1945 mit abdecken: HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Aussage Robert Lorent als Angeschuldigter b. d. LG Ffm (18.–29.10.1965), Kopie, hier S. 15 (19.10.1965), S. 39 (26.10.1965); Aly, Fortschritt (1985),
S. 26 f., u. a. mit Hinweis auf Aussagen H. J. Becker (15.02.1963 u. 12.05.1966); Friedlander, Weg (1997), S. 135.
343
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 1050 f., Ludwig G., Ffm-Griesheim [an den vors. Richter im Hadamar-Prozess
Ffm] (28.02.1947).
344
Ebd., Bd. 7, Bl. 134, Aussage d. Angeklagten Paula S. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947).
492
IV. Zeit der Gasmorde
ses.345 Durch diese „Trostbriefe“ rundete „T4“ das Täuschungssystem ab, an dem sich auch die Einrichtungen des Bezirksverbandes als „Zwischenanstalten“ durch ihre Schreiben über die ersten beiden
Verlegungen beteiligt hatten.346
Die Zuständigkeit der „Zwischenanstalten“ kam jedoch dann noch einmal zum Tragen, wenn Patientinnen oder Patienten bereits während ihres dortigen Aufenthalts, also vor der geplanten Verlegung
nach Hadamar, verstarben. Dies traf angesichts der Situation in einigen „Zwischenanstalten“ nicht selten zu.347 Offenbar war dieser Fall in den Szenarien von „T4“ nicht vorbedacht worden, sodass sich bei
einigen Beteiligten hier Klärungsbedarf ergab. So versicherte sich der Anstaltsreferent des Bezirksverbandes Hessen in Kassel bei den „Zwischenanstalten“ im Bezirk Wiesbaden, „daß im Falle des Ablebens eines Kranken in der dortigen Anstalt, ebenso wie bei der Landesheilanstalt Hadamar, die Benachrichtigung der Angehörigen alsbald durch die dortige Anstalt erfolgt.“ Um den Anschein von
Normalität bemüht, bemerkte die Leitung der Anstalt Eichberg daraufhin zwar intern: „War noch nie
anders!“348, doch indem Bernotat den Fall noch im August 1941, kurz vor Unterbrechung der Mordaktion, einer grundsätzlichen Regelung für Wert hielt, dokumentierte er die Unsicherheiten, die es in dieser Frage gegeben haben muss.349
Eine wichtige Funktion bei der Täuschung der Angehörigen hatte die Erwähnung „des zuständigen
Herrn Reichsverteidigungskommissars“ als des angeblichen Urhebers sämtlicher Verlegungen in der
überwiegenden Zahl der Verlegungsmitteilungen.350 Allein für das „Einzugsgebiet“351 der Hadamarer
Mordanstalt des Jahres 1941 betraf diese Nennung insgesamt sechs Gauleiter,352 die ihr Zusatzamt als
Reichsverteidigungskommissar mit Kriegsbeginn übernommen hatten, darunter auch die Gauleiter
Sprenger,353 Murr354 und Jordan,355 in deren NS-Gauen sich 1940/41 jeweils eine „T4“-Gasmordanstalt
befand.356 Generell war jenen 16 Gauleitern, die ab September 1939 das Amt eines Reichsverteidigungskommissars ausübten,357 „die vollziehende Gewalt in den Wehrkreisen“358 übertragen worden.
345
Siehe z. B. das in Privatbesitz der Familie befindliche Schreiben von [„T4“,] „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar“, an
Mathilde U., Duisburg-Hamborn (25.03.1941), hier n. d. Faks. in Hadamar (1991), S. 108 (Kat. Nr. 84); siehe auch Winter,
Geschichte (1991), S. 97; Friedlander, Weg (1997), S. 178–184. – Zur „Trostbriefabteilung“ der „T4“-Anstalt Hadamar siehe
auch Kap. IV. 3. b).
346
Zur Täuschung der Angehörigen durch die Anstalten im Bezirk Wiesbaden siehe auch die Beispiele bei Friedlander,
Weg (1997), S. 290–296.
347
Zur Funktion der „Zwischenanstalten“ siehe Kap. IV. 3. a).
348
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12505, o. Bl.-Nr., BV Hessen, Az. A (IB) 13/14, gez. i. A. PVR Rücker, an LHA Eichberg
(05.06.1941); ebd., o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dir. i. V. Dr. Schmidt, an BV Hessen (09.06.1941, ab: 09.06.1941), Durchschr. – Das Zitat d. LHA Eichberg entstammt einer internen Notiz, während man offiziell antwortete, „daß die Angehörigen
der in der hiesigen Anstalt Verstorbenen stets benachrichtigt werden.“
349
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, betr. „Benachrichtigung bei Todesfällen“ (11.08.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich eingesetzt ist). – Bernotat bestimmte, dass die „Zwischenanstalt“ beim Tod von „Zwischenanstalts“patient/inn/en zu benachrichtigen habe: „1) die Abgabeanstalt, 2) diejenigen Angehörigen des Kranken, die vermittels
des von Berlin vorgeschriebenen Formulars über die Aufnahme des Kranken in die dortige Anstalt verständigt worden sind.“
350
Z. B. für den PV Brandenburg siehe ebd.; zum Reg.-Bez. Wiesbaden siehe die obige Zitierung der Verlegungsmitteilungen.
351
Zu diesem sog. „Einzugsgebiet“ siehe Kap. IV. 2. b).
352
Außer den drei im Folgenden Genannten handelte es sich um Karl Kaufmann (Wehrkreis X [Hamburg]), Josef Terboven
(Wehrkreis VI [Münster]) und Fritz Sauckel (Wehrkreis IX [Kassel]). – Zum Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann (1900–
1969) siehe biogr. Anhang. – Josef Terboven war Gauleiter in Essen, ab 1935 OP d. Rheinprovinz in Koblenz, ab Apr. 1940
zusätzl. Reichskommissar für Norwegen; Fritz Sauckel (1894–1946) war Gauleiter und Reichstatthalter in Thüringen, ab März
1942 zusätzl. Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz (insb. Zwangsarbeitereinsatz), ab Apr. 1944 zusätzl. beauftragt
mit den Geschäften des OP für den Reg.-Bez. Erfurt.
353
Ab 1939 RVK im Wehrkeis XII (Wiesbaden). – Zu Jakob Sprenger (1884–1945) siehe biogr. Anhang.
354
Ab 1939 RVK im Wehrkeis V (Stuttgart). – Zu Wilhelm Murr (1888–1945) siehe biogr. Anhang.
355
Ab 1939 RVK im Wehrkreis XI (Hannover). – Zu Rudolf Jordan (1902–1988) siehe biogr. Anhang.
356
Zur Einrichtung der Gasmordanstalten siehe Kap. IV. 2. b).
357
Die Zahl 16 addiert sich aus den 12 Gauleitern im „Altreich“, die 1939 Reichsverteidigungskommissare wurden, siehe
Hüttenberger, Gauleiter (1969), S. 153 f. (Anm. 52), zwei österreichischen Gauleitern als Reichsverteidigungskommissaren
für die Wehrkreise Wien und Salzburg sowie nach Kriegsbeginn den beiden Gauleitern in Danzig und Posen als Reichsverteidigungskommissaren in den dortigen Wehrkreisen. – Zur Zahl von 17 Reichsverteidigungsbezirken siehe Ämter (1997),
S. 86–89; einer der Gauleiter (Adolf Wagner) war in zwei Bezirken (Wehrkreisen) Reichsverteidigungskommissar. – RGBl. I,
Jg. 1939, Nr. 158 (02.09.1939), S. 1565 f., „Verordnung über die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren“ (01.09.
1939); ebd., Nr. 190 (27.09.1939), S. 1937 f., „Anordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung zur Durchführung der
Verordnung über die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren“ (22.09.1939); Teppe, Reichsverteidigungskommissar
(1986), S. 278 f.; vgl. auch ders., Provinz (1977), S. 121. – Ab Nov. 1942 entsprachen die RVK-Bezirke nicht mehr den
3. Kooperation während der Gasmorde
493
Der Reichsverteidigungskommissar war somit „kein Instrument der Kriegsführung im militärischen
Sinne“, sondern ihm kam beispielsweise die Aufgabe zu, „die Kriegsanstrengungen im Innern zu koordinieren und bis zu einem Höchstmaß zu steigern“; dabei konnten die Amtsinhaber nach Einschätzung
Teppes „der ihnen zugedachten Rolle [...] mit erheblichem Erfolg gerecht [...] werden.“359
Doch nicht nur gegenüber Angehörigen, sondern auch in anderer Beziehung diente der Hinweis auf
den Reichsverteidigungskommissar zur Legitimation der Verlegungen oder anderer Maßnahmen im
Zusammenhang mit den Morden. So beriefen sich ebenso die übergeordneten Behörden und sogar
„T4“ bei schriftlichen Verlegungsverfügungen oder -mitteilungen gegenüber den Anstalten oder Anstaltsträgern vielfach auf eine Anordnung des zuständigen Reichsverteidigungskommissars.360 Auch
mündlich bekundete die „T4“-Leitung gegenüber Verwaltungen wie dem Provinzialverband Hannover,
„die Reichsverteidigungskommissare hätten Anweisung, dem Landeshauptmann und den Heilanstalten
den Befehl zur Auslieferung der Geisteskranken zu geben“.361 Beinahe kurios erscheint das Vorgehen
in Bayern, wo das Innenministerium sich gegenüber den seiner Aufsicht unterstehenden Anstalten auf
eine Weisung des Reichsverteidigungskommissars berief, wobei Innenminister Adolf Wagner selbst in
Personalunion dieses Amt ausübte.362 Schließlich diente dem Eichberger Anstaltsdirektor Mennecke
gegenüber seinen Angestellten der Hinweis auf den Reichsverteidigungskommissar zur Begründung
für die Geheimhaltung: „wohin diese Transporte gingen, sei Sache des Reichsverteidigungskommissars
und gehe niemanden sonst etwas an.“363 Teilweise notierten 1941 die Schwestern und Pfleger der „Zwischenanstalten“ im Bezirk Wiesbaden auch in die Krankengeschichten der nach Hadamar verlegten
Patientinnen und Patienten anstelle – wie sonst üblich – des Verlegungszieles nun: „Auf Anordnung
des H. Reichsverteidigungskommissars überführt.“364 Ebenfalls mit dem Hinweis, dass „der Reichsverteidigungskommissar anderweitig über die Anstalt“ verfüge, verweigerte die Landesheilanstalt Hadamar 1942 dem Reichsgesundheitsamt die von dort geforderten statistischen Angaben über die Einrichtung.365
Bislang ist nicht mit Sicherheit bekannt, ob die Reichsverteidigungskommissare von Anfang an als
Gewährsträger für die Krankenverlegungen galten oder ob dieser Bezug erst im Laufe des Jahres 1940
hergestellt wurde.366 Während frühe „Trostbriefe“ aus den „T4“-Anstalten im Jahr 1940 zum Teil noch
Wehrkreisen, sondern den NSDAP-Gauen, sodass sämtliche Gauleiter in ihren Gauen RVKe wurden: RGBl. I, Jg. 1942, Nr.
117 (17.11.1942), S. 649–656, „Verordnung über die Reichsverteidigungskommissare und die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverwaltung“ (16.11.1942), mit Anlage; siehe auch Rebentisch, Verwaltung (1985), S. 764; ders., Führerstaat (1989),
S. 278; Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 287.
358
Rebentisch, Persönlichkeitsprofil (1983), S. 326.
359
Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 300 f.
360
Z. B. der PV Hannover in Verlegungsverfügungen von Ende März 1941 ggü. seinen Anstalten: Sueße/Meyer, Abtransport
(1988), S. 63 f.; ebenso das württembergische MdI ggü. den württ. Anstalten: Stöckle, Aktion (1996), S. 18; entsprechend
auch das RMdI im Juni/Juli 1941 ggü. den Anstalten d. PV Westfalen: Walter, Psychiatrie (1996), S. 719 f.; ebenso „T4“
(Gekrat) 1941 ggü. dem PV Sachsen: Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 76 f. – Dasselbe gilt auch für Verlegungsankündigungen an Dritte, z. B. aus Berlin an auswärtige Anstalten: StA Potsdam, Bezirksbürgermeister des Verwaltungsbezirks Reinickendorf der Reichshauptstadt Berlin, Wittenauer Heilstätten, an Landesanstalt Neuruppin (07.09.1940), hier n. d. Faks. b.
Hühn, Psychiatrie (1989), S. 190.
361
HStA Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28 Bd. I, Bl. 20 f., Aussage Dr. Georg Andreae (11.05.1948), hier zit.
n. Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 56. – Andreae bezog sich auf eine Aussage des ärztl. „T4“-Leiters Heyde.
362
NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-1134, Staatsministerium des
Innern, gez. i. A. Dr. Schultze, München, an Dir. Dr. Pfannmüller, HPA Eglfing-Haar (14.01.1941), hier zit. n. d. begl. Kopie
in HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. (das MdI erteilte dort die Direktive, falls „in der Zwischenzeit ein Angehöriger bei der Abgabeanstalt anfragen“ sollte, sei diesem zu antworten, „der Kranke sei im Auftrage des zuständigen Reichsverteidigungskommissars verlegt worden“).
363
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 508, Aussage Karl Sch. ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (21.08.1946),
Abschr. (Mennecke-Aussage dort auf Mai 1941 datiert).
364
So z. B. in der LHA Eichberg: BA, R179/2065, Eintrag in die Krankengeschichte (26.02.1941); analog auch ebd., 2209;
ebd., 2225. – Entsprechend in der HEPA Scheuern: BA, R179/8998, Eintragung in die Krankengeschichte (01.04.1941): „N.
wird auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars in eine andere Anstalt verlegt.“
365
LWV, Best. 12/ehem. VA 225 (Kopie), Bl. 142, LHA Hadamar, gez. i. A. LS Klein, an Präs. d. RGA, Berlin, betr. „Diagnosenstatistik für das Jahr 1941“ (23.01.1942), Durchschr.
366
Allerdings behauptete Dr. Gerhard Bohne (Anfang 1940 für einige Monate Leiter von „T4“) in einer späteren Vernehmung,
jede Krankenverlegung habe auf Vorschlag von Gekrat-Leiter Vorberg mit Hinweis auf eine entsprechende Weisung des
Reichsverteidigungskommissars durchgeführt werden sollen: vgl. HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1373, V, o. Bl.-Nr., Aussage
Reinhold Vorberg b. d. LG Ffm als Angeschuldigter (01.–22.12.1964), Kopie, hier S. 19 (03.12.1964).
494
IV. Zeit der Gasmorde
keinen Hinweis auf den Reichsverteidigungskommissar enthalten,367 ist diese Bezugnahme 1941 in den
Briefen aus Hadamar gegeben.368 Es ist nicht einmal sicher, ob die Reichsverteidigungskommissare
tatsächlich eine eigenständige Rolle im Rahmen der Verlegungsaktion spielten.369 Bis heute scheint
kein schriftliches Dokument bekannt geworden zu sein, in dem ein Reichsverteidigungskommissar in
dieser Funktion tatsächlich eine Anordnung im Zusammenhang mit den „T4“-Verlegungen erteilt hätte – sämtliche Erwähnungen sind nur Bezugnahmen darauf, ohne dass jedoch dabei nähere Angaben
wie Datum oder Aktenzeichen der angeblichen Anordnungen genannt worden wären.370 Nach all dem
können wir davon ausgehen, dass die entsprechenden Gauleiter in erster Linie ihren Namen hergaben,
dass also lediglich mit ihrem Wissen und mit Verweis auf sie den Verlegungen eine scheinbare Legitimation verliehen wurde. Eine entsprechende legitimatorische Wirkung hatte es auch, als Gauleiter und
Reichsverteidigungskommissar Sprenger seinem Günstling Bernotat im Frühsommer 1941 erlaubte, an
dessen Dienstzimmer als Anstaltsdezernent ein Schild mit der Aufschrift „Der Reichsverteidigungskommissar [/] Bernotat [/] Landesrat“ anzubringen.371
Generell diente die Erwähnung des „Reichsverteidigungskommissars“ hauptsächlich dazu, insbesondere nach außen hin – gegenüber Bevölkerung und Angehörigen – eine scheinbar schlüssige Begründung für die Massenverlegungen zu konstruieren: Die Bezugnahme auf den Reichsverteidigungskommissar sollte und konnte den Eindruck erwecken, es gehe um eine Maßnahme im Zusammenhang mit
Kriegsnotwendigkeiten (denkbar war etwa die Beschlagnahme der Heilanstalt zu Lazarettzwecken).
Damit verband sich zugleich zweierlei: erstens sollte diese Zweckbenennung eine Harmlosigkeit der
Verlegung vermitteln, zweitens sollte damit verdeutlicht werden, dass etwaige Einsprüche nicht möglich seien.
Trotz aller Bemühungen um den Schein der Normalität gelang den Organisatoren des Mordes die
gewünschte Ruhigstellung der Angehörigen nicht lückenlos, wenn auch nach neueren Untersuchungen372 offenbar ein nicht unerheblicher Teil der Familien bereit war, den – wie auch immer erfolgten –
Tod des psychisch kranken Angehörigen zumindest mit Gleichgültigkeit oder sogar mit Erleichterung
zu registrieren. Doch es gab durchaus Angehörige, die gegen die Verlegungen oder gegen das Besuchsverbot protestierten und die in Einzelfällen sogar die bevorstehende Ermordung verhindern konnten. Es war keineswegs in erster Linie ein Ausdruck von Antisemitismus, dass im Deutschen Reich
solche Proteste gegen die NS-„Euthanasie“-Verbrechen deutlich umfangreicher waren als die gegen die
Ermordung der Juden, sondern es lag nach Friedlander daran, dass „die Angehörigen der behinderten
Opfer an der Spitze derer [standen], die gegen die Morde opponierten“, während eine derartige familiäre Solidarität bei den jüdischen Opfern meist nicht möglich war.373
Auch im Bereich des Bezirksverbandes Nassau konnten 1941 einzelne Angehörige durch beharrlichen Einsatz die Rettung ihres Familienmitglieds erreichen, das sich bereits in der „Zwischenanstalt“
befand und damit kurz vor der Verlegung nach Hadamar stand. So gelang es dem Juristen Dr. Wilhelm
F. aus dem Odenwald – wohl auch aufgrund seiner professionellen Kenntnisse –, die Verschonung
seines Onkels Heinrich F. zu erreichen. Nach dessen Verlegung in die „Zwischenanstalt“ Weilmünster
erschien der Neffe dort persönlich, da er bereits „einige Zeit zuvor gehört hatte, es würden jetzt unheilbar Geisteskranke [...] als unnütze Esser durch Tötung beseitigt“. In Weilmünster drohte F. – nach
eigener Aussage – einem der Ärzte, er werde sich „unter keinen Umständen“ damit abfinden, dass sein
367
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 295, [„T4“,] „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. H.“, sog. „Trostbrief“ an
Monika T., Freistadt (10.06.1940), Fotokopie.
368
Siehe z. B. in Privatbesitz der Familie befindliche Schreiben von [„T4“,] „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar“, an
Mathilde U., Duisburg-Hamborn (25.03.1941), hier n. d. Faks. in Hadamar (1991), S. 108 (Kat. Nr. 84).
369
Eine solche wird angenommen bei Teppe, Reichsverteidigungskommissar (1986), S. 291; siehe auch Beddies, Heil- und
Pflegeanstalt (1998), S. 87.
370
Auch die Nachkriegsbehauptung von LH Gessner u. Anstaltsdezernent Andreae in Hannover, „der wirkliche Befehl des
Reichsverteidigungskommissars Jordan“ zur Krankenverlegung sei eingetroffen, wirkt eher wie eine Schutzbehauptung ggü.
den Justizbehörden und bleibt unbelegt: Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 56 f. (Zitat auf S. 56). – Sueße/Meyer stellen
diesen „Befehl“ jedoch als Tatsache dar.
371
Zu den näheren Umständen dieses Vorgangs siehe Kap. IV. 1. b).
372
Siehe dazu die Forschungen von Petra Lutz zu den Angehörigen der NS-„Euthanasie“-Opfer.
373
Friedlander, Weg (1997), S. 306 f., hier S. 307.
3. Kooperation während der Gasmorde
495
Onkel „umgebracht werden solle“, vielmehr würde er „die Angelegenheit notfalls unter Aufopferung
[s]einer eigenen Person und [s]einer Existenz, publi[k] machen“. Als der Arzt daraufhin zugab, die
Verlegung habe „zum Zweck der Beseitigung“ stattgefunden, und behauptete, dies aber sei inzwischen
gesetzlich erlaubt, ließ Richter F. sich nicht täuschen oder beirren. Er erreichte, dass die Landesheilanstalt Weilmünster den Fall der vorgesetzten Dienststelle (wahrscheinlich dem Anstaltsdezernenten)
vorlegte, die sich deshalb mit „T4“ verständigt haben muss. Wenig später jedenfalls erfolgte die Rückverlegung des Onkels in die ursprüngliche Anstalt, das „Philippshospital“ bei Goddelau.374 Im Sinne
einer Schadensbegrenzung scheint man bei „T4“ die Verschonung von Heinrich F. als weniger gravierend eingeschätzt zu haben als die Gefahr, dass dessen Neffe den Fall öffentlich gemacht hätte.
Mit Hilfe eines leitenden Juristen der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt gelang es auch einem Sinto oder Rom, seinen Bruder, der wegen hitlerfeindlicher Äußerungen als forensischer Psychiatriepatient durch das Sondergericht Frankfurt eingewiesen worden war, aus einer der „Zwischenanstalten“ zu
befreien und damit vor der Verlegung nach Hadamar zu bewahren.375 Dagegen versuchten andere
Angehörige vergeblich, sich zu wehren, so auch eine Mutter aus Westfalen. Als ihr Sohn nach Weilmünster verlegt worden war, fuhr sie trotz der Besuchssperre dorthin. Nachdem man ihr zunächst den
Einlass in die Anstalt verwehrt hatte, erreichte sie durch Beharrlichkeit doch noch Zugang zum Anstaltsdirektor und eröffnete diesem, sie werde ihren „Sohn wieder mitnehme[n] nach Hause“ und habe
deswegen „schon nach Berlin geschrieben zur Reichskanzlei.“ Zwar durfte sie ihren Sohn daraufhin
noch einmal besuchen, doch konnte sie die Entlassung nicht durchsetzen; im Folgemonat erhielt sie die
Todesnachricht aus Hadamar.376
Überwiegend delegierte Bernotat den Kontakt mit den Angehörigen an die Anstalten, aber in Einzelfällen trat er auch selbst in Aktion, wenn er sein Eingreifen für unentbehrlich hielt. Paradigmatisch ist
seine Anweisung an die Einrichtungen: „Falls Sie glauben, mit den Angehörigen nicht allein fertig
werden zu können, sind diese an mich zu verweisen.“377 Eine Frau, die nach ihren beiden aus der Landesheilanstalt Marburg abgeholten Töchtern suchte, hatte im Frühjahr 1941 bereits eine Odyssee – von
der Marburger Anstalt über das heimische Fürsorgeamt und den Bezirksverband Hessen in Kassel –
hinter sich, bevor man sie nach Wiesbaden verwies, wo sie auf Bernotat traf: „Dort sprach ich mit
einem Landesrat, der sehr unfreundlich war. Ich sagte ihm, ich hätte meine Tochter immer besucht und
wollte es weiter tun. Er redete erst über Überlastung der Eisenbahn, ich verwies auf neueingelegte
Personenzüge und schließlich gab er mir einen Erlaubnisschein.“ Die Mutter konnte mit der Sondergenehmigung eine der Töchter zwar noch in Weilmünster besuchen, doch eine Entlassung hatte sie offenbar, möglicherweise aus Unkenntnis der Konsequenzen, anscheinend gar nicht zu erreichen versucht. Beide Töchter wurden Mitte 1941 in der Gaskammer in Hadamar ermordet.378
374
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 240, Dr. Wilhelm F., Fränkisch-Crumbach i. Odenwald, an OStAnw b. d. LG Ffm
(08.06.1946), Abschr. – Heinrich F. wurde am 19.04.1941 von der LHPA Goddelau nach Weilmünster verlegt u. am
21.05.1941 zurückverlegt, während die übrigen am 19.04.1941 mit ihm verlegten Männer (bis auf 3 Ausnahmen – 2 Verstorbene in Weilmünster u. 1 Zurückgestellter) zwischen dem 29.05. u. 19.06.1941 nach Hadamar verlegt u. dort ermordet wurden: LWV, Best. 19/14, HKV Weilmünster (Eintragungen 1941).
375
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 379–382, Protokoll d. Zeugenvernehmung Fritz R. im Hadamar-Prozess Ffm, 9.
Hv-Tag (13.03.1947). – R. war bei der GenStAnw Ffm zuständig für die Überprüfung der nach § 42 b StGB Eingewiesenen; da
nun der Angehörige zusagte, den Bruder mit nach Gleiwitz/Oberschlesien zu nehmen, wagte R. nach eigenen Angaben die Entlassung. – Zur Ermordung der nach § 42 b Eingewiesenen im Rahmen der Mordaktion der „T4“ siehe Scheer, Paragraph (1986),
S. 245; Friedlander, Weg (1997), S. 282.
376
Teppe, Massenmord (1989), S. 27/30 (dort auf S. 30 auch das Zitat). – Walter, Psychiatrie (1996), S. 732, weist auf einzelne Patienten aus dem PV Westfalen hin, die 1941 teilweise auf Intervention der Angehörigen aus der „Zwischenanstalt“
Weilmünster entlassen wurden.
377
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, Dir. Todt (27.10.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an
andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich
eingesetzt ist). – Der Beleg stammt aus der Zeit nach Unterbrechung der „T4“-Gasmorde, als jedoch deren endgültiges Ende
noch nicht feststand und daher Entlassungen noch nicht genehmigt werden sollten. – Auch in späterer Zeit, z. B. 1943, lassen
sich noch Besuche von Angehörigen bei Bernotat nachweisen, die dort sogar z. T. Entlassungen erreichen konnten: Otto,
Heilerziehungs- und Pflegeanstalt (1993), S. 330.
378
Aussage Elise K. ggü. d. OStAnw in Marburg (16.12.1946), hier zit. n. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 314; siehe auch
Lilienthal, Opfer (2001), S. 284–287; Klüppel, „Euthanasie“ (1985), S. 44 f. – Susanne K. wurde ermordet am 13.06.1941
nach der Verlegung von Weilmünster, Ilse K. am 01.07.1941 nach der Verlegung von Scheuern: HStA Wi, Abt. 461 Nr 32061
Bd. 3 (Liste Weilmünster); Archiv d. Heime Scheuern, HKV (Eintragungen 1941).
496
IV. Zeit der Gasmorde
„T4“ überließ den Kontakt mit den Angehörigen der noch nicht ermordeten Patientinnen und Patienten weitgehend seinen regionalen Kooperationspartnern, wohingegen nach dem Tod die „T4“-Anstalt
in Aktion trat. Die Bestrebungen von „T4“ gegenüber den Angehörigen war ganz offensichtlich von
dem Ziel gekennzeichnet, die Familien zu verwirren und das Mordsystem so weit wie möglich nach
außen hin abzuschotten. Dennoch war man bereit, flexibel und undogmatisch zu reagieren, wenn andernfalls essenzielle Bedingungen des Mordprogramms wie die Geheimhaltung in Gefahr zu geraten
drohten. Die Handlungsträger im Bezirksverband Nassau übernahmen diese Leitlinie und machten sie
sich zu Eigen. Sie unterstützten das Geheimhaltungssystem, indem sie nach Möglichkeit versuchten,
die Angehörigen fern zu halten und deren Wünschen nur dann nachzugeben, wenn diese mit ausreichender Vehemenz artikuliert wurden. Mit dieser Strategie leistete der Bezirksverband seinen Beitrag
dazu, für möglichst wenige der bereits zur Ermordung vorgesehenen psychisch kranken oder geistig
behinderten Menschen eine Rettung zu ermöglichen.
Die Gründe für den „Stopp“ der Gasmordaktion im August 1941, der lediglich eine Unterbrechung
bis zum (binnen weniger Monate erwarteten) Kriegsende darstellen sollte, fußen auf der weiten
Verbreitung der Kenntnisse über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen bis zu diesem Zeitpunkt. Die beabsichtigte Geheimhaltung war weitgehend gescheitert;379 ein Anklagevertreter charakterisierte im Nürnberger Prozess das „Hinschlachten der Alten und Schwachsinnigen“ von 1940 und 1941 als „das Thema von Gassengesprächen in ganz Deutschland“.380 Reichsfinanzminister von Krosigk charakterisierte
Anfang 1941 „die Methoden, die bei der Räumung von Anstalten (Irrenhäuser, konfessionelle Anstalten) angewandt werden“ als nicht stimmungsfördernd.381 Ausländische Medien wie der britische Rundfunk berichteten im Januar 1941 über „das Hinmorden von etwa 100 000 deutschen Insassen von Irrenanstalten“, „das wachsende Verschwinden von Invaliden“ und die Beschneidung „der Rechte unnützer
alter Leute“.382 Mittels Flugblättern, die die Royal Air Force im Juni 1941 über Deutschland abwarf,
erhielten die Kenntnisse über die Kranken- und Behindertenmorde eine zusätzliche Verbreitung.383
Derartige Hinweise lieferten vielfach nur noch die Bestätigung für das, was ohnehin weitgehend bekannt war. Gerade im Umkreis der Heil- und Pflegeanstalten verdichteten sich die Gerüchte über die
Morde häufig bald zur Gewissheit. Das Personal auswärtiger Anstalten, etwa aus den Provinzen Hannover oder Westfalen, wusste entweder schon vor den Verlegungen in die „nassauischen“ „Zwischenanstalten“ von dem Schicksal, das den Verlegten bevorstand,384 oder das Begleitpersonal erfuhr davon
spätestens auf Weg in Richtung Hessen-Nassau – beispielsweise durch Mitreisende oder Passanten, die
genau wussten, was eine Massenverlegung von psychisch kranken Menschen in dieser Zeit zu bedeuten hatte.385
Besonders im Umkreis der Landesheilanstalten des Bezirksverbandes Nassau waren die Krankenmorde der Bevölkerung sehr schnell bekannt. Notorisch sind Berichte über die Kinder in Eltville (nahe
der Landesheilanstalt Eichberg), die um die „Gekrat“-Omnibusse tanzten und riefen, „die Berliner Mord379
Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 266 f., S. 276–278; Walter, Psychiatrie (1996), S. 670, S. 679.
Sir Harley Shawcross (27.07.1946), zit. n. Prozeß (1984), Bd. XIX, S. 573.
BA, R2/24245, Bl. 58, Reichsfinanzminister Schwerin v. Krosigk an Göring (01.01.1941), hier zit. n. Rebentisch, Führerstaat (1989), S. 464 (Anm. 289).
382
BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 92 f., deutsche Geheimdienstberichte über BBC-Rundfunkmeldungen in dt. u. engl. Sprache
vom 18. u. 19.01.1941 (Abschrift: 19.01.1941); vgl. auch Friedlander, Weg (1997), S. 191, S. 525 (Anm. 4); zu späteren BBCSendungen siehe a. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 258, S. 334.
383
Brit. Flugblatt, im Juni 1941 über dt. Großstädten abgeworfen, mit der Überschrift „LUFTPOST. Von der Royal Air Force
abgeworfen. No. 5. 23. Juni 1941. 200 000 ‚Unbrauchbare‘“, abgedr. als Faks. b. Aly, Aktion (1989), S. 81.
384
Z. B. das Personal der westfälischen PHA Eicklborn, das die zu verlegenden Kranken im Juli/Aug. 1941 informierte: HStA
Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 54, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im Eichberg-Prozess, 4. Hv-Tag
(06.12.1946) (das Personal habe „über die Aktionseinzelheiten nach außen hin geplaudert“); ebd., Bd. 2, Bl. 98 f., LHA
Eichberg, gez. Hinsen, an OStAnw b. d. LG Ffm (04.06.1946), hier Bl. 99, dort zit. Schreiben Mennecke an Bernotat
(18.02.1942) („die bekannten Vorgänge in Eickelborn – Ausplauderung durch Eickelborner Pflegepersonal –“); siehe auch
ebd., Bd. 1, Bl. 44 f., Zeugenaussage Ferdinand H. b. d. Kriminalpolizei Wiesbaden (13.08.1945), hier Bl. 45 (der am
23.08.1941 von Eickelborn zum Eichberg verlegte Patient sagte aus, „dass es ihm und auch den meisten denkfähigen Kranken
bekannt war, was mit diesen Transporten geschah“). – Zu den Daten der „T4“-Verlegungen von Eickelborn in die „Zwischenanstalt“ Eichberg (02.07.–23.08.1941) siehe ebd., Bd. 1, Bl. 118, LHA Eichberg, Übersicht „Zugänge aus anderen Anstalten [in den Jahren 1941–1944]. Männliche Patienten“ (o. D. [wahrscheinlich Feb./März 1946]).
385
Sueße/Meyer, Abtransport (1988), S. 119 f. (Verlegungen aus Lüneburg).
380
381
3. Kooperation während der Gasmorde
497
karre ist wieder da“.386 In Herborn, nahe der dortigen Landesheilanstalt, sprach man darüber, „daß die
Anstaltsinsassen, die in den Omnibussen abtransportiert wurden, alle in den ‚Backofen‘ kämen“.387 Insbesondere am Ort der Gasmorde selbst „war es“ – also das Morden – nach Aussagen des pensionierten
Anstaltsdirektors Dr. Henkel „jedem Hadamarer Einwohner bekannt.“388 Der dortige Amtsgerichtsdirektor stellte im Juni 1941 fest, dass „die Tätigkeit der neuen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hadamar
eine er[h]ebliche Beunruhigung in die Bevölkerung getragen“ habe.389 Klee fasst das Klima in der
Kleinstadt so zusammen: „Die überwiegend katholische Bevölkerung des Ortes, die über die Rußablagerungen auf den Fensterbänken schimpft, lebt selbst in Angst [...]“390 Zur Kenntnis über die Mordaktion trug in Hadamar – neben den permanent passierenden Bussen und dem rauchenden Schornstein –
auch bei, dass die Mitarbeiter der „T4“-Anstalt in Einzelfällen mehr preisgaben als erlaubt, wie etwa
der Nachlassverwalter K., der nach Alkoholkonsum in einer Hadamarer Gastwirtschaft über seine
Tätigkeit schimpfte und danach „verschwand“.391 In Diez, rund zehn Kilometer von Hadamar entfernt,
war 1941 festzustellen, „dass jedes Kind es wusste, was in Hadamar geschah, dass Bauern bereits
Beschwerde geführt haben, dass ihre Gemüseanlagen durch den ewigen Qualm beschädigt würden“,
dass aber niemand wagte, etwas dagegen zu unternehmen, da „es doch klar sei, dass der Führer dieses
selbst angeordnet habe.“392
Das Wissen blieb jedoch nicht auf den unmittelbaren Umkreis der Anstalten beschränkt, sondern
breitete sich – auf verschiedenen Wegen – auch in den beiden Großstädten im Regierungsbezirk Wiesbaden aus, teilweise anscheinend sogar schneller als auf dem Lande. Selbst Personal der Anstalt Weilmünster konnte 1941 über den Umweg Frankfurt die Bestätigung des Zieles der Krankenverlegungen
erfahren – „die ganzen Leute wussten es in Frankfurt, dass die Kranken in Hadamar umgebracht würden.“393 Im Wiesbadener Stadtgebiet wurden die Gerüchte sehr schnell, nämlich bereits im Februar und
März 1941, virulent. Zwar hatte Mennecke anscheinend bereits 1940 im Wiesbadener Gesundheitsamt
vereinzelt „davon gesprochen, daß demnächst [...] die unheilbaren Geisteskranken getötet werden
sollten“,394 doch jetzt verbreitete sich diese Kenntnis auch in weiteren Bevölkerungskreisen.395 Man
kann nur vermuten, dass die relativ frühe und genaue Information in Wiesbaden auch dadurch begünstigt wurde, dass der Bezirksverband Nassau (mit einer Vielzahl informierter Beamter und Angestellter)
386
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenfragung Dr. Hans Quambusch durch RA P. im Hadamar-Prozess
Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 377.
387
HStA Wi, Abt. 463 Nr. 1155, Bl. 114–123, Herbert B., Guxhagen-Breitenau, an StAnw d. IV. Strafkammer Ffm (30.12.
1946), hier Bl. 117.
388
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 116, Zeugenaussage Dr. Otto Henkel im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag
(10.12.1946) (Henkel, der selbst nicht mehr in Hadamar wohnte, wusste dies durch Besuche dort); vgl. auch ebd., Bd. 2,
Bl. 178, Aussage Dr. Otto Henkel ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Eichberg (22.08.1946).
389
Ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 251, Amtsgericht Hadamar an Präs. d. LG Limburg, Bericht (11.06.1941), hier begl. Abschr. (o. D. [ca. 1947]), Anlage zum Protokoll im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947).
390
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318, dort zit. eine Äußerung d. OStAnw Wiesbaden.
391
Es handelte sich um den Nachlassverwalter K., der ins KZ eingewiesen worden und verstorben sein soll, wobei „T4“ intern
offenbar als KZ-Einweisungsgrund vorschob, K. habe sich an Nachlassgegenständen bereichert: HStA Wi, Abt. 461 Nr.
32061 Bd. 7, Bl. 122 f., Aussage d. Angeklagten Maximilian L. im Hadamar-Prozess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (Angaben
zum Vorfall in der Gastwirtschaft, zum angebl. Haftgrund, zur Einweisung nach Oranienburg [Sachsenhausen] u. zum Tod im
KZ); ebd., Bd. 3, Bl. 99, Aussage Ingeborg S. geb. W. b. d. Kriminalpolizei Ffm (15.06.1946) (K. sei „angeblich wegen
Unregelmäßigkeiten nach Berlin gebracht [worden] und später im KZ verstorben“). – Zu K.s Tätigkeit für „T4“ in Hadamar
siehe auch die Erwähnung in HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 6, Bl. 870–875, Aussage Irmgard Huber ggü. d. OStAnw b. d.
LG Ffm (07./08./10.07.1947), hier Bl. 871 (07.01.1947); siehe auch das von K. unterzeichnete Schreiben in HStA Wi, Abt.
430/1 Nr. 12564, o. Bl.-Nr., [„T4“,] LHPA Hadamar, gez. i. A. K., an LHA Eichberg (29.01.1941). – Es lässt sich bislang
nicht überprüfen, ob die Angaben zum Tod im KZ lediglich auf Gerüchten beruhten; Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 318,
berichtet im Kontext Hadamar über „zwei Krankenpfleger“, die „wegen Bruchs der Schweigepflicht eine Zeitlang ins KZ“
kamen, „aber später weiter für T4“ arbeiteten. – Zu Kenntnissen der Bevölkerung durch „Kontakte mit T4-Angestellten in der
Stadt, besonders bei deren abendlichen Trinkgelagen“, siehe Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986),
S. 120.
392
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. HvTag (13.03.1947), hier Bl. 373.
393
Ebd., Bd. 2, Bl. 192–196, Aussage Maria [= Marie] Z. ggü. d. Kriminalpolizei Ffm in Weilmünster (05.03.1946),
Durchschr., hier Bl. 193. – Bekannte teilten der Oberschwester d. LHA Weilmünster dies in Ffm mit.
394
Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 119, Zeugenaussage Elisabeth M. [Fürsorgerin in Wiesbaden] im Eichberg-Prozess, 6. HvTag (10.12.1946).
395
Ebd., Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 502 f., Bericht von Ober-Reg.- u. -Med.-Rat Dr. Schrader auf Ersuchen der amerikanischen
Militärregierung in Wiesbaden (o. D. [angefordert am 21.04.1945]), Abschr., hier Bl. 503.
498
IV. Zeit der Gasmorde
in der Großstadt seinen Sitz hatte. Bis spätestens Mitte Februar 1941 tauchte in Wiesbaden das Gerücht
auf, man sei „in den öffentlichen Irrenanstalten auf höhere Weisung seit einiger Zeit dazu übergegangen [...], unheilbare Geisteskranke zu beseitigen.“ Genannt wurde „insbesondere die Landesheil- u.
Pflegeanstalt Hadamar“, wo die Kranken „angeblich durch Vergasung getötet“ würden. Zwar konstruierte der Wiesbadener Landgerichtspräsident in einem internen Bericht (wahrscheinlich eher aus
tatsächlicher denn aus vorgeblicher Unkenntnis) noch die Erklärung, es habe „den Anschein, als ob um
Mitte Januar in der Landesheilanstalt Eichberg unter dort untergebrachten Geisteskranken eine Infektionskrankheit aufgetreten sei, die deren alsbaldige Isolierung durch Verlegung in eine andere Anstalt
erforderlich machte, und daß dort ein Teil dieser Kranken bald danach der Krankheit erlegen ist. Der
Versuch, dies geheimzuhalten, mag die Entstehung des Gerüchts befördert haben.“ Zugleich empfahl
der Gerichtspräsident justizintern eine „dringend gebotene Aufklärung“, die allerdings wohl nur über
die Aufsichtsbehörden „der beteiligten Anstalten“ zu erlangen sei, „da die Anstalten selbst offenbar zur
Geheimhaltung verpflichtet“ seien.396 Der davon informierte Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident
ergänzte gegenüber dem Reichsjustizministerium mit Bezugnahme auf die Wiesbadener Erkenntnisse:
„Ein gleiches Gerücht ist auch in Frankfurt a. M. feststellbar.“397 Schon bald – im März 1941 – wurden
sehr exakte Kenntnisse über die Gasmorde auch in evangelischen Kreisen in Wiesbaden verbreitet:
„Diese armen Menschen kämen in einen großen Saal und würden da zusammen durch das Giftgas ins
Jenseits geschickt werden.“398 „Alle Verwaltungs-, Justiz-, Polizeistellen, die Bevölkerung, jedermann
wusste es, dass in Hadamar Kranke getötet wurden“,399 so fasste es der Wiesbadener Oberstaatsanwalt
zusammen.
Angesichts einer derart weiten Verbreitung der Kenntnisse erscheint die Informiertheit auch der
Verwaltungsspitzen im Gebiet des Regierungsbezirks Wiesbaden geradezu als eine Selbstverständlichkeit. In aller Offenheit kam die Thematik der Krankentötungen beispielsweise während einer Dienstreise in einem Dreiergespräch zwischen dem Bezirksverbandskämmerer Willi Schlüter, dem Wiesbadener
Regierungspräsidenten Fritz von Pfeffer und dem Frankfurter Oberbürgermeister Friedrich Krebs zur
Sprache.400 Von Pfeffer habe (laut Schlüter) die „Sterbehilfe [...] als eine Erlösung für die Kranken“
bezeichnet, „die er zudem für vertretbar und ungefährlich hielt, weil die Auswahl der hierfür in Betracht kommenden Kranken durch ärztliche Kommissionen nach eingehender Untersuchung erfolge.“
Krebs dagegen habe dem Sinne nach entgegnet, „er bedanke sich für diese Untersuchung, wenn diese
Kommission aus SS-Aerzten bestünde, so sei diese für ihn keine Beruhigung, es könne ihm dann passieren, dass er in 3 Tagen auf dem Eichberg sei und 8 Tage später in einer Aschenurne nach Frankfurt
zurückkehre.“401
Spätestens im Sommer 1941 wurde deutlich, dass das dreistufige, durch die „Zwischenanstalten“ und
durch „T4“ durchgeführte Benachrichtigungssystem402 den gewünschten Effekt der Beruhigung ver396
BA, R3001/alt R22/3364, Bl. 45 f., LG-Präs. Wiesbaden, gez. Hefermehl, an OLG-Präs. Ffm (15.02.1941), Abschr.; Abdr.
auch b. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 134 f. (D[ok.]51 a), teilw. zit. b. Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 268 (dort
mit Hinweis auf die [nicht mehr existente] Sign. BA, R22/20019), b. Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 331 f. (Dok.
192), hier S. 332, b. Schmidt-von Blittersdorf/Debus/Kalkowsky, Geschichte (1986), S. 118 f.
397
BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 43 f., OLG-Präs. Ffm an Reichsminister d. Justiz, betr. „Bericht über die allgemeine Lage
im Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt a. M.“ (03.03.1941), hier Bl. 43. – Die vorgenannte Abschr. d. Wiesbadener
Schreibens (15.02.1941) wurde beigefügt.
398
Zentralarchiv d. Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, 0605/26 D, SD-Hauptaußenstelle Wiesbaden an
SD-Abschnitt Darmstadt betr. „Heil- und Pflegeanstalten. Stimmungsmäßige Auswirkung von Meldungen über Todesfälle“
(22.03.1941), hier zit. n. Hofmann, Dokumentation (1974–1993), hier Bd. 8,1 (Bd. 43, 1992), S. 141 f., hier S. 141 (der SD
schrieb diese Darstellung einer „staatsfeindliche[n] Zelle [...] im Diakonissenheim der evang. Pflegeschwestern in Biebrich“ zu).
399
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Protokoll d. Zeugenvernehmung Dr. Hans Quambusch im HadamarProzess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 379.
400
Zu Willi Schlüter (* 1884), RP Fritz von Pfeffer (1892–1961) u. OB Dr. jur. Friedrich Krebs (1894–1961) siehe biogr.
Anhang.
401
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 184, Zeugenaussage Willi Schlüter ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden
(23.08.1946). – Zur Einstellung v. Pfeffers vgl. die dem widersprechende Annahme (vermittelt durch den obersten Medizinalbeamten beim RP, Dr. Erich Schrader), „dass Herr v. Pfeffer nach Berlin gefahren sei[,] um gegen diese Sache zu protestieren“: ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.
1947), hier Bl. 377.
402
Siehe dazu weiter oben in diesem Kap. IV. 3. c).
3. Kooperation während der Gasmorde
499
fehlte und sogar teilweise das Gegenteil bewirkte, wie der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident
Ende Juni 1941 (etwa vier Monate nach seinem ersten Bericht) dem Reichsjustizministerium darlegte:
„Als besonders unerträglich wird empfunden, daß den Angehörigen schon vor der Liquidierung vorläufige Nachrichten zugehen, die angesichts der nachgerade bei der gesamten Bevölkerung bekannten
Vorgänge nicht anders gedeutet werden können, als eine Mitteilung des bevorstehenden Todes [...]“.403
Gerade der Hinweis auf diesen Missstand schreckte die (über das Justizministerium informierte) „T4“
auf und rief eilige Bemühungen hervor, dem Problem auf den Grund zu gehen.404
Eine „Scheu vor den Heil- und Pflegeanstalten“, das Bestreben von Angehörigen, ihre psychisch
kranken Familienmitglieder „entweder möglichst lange in der Klinik [= einer Universitäts-Nervenklinik, P. S.] zu belassen oder sie [...] in der eigenen Familie unterzubringen“, war während der Zeit der
Gasmorde weithin bekannt geworden.405 Das Innenministerium versuchte (wohl stellvertretend für
„T4“) Anfang 1942, dem Ausmaß dieser Abwehr mit Hilfe einer Umfrage bei den Anstaltsträgern auf
den Grund zu gehen. Im Bezirksverband Nassau ließ Fürsorgedezernent Johlen die Landesheilanstalten
daraufhin berichten, „ob im Verhältnis zu früheren Jahren die Aufnahme von Geisteskranken in die
dortige Anstalt gleichgeblieben, abgenommen oder zugenommen hat.“ Dabei gab Johlen möglicherweise indirekt zu verstehen, dass er – anders als es sein zu diesem Zeitpunkt erkrankter Landesratskollege Bernotat tat – die Mordpolitik nicht rückhaltlos unterstützte. So erbat Johlen von den Anstalten
ohne Not eine „Stellungnahme zu der Frage, wie sich“ eine möglicherweise „geringere Aufnahmeziffer
erklärt“, und legte damit eine Stellungnahme zur NS-„Euthanasie“ nahe. Als der sprichwörtliche
„Wink mit dem Zaunpfahl“ könnte sein expliziter Hinweis verstanden werden, dass die Aufnahmekapazitäten in Landesheilanstalten des Bezirksverbands Nassau sich mittlerweile nur noch auf die Einrichtungen Eichberg und Weilmünster beschränkte. Dies nämlich nahm den befragten Direktoren die
Möglichkeit, eine eventuelle Zunahme der Aufnahmezahlen in diesen verbliebenen Anstalten automatisch als Ausdruck einer unbedenklichen Entwicklung zu interpretieren.406 Tatsächlich kam Dr. Fritz
Mennecke als Direktor der Landesheilanstalt Eichberg zu dem Ergebnis, dass die Aufnahmen in seiner
Anstalt sich zwar angesichts des Ausfalls der anderen Aufnahmeanstalten deutlich erhöht hatten, dass
aber die Steigerung eigentlich noch weitaus größer hätte ausfallen müssen. Er umging jedoch geschickt
jede Stellungnahme zu den Gründen für die Veränderungen.407 Damit unterschied er sich deutlich von
vielen anderen Anstaltsdirektoren in Deutschland, die über Misstrauen der Bevölkerung berichteten. So
ergab sich auch für die Anstalt Weilmünster, die Aufnahmen seien „relativ seltner [!] geworden möglicherweise infolge von Gerüchten“, was Bernotat zu der Bemerkung veranlasste, er wolle „den vorgebrachten Gründen gegen die Anstaltsaufnahmen nachgehen und die gehegten Besorgnisse zerstreuen
lassen“, im Übrigen empfahl er, „bei Weigerungen polizeiliche Einweisungsverfügungen [zu] erlassen“.408 Offenbar am deutlichsten wurde der Marburger Landesheilanstaltsdirektor Prof. Dr. Albrecht
Langelüddeke, der ausdrücklich ein gesunkenes Vertrauen in der Bevölkerung darstellte, das eindeutig
403
BA, R3001/alt R22/3364, Bl. 55 f., OLG-Präs. Ffm, Az. 313 II E – III 35/41. 352gRs., an Reichsminister d. Justiz, betr.
„Bericht über die allgemeine Lage im Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt a. M.“ (26.06.1941), hier Bl. 55; auszugsweiser
Abdr. auch b. Dickel, Zwangssterilisationen (1988), S. 136 (D[ok.]51 b); vgl. auch Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990),
S. 334 (Dok. 195); vgl. auch Hadamar (1991), S. 227 (Dok. 136).
404
BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 122, Oberdienstleiter Viktor Brack an Staatssekretär Dr. Freisler, Reichsjustizministerium,
Berlin (04.08.1941) (Brack bat Freisler, ihm Benachrichtigungsschreiben zu besorgen, die der OLG-Präs. aus Ffm als „ungeschickt“ empfunden habe).
405
So formuliert im angeblichen Schreiben eines nicht namentlich bekannten Leiters einer Univ.-Nervenklinik, zit. in HStA
Wi, Abt. 430/1 Nr. 12513, o. Bl.-Nr., RMdI, Erl. IVg 8410/41–5114, an die Reichsstatthalter (Landesregierungen) u. Preuß.
Oberpräsidenten (Provinzialverbände) (06.01.1942), hier als Abschr. von BV Nassau, Az. A (IIa) 4, gez. i. A. LdsR Johlen, an
LHA Eichberg (17.01.1942).
406
Ebd., o. Bl.-Nr., BV Nassau, Az. A (IIa) 4, gez. i. A. LdsR Johlen, an LHA Eichberg (17.01.1942). – Als Aufnahmeanstalten ausgefallen waren weitgehend die LHA Hadamar (zunächst ab 1939 als Lazarett, dann ab 1940 als „T4-Anstalt“) sowie
die ab Juli 1941 die LHA Herborn; zu deren weitgehender Stilllegung mangels Bedarfs infolge der Mordaktion siehe Kap.
V. 1. a). – Zu Ludwig Johlen (1885–1960) siehe auch biogr. Anhang.
407
HStA Wi, Abt. 430/1 Nr. 12513, o. Bl.-Nr., LHA Eichberg, gez. Dr. Mennecke, an BV Nassau (27.01.1942), Durchschr.
408
„T4“-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942), a. a. O., hier Bl. 128148 (Auskünfte Weilmünster),
Bl. 128150 (Stellungnahme Bernotat), als Kopie auch in BA, All. Proz. 7/111 (FC 1807).
500
IV. Zeit der Gasmorde
„mit den ‚Verlegungen‘ der Kranken in andere Anstalten zusammen[hängt]; was dort mit den Kranken
geschieht, ist im Volke praktisch ein offenes Geheimnis.“409
Anscheinend hatte das Wissen über Hadamar auch deshalb vielfach zu Unruhe in der Bevölkerung
geführt, weil man befürchtete, der Personenkreis der Mordopfer solle ausgeweitet werden. So thematisierte der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident im Sommer 1941 auch die befürchtete Ausdehnung
auf alte Menschen und „sieche Kranke“;410 teilweise wurden sogar allgemeinmedizinische Krankenhäuser gemieden, „weil man befürchtet, dass unheilbare Kranke, z. B. Krebskranke, dieselbe Behandlung
erfahren wie unheilbare Geisteskranke.“411 Auch die Angst, hirnverletzte oder psychisch erkrankte Soldaten könnten ebenfalls von den Tötungen erfasst werden, bewegte 1941 die Bevölkerung.412 Wie der
SD 1941 in abgemilderten Worten formulierte, wurde in „der Bevölkerung [...] häufig nicht verstanden“, dass die betreffenden Soldaten „in bereits vorhandenen Heil- und Pflegeanstalten untergebracht“
wurden.413 Die Angst vor der Einbeziehung der Soldaten in die Krankenmorde war wohl noch dadurch
beflügelt worden, dass die Royal Air Force im Juni 1941 per Flugblatt in deutschen Großstädten verbreitet hatte: „Auch die Soldaten? Ausserordentliche Beunruhigung erregt das Gerücht, dass auch ein
Teil der Schwerverwundeten dieses Krieges jenen ‚Unbrauchbaren‘ gleichgestellt wird [...]“.414 Darüber
hinaus sandte der britische Geheimdienst anscheinend Briefe an Hinterbliebene von verstorbenen Soldaten, worin eine angebliche Krankenschwester mitteilte, der Angehörige sei durch eine Spritze getötet
worden, damit der Lazarettplatz für andere Soldaten mit besseren Heilungsaussichten frei werde.415
Zugleich verbreiteten sich die Gerüchte und Kenntnisse über die Krankentötungen im Sommer 1941
schnell bei den Wehrmachtssoldaten an der Ostfront, wobei Schreiben der Familien aus der Heimat
entweder erste Informationen oder bestätigende Gewissheit bringen konnten. Beispielsweise bestätigte
1941 der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Frankfurt-Oberrad, Friedrich K., seinem in Russland eingesetzten Sohn brieflich die „Gerüchte“ über die „Euthanasie“ in Hadamar, die „nicht durch eine Spritze“
geschehe, „sondern auf eine sehr humane Art mit einem besonderen Gas“; des weiteren erwähnte der
Vater den rauchenden Schornstein. Beschwichtigend wies er die bei den Truppen umlaufenden Gerüchte über die Ermordung „geisteskranker“ Soldaten als „Unsinn“ zurück: „Was beiseite geschafft
wird, ist nur das Erbkranke“.416
Ein Briefwechsel zwischen der Zentralverwaltung des Bezirksverbands Nassau und einem Wehrmachtssoldaten, dessen Vater in einer Anstalt des Bezirksverbandes tätig war, beleuchtet die Unsicherheit, wie man mit seinem Wissen angesichts der Auflage zur Geheimhaltung umzugehen habe. Eigentlich ging es lediglich um die Versetzung des Vaters, als der Bezirksverband dem Sohn im August 1941
schrieb: „Ich bedaure [...] ausserordentlich, dass Sie und Ihr Bruder als Soldaten noch mit Sorgen, die
409
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 28 f., Dir. d. LHA Marburg, gez.
L[angelüddeke], Bericht auf die Anfrage d. RMdI, „IVg 8410/41 – 5114“ vom 06.01.1942 (Bericht: 20.01.1942), Abschr., hier
Bl. 28; ebd., hier Bl. 29, schlug der Autor vor, „dass man von Verlegungen der Geisteskranken so lange absieht, bis psychologisch die Möglichkeit gegeben ist, in offener Weise ein entsprechendes Gesetz zu erlassen und durchzuführen“; das Schreiben
vom 20.01.1942 ist auch vorhanden in LWV, Best. 16/63; siehe auch Lilienthal, Opfer (2001), S. 296 f.; zum Gesamtergebnis
der Rundfrage siehe „T4“-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942), a. a. O.
410
BA, R3001/alt R22/3364, Bl. 55 f., OLG-Präs. Ffm, Az. 313 II E – III 35/41. 352gRs., an Reichsminister d. Justiz, betr.
„Bericht über die allgemeine Lage im Oberlandesgerichtsbezirk Frankfurt a. M.“ (26.06.1941), hier Bl. 55; vgl. auch Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 334 (Dok. 195); vgl. auch Hadamar (1991), S. 227 (Dok. 136).
411
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1987, Langelüddeke, Albrecht, Prof. Dr., Bl. 28 f., Dir. d. LHA Marburg, gez.
L[angelüddeke], Bericht auf die Anfrage d. RMdI, „IVg 8410/41 – 5114“ vom 06.01.1942 (Bericht: 20.01.1942), Abschr. (der
Akte um 1945 beigefügt), hier Bl. 29.
412
Zu entsprechenden Gerüchten bereits 1940 im Umkreis der „T4“-Anstalt Grafeneck siehe auch BA, R3001/alt R22/
5021, Bl. 76, Reichsjustizministerium, Vm. (16.11.1940), mit auszugsweiser Zitierung eines Berichts d. OLG-Präsidenten
Stuttgart (06.11.1940); siehe auch Beil-Felsinger, Soldaten (2000), S. 23.
413
SD, Meldungen aus dem Reich (Nr. 222) (22.09.1941), zit. n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 8, S. 2787–2795, hier
S. 2790.
414
Britisches Flugblatt, im Juni 1941 über deutschen Großstädten abgeworfen, mit der Überschrift „LUFTPOST. Von der
Royal Air Force abgeworfen. No. 5. 23. Juni 1941. 200 000 ‚Unbrauchbare‘“, abgedr. als Faks. b. Aly, Aktion (1989), S. 81.
415
Beddies, „Ost-Einsatz“ (2002), S. 35, mit Hinweis auf Delmer, Deutschen (1962), S. 543.
416
HStA Wi, Abt. 483 Nr. 8196, Bl. 32 f., Ortsgruppenleiter Friedrich K., Ffm, an seinen Sohn Richard [bei der Wehrmacht]
(18.10.1941), Abschr.; Abdr. auch bei Müller, Adler (1966), S. 311–313 (Dok. 227); vgl. dazu auch Reibel, NSDAPOrtsgruppen (1999), S. 66 f.
3. Kooperation während der Gasmorde
501
uns hier in der Heimat drücken, belastet werden.“417 Der Sohn witterte offenbar hinter dieser Formulierung den versteckten Vorwurf, die Eltern hätten ihre einberufenen Söhne (mit einem ablehnenden Tenor) über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen informiert. Der Sohn, offensichtlich um Schadensbegrenzung bemüht, versuchte seine Eltern in Schutz zu nehmen: „Aus Ihrem Schreiben entnehme ich, daß
man dort der Ansicht ist, als ob uns von Seiten unserer Eltern beunruhigende Nachrichten zugeleitet
wurden. Es ist für mich eine Ehrensache[,] diesen Irrtum im Interesse meiner Eltern richtig zu stellen.
Man hat uns natürlich einige Tatsachen mitteilen müssen, aber meine Eltern haben uns dann unsere
Gedanken auszureden versucht und vor allem mit keinem Wort geklagt.“418
Die wachsende Unruhe und Unsicherheit in der Bevölkerung, die sich freilich nicht zu Protestaktionen ausweitete, konnte insbesondere deshalb zum so genannten „Euthanasiestopp“ vom August 1941
führen, weil sie mittels bestehender institutioneller Apparate bis zur Regimespitze transportiert wurde.
Als Katalysatoren können dabei in jedem Fall Teile der Justiz und der Kirchen gelten; eine mögliche
Rolle der Wehrmacht ist bislang ungeklärt.
Die Justizbehörden wurden, ohne dass zuvor systematische Informationen ergangen wären, schnell
mit den Krankentötungen konfrontiert419 – sei es in Vormundschaftssachen, wegen der Nachlassverwaltung, durch die Ermordung der forensischen Patienten oder in Einzelfällen auch mittels Strafanzeigen
wegen Mordes.420 Da es verschiedentlich zu Unklarheiten kam, wie Gerichte und Staatsanwaltschaften
reagieren sollten, informierte das Justizministerium im Verbund mit „T4“ schließlich im April 1941 bei
einer Konferenz in Berlin offiziell die Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten, darunter auch den für Hadamar zuständigen Generalstaatsanwalt Dr. Kurt Wackermann (Frankfurt) und
vermutlich ebenfalls den Frankfurter Oberlandesgerichtspräsidenten Ungewitter. Den leitenden Juristen
wurde zur Auflage gemacht, sämtliche Vorgänge in ihrem Bezirk, durch die die Justiz mit der so genannten „Euthanasie“ in Berührung kam, zur Chefsache zu erklären und mögliche Strafanzeigen unkommentiert an das Reichsjustizministerium weiterzuleiten.421
Generalstaatsanwalt und OLG-Präsident unterrichteten unmittelbar nach der Berliner Sitzung die ihnen zugeordneten Oberstaatsanwälte beziehungsweise Landgerichtspräsidenten, welche wiederum
teilweise sogar die Amtsgerichtsjuristen im Bezirk – beispielsweise auch den Leiter des Amtsgerichts
Hadamar – instruierten, dass der „Führer und Reichskanzler [...] angeordnet“ habe, „dass unheilbaren
Kranken und Geisteskranken letzte Hilfe gewährt werden“ könne.422 Eine derart weite Streuung von
offiziellem Wissen über Hitlers „Gnadentoderlass“ wird eher dazu beigetragen haben, die Kenntnisse
der Öffentlichkeit über die Krankenmorde zu vergrößern, als dass dadurch die Geheimhaltung gestärkt
417
LWV, Best. 100, Dez. 11, Pers.-Akten Zug. 1986, Bi., Er., Dr., Teil 1, Bl. 111, Vfg. zum Schreiben BV Nassau, gez. LdsR
Schlüter, an Leutnant G. B., Feldpost-Nr. 19209 B (28.08.1941, ab: 28.08.1941).
418
Ebd., Bl. 112, Leutnant G. B., Feldpost-Nr. 19209 B, an BV Nassau („Herr Landesrat“) (14.09.1941).
419
Zur Haltung aus Kreisen der Justiz zu den NS-„Euthanasie“-Verbrechen siehe z. B. Friedlander, Weg (1997), S. 199–209.
420
Zu Nachlass- u. Vormundschaftssachen vgl. HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 228–230, Zeugenaussage Eduard K.
[Leiter d. AG Hadamar] im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag (06.03.1947); ebd., Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans
Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 376; siehe auch die Vorgänge im Fall des brandenburgischen Amtsrichters Lothar Kreyssig, der die Verlegung seiner Mündel untersagte: z. B. beschrieben bei Gruchmann,
Euthanasie (1972), S. 245–248, S. 252 f.; Klee, „Euthanasie“(1983), S. 209; zu den (nach § 42b RStGB untergebrachten)
forensischen Patienten siehe Friedlander, Weg (1997), S. 201, S. 528 (Anm. 42 f.), mit Hinweis auf BA, R3001/alt R22/5021,
diverse Dokumente (1940–1941).
421
Am 23.04.1941 in Berlin, es nahmen u. a. für „T4“ Viktor Brack u. Werner Heyde sowie für das Reichsjustizministerium
Roland Freisler u. Franz Schlegelberger teil, außerdem der Volksgerichtshofspräsident Georg Thierack: HStA Wi, Abt. 461
Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache Hadamar in
Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 162 f. (Aussage Dr. Hans Quambusch); ebd., Bd. 5,
Bl. 510–514, Aussage GenStAnw a. D. Dr. Wackermann, Ffm, ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.10.1946), Durchschr.
(falsche Datierung der Sitzung); ebd., Bd. 7, Bl. 312–332, Zeugenaussage Kurt Wackermann im Hadamar-Prozess Ffm, 8.
Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 312–315, Bl. 317–320, Bl. 328 f. (falsche Datierung der Sitzung); ebd., Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 333 f., Bl. 337, Bl. 340, Bl. 356;
edb., Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier Bl. 373,
Bl. 377; IfZ, Stichwortprotokoll d. OLG-Präs. Dr. Alexander Bergmann, Köln, über die Referate von Brack u. Heyde auf
der Tagung (23.04.1941), abgedr. b. Aly, Medizin (1985), S. 26 f., u. b. dems., Aktion (1989), S. 56 f.; Kaul, Nazimordaktion (1973), S. 126–129; Friedlander, Weg (1997), S. 208 f.; Kramer, Oberlandesgerichtspräsidenten (1984).
422
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 312–332, Zeugenaussage Kurt Wackermann im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag
(11.03.1947), hier Bl. 314 f., Bl. 332; ebd., Bl. 228–230, Zeugenaussage Eduard K. im Hadamar-Prozess Ffm, 6. Hv-Tag
(06.03.1947), hier Bl. 228 (dort das Zitat).
502
IV. Zeit der Gasmorde
worden wäre.423 Als der Darmstädter Oberlandesgerichtspräsident die ihm zugeordneten Landgerichtspräsidenten informierte, berichteten diese ihm über die Gerüchte in ihren Bezirken im Land Hessen;
zudem „habe aus den Formen der Todesanzeigen in verschiedenen Fällen entnommen werden können,
daß eine solche Aktion tatsächlich durchgeführt werde.“ Während der Besprechung wurde die Auffassung vertreten, die Tötungen sollten doch besser – nach Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes – öffentlich erfolgen. Dieser Position aus dem Kreis der Gerichtspräsidenten zufolge wäre eine
„offene Durchführung der Maßnahmen [...] umsoweniger Schwierigkeiten [begegnet], als die Maßnahmen von dem weitaus überwiegenden Teil des Volkes als völlig berechtigt und notwendig anerkannt würden.“424
Zwar ohne eine konkrete Widerstandsposition einzunehmen, trug der Wiesbadener Oberstaatsanwalt
Dr. Hans Quambusch, der schon vor dem Krieg nicht bedingungslos der Parteilinie gefolgt war,425 doch
durch seine Haltung dazu bei, die Kenntnisse über die Verbrechen in den Anstalten zu verbreiten.
Nachdem er relativ früh die in Wiesbaden umlaufenden Gerüchte gehört hatte und dann durch eine
Nachlassangelegenheit mit den Vorgängen in Hadamar konfrontiert worden war, verschaffte er sich
(nach eigenen Angaben) „nicht in amtlicher Eigenschaft, wohl aber unter Benutzung meiner amtlichen
Machtmittel“ Klarheit. Unter anderem bestätigte der oberste Medizinalbeamte beim Wiesbadener
Regierungspräsidium, Dr. Erich Schrader, ihm die Morde. Im Gegensatz zu den Gerichtspräsidenten
im OLG-Bezirk Darmstadt kam Quambusch zu der Einschätzung, dass in der Bevölkerung „die überwiegende Mehrheit die Tötung der Kranken aufs schärfste verurteilt, und zwar [aus] religiösen, rechtlichen, medizinischen, sozialen Gründen. Nur eine geringe Minderheit hält die Tötung unheilbar
Geisteskranker für tragbar.“ Der Wiesbadener Oberstaatsanwalt informierte daraufhin – noch vor der
Berliner Konferenz – den Frankfurter Generalstaatsanwalt Dr. Kurt Wackermann.426
Wie Quambusch aussagte, wurde er innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, des Landgerichtsbezirks Wiesbaden, in keinem einzigen Fall mit einer Strafanzeige wegen der Krankenmorde befasst.
Allerdings wandte sich der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, über
einen Mittelsmann an den früher in Münster tätigen Quambusch und ließ ihn zur Verlegung der Psychiatriepatienten befragen. Von Galen erkundete, ob eine „Anzeige wegen Vorhabens eines Mordes“
zulässig oder empfehlenswert sein könne; Quambusch konnte darauf nur antworten, dass eine solche
Anzeige zwar erstattet werden könne, jedoch „voraussichtlich nicht beantwortet werden“ würde. Unmittelbar nach 1945 sah Quambusch sich Angriffen durch die Presse ausgesetzt, da er von den Tötungen Kenntnis gehabt habe, ohne dagegen vorzugehen, während er selbst doch „ganz im Gegenteil“
glaubte, sich durch die interne Weitergabe seiner Erkenntnisse „ein bescheidenes Verdienst erworben
zu haben.“427
423
Siehe dazu auch Gruchmann, Euthanasie (1972), S. 275.
BA, R3001/alt R22/3361 [= ehem. Nr. 20019], Bl. 40–44, OLG-Präs. Darmstadt, Dr. Scriba, an Reichsjustizministerium (10.05.1941), hier Bl. 43 (Zitat „habe aus [...]“), Bl. 44 (Zitat „offene Durchführung [...]“).
425
Nachdem sich die Kanzlei des Führers in zunehmendem Maße in Gnadenangelegenheiten eingeschaltet hatte, beurteilte auf
eine Rundfrage des Reichsjustizministeriums über die Erfahrungen damit allein der Wiesbadener Oberstaatsanwalt „die Lage
allgemein negativ und bezeichnete die Einschaltung der Kanzlei des Führers als nachteilig. Das an sich schon komplizierte
Gnadenwesen sei dadurch noch komplizierter und langwieriger geworden“: Noakes, Bouhler (1986), S. 215, u. a. mit Hinweis
auf BA, R3001/alt R22/1230, Bericht OStAnw in Wiesbaden an Reichsjustizminister (05.01.1939).
426
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 5, Bl. 502 f., Bericht von Ober-Reg.- u. -Med.-Rat Dr. Schrader auf Ersuchen der amerikanischen Militärregierung in Wiesbaden (o. D. [angefordert am 21.04.1945]), Abschr., hier Bl. 502; ebd., Bl. 510–514,
Aussage GenStAnw a. D. Dr. Wackermann, Ffm, ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm (03.10.1946), Durchschr., hier Bl. 514 f.;
ebd., Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag (13.03.1947), hier
Bl. 372 f., Bl. 376, Bl. 379; ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d. OStAnw b.
d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946) (Zitate „[...] amtlichen Machtmittel“ u. „[...] überwiegende Mehrheit [...]“).
427
Ebd., Nr. 32061 Bd. 3, Bl. 158–166, Auszug aus den Akten des amerikanischen Verfahrens: „Verhandlung in der Sache
Hadamar in Wiesbaden vom 8. bis 15. Oktober 1945“ (Auszug o. D. [1946]), hier Bl. 163, Aussage Dr. Hans Quambusch
(keine Anzeige); ebd., Bd. 7, Bl. 372–379, Zeugenaussage Dr. Hans Quambusch im Hadamar-Prozess Ffm, 9. Hv-Tag
(13.03.1947), hier Bl. 374 (Zitat „[...] bescheidenes Verdienst [...]“; Quambusch fragte rhetorisch: „Oder aber hätte die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen Adolf Hitler einleiten sollen?“); ebd., Nr. 32442 Bd. 2, Bl. 185, Zeugenaussage
OStAnw Dr. Hans Quambusch ggü. d. OStAnw b. d. LG Ffm in Wiesbaden (23.08.1946) (Zitate zum Kontakt mit v. Galen). –
Zu Quambuschs Amt als OStAnw in Münster siehe Handbuch (1935), S. 714; zu Quambuschs Rolle bei der juristischen
Verfolgung von Korruption in der HEA Kalmenhof u. der LHA Eichberg 1943/44 siehe Kap. V. 2. b).
424
3. Kooperation während der Gasmorde
503
Tatsächlich erstattete Bischof von Galen Ende Juli 1941 in Münster Anzeige und protestierte zugleich beim westfälischen Provinzialverband, nachdem eine an die Provinzialheilanstalt Münster gerichtete Verlegungsaufforderung an ihn weitergegeben worden war. Wie zu erwarten erhielt er weder
von der Polizei noch vom Landeshauptmann eine Reaktion.428 Die Initiative von Galens fügte sich
zunächst ein in eine zwar grundsätzlich ablehnende Haltung der christlichen Kirchen gegenüber den
NS-„Euthanasie“-Verbrechen – eine Haltung, die sich jedoch lange Zeit nicht öffentlich artikulierte.
Bereits Mitte 1940 hatten der Vizepräsident des Centralausschusses der Inneren Mission, Pastor Paul
Gerhard Braune,429 und der württembergische Landesbischof Theophil Wurm430 in Denkschriften und
Briefen an die Regimespitze gegen die Morde protestiert, auch Vertreter der katholischen Kirche wie
Bischof Adolf Bertram als Vorsitzender der Bischofskonferenz äußerten 1940 schriftlich ihre Ablehnung, wenn auch mit äußerst abgemilderten Worten.431 Erst Anfang Juli 1941 machte die katholische
Kirche ihre Haltung durch einen Hirtenbrief öffentlich, wenn sie auch in diesem (in den Gottesdiensten verlesenen) Schreiben insgesamt die antikirchliche NS-Politik kritisierte und weiterhin nur „recht
verschlüsselt auf die Krankentötungen“ einging: „Nie, unter keinen Umständen, darf ein Mensch, außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“432 Doch da die Zuhörer
vielfach verstanden, was gemeint war, kam es nach SD-Einschätzung zu „einer außerordentlichen Beunruhigung der Bevölkerung infolge der Verlesung dieses Hirtenbriefes.“433
Insofern konnte die Predigt, die Bischof von Galen vier Wochen später in Münster hielt und in der er
die Tötungen nun deutlich als „Mord“ an „armen wehrlosen Kranken“ anprangerte, bereits auf fruchtbaren Boden fallen.434 Dieses Bischofswort – für Goebbels „eine unverschämte und provozierende Rede“435 – erlangte nicht zuletzt durch die tausendfache Verbreitung in hektografierter Form eine enorme
Massenwirkung; der Abwurf des Predigttextes auf Flugblättern durch die Royal Air Force, auch über
dem Stadtgebiet von Wiesbaden,436 tat ein Übriges. Dass von Galen infolge der Predigt nicht vor dem
Volksgerichtshof wegen Landesverrates angeklagt und verurteilt wurde, war offenbar nur darauf zurückzuführen, dass es dem NS-Regime trotz zeitweilig anders lautender Überlegungen Hitlers „wohl
im Augenblick psychologisch kaum tragbar“ erschien, „ein Exempel [zu] statuieren“.437 Dies wiederum
wirkte auf Teile der Bevölkerung geradezu als Bestätigung der Worte Galens, denn da sich bis 1942
„keine Behörde gefunden [hatte ...], die gegen den Bischof von Münster entsprechend vorgegangen
wäre“, schlussfolgerte man: „Seine Anklage muss also wohl stimmen.“438
Der Limburger Bischof Antonius Hilfrich nutzte die Stimmungslage im August 1941 und äußerte
sich zehn Tage nach der Galenpredigt ebenfalls in deutlichen Worten gegen die Morde, während ihm
zwei Jahre zuvor durch den SS-Geheimdienst noch ausdrücklich das Bemühen attestiert worden war,
428
Walter, Psychiatrie (1996), S. 733.
BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 3–14, P. G. Braune, Denkschrift an Hitler (09.07.1940), hier n. d. Abdr. in Aly, Aktion
(1989), S. 23–32; siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 210–213. – Zu Paul Gerhard Braune (1887–1954) siehe biogr.
Anhang. – Quelle: Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 381.
430
Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 200, S. 213 f.; Benz/Pehle, Lexikon (1994), S. 178–181 (Artikel „Bekennende Kirche“), hier
S. 180.
431
Ebd. (Klee), S. 221 f., dort auf S. 222 ein Zitat aus dem Schreiben Bertrams („Der Episkopat bittet, [...] soweit erforderlich,
dafür Sorge tragen zu wollen, daß die [...] Besorgnisse und Gerüchte keinerlei Begründung in entsprechenden Tatsachen
finden“); Höllen, Episkopat (1989), S. 86; Friedlander, Weg (1997), S. 196.
432
Ebd. (Klee), S. 334, danach auch das Zitat aus der die am 06.07.1941 verlesenen Erklärung der Bischöfe (26.06.1941);
siehe auch Höllen, Episkopat (1989), S. 89.
433
SD, Meldungen aus dem Reich (Nr. 204) (21.07.1941), zit. n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 7, S. 2545–2559, hier
S. 2549. – Hervorhebung im Orig. durch Unterstreichung, in der Edition durch Kursivdruck.
434
Zu der Predigt am 03.08.1941 siehe u. a. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 334 f.; Kershaw, Widerstand (1986), S. 793; Aly,
Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201; v. Norden, Widersetzlichkeit (1994), S. 76 f.; Walter, Psychiatrie (1996),
S. 679, S. 734–736.
435
Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (14.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996),
S. 229–234, hier S. 232.
436
Bembenek/Ulrich, Widerstand (1990), S. 244; vgl. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 335.
437
Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (14.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996),
S. 229–234, hier S. 232; vgl. auch dto. (19.08.1941), nach ebd. (Fröhlich), S. 255–272, hier S. 258, S. 266.
438
Beschwerde der Angehörigen eines Patienten an das Erbgesundheitsgericht Bochum, Az. 6 XIII 40/42 (08.06.1942), hier
zit. n. d. Faks. b. Teppe, Massenmord (1989), S. 32; zum Dilemma der Justiz, die generell etwa auch durch Heimtückeverfahren nur noch zur weiteren Verbreitung der Kenntnisse über die geheime Mordaktion beigetragen hätte, siehe Gruchmann,
Euthanasie (1972), S. 263.
429
504
IV. Zeit der Gasmorde
„sich den nat.soz. Ideen anzupassen, indem von einem kirchlichen Antisemitismus, einer ‚positiven‘
Rassenlehre usw. gesprochen wurde.“439 Hilfrichs Stellungnahme im August 1941 geschah allerdings
wie frühere Kirchenäußerungen nicht öffentlich, sondern in einem Schreiben an den Reichsjustizminister (mit Durchschriften an den Innen- und den Kirchenminister), das in der Regierung umfangreiche
Beachtung fand. Plastisch schilderte Hilfrich die Kenntnisse, die über die Mordanstalt Hadamar in
deren Umgebung vorlagen, sowie die damit verbundenen Ängste der Bevölkerung. Er forderte den Minister auf, „weitere Verletzungen des fünften Gebotes Gottes verhüten zu wollen.“440 Das Bischöfliche
Ordinariat in Limburg verbot wenig später den Ordensleuten jede Tätigkeit, die eine aktive Mitwirkung
an der Verlegung behinderter Menschen in eine Mordanstalt hätten bedeuten können.441
Wenn auch die Kirchen und noch mehr die Justiz weit davon entfernt waren, als Institutionen insgesamt eine oppositionelle Rolle im Hinblick auf die Krankenmorde zu übernehmen,442 so trugen doch
Einstellungen und Handlungen einiger Protagonisten dazu bei, auf wirksame Weise Sand ins Getriebe
eines zunächst reibungslos laufenden Mordapparates zu streuen. Entsprechende Beiträge aus der Disziplin der Medizin blieben dagegen weitgehend aus. Vernehmbar ablehnende Stimmen aus Medizinerkreisen wie die des Göttinger Ordinarius Prof. Dr. Gottfried Ewald443 zählten zu den Ausnahmen.444 Als
solche gelten können auch der Direktor der Anstalt Lübeck-Strecknitz, Dr. med. Johannes Enge, der
1941 in einem Fachaufsatz öffentlich gegen die Krankentötungen Stellung nahm,445 sowie der 80-jährige
Prof. Dr. Georg Ilberg, langjähriger Direktor der Anstalt Pirna-Sonnenstein, der 1942 kurz vor seinem
Tod im Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie innerhalb einer Rezension zu Enges
Aufsatz ausführte: „Wenn man heutzutage [...] die Erbkranken und mit ihnen oft die Geisteskranken
[...] herabwürdigt, ja für die Vernichtung schwerer Fälle eintritt [...,] so ist dies ein großes Unrecht.“446
Derartige Äußerungen spielten anscheinend so gut wie keine Rolle für den Abbruch der Gasmorde in
Hadamar am 24. August 1941 – übrigens nur in Hadamar (und möglicherweise in Pirna-Sonnenstein),
denn in den übrigen noch bestehenden „T4“-Anstalten gingen die Gasmorde weiter, wenn auch nicht
mehr an Psychiatriepatienten, so doch nun an KZ-Häftlingen (sog. „Sonderbehandlung 14f13“).447 Die
Hintergründe für den „Euthanasiestopp“ waren in der Forschung lange unklar. Die zeitweise vertretene
These, der „Stopp“ sei erfolgt, da ein ursprüngliches „Planziel“ von 70.000 Toten erreicht gewesen
439
1. Vierteljahresbericht 1939 des Sicherheitshauptamtes, zit. n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 2, S. 215–330, hier
S. 229.
440
BA, R3001/alt R22/4209, Bl. 92–94, Bischof von Limburg, Dr. Hilfrich, an Reichsjustizminister (13.08.1941), abgedruckt
b. Stöffler, „Euthanasie“ (1961), S. 322 f., sowie b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 92–94, sowie teilweise (erste Seite) b.
Euthanasie (1991), S. 36 (Dok. III. 27); vgl. auch BA, R3001/alt R22/5021, Bl. 163, Reichsminister f. d. kirchlichen Angelegenheiten, gez. Kerll, an Reichsleiter Bouhler, Chef d. Kanzlei d. Führers, „persönlich!“ bzw. an Reichsminister u. Chef d.
Reichskanzlei [Lammers] (beides 04.09.1941), hier als Abschr. von Reichsminister f. d. kirchlichen Angelegenheiten an
Reichsminister d. Justiz (04.09.1941); siehe auch Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 336 f.; Schatz, Geschichte (1983), S. 284 f.;
Rebentisch, Revolution (1983), S. 242 f.
441
Rundschreiben d. Bischöflichen Ordinariats Limburg, Ad. N. O. E. 4883 (08.10.1941), abgedr. b. Stöffler, „Euthanasie“
(1961), S. 323 f., u. b. Sick, „Euthanasie“ (1983), S. 94 f. – Ausdrücklich untersagt wurde 1.) die Kennzeichnung der Betreffenden, 2.) die medikamentöse Ruhigstellung u. 3.) die Aufforderung, sich zum Transportwagen zu begeben, erlaubt wurden
dagegen „alle Liebesdienste, die nur auf das seelische und leibliche Wohl des Kranken hinzielen.“
442
Aly, Medizin (1985), S. 44, übt scharfe Kritik an den Darstellungen von Gruchmann, Euthanasie (1972), wonach „die
Justiz [...] die ‚Euthanasie‘ ‚eingedämmt‘ [habe], wenn es ihr auch nicht gelungen sei, das ‚Euthanasie‘-Verfahren mit ‚allen
nötigen Sicherungen normativ einzuhegen‘.“ (Hervorhebung bei Aly gesperrt). – Grundlegend für die Kritik an der Haltung der Justiz im Zusammenhang mit den „Euthanasie“verbrechen ist der Aufsatz von Kramer, Oberlandesgerichtspräsidenten (1984).
443
Siehe dazu Kap. IV. 2. a).
444
Vgl. Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 219.
445
Enge, Zukunft (1941); bereits im Vorjahr hatte er das Recht psychisch kranker Patient/inn/en auf medizinische Behandlung
betont: Enge, Heilanstalt (1940), zur Haltung von Enge (1877–1966) siehe auch Ptok/Dilling, Psychiatrists (1999), S. 325 f.;
siehe auch Kap. III. 3. c).
446
Ilberg (1942), S. 382, hier zit. n. Lienert, Ilberg (2000), S. 72 f., dort auch mit Hinweis auf Masuhr/Aly, Blick (1985),
S. 93. – Prof. Dr. Georg Ilberg (1862–1942) war 1910–1928 Dir. d. Anstalt Sonnenstein.
447
Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201. – Zur Ermordung der KZ-Häftlingen im Rahmen der sog. „Sonderbehandlung 14f13“ siehe Klee, „Euthanasie“ (1983), S. 345–352; Grode, „Sonderbehandlung“ (1987); Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 217–219; in Bezug auf Bernburg siehe Schulze, „Euthanasie“ (1999), S. 70 f., S. 127–133; in Bezug auf
Pirna siehe Schilter, Ermessen (1999), S. 158–166 (dort Hinweis auf nur unsichere Belege für eine evtl. vereinzelte Fortführung der Morde in Pirna nach dem Aug. 1941). – Zur Frage weiterer Gasmorde in Hadamar im Winter 1941/42 siehe Kap.
V. 1. a).
3. Kooperation während der Gasmorde
505
sei,448 kann als widerlegt gelten. Inzwischen ist eindeutig erwiesen, dass es sich um einen ungeplanten,
vorzeitigen Abbruch der „T4-Aktion“ handelte.449 Der „Stopp“befehl kam für die Mitwirkenden vor Ort
völlig überraschend. In der Anstalt Hadamar hieß es, der „Stopp“ sei durch „ein Blitzgespräch aus Berlin“ übermittelt worden, in einem Betriebsappell sei mitgeteilt worden, dies geschehe „[g]emäß einem
Erlaß des Führers“.450 Die „Zwischenanstalten“ der Mordanstalt Hadamar wurden ebenfalls telefonisch
informiert, „die Aktion wird abgebrochen, abgeschlossen“, dabei erfolgte die Nachricht so überraschend, dass beispielsweise in Weilmünster eine Gruppe von potenziellen Opfern (ein so genannter
„Transport“) bereits zur Verlegung nach Hadamar zusammengestellt worden war, dann jedoch nicht
mehr abgeholt wurde.451
Die Unterbrechung der Morde erklärt Aly mit „außen-, aber auch innenpolitische Gründen“.452 Letztlich scheint allein die Beunruhigung der Bevölkerung und die damit verbundene Gefahr für eine erfolgreiche Kriegsführung die entscheidende Messgröße gewesen zu sein: die Führung des „Dritten Reiches“ wollte oder konnte „in einer solchen militärisch und politisch heiklen Situation unerwünschte
Auswirkungen auf die Massenloyalität“ nicht in Kauf nehmen.453 Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass
auch die Wehrmacht – mehr um die Moral der Truppe besorgt als um die psychisch kranken Menschen
in der Heimat – die Entscheidung zum „Stopp“ mit beeinflusst hat.454 Im Bereich des Bezirksverbandes
Nassau verbreitete sich die Information, der „Stopp“ sei erfolgt, „weil die Wehrmacht sich dagegen
ausgesprochen hätte.“455 Nach einer Kolportage des „T4-Gutachters“ Mennecke besagte ein zeitgenössisches Gerücht, Hitler persönlich habe von seinem Sonderzug aus im nordöstlichen Bayern die ablehnende Reaktion der Bevölkerung auf eine Deportation psychisch kranker Menschen in Zügen miterlebt
und daraufhin die Entscheidung zum „Stopp“ getroffen.456 Man kann annehmen, dass der 1941 noch
vielfach ungebrochene „Hitler-Mythos“457 die Grundlage für ein derartiges Gerücht gebildet hat.
Bei ihrer Interpretation der Haltung der Bevölkerung setzte die NS-Führung diese – wohl nicht völlig
zutreffend – mit den kirchlichen Protesten weitgehend in eins.458 Bemerkenswert ist insofern auch, dass
beinahe zeitgleich mit dem einstweiligen Stopp der Krankenmorde auch die (bis dahin nach wie vor in
Gang befindliche) Beschlagnahme und Verstaatlichung von Kirchen- und Klösterbesitz459 nach „sehr
448
Aly, Aktion (1989), S. 11; vgl. Schmuhl, Rassenhygiene (1987), S. 211; vgl. Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf,
Überlegungen (1986), S. 53 f. (dort bereits Gegenargumente).
449
Faulstich, Irrenfürsorge (1993), S. 287; ders., Hungersterben (1998), S. 272–275 (dort auch Ausführungen zur Genese der
„Planerfüllungs-Hypothese“); Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 408 f.; Harms, Hungertod (1996), S. 21; Walter,
Psychiatrie (1996), S. 678 f.; siehe auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 332–364, Zeugenaussage Prof. Dr. Werner
Heyde im Hadamar-Prozess Ffm, 8. Hv-Tag (11.03.1947), hier Bl. 350 (dort schätzt Heyde die Zahl der Menschen, die ohne
den „Stopp“ noch ermordet worden wären, auf „vielleicht 25 000–30 000“).
450
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 59, Aussage d. Angeklagten Lydia Thomas im Hadamar-Prozess Ffm, 2. Hv-Tag
(25.02.1947) (Zitat „ein Blitzgespräch [...]“); ebd., Bl. 129, Protokoll d. Vernehmung d. Angeklagten Judith T. im HadamarProzess Ffm, 4. Hv-Tag (03.03.1947) (Zitat „Gemäß einem [...]“).
451
Ebd., Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 127, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946) (Zitat
„die Aktion [...]“); ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 189, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Hadamar-Prozess Ffm, 5. HvTag (04.03.1947).
452
Aly, Aktion (1989), S. 198–205 („Zeittafel“), hier S. 201.
453
Debus/Kalkowsky/Schmidt-von Blittersdorf, Überlegungen (1986), S. 54 (dort das Zitat); Friedlander, Weg (1997), S. 249.
454
Zur Kenntnis unter den Soldaten siehe oben in diesem Kap. IV. 3. c). – Goebbels notierte, wenn auch einen Monat nach
dem „Stopp“, nun „wendet sich auch schon die Wehrmacht an mich und bittet mich um Maßnahmen gegen Bischof Graf
Galen in Münster“: Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (27.09.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996),
hier Bd. 1 (1996), S. 501–506, hier S. 504.
455
So in der LHA Weilmünster: HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442 Bd. 4, Bl. 127, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider im Eichberg-Prozess, 6. Hv-Tag (10.12.1946); entsprechend auch ebd., Nr. 32061 Bd. 7, Bl. 189, Zeugenaussage Dr. Ernst Schneider
im Hadamar-Prozess Ffm, 5. Hv-Tag (04.03.1947).
456
Ebd., Bd. 3, Bl. 138–144, Dr. Friedrich Mennecke, z. Zt. Untersuchungshaftanstalt Ffm, an Vorsitzenden d. 4. Strafkammer
b. d. LG Ffm (10.11.1946), hier Bl. 142; ebd., Bd. 4, Bl. 25, Aussage Dr. Friedrich Mennecke als Angeklagter im EichbergProzess, 2. Hv-Tag (03.12.1946). – Mennecke nannte eine Fahrt Hitlers von München nach Berlin und lokalisierte den Vorfall
in der „Gegend der bayrischen Ostmark“ bzw. „auf der Höhe von Hof“.
457
Siehe u. a. Kershaw, Popularität (1988), S. 42.
458
Im direkten Zusammenhang mit dem „Euthanasiestopp“ bemerkte Goebbels: „Die Kirchenfrage ist nach dem Kriege mit
einem Federstrich zu lösen. Während des Krieges läßt man besser die Finger davon; da kann sie nur als heißes Eisen wirken“:
Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (23.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996),
S. 293–299, hier S. 299.
459
Zu den entsprechenden Initiativen unter Beteiligung von Mitarbeitern des BV Nassau siehe Kap. III. 1.
506
IV. Zeit der Gasmorde
strikten Anweisungen“ Hitlers ausgesetzt wurden, um „jetzt alle Maßnahmen [zu] unterlassen, die unseren politisch-konfessionellen Gegnern es ermöglichen, Unruhe in die Bevölkerung zu tragen“.460
Bis in heutige Tage hat sich vielfach der „Mythos aus der Nachkriegszeit“461 erhalten, nach den
kirchlichen Protesten sei durch den „Euthanasiestopp“ im August 1941 das Morden tatsächlich beendet
worden.462 Dabei hatte bereits das Landgericht Frankfurt 1947 in seinem Urteil im „Hadamar-Prozess“
in sehr eindeutiger Form zur Situation nach dem so genannten „Euthanasiestopp“ festgestellt: „Die
Vernichtung von Menschen wurde [...] in noch hemmungsloserer Art und Weise durch Einzeltötungen
mit Hilfe überdosierter Giftmengen fortgesetzt. Eingestellt wurde lediglich die Massentötung durch
Vergasung, die sich trotz aller Anstrengungen in der Bevölkerung nicht hatte verheimlichen lassen, die
Unruhe und Empörung in ihr erweckte und vor allem hervorragende Vertreter der Kirchen beider Konfessionen veranlaßt hatte, bei den höchsten Stellen des Staates und zum Teil auch in aller Öffentlichkeit gegen diese Tötungen, die als Mord bezeichnet wurden, Einspruch zu erheben. Das ist nach Überzeugung des Gerichts [...] der alleinige Grund für den Wechsel in der Methode.“463 Die damalige
Einschätzung des Gerichts bedarf auch nach heutigem Forschungsstand keiner Korrektur.
Von vornherein schien den „T4“-Organisatoren klar, dass es sich nur um eine Unterbrechung –
eventuell bis nach Kriegsende – handeln sollte.464 Entsprechendes lässt sich auch aus Goebbels’ Bemerkungen entnehmen, der Mitte August 1941 noch mit Hitler klären wollte, ob dieser „im Augenblick
in der Öffentlichkeit eine Debatte über das Euthanasie-Problem“ wünsche, dann jedoch gut eine Woche später – angesichts des nunmehr beschlossenen „Stopps“ der Gasmorde – die Position vertrat: „Das
Volk ist jetzt mit so schweren Sorgen beladen, daß man auch schon aus Gerechtigkeitsgründen bestrebt
sein muß diese Sorgen nicht noch künstlich zu vergrößern und zu vermehren. Ob es überhaupt richtig
gewesen ist, die Frage der Euthanasie in so großem Umfang, wie das in den letzten Monaten geschehen
ist, aufzurollen, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls können wir alle froh sein, wenn die daran angeknüpfte Aktion zu Ende ist. Notwendig war sie. [...] Trotzdem aber vertrete ich den Standpunkt, daß
man nach Möglichkeit den offenen Konflikt vermeiden soll. Wir haben jetzt auch nicht genügend Zeit
und Nerven, um ihn bis zur letzten Konsequenz durchzusetzen. Das wollen wir uns lieber für bessere
Zeiten aufsparen.“465
Die schon bald geplante Weiterführung hatte auch zur Folge, dass „T4“-Vertreter Dr. Herbert Linden
aus dem Reichsinnenministerium 1941 weiterhin auf der Ausfüllung von Meldebogen insistierte Ende
und prospektiv von dem Personenkreis sprach, „der in die planwirtschaftlichen Maßnahmen einbezogen werden soll“.466 In der Berliner „T4“-Zentrale, wo man die eingehenden Bogen unverändert bear-
460
BA, NS22/714, Schreiben Martin Bormann an Robert Ley (03.09.1941), hier zit. n. Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991),
S. 226 f.; ebd., auch Hinweis auf BA, R1501/alt R18/3080, Anordnung d. Parteikanzlei, gez. Bormann, an die Gauleiter
(30.07.1941), Abschrift („Der Führer hat angeordnet: Ab sofort haben Beschlagnahme von kirchlichem und klösterlichem
Vermögen bis auf weiteres zu unterbleiben“); zum konkreten Anlass der Unruhe (NSV-Übernahme konfess. Kindergärten)
siehe auch Kap. V. 4. a). – Vgl. auch HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32442, Karl Mennecke [Bruder von Fritz Mennecke], Landau, an
Eva u. Fritz Mennecke, z. Zt. Schacksdorf (19.12.1941), hier n. d. Abdr. b. Mennecke (1988), S. 281 f. (Dok. 94), hier S. 281
(„[...], daß einstweilen Eure Tätigkeit abgestoppt werden soll zur allgemeinen Beruhigung, ferner auch das Einziehen geistlicher Anwesen“). – Zum angebl. Einsatz von OP Philipp Prinz von Hessen für die Aussetzung der antikirchlichen Aktionen
1941 vgl. HStA Wi, Abt. 520 DZ Nr. 519563, Hauptakten Bd. I, Bl. 85, Aussage Dr. Hans St. in Kassel ggü. d. Spruchkammer Darmstadt-Lager im Verfahren gegen Philipp Prinz von Hessen (28.03.1947), Abschr. – Zur vorübergehenden Beschwichtigung ggü. den Kirchen siehe auch SD, Meldungen aus dem Reich (Nr. 237) (13.11.1941), hier n. Boberach, Meldungen (1984), Bd. 8, S. 2970–2994, hier S. 2972.
461
Friedlander, Weg (1997), S. 249.
462
Dies gilt zwar nicht mehr für die direkt mit dem Thema befasste Fachliteratur, aber doch für weite Kreisen einer interessierten Fachöffentlichkeit, wie sich vielfach bei Diskussionen zum Thema feststellen lässt.
463
HStA Wi, Abt. 461 Nr. 32061 Bd. 8, Bl. 1290–1346, Urteil im Hadamar-Prozess, LG Ffm, 4a Js 3/46, mit Urteilsbegründung (o. D. [Verkündung: 26.03.1947]), hier Bl. 1296.
464
Siehe z. B. NARA, World War II War Crimes Records (Nuremberg), Record Group 238, Doc. NO-426, 8-seitiges Protokoll d. eidesstattl. Vernehmung Viktor Brack (12.10.1946, Unterschrift: 14.10.1946), hier n. d. begl. Kopie in HStA Wi, Abt.
631a Nr. 1800 Bd. 32, o. Bl.-Nr. (S. 6).
465
Joseph Goebbels, Tagebucheintrag (23.08.1941), hier zit. n. Fröhlich, Tagebücher, Teil II (1993–1996), hier Bd. 1 (1996),
S. 293–299, hier S. 299.
466
BA, R96 I/2, Bl. 127387 f., RMdI, gez. i. A. Dr. Linden, Erl. IV g 8336/41–5106, an PV Rheinprovinz (03.11.1941); vgl.
auch Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 415. – Eine Bestandsaufnahme über den Stand der Meldebogenerfassung hatte
„T4“ unmittelbar nach dem sog. „Euthanasiestopp“ vorgenommen: BA, R96 I/6, Bl. 125291–125334, Liste der Heil- und
3. Kooperation während der Gasmorde
507
beitete,467 „lief der Apparat auf vollen Touren“, wie deren Wirtschaftschef Friedrich Lorent bemerkte:
„Man war überzeugt, daß die Euthanasie sich irgendwie fortsetzen würde, und mit der Ausarbeitung
von neuen Plänen und Vorschlägen über die prakt. Durchführung der Euthanasie befasst.“468 Ohnehin
war die so genannte „Kindereuthanasie“, die Ermordung behinderter Kinder und Jugendlicher „niemals
von den Stoppbefehlen Hitler[s] betroffen worden.“469 Bernotat sah sich zwei Monate nach dem „Euthanasiestopp“ veranlasst, gegenüber den ihm unterstellten Anstalten organisatorische Vorkehrungen
zu treffen, „damit sich die weitere Abwicklung der Aktion reibungslos vollzieht.“470 Und der an den
Gasmorden beteiligte Arzt Hans Bodo Gorgaß blieb in den folgenden Monaten zunächst in Hadamar,
da es „hieß, es könne jeden Tag wieder weiter gehen.“471 Dass die „Euthanasie“-Verbrechen in Hadamar schließlich ohne weitere Verwendung der Gaskammer fortgesetzt werden sollten, kristallisierte
sich unter den Beteiligten erst im folgenden Jahr 1942 heraus.472
***
Während der Gasmorde 1941 in Hadamar beteiligte der Bezirksverband Nassau sich mit verschiedenen
Maßnahmen an der Desinformation von Angehörigen der Psychiatriepatientinnen und -patienten. Eine
allgemeine Besuchssperre diente der Fernhaltung der Familienmitglieder, um die ungestörte Verlegung
der Opfer in die Mordanstalt zu gewährleisten. Durch Tausende von Verlegungsmitteilungen, die der
Bezirksverband in seiner Wiesbadener Hausdruckerei fertigte, rationalisierte er die Irreführung der
Angehörigen über den Aufenthaltsort der kranken und behinderten Menschen. Indem der Bezirksverband sich in den Verlegungsmitteilungen (gemäß einer in ganz Deutschland geübten Praxis) auf eine
Weisung des Reichsverteidigungskommissars berief, täuschte er den Familien vor, die Verlegung sei
eine kriegsbedingte Maßnahme; zugleich diente dem Anstaltsdezernenten Bernotat die Bezugnahme
auf den Reichsverteidigungskommissar zur Steigerung seiner Autorität. Die von den Angehörigen in
Einzelfällen dennoch unternommenen Rettungsversuche schmetterte der Bezirksverband nach Möglichkeit ab und gab ihnen nur nach, wenn die Geheimhaltung akut gefährdet schien. Dass trotzdem
gerade in der Nähe der Mordanstalt Hadamar die Geheimhaltung binnen weniger Wochen als gescheitert gelten musste und später zur Unterbrechung der Mordaktion führte, war nicht auf ein mangelndes
Engagement seitens des Bezirksverbands Nassau zurückzuführen, sondern auf grundsätzliche Fehleinschätzungen durch die „T4“-Mordorganisatoren insgesamt.
Der Versuch einer Täuschung von Öffentlichkeit und Angehörigen war nur einer unter mehreren
Beiträgen, die der Bezirksverband Nassau im Jahr 1941 zur Mordaktion von „T4“ leistete. Während
diese zentrale Berliner Mordorganisation, eine Institution der Kanzlei des Führers, zwischen Januar
und August 1941 in der Anstalt Hadamar die Gasmorde an mehr als 10.000 psychisch kranken und
geistig behinderten Menschen beging, kümmerte sich die Wiesbadener Zentralverwaltung des Bezirksverbandes auch auf andere Weise um die Absicherung des Mordens und damit um eine aktive UnterPflegeanstalten im Deutschen Reich mit Angaben zu den ausgefüllten Meldebogen (o. D. [Stand: 31.08.1941]), Kopie; Datierung nach Kaminsky, Zwangssterilisation (1995), S. 368 f.
467
Zur weiteren Registrierung der Meldebogen siehe HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1371, M, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Kurt M. ggü.
d. LG Ffm in Bremen (03.09.1965), Kopie; zur Meldebogenerfassung insg. siehe Kap. IV. 2. a).
468
Ebd. (HStA), Nr. 1370, L, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Robert [Rufname nach 1945 geändert] Lorent ggü. d. LG Ffm in
Eßlingen (08.01.1962), Kopie. – Die Darstellung bezieht sich auf die Zeit ab Lorents Antritt bei „T4“ im März 1942; zu
den „T4“-Abteilungen und deren Leitern siehe Kap. IV. 2. a).
469
Ebd. (HStA), Nr. 1369, H, o. Bl.-Nr., Zeugenaussage Hans Hefelmann ggü. d. LG Ffm in München (18.05.1966), Durchschr.
470
AHS, LdsR Bernotat, Wiesbaden, an HEPA Scheuern, Dir. Todt (27.10.1941) (das Schreiben ging offensichtlich auch an
andere Anstalten, denn es ist auf der Grundlage eines Durchschlages gefertigt, in den die Anschrift der Anstalt nachträglich
eingesetzt ist); die Staatsanwaltschaft Koblenz interpretierte dieses Schreiben dahin gehend, Bernotat habe geschrieben, „daß
die Aktion nicht eingestellt sei“: ebd., OStAnw Koblenz an Strafkammer d. LG Koblenz, 9-seitige Anklageschrift gegen Karl
Todt und Dr. Adolf T. (06.08.1948), Kopie, hier S. 7.
471
HStA Wi, Abt. 631a Nr. 1369, G, o. Bl.-Nr., Aussage Hans Bodo Gorgaß als Angeschuldigter ggü. d. LG Ffm
in der Haftanstalt Ffm (07.02.1947), S. 5, Kopie. – Zum weiteren Werdegang von Hans Bodo Gorgaß (1909–1990er Jahren) siehe biogr. Anhang. – Zur Verwendung des Hadamarer „T4“-Personals nach dem sog. „Euthanasiestopp“ siehe Kap.
V. 1. a).
472
Siehe dazu Kap. V. 3 a).
508
IV. Zeit der Gasmorde
stützung von „T4“, beispielsweise durch die Durchsetzung strenger Geheimhaltungsauflagen gegenüber
den Bezirksverbandsmitarbeitern. Zugleich betrieb der Verband die Abwicklung der verwaltungsmäßigen Folgen, die sich aus den Morden für den Bezirksverband selbst ergaben. Dazu zählte auch die
Realisierung der dadurch erwirtschafteten Überschüsse: Da (zu Lasten der Kreise und Städte) weder
der Umlagesatz noch der Pflegesatz gesenkt wurden, standen weiterhin hohe Einnahmen des Verbandes den sinkenden Kosten durch die Ermordung Tausender Anstaltspatienten gegenüber.473 Bereits seit
Oktober 1940, im Vorfeld der Morde, hatte der Bezirksverband die Tötungsaktion in Hadamar gefördert, indem er seine dortige Anstalt kostenlos an „T4“ verpachtete.474 Darüber hinaus stellte der Verband einen Teil seines Hadamarer Personals (und später auch einige Mitarbeiter anderer Landesheilanstalten) auf dem Wege der Abordnung für eine Mitwirkung an den Morden bereit.475
Die Befunde für den Bezirksverband Nassau und seine Rolle bei der Umsetzung der Gasmordphase
der „Euthanasie“verbrechen durch „T4“ lenken den Blick auf die Frage, inwiefern einer derartigen
Behörde auf der mittleren Ebene insgesamt grundsätzlich eine entscheidende Funktion für den möglichst reibungslosen Ablauf der Krankenmorde bis 1941 zukommen konnte. Wie der Politologe Seibel
in seinen Überlegungen zum interpretatorischen Nutzen einer „historisch-vergleichenden Institutionenanalyse zur Erforschung des Holocaust“ darstellt, kommt in „Mehrebenensystemen [...] Mittlerinstanzen zwischen den Systemebenen eine besondere Bedeutung zu. Diese Mittlerinstanzen sind sozusagen
janusköpfig: Sie trennen Handlungsarenen, die zwar miteinander – über eine ‚Schnittstelle‘ – verbunden sind, die aber dennoch eigene Akteurskonstellationen, Interessenstrukturen, Konfliktlinien, Interaktionsmodi etc. aufweisen können. [...] Auf den Verlauf von Entscheidungsprozessen in Mehrebenensystemen nehmen diese Mittlerinstanzen [...] unter Umständen in entscheidender Weise Einfluß.“ Für
Seibel stellt sich daran anschließend die Frage: „Werden sie durch die Doppel- oder Mehrfachrolle, die
sie zu spielen haben, handlungsunfähig oder gewinnen sie, im Gegenteil, durch ihre Mittlerrolle zwischen zwei ‚Arenen‘ eine besondere Handlungsfreiheit oder gar eine ‚besondere Machtposition‘?“476
Im Kontext der Gasmordaktion der Jahre 1940/41 lässt sich dieses Modell beinahe unverändert auf
eine Reihe von Mittelbehörden im Anstaltswesen anwenden, die sich zum Scharnier zwischen der
zentralen Mordorganisation „T4“ und der Region mit den dortigen Anstalten, den dortigen Kostenträgern und der dortigen Bevölkerung machten und machen ließen. Diese Behörden wurden dadurch
keineswegs handlungsunfähig, sondern gewannen im Gegenteil durch ihre Mittlerfunktion an Gewicht
und Handlungsfreiheit.477 Ähnlich wie die von Seibel als Beispiel angeführte Vichy-Regierung478 verfügte auch der Bezirksverband Nassau über einen eingespielten Verwaltungsapparat und konnte mit
dessen Hilfe sowohl gegenüber der zentralen Instanz (in diesem Fall der zentralen Organisation „T4“)
als auch gegenüber den nachgeordneten oder abhängigen Akteuren einen erheblichen Handlungsspielraum geltend machen, nicht zuletzt, da „T4“ als ein relativ kleines, junges und unstrukturiertes Gebilde
gerade im Kontakt mit der regionalen Basis Defizite aufweisen musste.479
Wie der Begriff des Handlungsspielraumes impliziert, lag dieser Rollenübernahme durch den Bezirksverband keineswegs ein Automatismus zugrunde. Es ist kein Zufall, dass einige Provinzialverbände und deren Fürsorgeverwaltungen der Forschung mitunter sogar als „Sand im Getriebe des organisierten Mordens“480 erscheinen, während andere als vehemente Befürworter des Mordprogramms
auftraten. Der Bezirksverband Nassau sorgte 1941 – in Verbindung mit den Folgen seiner bisherigen
Überbelegungspolitik – dafür, dass besonders viele Patientinnen und Patienten aus „nassauischen“
Anstalten nach Hadamar verlegt und in der Gaskammer ermordet wurden. Die abweichenden Haltun473
Siehe Kap. IV. 3. b).
Siehe Kap. IV. 2. b).
Siehe Kap. IV. 2. c).
476
Seibel, Staatsstruktur (1998), S. 556. – Hervorhebung (kursiv) im Orig.
477
Zur weiteren Stellung der bis 1941 herausragend beteiligten Institutionen, insbesondere des Bezirksverbandes Nassau, in
den Jahren ab 1942 siehe insb. Kap. V. 2. Kap. V. 3.
478
Seibel, Staatsstruktur (1998), S. 566 (Anm. 93).
479
Insofern ließe „T4“ sich mit der ebd. genannten „– personell dünn besetzten – deutschen ‚Aufsichtsverwaltung‘“ in Frankreich vergleichen.
480
Hansen, Wohlfahrtspolitik (1991), S. 98 f. (Anm. 63), hier S. 98, mit Hinweis auf Sueße/Meyer, Abtransport (1988), hier
auf die Fakultätsfassung (Med. Diss. Hannover 1984).
474
475
3. Kooperation während der Gasmorde
509
gen der verschiedenen regionalen Stellen konnten beispielsweise auch solch unterschiedliche Stellungnahmen zur Frage der Wiederaufnahme der „Euthanasie“morde haben, wie sie aus dem Provinzialverband der Rheinprovinz und aus der württembergischen Landesverwaltung verlauteten: Während die
Behörde in Düsseldorf Anfang 1942 vorschlug, „von der Wiedereinführung getarnter Verlegungsmassnahmen abzusehen“, hielt man es in Stuttgart „für sehr erwünscht, dass die planwirtschaftlichen Massnahmen vollends rasch zum Abschluss gebracht werden.“481
Eine Vielzahl von Einzelhandlungen und Unterstützungsleistungen des Bezirksverbandes Nassau bei
der Vorbereitung und während der Umsetzung der Gasmorde 1940/41 belegen die Wichtigkeit regionaler Kooperationspartner für „T4“. Ohne ein bereitwilliges Engagement, wie es die Führungsspitze des
Bezirksverbands an den Tag legte, wäre die Realisierung des Mordplanes zwar wohl auch möglich
gewesen, wäre aber auf weitaus mehr praktische Schwierigkeiten gestoßen. Dennoch schmälert die
Mitwirkung der regionalen Behörden zumindest in dieser Phase der Morde die Bedeutung der zentralen
Organisation „T4“, die sich auf Hitler als Legitimator stützen konnte, nicht. Während der Gasmorde
blieb „T4“ stets die lenkende Instanz, die sich der regionalen Unterstützung je nach Bedarf bediente;
ein prinzipieller Widerspruch zwischen Zentrale und Region tat sich nicht auf.482
Aus der Perspektive von „T4“ erschien es nicht erforderlich, dass sämtliche regionale Mittelbehörden (als Anstaltsträger) in derselben Weise aktiv wurden wie der Bezirksverband Nassau. „T4“ war in
der Lage, flexibel zu reagieren, wenn eine Behörde die Unterstützung nicht im gewünschten Maße
lieferte: Als etwa durch die zuständige Provinzialverwaltung im Ruhrgebiet keine geeignete Mordanstalt bereitgestellt werden konnte, wich „T4“ in den Regierungsbezirk Wiesbaden aus, wo Anstaltsdezernent Bernotat die Verpachtung der Anstalt Hadamar problemlos ermöglichte.483 In welchem Maße
ein regionaler Anstaltsträger Beiträge für die „T4-Aktion“ leistete, konnte aufgabenbezogen sehr stark
differieren: Alle waren mehr oder weniger umfassend an der Meldebogenerfassung beteiligt;484 dasselbe gilt auch für die spätere Irreführung der Angehörigen, wobei solchen Anstaltsträgern, die wie der
Bezirksverband Nassau „Zwischenanstalten“ unterhielten, in diesem Punkt eine weitaus größere Rolle
für die Vertuschung zukam als den anderen.485 Die Bereitstellung von „Zwischenanstalten“ überhaupt
war eine Leistung, zu der nicht alle Anstaltsträger gewonnen wurden (und auch nicht gewonnen werden mussten). So fanden sich beispielsweise weder in den Provinzialverbänden Westfalen und Hannover noch im Bezirksverband Hessen (Bezirk Kassel) derartige Institutionen, während der Bezirksverband Nassau (ebenso wie beispielsweise das Land Sachsen) seine Anstalten in umfassender Weise für
diesen Zweck mitarbeiten ließ.486 Die Bereitstellung einer eigenen Heilanstalt als Gebäude für ein
„T4“-Gasmordzentrum durch den regionalen Anstaltsträger lässt sich für den Bezirksverband Nassau
und für die Länder Sachsen und Anhalt feststellen. Dies indizierte bereits ein sehr weit gehendes Maß
an Kooperation zwischen Regionalbehörde und „T4“.487 Noch enger wurde das Zusammenwirken,
wenn der Anstaltsträger darüber hinaus auch einen Teil seines Personals zur Mitwirkung in der Gasmordanstalt an „T4“ abordnete; dies trifft nach bisheriger Kenntnis allein auf den Bezirksverband
Nassau zu.488
Ob ein regionaler Anstaltsträger überhaupt die grundlegenden Beiträge zur „T4“-Mordaktion lieferte
(etwa die Meldebogenausfüllung und die Krankenverlegungen), scheint außerhalb einer Diskussion
gestanden zu haben. Inwieweit aber die jeweilige Behörde darüber hinaus ein Engagement zur Unterstützung der „T4-Aktion“ entwickelte, lag in erheblichem Maße am politischen Willen und in der
Macht der Entscheidungsträger in der Verwaltungsspitze. In dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten
481
„T4“-Bericht über Scheu vor Anstaltsaufnahmen (11.07.1942), a. a. O., hier Bl. 126151 f. – Hervorhebung im Orig.Schreiben v. 11.07.1942 durch Unterstreichung.
482
Insofern bestätigt sich zumindest hier (noch) nicht die Hypothese von Zimmermann, Euthanasie (1997), das Gewicht des
Faktors Hitler nehme mit der „radikalisierende[n] Einflußnahme [...] auch regionaler Instanzen auf die Mordpolitik“ ab. – Vgl.
dazu Kap. IV. 2. a).
483
Siehe dazu Kap. IV. 1. b).
484
Siehe Kap. IV. 2. a).
485
Siehe Kap. IV. 3. c).
486
Siehe Kap. IV. 3. a).
487
Siehe Kap. IV. 2. b).
488
Siehe Kap. IV. 2. c).
510
IV. Zeit der Gasmorde
Bernotat fand „T4“ einen engagierten Mitstreiter, der aufgrund seiner Präsenz und Durchsetzungskraft
den Bezirksverband Nassau insgesamt zu einem verlässlichen Partner der Mordorganisation formen
konnte. Diese Ausrichtung wurde durch die Unterstützung seiner maßgeblichen Landesratskollegen
(wie des Personaldezernenten Kranzbühler und des Finanzdezernenten Schlüter) begünstigt, die die
Krankentötungen nicht aus ethischen Gründen ablehnten, denen vielmehr in erster Linie an einer Stärkung der macht- und finanzpolitischen Stellung des Bezirksverbandes als Institution gelegen war, mit
dem sie sich durch ihre jeweils mehr als zwanzigjährige verantwortliche Tätigkeit als Landesräte identifizierten.489 Die Dominanz Bernotats war aber auch durch die Verschiebung der Machtverhältnisse
innerhalb des Bezirksverbandes im Jahre 1940 begünstigt, die dem Anstaltsdezernenten aufgrund der
Unterstützung des Gauleiters Sprenger eine vermeintliche Allmacht bescherte.490
Insgesamt genügte es „T4“ also, dass sich einige regionale Behörden fanden, die sich, gefördert
durch ihre Leiter (oder die zuständigen Abteilungsleiter), für herausragende Aufgaben als spezielle
Kooperationspartner bei den Krankenmorden anboten: neben dem Bezirksverband Nassau hauptsächlich Länder wie Württemberg, Sachsen und Anhalt. Der Bezirksverband Nassau war derjenige unter
den höheren preußischen Selbstverwaltungsverbänden, der sich am weitgehendsten auf die Unterstützung der „T4“-Mordpolitik einließ.491 Dass dies auf die übrigen Provinzialverbände nicht im selben
Maße zutraf, mag an der bis in die Weimarer Zeit gewachsenen besonderen Struktur dieser Institutionen liegen, die ein gehöriges Eigengewicht durch ihre Selbstständigkeit gegenüber der Staatsverwaltung und durch das damit einher gehende Selbstbewusstsein ihrer Belegschaft entwickelt hatten. Möglicherweise spielte aber auch eine Rolle, dass die Verbände der Partei strategisch weniger wichtig
erschienen als die Staatsverwaltung und daher tendenziell geringeren Einflussnahmen ausgesetzt waren. Diese Faktoren begünstigten allem Anschein nach ein stärkeres Beharrungsvermögen gegen NSInterventionen, als es bei mancher Länderverwaltung festzustellen war. „T4“ wählte sehr flexibel seine
Kooperationspartner in der Region dort aus, wo der Mordorganisation die benötigte Unterstützung
entgegengebracht wurde. Indem der Bezirksverband Nassau 1940/41 keine Wünsche von „T4“ unerfüllt ließ, wurde er zu einem der wichtigsten regionalen Partner, und unter den preußischen Provinzialund Bezirksverbänden nahm er dabei 1941 zweifellos die erste Stelle ein.
489
Siehe Kap. IV. 3. b).
Siehe Kap. IV. 1.
Das möglicherweise ebenso große Engagement im PV Pommern führte wegen der frühen Krankenmorde im Nordosten
dann 1940/41 nicht mehr zu einer Kooperation mit „T4“: siehe dazu Kap. III. 3. c).
490
491
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