Mehr Ideen, bitte! Innovationsprozesse im Umbruch 2014 Zeitschrift der Wissenschaftsstatistik im Stifterverband
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Mehr Ideen, bitte! Innovationsprozesse im Umbruch 2014 Zeitschrift der Wissenschaftsstatistik im Stifterverband
2014 Mehr Ideen, bitte! Innovationsprozesse im Umbruch Zeitschrift der Wissenschaftsstatistik im Stifterverband EDITORIAL Garagengründer und Hightech-Start-ups Die Geschichte hat uns gezeigt, dass gerade an ungewöhnlichen Orten oftmals die besten Ideen und Innovationen entstehen. Bei Newton war es ein schattiges Plätzchen unter dem Apfelbaum, das ihn die Gravitation verstehen ließ. Archimedes bekam einen seiner größten Geistesblitze in der Badewanne und Bill Gates und Google-Gründer Larry Page revolutionierten die Kommunikationstechnologie aus ihren Garagen heraus. Auch viele (forschende) Unternehmen haben mittlerweile erkannt, dass innovative Ideen Raum und vielleicht auch einen Blick von außen brauchen, um sich zu entwickeln. Trotz ökonomischer Zwänge und Konkurrenzdruck schaffen sie immer häufiger Orte, an denen ihre Mitarbeiter tüfteln – und auch scheitern dürfen. Welche Rolle unsere zunehmend digitale Gesellschaft dabei spielt, zeigen wir Ihnen in unserem Schwerpunkt ab Seite 8. Schwerpunkt Langfristig – so sind sich die Experten einig – braucht Deutschland aber mehr Tüftler, mehr forschungsstarke Unternehmen, um den Innovationsstandort Deutschland zukunftsfähig zu machen. Viele Hochschulen ermuntern deshalb Absolventen und Wissenschaftler, ihre Forschungsprojekte zu einem kreativen Start-up auszubauen. Wie erfolgreich sie dabei sind, untersuchte der Stifterverband bereits zum zweiten Mal in seinem Gründungsradar. Auf Seite 28 stellen wir Ihnen ein Start-up vor, das bei der Gründung von der TU Hamburg-Harburg unterstützt wurde. Die Innovation: ein Start- und Landesystem für Flugzeuge ohne Bodenfahrwerk. illustrationen: anne vagt michael sonnabend, Chefredakteur 2 Innovationen braucht das Land: Die Dynamik der Globalisierung fordert in allen Bereichen des Lebens immer neue Ideen, immer neue Produkte. Sie entstehen dank wachsender Digitalisierung nicht mehr allein in abgeschotteten Forschungsabteilungen, sondern auch in Vernetzung mit externen Partnern. Deren Wissensfundus ist eine wichtige Quelle für neue Entwicklungen geworden. Stifterverband | F&E 2014 inhalt Themen Auftakt 4 Bürger wollen mitforschen • Weizsäcker-Preis für Ferdi Schüth • Stifterverband startet Science Scorecard • Nobelpreis für Stefan Hell Zahlenwelt 6 Forschungswelt in Zahlen Schwerpunkt 8 Offen für Geistesblitze Initiativen 20 Management statt Laborarbeit Die Biochemikerin Lara Terstegen hat sich bewusst für eine Karriere im Unternehmen entschieden. 22 Forschung international Unternehmen in Deutschland geben immer mehr für Forschung und Entwicklung im Ausland aus. 13 Richtig scheitern 16 Perspektivwechsel gefragt Design thinking – eine neue Kreativitätsmethode macht Schule. 19 Ingenieure müssen spinnen dürfen 24 Ideen für den Wandel Professor Reinhold Bauer über die Gründe innovatorischen Scheiterns – und was man daraus lernen kann. Wie das Traditionsunternehmen Sennheiser Ideen zum Fließen bringt. Stifterverband | F&E 2014 Der demografische Wandel bringt Innovationen mit sich, von denen alle profitieren. fotos: andrii gorulko/shutterstock.com (un.); david ausserhofer 28 Revolution im Flugzeugbau Das Hamburger Start-up mb + Partner arbeitet am Flieger der Zukunft. Service 30 Publikationen • Hört, hört! • Ansprechpartner 3 foto: andré künzelmann/ufz Auftakt Bürger und Wissenschaftler arbeiten Hand in Hand: Für das Tagfaltermonitoring zählen bundesweit über 500 Freiwillige. Die Daten aus diesem Citizen-ScienceProjekt werden am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig ausgewertet. Bürger wollen mitforschen Das neue Wissenschaftsbarometer zeigt: Die Bundesbürger haben großes Interesse an Wissenschaft und Forschung. Nahezu jeder zweite Deutsche möchte, dass die Gesellschaft stärker in Entscheidungen über Wissenschaft und Forschung einbezogen wird. Das geht aus dem aktuellen Wissenschaftsbarometer der Initiative Wissenschaft im Dialog (WiD) hervor. Demnach gibt es in Deutschland insgesamt ein großes Interesse an Themen aus Wissenschaft und Forschung. Fast zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie manchmal oder oft Artikel zu wissenschaftlichen Themen lesen und 40 Prozent besuchten im vergangenen Jahr mindestens einmal ein Wissenschaftsoder Technikmuseum. Ein Drittel der 4 Deutschen kann sich vorstellen, aktiv an einem Citizen-Science-Projekt mitzuarbeiten und gemeinsam mit Wissenschaftlern ein Forschungsprojekt voranzubringen. Das Wissenschaftsbarometer 2014 zeigt darüber hinaus, dass Wissenschaft und Forschung in Deutschland über einen großen gesellschaftlichen Rückhalt verfügen. So schätzt eine große Mehrheit Bedeutung und Nutzen der Wissenschaft für die Gesellschaft als hoch ein und möchte auch bei einer möglichen notwendigen Reduzierung der Staatsausgaben nicht, dass die Ausgaben für die Forschung gekürzt werden. Gleich- zeitig wünscht sich eine Mehrheit der Befragten mehr Einfluss von Forschung und Wissenschaft auf die Politik. WiD wurde Ende der 90er-Jahre auf Initiative des Stifterverbandes gegründet. Damals wie heute engagiert sich das Projekt für die Diskussion und den Austausch über Forschung in Deutschland. Hinter dem Projekt stehen neben dem Stifterverband alle großen Wissenschaftsorganisationen. Weitere Ergebnisse des Wissenschaftsbarometers 2014 auf: www.wissenschaftsbarometer.de Stifterverband | F&E 2014 Auftakt Weizsäcker-Preis für Ferdi Schüth illustration : andrezej koston Der diesjährige Carl-Friedrich-vonWeizsäcker-Preis geht an Ferdi Schüth, Direktor des Max-Planck-Instituts für Kohleforschung. Schüth gilt als international renommierter Wissenschaftler und Erneuerer auf dem Gebiet der Katalyse- und Energieforschung. Er wies schon frühzeitig auf die Bedeutung der Chemie für die globalen Herausforderungen einer nachhaltigen Energieversorgung hin. So entwickelte er beispielsweise hochinnovative Methoden, mit denen sich aus Biomasse alternative Kraftstoffe herstellen lassen. Die Jury lobte neben seiner herausragenden wissenschaftlichen und international anerkannten Arbeit vor allem seine Kommunikationsfähigkeit. Nur wenige Menschen verstünden es so wie er, „neue Entwicklungen durch punktgenaue Experimente so zu umreißen, dass sie in einfacher Form ihre Idee und Umsetzung vermitteln können“. Er habe damit maßgeblich dazu beigetragen, einen vertrauensvollen Dialog zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu schaffen. Der Stifterverband und die Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften verleihen den Weizsäcker-Preis alle zwei Jahre. Er ist mit 50.000 Euro dotiert. Stifterverband startet Science Scorecard Regionen, in denen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen ansässig sind, gelten als innovativ und ziehen qualifizierte Arbeitnehmer an. Doch was macht den Standort so attraktiv? Diese Frage will der Stifterverband in Zukunft mit der Science Scorecard beantworten. 13 Regionen beteiligen sich an dem neuen Projekt, das Leistung und Attraktivität einer Wissensregion messen soll. Die Ergebnisse sollen den Akteuren vor Ort helfen, regionale Wissenspotenziale auszuschöpfen und hoch qualifizierte Arbeitnehmer in ihre Region zu locken. Die Idee der Science Scorecard stammt von der Wissenschaftsmanagerin der Stadt Lübeck, Iris Klaßen. Lübeck wurde 2012 in einem Wettbewerb des Stifterverbandes zur „Stadt der Wissenschaft“ gekürt. Der Stifterverband wird das Konzept der Science Scorecard zusammen mit Iris Klaßen nun bis Ende 2015 ausbauen und umsetzen. www.sciencescorecard.de foto: deutscher zukunftspreis/ansgar pudenz Nobelpreis für Stefan Hell Stefan W. Hell vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen hat den diesjährigen Nobelpreis für Chemie erhalten. Er teilt sich den Preis mit Eric Betzig und William E. Moerner. Die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften würdigt die bahnbrechenden Arbeiten der Physiker auf dem Gebiet der ultrahochauflösenden Fluoreszenzmikroskopie. Hell gelang es, die bisherige Auflösungsgrenze optischer Mikroskope radikal zu unterlaufen – ein Durchbruch, der neue wegweisende Erkenntnisse in der biologischen und medizinischen Forschung ermöglicht. 2006 erhielt Hell für diese Arbeit bereits den Deutschen Zukunftspreis, dessen Geschäftsstelle beim Stifterverband angesiedelt ist. Erhält den Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis 2014 für seine herausragende wissenschaftliche Arbeit: Ferdi Schüth. Stifterverband | F&E 2014 www.deutscher-zukunftspreis.de 5 zahlenwelt Forschungswelt in Zahlen 638 Ausgaben der 1.000 weltweit forschungsintensivsten Unternehmen 2013, in Mrd. US-Dollar Summe, die VW 2013 in FuE investiert hat, in Mrd. US-Dollar Summe, die Samsung 2013 in FuE investiert hat, in Mrd. US-Dollar 9,8 Summe, die Apple 2013 in FuE investiert hat, in Mrd. US-Dollar 3,4 FuE-Ausgaben in Deutschland 2012, in Mrd. US-Dollar 102,2 Anteil der FuE-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 2012, in Prozent 2,98 FuE-Ausgaben in Südkorea 2012, in Mrd. US-Dollar 65,4 Anteil der FuE-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Südkorea 2012, in Prozent 4,36 FuE-Ausgaben in den USA 2012, in Mrd. US-Dollar 453,5 Anteil der FuE-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt in den USA 2012, in Prozent 2,79 FuE-Ausgaben in Italien 2012, in Mrd. US-Dollar 26,5 Anteil der FuE-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Italien 2012, in Prozent 6 11,4 1,3 Stifterverband | F&E 2014 Zahlenwelt FuE-Mitarbeiter (Vollzeitäquivalente) in Deutschland 2012, je Millionen Einwohner 3.950 FuE-Mitarbeiter (Vollzeitäquivalente) in Südkorea 2012, je Millionen Einwohner 5.451 FuE-Mitarbeiter (Vollzeitäquivalente) in den USA 2012, je Millionen Einwohner 4.650 FuE-Mitarbeiter (Vollzeitäquivalente) in Italien 2012, je Millionen Einwohner 1.709 Inländische Patentanmeldungen in Deutschland 2012 Inländische Patentanmeldungen in Südkorea 2012 902 2.962 Inländische Patentanmeldungen in den USA 2012 856 Inländische Patentanmeldungen in Italien 2012 200 Anteil der FuE-Ausgaben, die die Wirtschaft finanziert, in Deutschland, 2012, in Prozent 65,6 Anteil der FuE-Ausgaben, die die Wirtschaft finanziert, in Südkorea, 2012, in Prozent 74,7 Anteil der FuE-Ausgaben, die die Wirtschaft finanziert, in den USA, 2012, in Prozent 59,1 Anteil der FuE-Ausgaben, die die Wirtschaft finanziert, in Italien, 2012, in Prozent 45,1 quellen: booz & company: the global innovation 1000; statistisches bundesamt, statista, bmbf Stifterverband | F&E 2014 7 SCHWERPUNKT INITIATIVEN 8 Stifterverband | F&E 2014 SCHWERPUNKT INITIATIVEN Offen für Geistesblitze Der beschleunigte globale Wettbewerb und drängende Zukunftsfragen lassen die Rufe nach Innovationen immer lauter werden. Dank der Digitalisierung entstehen Neuerungen immer weniger in abgeschotteten Forschungsabteilungen, sondern in Vernetzung mit externen Partnern. Damit wandelt sich nicht nur das „Wie“ ihrer Entstehung, sondern auch ihr Wesen. VON LUKAS GRASBERGER I Illustrationen: anne vagt D as war ein Wolkenkuckucksheim, eine wahrhaft abgehobene Idee, die der US-Unternehmer Elon Musk an einem Sommertag des Jahres 2013 verkündete. In vier Jahren schon wolle er, so Musk, Menschen per Rohrpost von San Francisco nach Los Angeles schießen. Der großspurige US-Amerikaner kündigt gern radikale und auch radikal neue Innovationen an, die er durchaus auch verwirklicht: Erfolgreich hat der 44-Jährige etwa das Elektroauto Tesla vorangetrieben. 2014 gab er dessen Patente frei, um der Technologie einen neuen Entwicklungsschub zu versetzen. Das Innovationsgeschehen hierzulande präsentiert sich deutlich bodenständiger und in kleineren Schritten – zumindest, wenn man sich die Nominierten des Deutschen Zukunftspreises 2014, dem Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation, ansieht. Da geht es eher um das „Schwarzbrot“ der Stifterverband | F&E 2014 Innovation: etwa darum, mit Lebensmittelzutaten aus Lupinen einen Beitrag zu ausgewogenerer Ernährung und besserer Proteinversorgung zu schaffen. Im „Land der Ideen“ wimmelt es von „Zukunftspreisen“, Exzellenz- und Kreativitätsinitiativen: Kaum eine Rede eines Politikers kommt ohne das „I-Wort“ aus. Die Wirtschaft vermarktet ohnehin alles – vom Müsli bis zu Waffensystemen als „innovativ“. Doch woher kommt dieses Streben nach Innovation – scheinbar um jeden Preis? Neue goldene Ära Für Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee ist die Ubiquität des Begriffs leicht begründbar: Die US-amerikanischen Wirtschaftsprofessoren sehen eine gewaltige Welle an Innovationen auf uns zurollen. Gleich der Dampfmaschine im ersten Maschinenzeitalter würden digitale Technologien un- sere Wirtschaft und Gesellschaft derzeit komplett umwälzen, schreiben sie in ihrem neuen Buch „The Second Machine Age“ (Das zweite Maschinenzeitalter). Die neue goldene Ära von Innovation gründe auf drei Mega-trends, die sich gegenseitig verstärkten: big data – die immer größeren Datenmengen und die Fähigkeit, diese auch sinnvoll anzuwenden; zweitens die exponentiell steigende Leistungsfähigkeit von immer billigerer Computertechnologie und Netzen sowie schließlich immense Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und Robotik. Der intellektuelle Widersacher der beiden Technikoptimisten sieht dagegen einen eklatanten Mangel als Grund für einen verzweifelten Ruf nach Innovationen: In den vergangenen 250 Jahren bis etwa 1972 hätten große Errungenschaften wie Elektrizität, Chemie oder Öl quasi für einen „Innovations-Tsunami“ gesorgt, glaubt Robert Gordon von der Northwestern University. Die wirt- > 9 SCHWERPUNKT INITIATIVEN „Wir nutzen viele Möglichkeiten, um die Konsumenten in die Produktentwicklung einzubinden.“ andreas clausen, beiersdorf AG schaftliche Dynamik durch die Digitalisierung sei dagegen ein laues Lüftchen, das zudem bereits abflaue. Statt Basisinnovationen gebe es seit Jahrzehnten lediglich inkrementelle Innovationen, Verbesserungen, Verfeinerungen von Vorhandenem. Doch so schwarzmalerisch die Rückblicke, so euphorisch Zukunftsprognosen auch sein wollen: Ganz real wächst der Bedarf an Innovationen – in Wirtschaft wie auch Gesellschaft – stark. Bei den Unternehmen ist es die beschleunigte Konkurrenz einer global vernetzten Ökonomie, die Neuerungen immer dringlicher macht. Richtet man den Blick auf gesellschaftliche und politische Probleme, so zeigt sich, dass die herkömmlichen, meist auf die technologische Perspektive und Machbarkeit verengten Innovationsstrategien bislang kaum Antworten für die großen, drängenden Zukunftsfragen wie etwa den Klimawandel liefern können. Experten wie der Expräsident der FraunhoferGesellschaft, Hans-Jörg Bullinger, se- 10 hen die Welt an der Schwelle eines tief greifenden Veränderungsprozesses, einem „Paradigmenwechsel des Innovationssystems“, in dem sich die Wege, wie Neuigkeiten entstehen genauso wandeln wie auch das Wesen der Innovation selbst. Erfolgsfaktor des Kapitalismus In der globalen Wirtschaft drängen neue Produkte und Mitbewerber in immer kürzeren Intervallen auf den Markt. Dem härteren Wettbewerb könnten Firmen nur durch ebenfalls immer kürzere Innovationszyklen trotzen, betont Ayad Al-Ani, Professor für Change Management und Consulting am HumboldtInstitut für Internet und Gesellschaft in Berlin. „Durch den Hyperwettbewerb seit den 90er-Jahren funktionieren aber die herkömmlichen Modelle, Innovationen zu generieren, einfach nicht mehr.“ Die Unternehmen sind dabei selbst verschuldet in die Falle geraten: „Sie haben in den vergangenen 20 Jahren eher auf Kostensenkungen gesetzt. Dadurch fehlen ihnen die Kapazitäten für Experimente,“ sagt der Wirtschaftsprofessor. Doch die Trial-and-Error-Methode, um Produktideen zu testen, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor des Kapitalismus: Der Fraunhofer-Gesellschaft zufolge braucht es 1.919 Erstideen, um 52 Produkte zu generieren, die der Markt akzeptiert. Beim Verbraucher erfolgreich sind letztlich nur elf. Zum Dilemma der mangelnden Freiräume für scheiternde Experimente kommt Al-Ani zufolge ein strukturelles: Die arbeitsteilige, hierarchische Organisation von Unternehmen heute – entstanden während der industriellen Revolution – sei nicht in der Lage, dieses „Dauerfeuer an Innovationen“ zu leisten. Viele Beschäftigte, schreibt AlAni in einer Studie über „die crowd als Partner der deutschen Wirtschaft“, seien von den Strukturen frustriert – und brächten ihre kreativen und ideellen Potenziale als „Wissensarbeiter“ lieber anderswo ein: in journalistischen Formen Stifterverband | F&E 2014 SCHWERPUNKT INITIATIVEN WAS IST WAS? Big data Durch den technologischen Fortschritt ist es Unternehmen heute möglich, nicht nur riesige Datenmengen zu sammeln, sondern sie auch in relativ kurzer Zeit auszuwerten und daraus Produktideen zu entwickeln. Open innovation Unternehmen oder auch Forschungseinrichtungen öffnen ihre Innovationsprozesse nach außen und lassen externe Ideen bei der Entwicklung neuer Produkte mit einfließen. Im Fokus stehen Wissensaustausch und Vernetzung. von Blogs oder Wikis, bei der Entwicklung von Open-Source-Software oder in der Politik. Nun passiere indes ein eigenartiger und paradoxer Prozess, schreibt Al-Ani: Jene Unternehmen, die das Innovationspotenzial ihrer Mitarbeiter durch ihre rigiden Hierarchien vertrieben und unterdrückt hätten, wollten dieses „kognitive Surplus“ nun wieder zurück: Sie schafften Strukturen, um die „Weisheit der vielen“ extern aus dem Netz abzufischen. „Die Unternehmen stehen unter starkem Druck, sich über Plattformen und Kanäle zu öffnen. Sie haben nicht viele andere Möglichkeiten“, sagt Al-Ani. Die Talente einer crowd könnten Firmen indes nur nutzen, wenn sie sich der Arbeitsweise dieser neuen Mitarbeiterkategorie anpassen. Eine riskante Strategie, – denn crowdworker wollen durch Zugehörigkeitsgefühl, Spaß, Wertschätzung – oder reale Werte – für ihre Ideen belohnt werden. Schnell sind sie indes verprellt, wenn sie sich nicht einbezogen und ernst genommen fühlen. Funk- Stifterverband | F&E 2014 tioniert die Crowd-Strategie, so bilden sich infolge eines Kulturwandels langsam die Prinzipien der individuellen „Selbststeuerung“ und flüssigere Hierarchien aus. Durch die Koppelung der Hierarchie mit den neuen Formen der Zusammenarbeit aus dem Netz entstünden neue, hybride Organisationen: Netarchien. Externe Impulse für Innovationen Der strukturelle Wandel von Unternehmen – von statischen „Silos“ zu innovativen Netzwerkorganisationen – er ist nach Al-Anis Erkenntnissen bereits voll im Gange: Laut seiner Studie, für die er als Koautor 200 deutsche Unternehmen und ausgewählte Manager befragt hat, arbeiten bereits 19 Prozent der Unternehmen mit der crowd zusammen. Eine Firma, die sich bereits vor Jahren externen Impulsen für Innovationen geöffnet hat, ist Beiersdorf. Auch der Hamburger Konsumgüterkonzern ist ein durch Kundenwünsche und Konkur- > Citizen science/Crowdsourcing Das „Wissen der Massen“ spielt bei Innovationen eine immer größere Rolle. Bürger werden vermehrt einbezogen und können sich beteiligen – mit ihren Ideen, ihrem Wissen, mit von ihnen gesammelten Daten oder auch finanziell, indem sie kleinen Forschungsprojekten und Produktentwicklungen über Crowdfunding-Plattformen überhaupt erst zum Start verhelfen. Soziale Innovation Nicht Gewinnmaximierung und Profit sind Impulsgeber für Innovation, sondern der gesellschaftliche Nutzen steht im Mittelpunkt. Es entstehen soziale Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen entwickeln, die die Gesellschaft vorantreiben. Design thinking Ein Prozess zur Förderung kreativer Ideen: Das Konzept basiert auf der Überzeugung, dass wahre Innovation nur dann geschehen kann, wenn starke multidisziplinäre Gruppen sich zusammenschließen, eine gemeinschaftliche Kultur bilden und die Schnittstellen der unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven erforschen. 11 schwerpunkt VIDEOWETTBEWERB: SCHLAUE MUSKELN SIEGEN Scheitern in der Forschung war das Thema des Videowettbewerbs Super Fast, den der Stifterverband gemeinsam mit Wissenschaft im Dialog im Sommer gestartet hat. 48 Stunden hatten die Teilnehmer Zeit, ein Video zum fail in den Wissenschaften zu produzieren. Platz eins ging an David Peter und sein Team am Institut für Organische Chemie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für ihr Video über ein missglücktes Experiment mit Muskeln. Alle Gewinnervideos gibt es in der digitalen Ausgabe auf: www.fue-magazin.de renz Getriebener, räumt Andreas Clausen von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Konzerns ein. Doch Clausen will nicht klagen: Dank der Digitalisierung habe er heute auch ganz andere Möglichkeiten zur Hand als vor 15 Jahren. Der Nivea-Hersteller setzt bei der Suche nach neuen Produktideen sowohl auf die Expertise von Verbrauchern als auch auf das Wissen von Fachexperten außerhalb des Unternehmens. Ausschlag für die Entwicklung des Deos Black&White gab ein Problem, das Clausen und seine Leute irgendwo in den Verästelungen des World Wide Web in einem Blog aufspürten: Lästige gelbe Schweißflecken auf dem hellen Shirt waren dort das Thema. Die Beiersdorfer nahmen Kontakt zu den Verbrauchern auf, gemeinsam entwickelte man ein Deodorant, dank dem weniger Rückstände in der Kleidung bleiben sollen. „Wir nutzen viele Möglichkeiten, um Konsumenten so früh wie möglich in die Produktentwicklung einzubinden“, 12 sagt Clausen, der bei Beiersdorf open innovation – offene Innovationsprozesse – verantwortet. Open innovation – das sei vor allem die Kunst des Fragenstellens. Natürlich, wenn man mit dem Verbraucher auf eigenen Plattformen, in Blogs und Foren in Kontakt trete, könne man vage darum bitten, einfach eine Idee zu haben. „Man kann bei co-creation schon auch einfach warten, was kommt. Die Erfahrung zeigt aber: Wenn man zielgerichtet Fragen stellt und Vorgaben macht, hat das, was man zurückbekommt, eine ganz andere Kraft.“ Schatz des Wissens Grundsätzlichere Innovationen bekommt Clausen indes eher von externen Technologieexperten. „Es ist natürlich einfacher, von so einem Experten etwas Disruptives zu bekommen, weil diese sich jeden Tag mit unseren Themen auseinandersetzen. Sie haben einen ganz anderen Wissensfundus. Sie haben eine intrinsische Motivation, Lösungen zu finden, hinter der ein finanzielles Interesse oder der Wunsch nach einer Forschungskooperation steht.“ Um diesen Schatz des Wissens zu heben, hat Beiersdorf 2011 den Pearlfinder ins Leben gerufen. Die Onlineplattform ist ein geschützter Raum für kreative Fachideen, in den Beiersdorf Wissenschaftler von außen, Forschungseinrichtungen sowie Partnerunternehmen einlädt, um gemeinsam innovative Produkte zu entwickeln. Vertrauen in der Fachwelt wolle Beiersdorf schaffen, indem man sich auf die größten Innovatoren weltweit fokussiere – „und mit diesen bewusst langfristigere strategische Partnerschaften aufbaut. Denn je mehr Vertrauen da ist, umso mehr sind beide Seiten bereit, offen zu kommunizieren und zu kooperieren“, sagt Clausen. Verträge, etwa Geheimhaltungsabkommen, sichern den zu schnellen Abfluss von Know-how ohne Gegenleistung. Fragen nach einem neuen Konservierungsmittel für Kosmetik finden sich etwa im Pearlfinder – ein schwieriges Spe- > Stifterverband | F&E 2014 schwerpunkt Richtig scheitern foto: universität stuttgart Reinhold Bauer, Professor für Wirkungsgeschichte an der Universität Stuttgart und Autor des Buchs „Gescheiterte Innovationen und technologischer Wandel“, über die Gründe innovatorischen Scheiterns. Wenn man sich aktuelle Innovationen ansieht, fällt auf, dass hinter großer Rhetorik und Modewörtern wie big data oftmals doch nur eine Optimierung von Bestehendem steckt. Traut man sich an revolutionäre Neuerungen nicht heran, weil diese besonders riskant sind? Ja, eine Gefahr, an der Innovation scheitern kann, ist zu große Originalität, zu große Radikalität. Sogenannte Basisinnovationen, die man darüber definieren könnte, sind immer erheblich risikobehaftet. Sie bergen ein ziemlich hohes Risiko des Scheiterns in sich – wenn eine Innovation etwa zu große Anpassungsleistungen von den Nutzern oder einen zu großen Systemumbau verlangt. Welche Kriterien entscheiden denn über Erfolg oder Scheitern einer Innovation? Neben zu großer Radikalität kann eine Neuerung auch scheitern, wenn Nutzerwünsche falsch eingeschätzt werden. Sich möglichst eng an den Nutzer anzubinden und seine Perspektive so umfassend wie möglich einzunehmen, verringert sicher das Risiko des Scheiterns. Es ist allerdings heutzutage gar nicht so einfach, herauszufinden, was die Nutzer wirklich wollen. Es ist auch nicht so einfach vorherzusagen, wie sich Nutzer Innovationen aneignen. Etwa die SMS: Die hat man halt dazugegeben zu anderen Funktionen des Mobiltelefons, weil man eben konnte. Und hat überhaupt nicht damit gerechnet, dass das auf ein so breites Echo stößt. Schließlich entscheiden kulturelle und historisch-soziale Rahmenbedingungen darüber, ob sich eine Innovation durchsetzt – oder eben nicht. Können Sie ein Beispiel dafür nennen? Ja, die Mikrowelle: Ein erster Versuch der Markteinführung ist Anfang der 50er-Jahre gescheitert, dann hat man es in den 60ern noch einmal erfolglos versucht. Damals harmonierte die Mikrowelle überhaupt nicht mit dem kulturellen Umfeld der westlichen Welt. Denn es dominierte noch die klassische Kleinfamilie mit dem alleinverdienenden Vater – und der zu Hause bleibenden Mutter, die sich um Kinder und den Haushalt kümmert. Für das, was die Mikrowelle ermöglicht – eine Entkopplung von Zubereitung und Verzehr sowie eine Ratio- Stifterverband | F&E 2014 nalisierung der Speisezubereitung – gab es eigentlich gar keine Nachfrage. Das änderte sich erst ab den 80er-Jahren: Es gab immer mehr Singlehaushalte und Doppelverdiener. Und auf einmal bringt das, was dieses Gerät zu bieten hat, dem Nutzer Vorteile. Andererseits ist die Mikrowelle in einigen Ländern bis heute nicht besonders erfolgreich: Frankreich und Italien etwa pflegen eine andere Speisekultur, einen anderen Umgang, was die Zubereitung und das Essen angeht. Die Mikrowelle brauchte mehrere Anläufe zum Erfolg. Ab wann ist eine Innovation endgültig gescheitert? Dass eine bestimmte Innovation zu einem bestimmten Zeitraum gescheitert ist, heißt nicht zwangsläufig, dass sie für immer und ewig von der Bildfläche verschwunden ist. Wenn sich die Welt verändert, kann eine solche Innovation im zweiten Anlauf sehr erfolgreich werden. Nehmen Sie das E-Book: Noch vor zehn Jahren sah es so aus, als würde es sich in die lange Reihe der gescheiterten Innovationen einfügen. Doch mittlerweile haben sich die Lesegewohnheiten, der allgemeine Umgang mit Computer und IT massiv verändert – und das Ding wird zumindest zu einem relativen Erfolg. Stichwort Elektronik: Die Innovationszyklen werden immer kürzer. Kann man sich Scheitern da überhaupt noch leisten? Erfolg ist ebenso wenig planbar, wie Scheitern vermeidbar ist. Eine gewisse Toleranz dem Scheitern gegenüber innerhalb des Innovationsprozesses ist eine Voraussetzung für den Erfolg einer Neuerung. „Innovativ sein“ heißt immer: Handeln unter Informationsmangel, unter unklaren Bedingungen. Man weiß eben nicht sicher, wie sich die Produkte, der historische Prozess gestalten werden. Und man kann auch aus Akteursperspektive zur jeweiligen Zeit durchaus alles richtig machen – und dennoch scheitern. Etwa, weil sich die Rahmenbedingungen im Verlauf des Innovationsprozesses einfach verändern. Das ist genauso wenig kontrollierbar wie das Verhalten der Konkurrenz. Aber natürlich wächst derzeit der Druck, die Rahmenbedingungen werden schwieriger. INTERVIEW: lukas grasberger 13 INITIATIVEN Schwerpunkt zialthema, da der Bereich hoch reguliert ist. Sich externe Expertise in Feldern zu holen, in denen man alleine schwer weiterkommt, hat sich für das Unternehmen ausgezahlt: Gemeinsam mit einem Lieferanten entwickelte Beiersdorf einen neuen Wirkstoff für empfindliche Haut, der deren Selbstschutz stärken und Irritationen wie Juckreiz vorbeugen soll. „Auch kleine, unbekannte Partner oder etwa private Erfinder lassen sich heute über Pearlfinder finden und ansprechen“, erklärt Clausen. Statt in der abgeschotteten FuE-Abteilung entspringt so immer mehr Innovation den sorgfältig selbst geknüpften Netzwerken. Beiersdorf und der Partner profitieren gleichermaßen: Der Konzern bekomme so früh Einblicke in die Technologi- en etwa auch von Mittelständlern; die externen Partner können an der Erfahrung des Kosmetikriesen teilhaben, Laborkapazitäten wie im „Project House“ und dem „Incubation Lab“ nutzen, oder es springen Lizenzverträge und Lieferbeziehungen für sie heraus. Der mit open innovation einhergehende Kulturwandel führe zuweilen noch zu einem Knirschen im Gebälk des Großkonzerns, räumt Clausen ein. „Natürlich gibt es bei uns Entwickler, die skeptisch sind, weil sie das Wissen, das sie sich über viele Jahre erarbeitet haben, nicht ohne weiteres einfach mit ‚jemand da draußen‘ teilen wollen.“ Seine Rolle sei gleichermaßen die eines Diplomaten, eines Übersetzers zwischen drinnen und draußen – wie auch die eines Motors, der gemeinsame Projekte voranbringt. Neben crowdsourcing, open innovation und co-creation setzt Beiersdorf neuerdings auch auf das Potenzial von big data: Für neue Produktideen durchforsten Programme Patentdatenbanken, andere Tools verfolgen semantische Ströme im Internet, um Partner zu finden, die der Konzern bisher noch nicht kannte. Bit für Bit zum neuen Produkt Big data, die Generierung großer Datenmengen und ihre Auswertung nahezu in Echtzeit, führt bereits zur Entstehung zahlreicher Innovationen – bei US-Internetgiganten wie Google gleichermaßen wie bei deutschen hidden champions. Der schwäbische Werkzeugbauer Komet „Durch den Hyperwettbewerb funktionieren die herkömmlichen Modelle, Innovationen zu generieren, nicht mehr.“ Ayad Al-Ani, Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft 14 Stifterverband | F&E 2014 Schwerpunkt INITIATIVEN Group etwa entwickelt einen Bohrer, der meldet, wenn er kaputtgeht. Über ein System, das lernt, welche Zustände am Werkzeug mit welcher Belastung des Motors einhergehen, lässt sich der Zeitpunkt für einen Werkzeugwechsel ziemlich präzise vorhersagen. Dazu müssen Rechner riesige Datenmengen in Echtzeit verarbeiten – was bisher kaum möglich war. Der Technikhistoriker Reinhold Bauer sieht hierin ein „Verschmelzen von Produkt- und Prozessinnovation, eine sehr typische Kombination für viele deutsche Unternehmen, die auf internationaler Ebene erfolgreich sind.“ Dass technische Innovationen durch die Digitalisierung immaterieller werden – oder sich Bit für Bit gar in Dienstleistungen auflösen, beobachtet auch Stifterverband | F&E 2014 der Wirtschafts- und Industriesoziologe Jürgen Howaldt. Die innovativen Produkte des Industriezeitalters wie den Hybridmotor oder das iPhone, sagt der Professor an der TU Dortmund, habe man noch anfassen können. „Heute gilt nicht nur die Herstellung, sondern zunehmend auch die Einarbeitung und Wartung einer Maschine als innovativ.“ Unter diesen Begriff fielen auch Dienstleistungen, neue Beratungskonzepte, eine neue Handlungspraxis zwischen Kunden. Den Dortmunder Wissenschaftler beschäftigt daher die Frage: „Brauchen wir vielleicht zusätzlich zu ,Made in Germany‘ auch das Label ,Enabled by Germany‘?“ Seine These, dass sich mit dem Übergang von der Industrie- zur Wissensund Dienstleistungsgesellschaft auch das Innovationsverständnis grundlegend wandle, hat Jürgen Howaldt bereits vor ein paar Jahren in einem Aufsatz zusammengefasst. Es ist der „soziale Charakter“ der Netze, der andersartige Innovationsprozesse bedingt und hervorbringt – ob in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Gesellschaft: Der Bremer Psychologe und Vernetzungsexperte Peter Kruse zitiert in diesem Zusammenhang gern Walter Benjamin: Wann immer die Medien sich änderten, ändere sich die Gesellschaft, sagte Kruse in einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks. Kruse sieht eine „grundlegend andere Systemarchitektur“, die durch die Änderung der Kommunikationsstrukturen bedingt sei. „Und wenn sich die Kommunikationsstrukturen ändern, dann ändert sich die Wahrnehmung der Menschen und am Ende ändert sich dann auch die Gesellschaft.“ Die im Netz angelegte, verstärkte Einbindung von Nutzern, Kunden, Bürgern verändert auch grundsätzlich die Ziele von Innovationen. Dominierten in der Industriegesellschaft eindeutig rein wirtschaftliche Ziele, so stünden im postindustriellen Paradigma gesellschaftliche Ziele wie Beschäftigung und Lebensqualität im Zentrum, schreibt dazu Howaldt. Für Neuerungen, die sich eng am Bedarf der Menschen ausrichten, hat der britische Forscher Fred Steward den Begriff der „transformativen Innovationen“ geprägt. Steward sieht verbraucherorientierte sozio-technische Netzwerke als Impulsgeber der Zukunft. Innovation entstehe in diesen Netzwerken durch Lernprozesse. Neue Beteiligungsfor- > 15 foto: hpi school of design thinking/kay herschelmann INITIATIVEN schwerpunkt Studenten der Potsdamer HPI School of Design Thinking. Perspektivwechsel gefragt Die Idee war ziemlich weit hergeholt: Die Lösung für das Problem, wie sich Pakete in Innenstädten mit Autoverbot transportieren ließen, fanden Studenten der Potsdamer HPI School of Design Thinking in Indien. Dort lassen Angestellte ihr Mittagessen von zu Hause an den Arbeitsplatz mithilfe einer Eimerkette liefern: Menschen, die einen Weg ohnehin zurücklegen, nehmen das Essen einfach mit und übergeben es dem Nächsten für eine weitere Teilstrecke bis zum Ziel. Eine Art Staffelsystem des Gütertransports, das die Brandenburger Studenten recherchierten und weiterentwickelten – und das die Posttochter DHL mittlerweile in Schweden erprobt. Der Geistesblitz entstand durch design thinking, eine Kreativitätsmethode, die an „Europas erster Innovationsschule für Studenten“ gelehrt wird: Eine zündende Idee, sagt Schulleiter Ulrich Weinberg, entstehe zuerst in Teams von vier bis sechs Personen, in denen nur einer ein Fachexperte ist „und die anderen einen völlig anderen Blick auf die Fragestellung mitbringen“. Dann brauche es frei gestaltbare Räume, die die kreativ-intuitive Zusammenarbeit unterstützten. Schließlich versetzen sich die Studenten in einen „Modus, der die volle mentale Power abruft, und sowohl die analytische wie die kreative Hirnhälfte aktiviert“: Sie spielen dazu mit Videoschnipseln, bauen aus Knetmasse, Legobausteinen schnell erste Prototypen der Problemlösung. Die meiste Zeit, so Weinberg, verwendeten die 120 Studenten, die den einjährigen Innovationskurs je Semester durchlaufen, damit, das Problem und die Bedürfnisse des Nutzers zu verstehen. „Es ist dieser Perspektivwechsel, durch den wir zu völlig anderen Ansätzen kommen.“ 16 men seien nötig, damit Laien als „Experten des Alltags“ ihr Wissen adäquat einbringen – und auf Augenhöhe mit den Handelnden des Wissenschaftssystems kommunizieren können. Ansätze für solche Instrumente, die so – gleich kommunizierenden Röhren zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – Innovationen hervorbringen, gibt es bereits, Stichwort: citizen science. In Hochschulen und Forschungseinrichtungen können Bürger damit von Subjekten, von „Lieferanten für Bedürfnisinformationen“, zu aktiv Handelnden werden. „Jeder hat nun die Chance, sofort etwas zu tun“, sagt der Wirtschaftstheoretiker Peter Finke mit Blick auf die Vernetzung und Allgegenwart neuer Technologien wie Smartphones. „Diese Offenheit, dass jeder loslegen kann, ist etwas völlig Neues.“ Das innovative Potenzial liegt für den Wissenschaftstheoretiker Finke weniger darin, dass Bürgerwissenschaftler durch die Sammlung immenser Datenmengen zu Schmetterlingen oder der Kartierung von Sternen den Profis einen nie gekannten Überblick verschaffen. Die „Forschung von unten“ könne Wissenschaft erden. „Laien“, sagt Finke, „sind weniger auf aktuelle Sichtweisen ihrer Fächer eingeschworen.“ In der Wirtschaftswissenschaft etwa beleuchteten Bürgerwissenschaftler blinde Flecken – und entwickelten Alternativen zum Wachstumsparadigma. „Citizen scientists sind auch nicht gezwungen, streng auf die Einhaltung von Disziplingrenzen zu achten.“ Diese Zusammenhangorientierung sei aber wichtig für Innovationen, mit denen Zukunftsfragen angegangen werden könnten – die sich eben oft nur interdisziplinär lösen ließen. Statt eines Modells, das stark auf die Rolle der Wissenschaft als Impulsgeber fokussiert, setzt der Dortmunder Professor Jürgen Howaldt auf eines, in dem die Gesellschaft selbst zum Ort von Innovationen wird. „Für viele Probleme, die drängen, gibt es keine technologische Lösung.“ Howaldt hat sich daher Stifterverband | F&E 2014 schwerpunkt INITIATIVEN der Erforschung sozialer Innovationen verschrieben: In Hülle und Fülle fündig wird Howaldt in den Ländern des Südens, in Lateinamerika und Afrika. „Dort gibt es Hunderte Beispiele von sozialen Innovationen zur Armutsbekämpfung.“ Bei einigen ergänzten sich Technik und gesellschaftliche Praxis unglaublich wirkungsvoll. Hilfe zur Selbsthilfe Als ein Erfolgsmodell für solche soziale Innovationen gilt das Projekt iCow der Kenianerin Su Kahumbu. Am Anfang ihrer Erfindung stand eine persönliche Not: Die Musikerin wollte umsatteln, Biobäuerin werden, „aber ich hatte überhaupt keine Informationen. Da habe ich mich gefragt: Wie macht das diese Viel- zahl kleiner Farmer, die überhaupt keine landwirtschaftliche Ausbildung haben, sich ein paar Tiere halten, um zu überleben?“, erzählt Kahumbu im SkypeInterview. Als vor ein paar Jahren die Mobilfunkkosten in Kenia so stark einbrachen, dass sich Millionen plötzlich einfache Mobiltelefone leisten konnten, hatte Kahumbu einen Geistesblitz: „Warum nicht dieses Medium verwenden, um Wissen an die Farmer zu verteilen?“ Hilfe zur Selbsthilfe für Subsistenzbauern per SMS – eine bestechend einfache Idee. Kahumbu ließ eine App von einheimischen Softwareexperten programmieren, entwickelte die App bei monatelangen Fahrten übers Land mit den Bauern weiter, passte sie deren Problemen an. Eine Vorgehensweise, die soziale Innovationen relevant mache, sagt sie. Fragen wie: „Wo finde ich den nächsten Tierarzt? Wann und gegen was muss ich impfen? Wann braucht meine Kuh eine Melkpause?“ werden nun per SMS oder Voice-Mail beantwortet. Auf dem virtuellen Marktplatz Soko können die Kleinbauern mit Mutterkühen und Kälbern handeln. Drei Jahre nach der Gründung nutzen Zehntausende iCow. Einer Studie zufolge, bei der Bauern zu Beginn ihrer iCow-Nutzung und einige Monate später befragt wurden, konnte mehr als die Hälfte der Befragten die Milchleistung ihrer Tiere verdoppeln. Ein wichtiger Beitrag zur Ernährungssicherheit, betont die Kenianerin: Ein Viertel aller Afrikaner sei unterernährt. Oft, weil Eigenbedarfsbauern landwirtschaftliche Praktiken nie gelernt hätten – und schon Tierkrankheiten wie Euterentzündung oder ver- > „Jeder hat nun die Chance, etwas zu tun.“ peter finke, wirtschaftstheoretiker Stifterverband | F&E 2014 17 schwerpunkt „Für viele Probleme, die drängen, gibt es keine technologische Lösung.“ Jürgen Howaldt, Wirtschaftsund Industriesoziologe 18 seuchtes Futter reiche, sie zu Hungernden zu machen. iCow taucht als Paradebeispiel im jährlichen Trendreport des betterplace lab auf, einem Thinktank aus Berlin, der digital-soziale Innovationen erforscht. Die Führungseliten aus Politik und Wirtschaft, aber auch in NGOs und Wohlfahrtsverbänden „scheuen die Risiken, die die Suche nach bahnbrechenden Innovationen unweigerlich mit sich bringt“, kritisiert betterplace-Mitgründerin Joana Breidenbach. Mit der MikrospendenPlattform betterplace wurde die promovierte Anthropologin daher 2007 selber initiativ. Dank der digitalen Infrastruktur von betterplace.org können auch geringe Spendenbeträge ohne Mittelsmänner und Verwaltungskosten direkt an lokale Kleinprojekte weitergeleitet werden – ob zur Regenwald-Aufforstung in Costa Rica oder für einen „Kältebus“ für Obdachlose in Hamburg. Mit der „Zeitspende“ hat betterplace 2013 die nächste soziale Innovation gestartet: Via Smartphone will das Sozialunternehmen nun ehrenamtliches Engagement vereinfachen. Dank mobiler Engagemenvermittlung per App sollen junge Freiwillige Projekte in ihrer Umgebung suchen, sich aber auch jenseits fester Vereinsstrukturen engagieren – oder gar soziale Vorhaben selber initiieren können. Doch solche Innovationen entstehen noch zu zufällig, seien zu sehr auf die Initiative Einzelner angewiesen, kritisiert Howaldt, der den Sammelband „Soziale Innovation – auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma“ mit herausgegeben hat. Die Förderung sozialen Unternehmertums stecke hierzulande – im Gegensatz zu Großbritannien oder den USA – noch in den Kinderschuhen. So finanziert sich betterplace überwiegend durch private Förderer und „strategische Partner“ wie die Firma Vodafone, die die Ehrenamts-App mitbetreibt. Die Politik sei in der Pflicht, Forschungs- wie Förderprogramme für soziale Innovationen aufzulegen, sagt Howaldt – sowie eine Basisinfrastruktur zu schaffen. „Jede Stadt in Deutschland hat mittlerweile ein Technologiezentrum. Wir bräuchten auch Zentren, in denen Beratung und Wissensaustausch zu sozialen Innovationen stattfindet.“ Noch behandle die Politik soziale Innovationen nicht auf Augenhöhe mit technologischen – „obwohl diese die hohen Erwartungen, die drängenden Zukunftsprobleme zu lösen, nicht erfüllen konnten“. In der neuen Hightech-Strategie, die die Bundesregierung im September verabschiedet hat, tauchen soziale Innovationen immerhin an einigen Stellen auf. Die aktive Einbeziehung der Gesellschaft als zentraler Akteur solle vorangetrieben und wichtige Elemente wie Technologieoffenheit, Bürgerpartizipation und soziale Innovationen gestärkt werden, heißt es darin etwa. Ein umfassender, integrativer Ansatz fehle indes, kritisiert Howaldt. „Das Thema ,soziale Innovation‘ ist immerhin zur Politik durchgedrungen. Aber es gibt noch viel Luft nach oben.“ Stifterverband | F&E 2014 schwerpunkt Daniel Sennheiser, Ko-Chef des Traditionsunternehmens foto: sennheiser Sennheiser. Ingenieure müssen spinnen dürfen „Diese Idee lag damals einfach in der Luft“, lacht Daniel Sennheiser. Das Traditionsunternehmen Sennheiser, das der 40-Jährige als Ko-Chef leitet, hat das drahtlose Mikrofon mit erfunden. Unter anderem, betont der Sennheiser-Geschäftsführer – denn der Mittelständler aus dem niedersächsischen Wedemark gilt schon seit Jahrzehnten als Innovationsschmiede: Den Großteil seines Umsatzes macht der hidden champion mit Produkten, die durch mindestens eines, öfter auch mehrere Patente geschützt sind. Hunderte sind es mittlerweile, sie stecken in Funkmikrofonen für Live-Sendungen und Bühnenauftritte, im ersten Anrufbeantworter, im ersten Babyfon. „Ingenieure“, sagte Firmengründer Fritz Sennheiser einst, „müssen spinnen dürfen“. Im Laufe der Jahre hat sich aus dieser Haltung eine Strategie entwickelt. Mit Achim Gleissner beschäftigt das 2.500-Mitarbeiter-Unternehmen einen Manager für Innovationsstrategien, gerade entsteht der „Innovation Campus“, ein Entwicklungszentrum am Stammsitz, wo Kundenbedürfnisse auf Lösungskompetenzen träfen. Dort gehe es darum, Ideen zum Fließen zu bringen. Und ihnen Raum zu geben. Dies ist durchaus wörtlich gemeint: „Alles ist irgendwie beweglich“ in einem flexibel gestaltbaren Bereich, in dem Mitarbeiter viel malen, ausprobieren, locker Leute hinzuziehen können. Dies sei am Anfang eines Innovationsprozesses nötig. Dann müssten sich die Räume verändern lassen – Stifterverband | F&E 2014 für eine Phase, in der sehr schnell Prototypen entstehen, die man dann mit den Anwendern und Kunden testen könne. Nach einem positiven Kundenfeedback kommt das Stadium des klassischen Entwicklungsprojekts, mit Fachleuten, die die Idee zu Ende „tüfteln“. Die Entwicklung vollziehe sich in „iterativen Zyklen“: von Schritt zu Schritt – immer erst, wenn der vorhergehende funktioniert hat. Früh und viel scheitern gehöre zum Konzept, sagt Sennheiser. „Kinder lernen laufen auch durch hinfallen. Aber: Wenn ein Kind fällt, ist es noch nicht groß, fällt darum auch nicht so tief – und tut sich auch noch nicht so weh.“ Viel scheitern kann Sennheiser mit der Musikerin Imogen Heap, die mit einer Art Hightech-Handschuh Bewegungen ihrer Hand in Musik umwandelt. „Die Computertechnik interpretiert hier Körperbewegungen.“ Dazu brauche es neue Sensorik, die Audio modulieren könne, auch ganz neue Mikrofone. „Wir lernen dadurch, Schritt für Schritt, modular neue Produkte aufzubauen.“ Der Begriff des Lernens gefällt auch Innovationschef Gleissner besser als scheitern, das im Deutschen so negativ klinge. Er halte es mit dem Zitat von Thomas Alva Edison: „Ich bin nicht gescheitert. Ich kenne jetzt 1.000 Wege, wie man keine Glühbirne baut.“ 19 fotos: david ausserhofer INITIATIVEN DIE FORSCHERIN Lara Terstegen, geboren im rheinischen Wesel, studierte Biologie an der RWTH Aachen. Als Doktorandin spezialisierte sie sich auf den Schwerpunkt Biochemie. Das Thema ihrer Dissertation: „Die Hemmung der IL-6-induzierten STAT-Aktivierung durch MAP-Kinasen und virale Infektion“. Seit 2001 arbeitet sie für die Forschung der Beiersdorf AG in Hamburg. Ihre Stationen dort: Research Scientist, Laborleiterin AntiTranspiranzia, Leiterin der Abteilung Wirkstoffe und Galenik und seit 2013 Leiterin der Abteilung Applied Skin Biology. 20 Stifterverband | F&E 2014 INITIATIVEN Management statt Laborarbeit Hochschulkarriere oder doch lieber ein Job in der Industrie? Vor dieser Frage stehen viele Wissenschaftler nach erfolgreich abgeschlossener Dissertation. Lara Terstegen hat sich bewusst für die anwendungsbezogene Arbeit im Unternehmen entschieden – und den Beschluss nie bereut. Von Mareike Knoke D ie menschliche Haut ist für Lara Terstegen ein faszinierendes Organ. „Sie hält den Körper zusammen, sie schützt uns vor äußeren Einflüssen. Ohne diese Hülle würden wir einfach zerfließen. Und all das, obwohl sie doch so dünn und zart erscheint“, sagt die promovierte Biologin mit hörbarer Bewunderung. Schon während ihrer Doktorandenzeit an der RheinischWestfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen – in ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit an entzündlichen Prozessen beteiligten Signalwegen im Körper – kam sie in Kontakt mit den Dermatologen der dortigen Universitätsmedizin. Heute leitet die 44-Jährige bei der Hamburger Beiersdorf AG die Forschungsabteilung Applied Skin Biology. In den Abteilungs-Laboren werden Wirkstoffe und Wirkstoffkombinationen aus neuen und schon bekannten, bewährten Substanzen für die Hautpflege entwickelt und optimiert – um später, in einer anderen Abteilung, Produkte daraus zu entwickeln, die die Haut in möglichst gutem Zustand bewahren. Vor 13 Jahren begann Lara Terstegen ihre Industrieforscherinnen-Karriere als Research Scientist bei dem Unternehmen, zu dessen Aushängeschildern die Marken Nivea und Labello gehören. Jedes Jahr stehen rund 25.000 frisch promovierte Wissenschaftler vor der Frage, Stifterverband | F&E 2014 ob sie versuchen, an einer Hochschule Karriere zu machen und den mitunter harten Weg von einem befristeten Postdoc-Vertrag zum nächsten auf sich nehmen. Oder ob sie dem Werben der Industrie um exzellente Nachwuchskräfte für Forschung und Entwicklung nachgeben. Lara Terstegen hat ihre Entscheidung für die Industrie nie bereut: „Mir ist es wichtig, dass das Ergebnis meiner Forschung etwas Anwendungsbezogenes, Fassbares und Verwertbares ist. Und ich einen messbaren Erfolg sehen kann – nämlich das Produkt, eine Hautcreme oder ein Deodorant, das genau die Wirkung entfaltet, die ich zu Beginn der Forschungsarbeit im Kopf hatte“, betont die gebürtige Rheinländerin, die sich mittlerweile unter den eher zurückhaltenden Hanseaten sehr wohl fühlt. Vom Labor an den Schreibtisch Die Grundlagenforschung an einer Universität wäre langfristig nicht das Richtige für sie gewesen, sagt sie. Dabei stand für sie nicht einmal so sehr im Vordergrund, dass Wissenschaftler in der Industrie teilweise das Doppelte von dem verdienen, was Postdocs an einem Uni-Institut auf dem Gehaltskonto haben. „Sondern all das, wovor viele Hochschulwissenschaftler oft zurückschrecken, macht mir großen Spaß – zum Beispiel der Bereich des Forschungsmanagements.“ Ihr Arbeitsplatz ist schon seit etlichen Jahren nicht mehr das Forschungslabor, sondern der Schreibtisch und die Konferenzräume für die Abteilungsmeetings in der Firmenzentrale im Stadtteil Eimsbüttel. Für die Biologin ist das eine natürliche Begleiterscheinung, wenn man eine weitere Sprosse der Karriereleiter erklommen hat. „Die Arbeit im Labor hat zwar ebenfalls Spaß gemacht. Doch Strategien für die Erforschung neuer Wirkstoffe und deren Einsatz zu entwickeln, fand ich fast von Anfang an noch spannender.“ Auch hat sich Lara Terstegen damals, als Neuling bei Beiersdorf, schnell daran gewöhnt, strikt anwendungsbezogene und gewinnorientierte Forschung zu betreiben. „Unsere Forschungsarbeit muss ein Produkt hervorbringen, das im Handel gute Chancen hat. Ist dies nicht der Fall, wird das Projekt fallen gelassen.“ Denn die Industrie forsche nie zum Selbstzweck. Dafür ist die Geräteausstattung oft besser und leistungsstärker als an vielen Hochschulen, wo, anders als in der Industrie, Zeit eben nicht Geld ist. „Aber ich muss zugeben: Der sportliche Wettlauf mit unseren Mitbewerbern um das noch bessere Deo oder die noch bessere Wirkstoffkombination für Anti-AgingCremes reizt mich sehr“, sagt Lara Terstegen mit einem Lächeln. 21 INITIATIVEN Forschung international Globalisierte Märkte brauchen internationale Forschung: Unternehmen in Deutschland geben immer mehr für Forschung und Entwicklung im Ausland aus. Eine Gefahr für den Innovationsstandort Deutschland? Von Kristina Vaillant B ASF will seine Forschungsaktivitäten bis 2020 zur Hälfte ins außereuropäische Ausland verlagern – das kündigte das Unternehmen im Frühjahr an. Jeder Euro, den das Unternehmen in den kommenden Jahren zusätzlich in Forschung und Entwicklung investiert, fließt dann vermutlich an Tochterunternehmen oder Forschungsinstitute in den USA, in China, Japan und Südkorea, wo BASF in den letzten Jahren Forschungsnetzwerke im Bereich der Materialwissenschaften etabliert hat. Der Plan des Ludwigshafener Chemiekonzerns ist keine Besonderheit. Wie eine Auswertung der jährlichen Statistik zu Forschung und Entwicklung im deutschen Wirtschaftssektor des Stifterverbandes zeigt, spiegelt er einen allgemeinen Trend wider: Unternehmen mit Sitz in Deutschland investieren einen wachsenden Anteil ihrer Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Ausland. Bei den 100 Unternehmen mit den höchsten weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE) stiegen die Ausgaben für FuE im Ausland von 2007 bis 2011 um mehr als 50 Prozent. Die Summe, die sie im Inland ausgaben, nahm im gleichen Zeitraum nur um 15 Prozent zu. Der Großteil der Investitionen bleibt aber in Deutschland: 33,6 Millionen Euro gaben die Unternehmen hier im Jahr 2011 aus, doppelt so viel wie im Ausland, wo sie nur 14,8 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung steckten. Aber nicht nur die Ausgaben der Großkonzerne gehen zu diesem Zweck immer öfter ins Ausland. Nina Czernich, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI), hat 2012 in Zusammenarbeit mit dem Stifterver- band über 100 Unternehmen befragt und herausgefunden: Auch kleine und mittlere Unternehmen betreiben seit Jahren Forschung und Entwicklung im Ausland. „Zwar sind ihre Ausgaben deutlich niedriger als die der Konzerne“, sagt Czernich, „aber auch hieraus können Innovationen entstehen.“ Die EFI, deren Geschäftsstelle beim Stifterverband angesiedelt ist, berät seit 2006 die Bundesregierung bei Innovationsthemen. Dazu gibt sie einmal im Jahr ihr Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands heraus. Nach ihren Motiven befragt, gaben die meisten Unternehmen in der Sonderbefragung an, mit ihren Auslandsaktivitäten Absatzmärkte oder spezifisches Fachwissen erschließen zu wollen. Danach strebt auch das familiengeführte Unternehmen Phoenix Wie viel deutsche Unternehmen für Forschung und Entwicklung im Ausland ausgeben, berechnet der Stifterverband aus den Daten seiner jährlichen Erhebung und aus den Geschäftsberichten von 100 global agierenden Unternehmen. Gemeinsam mit der Expertenkommission Forschung und Innovation hat der Stifterverband darüber hinaus für eine Sonderauswertung 113 Unternehmen zur Motivation und zu Zielländern befragt. Zusammen gaben diese Firmen – Stand 2011 – 7,2 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung im Ausland aus. www.e-fi.de 22 Stifterverband | F&E 2014 foto:basf INITIATIVEN BASF-Labor für Kunststoffadditive und Pigmente im indischen Mumbai. Contact aus dem nordrhein-westfälischen Blomberg. Denn die Instrumente zur Steuerung von Produktionsanlagen produziert das Unternehmen für den Weltmarkt. „Unsere Tochtergesellschaften in den USA und in China arbeiten hauptsächlich an Produktentwicklungen für ihre regionalen Märkte. Beispielsweise wenn es darum geht, eine Komponente auf ein anderes Maßsystem einzustellen“, sagt Pressesprecherin Eva von der Weppen. Deutschland sei aber das Zentrum der Entwicklungsaktivitäten und bleibe es auch. Trotzdem käme es immer öfter vor, dass Produktentwicklungen ins Ausland ausgelagert würden. „Wenn es hier am Firmensitz in Blomberg zu Engpässen kommt und Entwicklungen zu lange dauern würden, um die neuen Produkte frühzeitig auf den Markt zu bringen, dann schauen wir natürlich, ob wir bei unserem Tochterunternehmen in den USA Kapazitäten frei haben.“ Das Unter- Stifterverband | F&E 2014 nehmen schließt nicht aus, dass durch den Bedarf an solchen Ingenieursleistungen in Zukunft ein größerer Teil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung – im Jahr 2013 waren es über 100 Millionen Euro – ins Ausland fließen könnte. Auf der Suche nach Spezialisten Die Bayer AG investiert als global agierender Konzern schon seit Jahren konstant 40 Prozent seiner Forschungs- und Entwicklungsausgaben im Ausland. Dabei steht die Suche nach den „besten Köpfen“ im Vordergrund. „Ob das Land dann gleichzeitig noch einen Absatzmarkt für uns bietet, ist zweitrangig“, sagt Michael Metzlaff, Innovation-Relations-Manager bei Bayer in Leverkusen. „Wissenschaft ist heute so komplex und so interdisziplinär, da brauchen wir die besten Partner für unsere Forschung.“ Als Beispiel nennt er die 2012 verein- barte Kooperation mit der TsinghuaUniversität in Peking. Das Unternehmen fand dort die Spezialisten mit genau der Qualifikation auf dem Gebiet der biomedizinischen Wissenschaften, die es benötigte – und an den heimischen Hochschulen nicht fand. Dass die Globalisierung von Unternehmen und Märkten früher oder später auch die Internationalisierung von Forschung und Entwicklung nach sich zieht, überrascht nicht. Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) warnt jedoch davor, dass der Forschungsstandort Deutschland dadurch ins Hintertreffen geraten könnte. In ihrem Jahresgutachten 2014 fordert die EFI deshalb von der Politik, die Wissenschaft in Deutschland noch besser für den internationalen Wettbewerb zu rüsten und alles dafür zu tun, damit die besten jungen Wissenschaftler nach Deutschland kommen – und auch hier bleiben. 23 INITIATIVEN Ideen für den Wandel Die Gesellschaft wird älter, doch Panik ist nicht angebracht. Der demografische Wandel bringt Innovationen mit sich, von denen alle profitieren. Von boris hänssler C are-o-bot ist ungefähr so groß wie ein Mensch. Statt eines Kopfs hat der Roboter einen Bildschirm. Hinter seinem Rücken ist ein Greifarm versteckt, den er bei Bedarf ausfährt. Eine Woche lang war Care-o-bot bereits auf der Demenzstation des Parkheims Berg in Stuttgart im Einsatz. Dort rollte er durch den Flur, wich geschickt Hindernissen aus und reichte Bewohnern ein Glas Wasser. Er sprach sie sogar mit Namen an. Außerdem merkte er sich, welcher Bewohner wie viel Wasser getrunken hat. Auf Wunsch sang er sogar ein Lied oder startete auf dem Bildschirm ein Memory-Spiel. In Zukunft soll er auch putzen und Wäsche waschen. Entwickelt wurde der Roboter vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Wandel birgt Chancen Die Freude an solchen Innovationen für ältere Menschen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Deutschland Panik herrscht: Die Zahl der Gestorbenen übersteigt seit Jahren die Zahl der Geborenen. Zuwanderer können das Defizit nicht ausgleichen. Nach Prognosen des Statistischen Bundesamts wird die Einwohnerzahl von derzeit circa 80 Millio- 24 nen auf etwa 65 bis 70 Millionen im Jahr 2060 schrumpfen. „Die Alterung unserer Gesellschaft hat tief greifende Auswirkungen auf die Alters- und Gesundheitsvorsorge“, behauptet Axel Börsch-Supan, Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München. „Sie ist eine Herausforderung an unser gesamtes Wirtschaftssystem, an den Arbeitsmarkt, die Produktion und den Kapital- und Immobilienmarkt unseres Landes.“ Doch Börsch-Supan weist auch darauf hin, dass tiefgrauer Pessimismus nicht angesagt ist: „Ob der dramatische Strukturwandel unseren Lebensstandard und unseren Sozialstaat bedroht, hängt von unseren wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen und unserer Reaktion auf diese politischen Maßnahmen ab.“ Schon jetzt ist sichtbar, dass der demografische Wandel nicht nur Probleme, sondern eine Vielzahl von Innovationen mit sich bringt. Marion A. Weissenberger-Eibl (siehe auch Interview auf S. 27), Professorin für Innovations- und Technologie-Management am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), sagt: „Produkte und Technologien, die an den demografischen Wandel angepasst werden, bieten Unternehmen große Chancen – vor allem, Senioren sind offen für neue Produkte, sofern sie einen klaren Nutzen mit sich bringen. Stifterverband | F&E 2014 initiativen CARE-O-BOT IM EINSATZ Erleben Sie den Serviceroboter beim Einsatz im Altenheim. Zu sehen in der Onlineausgabe: www.fue-magazin.de wenn sie keine reinen Seniorenprodukte herstellen, sondern sich vom Grundsatz des design for all leiten lassen: Von weniger komplexen Bedienungsanleitungen und einer benutzerfreundlichen Bedienung profitieren nämlich nicht nur ältere Kunden, sondern alle.“ foto: portra images/stone/getty images Kein Stigma mehr Stifterverband | F&E 2014 Ältere Menschen möchten nicht unbedingt andere Technologien nutzen als jüngere. Franz Koller, Managing Director des IT-Beratungsunternehmens User Interface Design in Ludwigsburg, sagt, dass bei der Entwicklung von Produkten für ältere Menschen in den vergangenen Jahren deshalb ein Umdenken stattgefunden habe. Kollers Firma berät Unternehmen bei der Entwicklung von Produkten, die intuitiv bedienbar sind und ein positives Nutzer-Erlebnis schaffen. „Noch vor einigen Jahren kamen Produkte auf den Markt, denen man schon auf 100 Metern ansah, dass sie für ältere Menschen gedacht sind“, sagt Koller. „Sie fühlten sich dadurch stigmatisiert.“ Plötzlich hieß es, Senioren wären an Technik nicht sonderlich interessiert. Doch das sei falsch: „Senioren sind sehr offen für neue Produkte, sofern sie einen klaren Nutzen mit sich bringen.“ Tab- > 25 initiativen let-PCs sind ein gutes Beispiel: Sie lassen sich leichter bedienen als klassische PCs – und haben nicht das Etikett „SeniorenTechnik“. Bei Senioren kommen sie gerade deshalb gut an. Technologien, die generationenübergreifend genutzt werden, helfen Senioren, wieder mehr am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. „Wenn ein Partner stirbt oder die körperliche Mobilität nachlässt, ziehen sich viele ältere Menschen zurück“, sagt Christophe Kunze, Professor für Assistive Technologien an der Hochschule Furtwangen. Populäre Dienste wie Videotelefonie oder soziale Netzwerke können einer solchen Isolation vorbeugen. Schon heute nutzen ältere Menschen Skype, um ihren Enkeln, die weit weg wohnen, näher zu sein. Ob die Technik auch wirklich leistet, was sie verspricht, untersucht Ingrid Schubert von der Universität zu Köln: Anhand der Daten von gesetzlichen Krankenkassen können die Forscher beispielsweise sehen, wie häufig die in Leitlinien empfohlenen Arzneimittel tatsächlich verordnet wurden. Künftig überprüfen die Versorgungsexperten auch Technologien des sogenannten ambient assisted living wie Serviceroboter, Telemedizin oder automatische Notrufsysteme auf ihren langfristigen Nutzen. aus Videospielen oder mit Sensoren der Gebäudetechnik. „Mit Letzteren können wir schon sehr gut erkennen, ob Menschen in ihrer häuslichen Umgebung längere Zeit inaktiv sind“, sagt Christophe Kunze, dessen Team Monitoringsysteme entwickelt. Damit solche Techniken also in die Haushalte einziehen, braucht es kein großes Budget mehr. „Die Consumer-Industrie liefert künftig immer flexiblere Produkte, die spezialisierte Firmen nur noch für Senioren anpassen müssen“, sagt Kunze. Freilich profitieren ältere Menschen nicht nur von den Ideen der Elektronikbranche. Auch die Biotechnologie steht vor Durchbrüchen. Den Forschern geht es nicht unbedingt darum, das Leben beliebig zu verlängern, wie oft geglaubt wird, sondern altersbedingte Krankheiten so lange wie möglich hinauszuzögern. „Denn was bringt es einem Menschen, wenn er zwar 90 Jahre alt wird, aber von 75 an schwer krank ist?“, fragt Karl Lenhard Rudolph, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut in Jena. Das Institut versucht Genvariationen zu identifizieren, die beeinflussen, ob jemand gesund altert oder nicht. Dabei wird auch untersucht, welche Schäden in der Erbinformation dafür Hilfe im Alltag: Care-o-bot holt der Bewohnerin eines Altenheims einen Becher Wasser aus einem Getränkeautomaten. Wie sich solche Technologien bewähren, hängt allerdings auch von ihren Kosten ab. Die IT-Branche stürzt sich nicht gerade auf Technologien, die Senioren das Leben erleichtern. Das Thema Alter ist nicht werbeträchtig. Beispiel Notfallsysteme im Haushalt: Schon vor 20 Jahren testeten Forscher Technologien, die zum Beispiel Stürze von älteren Menschen in der Wohnung automatisch registrieren und ärztliche Hilfe anfordern sollten. Die erprobten Systeme hätten allerdings mehrere 100.000 Euro gekostet. Inzwischen arbeiten Forscher mit Sensoren 26 foto: heinz heiss Eine Kostenfrage Stifterverband | F&E 2014 initiativen „Eine Gemeinschaftsaufgabe“ Ein Interview mit Marion A. Weissenberger-Eibl, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Systemund Innovationsforschung. foto: fraunhofer isi/klaus mellenthin sorgen, dass Zellen im Alter sich nicht teilen oder Organe irgendwann nicht mehr funktionieren. Außerdem wird erforscht, wie Stammzellen altern. Dass in diesem Bereich einiges zu erwarten ist, zeigt das steigende Interesse an diesen Forschungen: In den USA hat Google mit Calico eine eigene millionenschwere Biotechnik-Firma gegründet, um die Altersforschung zu beschleunigen. Fest steht: Der demografische Wandel ist kein Schreckgespenst mehr. Wissenschaftler und Entwickler bereiten uns mit ihren Ideen auf ihn vor – und bringen damit die Generationen vielleicht sogar wieder näher zusammen. Wie beeinflusst der demografische Wandel die Entwicklung neuer Technologien? Durch den demografischen Wandel verändert sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage: Die Kunden werden weniger und älter – und ältere Menschen haben im Hinblick auf Technologien und Produkte andere Bedürfnisse als jüngere. Man darf jedoch nicht vergessen, dass viele Menschen, die jetzt oder in einigen Jahren ins Rentenalter kommen, beruflich und privat seit vielen Jahren Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen. Sie sind damit also deutlich vertrauter als vorhergehende Generationen. Die Unternehmen müssen also vor allem auf die sich ändernden körperlichen Fähigkeiten eingehen, um am Markt erfolgreich zu bleiben. Können Innovationen Probleme ausgleichen, die sich durch den demografischen Wandel ergeben? Der demografische Wandel beziehungsweise der Umgang damit war, ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Gemeinschaftsaufgabe – die Fokussierung auf die rein technischen Aspekte ist falsch. Notwendig sind soziotechnische Innovationen, damit die Menschen möglichst lange selbstbestimmt leben können – idealerweise im eigenen Zuhause. Hierfür wird in den Bereichen ambient assisted living und smart home viel geforscht – auch, um neben dem technischen den menschlichen Aspekt nicht zu vergessen. Welche Rolle spielt die Politik? Kann sie Innovationen für ältere Menschen fördern? Im Bereich der Forschungsinfrastruktur kann die Politik viel tun: Durch die Unterstützung des Wissenstransfers zwischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen können nützliche Innovationen schneller entwickelt und auf den Markt gebracht werden. Für Innovationen braucht es zunächst eine gute Innovationskultur. Die Politik kann die Innovationskultur zwar nicht allein verändern, aber die richtigen Akzente setzen. Da beispielsweise eine Nichtnutzung der digitalen Medien heute fast unmöglich ist, sollte die Bildungspolitik die Möglichkeiten schaffen, dass alle Menschen im Prozess des lebenslangen Lernens ausreichende Medienkompetenz erlangen und so am Alltag teilhaben können. Teilhabe bedeutet nicht zuletzt, seine Bedürfnisse zu äußern, sodass Probleme bewusst gemacht werden und Lösungen dafür gefunden werden können. Stifterverband | F&E 2014 27 INITIATIVEN Revolution im Flugzeugbau Jan Binnebesel (li.) und Till Marquardt setzen neue Akzente im Flugzeugbau. Leichte Flugzeuge verbrauchen weniger Treibstoff. Das wissen auch die Ingenieure Jan Binnebesel und Till Marquardt und tüfteln deshalb an einer bahnbrechenden Idee. Von Cord Aschenbrenner J edem, der schon mal geflogen ist, ist klar, dass ein Flugzeug sein Fahrwerk nur am Boden braucht“, sagt Jan Binnebesel und wie er das so sagt, denkt man: Klar, wozu sollen die Räder denn auch durch die Lüfte geschleppt werden, schwer wie sie sind? Ist man an diesem Punkt angelangt, brauchen Binnebesel und sein Partner Till Marquardt nicht mehr viel Überzeu- 28 gungsarbeit zu leisten. Denn die Idee, die der Ingenieur und Flugzeug-Systemtechniker Binnebesel während seines Studiums an der Technischen Universität Hamburg-Harburg hatte, scheint so einfach wie einleuchtend: Flugzeuge in Zukunft ohne Fahrwerk zu bauen und so ihr Gewicht ganz erheblich zu senken, nämlich um bis zu 25 Tonnen (etwa beim Airbus A 380). Was wiede- rum bis zu 20 Prozent Treibstoffersparnis bedeuten würde. Das würde es der Luftfahrtindustrie mit ermöglichen, ihre Umweltziele zu erreichen – Treibstoff einzusparen und weniger Emissionen zu verursachen. Jan Binnebesel kam im Jahr 2005 als Werkstudent bei Airbus auf die Idee des fahrwerklosen Fliegers. Damals wurde ihm klar, welchen hohen Masseanteil Stifterverband | F&E 2014 foto: patrick runte Flieger der Zukunft: Die Gründer INITIATIVEN Uni unterstützte Gründer Was bisher nur als Computersimulation und als Modell im Maßstab 1:87 existiert, wird vielleicht schon um das Jahr 2030 herum Wirklichkeit sein. „Airport 2030“ hieß das Projekt im Rahmen des Spitzenclusters Luftfahrttechnologie, an dem außer den beiden Erfindern auch die TU Hamburg-Harburg, die Firma Airbus und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) bis Anfang 2014 beteiligt waren. Dass die beiden jungen Ingenieure dafür auch gleich ihr Unternehmen mb + Partner gründeten, war nur möglich, weil die TU Harburg ihnen bei der Gründung zur Seite stand. „Es war natürlich nicht ganz selbstverständlich, dass wir uns damals selbstständig machten“, erzählt Till Marquardt und Jan Binnebesel ergänzt: „Ohne die Professoren an der TU und am DLR, aber auch ohne die Leute bei Airbus, die uns bei der Übertragung der Rechte nach dem Arbeitnehmererfindergesetz sehr geholfen haben, wäre es nicht gegangen.“ Stifterverband | F&E 2014 GRÜNDUNGSRADAR 2013 Der Stifterverband hat analysiert, wie Hochschulen Unternehmensgründungen fördern. 128 Seiten. Download und Bestellung: www.gruendungsradar.de Denn noch eine Einrichtung war entscheidend daran beteiligt, dass aus der Idee der Ingenieure ein eigenes Start-up wurde: die TUTech Innovation GmbH. Sie ist die Transfergesellschaft der TU Hamburg-Harburg. Das Unternehmen war die erste Technologietransfer- und -verwertungsgesellschaft an einer deutschen Universität und hat Pate für viele ähnliche Einrichtungen gestanden. Juristen und Patentfachleute der TUTech sowie die Schulungen des Hamburger Existenzgründerprogramms „hep“ haben dafür gesorgt, dass die beiden Absolventen meinten, das Risiko einer Gründung eingehen zu können. Stark profitiert Überhaupt hätten (Aus-)Gründungen der TU Harburg sehr am Herzen gelegen, so der Eindruck der beiden. Auch deshalb hat sich die Universität am „Gründungsradar 2013“ beteiligt, für den der Stifterverband 168 Hochschulen befragt hat, die in der Gründungsförderung aktiv sind. Die Studie hat zum einen untersucht, wie gut Hochschulen Studierende, Absolventen und Wissenschaftler dabei unterstützen, ein Unternehmen zu gründen. Zum anderen wurden erstmals auch Gründer wie Binnebesel und Marquardt befragt. Wichtige Kriterien dabei waren die Güte des Gründungsklimas sowie der Umfang und die Qualität der Unterstützung durch die Hochschule. Beides scheint in Harburg schon lange vorbildlich zu sein. Binnebesel und Marquardt sind mit dem Gründungsklima an ihrer alten Hochschule sehr zufrieden: Womöglich sei es jetzt sogar noch besser als 2008. Mittlerweile gibt es dort nämlich eine Initiative namens „Startup Dock“, die eigens Studierende, Wissenschaftler und Alumni unterstützt, die ein Unternehmen gründen wollen. Diesen Schritt haben die beiden hinter sich. Ob ihre Idee des fahrwerklosen Flugzeugs sich durchsetzen kann, wird sich zeigen. Von der Gründungsförderung und -betreuung durch ihre Hochschule profitiert haben mb + Partner in jedem Fall. Nicht nur sie: auch die zwölf Studenten und Mitarbeiter, die sich aktiv an der Entwicklung beteiligt und im Laufe des Projekts häufig wissenschaftliche Arbeiten darüber verfasst haben. foto:mb+partner das Fahrgestell an einem Flugzeug hat. „Und da dachte ich: Mensch, da könnte man doch was machen“, erzählt er. Das Erste, was er machte, war seine Diplomarbeit über das Thema zu schreiben, es folgte der Auftrag von Airbus, „sich das genauer anzugucken“. Gemeinsam mit seinem Kommilitonen Marquardt, wie er Diplomand bei Airbus in Hamburg-Finkenwerder, entwarf Binnebesel schließlich das Modell eines T-förmigen Schlittens, der auf der Landebahn auf die im Anflug befindliche Maschine wartet, Fahrt aufnimmt und sich, von einem Sensor- und Regelungssystem gesteuert, zentimetergenau unter den Flugzeugbauch schiebt. Der setzt auf dem Träger auf und die Maschine rollt zu ihrer Parkposition. Beim Start beschleunigt das bodenbasierte Fahrwerksystem GroLas (groundbased landing gear system) umgekehrt bis zu dem Punkt, an dem die Maschine abhebt. Und was geschähe bei einer Notlandung, etwa auf einem Feld? Binnebesel und Marquardt betonen, dass Flugzeuge in diesem Fall ihre Räder ohnehin nicht ausfahren – sie würden einknicken oder abbrechen. Simulation: Der von Binnebesel und Marquardt entwickelte Schlitten schiebt sich beim Landeanflug unter den Bauch des Flugzeugs. 29 SERVICE Publikationen LÄNDERCH ECK ko m pa k t lehre und forschung im föderalen wettbewerb juli 2014 das deutschlandstipendium 2013 ein vergleich der bundesländer nach vergabeerfolg und -entwicklung Wie HocHscHulen mit unterneHmen kooperieren An vielen Hochschulen hat das Deutsch- landstipendium eine neue Stipendienkultur geschaffen: Im Jahr 2013 haben sie knapp lage und entwicklung der hochschulen aus sicht ihrer leitungen, 2013 V 161 A 0,29 20.000 Stipendien vergeben. Dies sind 42 Prozent mehr als im Jahr zuvor und knapp Jahr 2011. aten an allen Studierenden eines Bundeshöchsten, in Hamburg, Schleswig-Holstein 80 V 453 A 0,82 und Berlin am niedrigsten. Im Vergleich zum Jahr 2011 konnten insbesondere die V 5.428 A 0,78 Bundesländer Hessen, Brandenburg und Thüringen deutlich zulegen. 90 Erfolge bei der Stipendienvergabe sind V 1.803 A 0,79 weitgehend unabhängig von Art oder geo- grafischer Lage einer Hochschule. Exzellenz- 100 -20 -10 0 V A 368 0,71 V A 670 0,41 V A 386 0,77 V 1.069 A 0,96 V 777 A 0,63 universitäten sind beispielsweise nicht viel erfolgreicher als andere Universitäten und nicht so erfolgreich wie Kunsthochschulen, deren Vergabeerfolge insgesamt überraschen. Die am Deutschlandstipendium teil- nehmenden Hochschulen konnten durchschnittlich 62 Prozent ihrer verfügbaren V A 337 1,17 V 2.837 A 0,82 V 3.116 A 0,88 Stipendien vergeben. Im Verlauf des Jahres 2013 hat mehr als jede dritte von ihnen die Höchstförderquote erreicht. Erfolge bei der Förderergewinnung hängen damit maß- -30 geblich von der Bereitschaft einer Hochschule ab, dieses Förderinstrument aktiv zu -10 Studierenden in Prozent www.laendercheck-wissenschaft.de -9 -4 0 0 V Vergebene Stipendien A Anteil Stipendiaten an gestalten. 0 -80 -7 0 - 60 -5 0 Dritter Hochschul-Barometer E-Book „Die kommenden Tage“ Hochschulen und Wirtschaft arbeiten bereits an vielen Stellen und partnerschaftlich in der Forschung zusammen. Daraus erwachsen Vorteile für alle Beteiligten. Trotz der positiven Wirkungen steht die Zusammenarbeit der Hochschulen mit Unternehmen des Öfteren in der Kritik. Stichworte sind hier unter anderem Einflussnahme und mangelnde Transparenz. Doch wie stehen die Hochschulen selbst zu dem Thema? Sind die Befürchtungen unberechtigt und wo liegen die Vorteile solcher Kooperationen? Antworten liefert die neue Ausgabe des Hochschul-Barometers. Darin hat der Stifterverband bereits zum dritten Mal die Rektoren und Präsidenten aller deutschen Hochschulen gefragt, wie sie ihre aktuelle Situation und ihre Erwartungen für die Zukunft einschätzen. Schwerpunkt der aktuellen Analyse ist die Zusammenarbeit von Hochschulen und Wirtschaft. Gleichzeitig zum Erscheinen der Publikation erfolgt auch ein Relaunch der Website www.hochschul-barometer.de. Die Ergebnisse der Studie werden erstmals interaktiv aufbereitet. Ergänzt wird der neue Onlineauftritt durch multimediale Statements von Hochschulen und zahlreiche weitere Informationen. Die besten Vordenker unserer Gesellschaft – versammelt in einem Interviewband der besonderen Art. Speziell aufbereitet für das iPad (iBooks) bietet „Die kommenden Tage“ eine neue Dimension des Lesens. Ein neues Konzept medialer Präsentation verbindet Interviews mit untereinander vernetzten Glossartexten, mit Podcasts, Videos, Statistiken und interaktiven Kommentarmenüs. Es entstehen ganz neue Möglichkeiten, nach eigenen Interessen durch die Inhalte zu navigieren. Der digitale Band ergänzt das 2013 erschienene Buch „Die kommenden Tage“ mit neuen Interviews und Gesprächen zu zentralen Themen unserer Zeit: die neuen Herausforderungen für die Zivilgesellschaft, Bildung als – bedrohtes – Kernmerkmal moderner Gesellschaft, Möglichkeiten und Potenziale von diversity, neue Partnerschaften zwischen Wirtschaft und Hochschulen oder die Neuorientierung der Ökonomie. Pascal Hetze, Elena Mostovova: HochschulBarometer – Wie Hochschulen mit Unternehmen kooperieren. Essen 2014. 48 Seiten. www.hochschul-barometer.de 30 V 1.721 A 0,97 landes ist im Saarland und in Bremen am 10 20 V 365 A 1,06 Der Anteil von Deutschlandstipendi- V 198 A 0,50 V 51 A 0,05 vier Mal so viele wie zum Programmstart im 40 50 60 7 0 30 Timur Diehn, Corina Niebuhr: Die kommenden Tage – Chancen und Risiken der Wissensgesellschaft. E-Book. Edition Stifterverband, Essen, 2014. 12.99 Euro (iTunes-Store) Ländercheck Deutschlandstipendium Mit dem Ländercheck überprüft der Stifterverband den Stand und die Wirkungen des föderalen Wettbewerbs auf unterschiedlichen Feldern der akademischen Bildungs- und Innovationspolitik. Schwerpunkt der neuen Ausgabe ist das Deutschlandstipendium: Wie erfolgreich sind die deutschen Hochschulen damit, Mittel für die Stipendien einzuwerben? Wie wird das Stipendiensystem angenommen und welches Bundesland ist bei der Vergabe besonders erfolgreich? Das Ergebnis: Über drei Viertel aller Hochschulen in Deutschland beteiligen sich am Deutschlandstipendium, Tendenz steigend. Im Jahr 2013 haben sie knapp 20.000 Stipendien vergeben. Dies sind 42 Prozent mehr als im Jahr zuvor und knapp viermal so viele wie zum Start des Programms im Jahr 2011. Der Anteil von Deutschlandstipendiaten an allen Studierenden eines Bundeslandes ist im Saarland und in Bremen am höchsten, in Hamburg, SchleswigHolstein und Berlin am niedrigsten. Im Vergleich zum Jahr 2011 konnten insbesondere Hessen, Brandenburg und Thüringen deutlich zulegen. Alexander Tiefenbacher: Ländercheck. Das Deutschlandstipendium. Ein Vergleich der Bundesländer nach Vergabeerfolg und -entwicklung. 8 Seiten. Essen, Juni 2014. Stifterverband | F&E 2014 Service Der Stifterverband hat ein neues AudioPodcast-Projekt gestartet: „Forschergeist“. Im Mittelpunkt jeder Folge steht jeweils ein Gesprächspartner. In den Gesprächen geht es um übergeordnete Fragen des Wissenschafts- und Bildungssystems. Die ersten Folgen behandeln Themen wie citizen science, mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem oder die Digitalisierung der Wissenschaften. „Forschergeist“ will Personen zeigen, die neue oder ungewöhnliche Pfade erkunden. Wissenschaftler, die nie aufgegeben haben oder einsame Umwege gehen mussten. Querdenker, die unsere Gesellschaft mit ihren Ideen weiterbringen wollen. Eine solche Art von Gespräch braucht Raum: Eine Episode kann durchaus bis zu 120 Minuten lang sein. Alle drei Wochen soll eine neue Folge erscheinen. Der Stifterverband erstellt die Reihe zusammen mit dem Berliner Podcaster Tim Pritlove. „Forschergeist“ ist über alle üblichen Podcast-Verzeichnisse abonnierbar (zum Beispiel iTunes) oder direkt auf der Website zu hören. www.forschergeist.de Dr. Gero Stenke Leiter und Geschäftsführer SV Wissenschaftsstatistik GmbH Telefon: (02 01) 84 01-4 26 E-Mail: [email protected] Dr. Andreas Kladroba Geschäftsführer SV Wissenschaftsstatistik GmbH Telefon: (02 01) 84 01-4 28 E-Mail: [email protected] foto: bussenius/reinicke Podcast „Forschergeist“ Ansprechpartner foto: david ausserhofer Hört, hört! Die Wissenschaftsstatistik im Stifterverband erhebt als einzige Institution in Deutschland regelmäßig Daten über Forschung und Entwicklung (FuE) von Unternehmen und Institutionen wirtschaftsnaher Gemeinschaftsforschung nach einheitlichen internationalen OECD-Vorgaben. Die FuE-Statistik ist seit vielen Jahren Bestandteil der FuE-Berichterstattung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Sie ist zugleich Teil der offiziellen FuE-Meldungen Deutschlands an internationale Organisationen (OECD, EU) und damit auch Basis für den internationalen Vergleich der FuE-Tätigkeit der deutschen Wirtschaft. www.wissenschaftsstatistik.de IMPRESSUM Forschung & Entwicklung 2014, 9. Jahrgang Herausgeber SV Wissenschaftsstatistik GmbH Verlag Edition Stifterverband – Verwaltungsgesellschaft für Wissenschaftspflege mbh, Essen Chefredakteur Michael Sonnabend (verantwortlich für den Inhalt) Chefin vom Dienst Simone Höfer Bildredaktion Cornelia Herting Redaktionsanschrift Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Barkhovenallee 1, 45239 Essen, Tel.: (02 01) 84 01-181, Grafik und Layout SeitenPlan GmbH, www.seitenplan.com Erscheinungsweise jährlich, ISSN 1863-9593 Druck Druckerei Schmidt, Lünen Print Stifterverband | F&E 2014 kompensiert Id-Nr. 1443568 www.bvdm-online.de 31 Noch mehr Lesespaß www.fue-magazin.de Die Forschung & Entwicklung gibt es auch als Onlineausgabe, gespickt mit vielen interessanten Zusatzinformationen, Videos und Bildergalerien. Lesen können Sie das Magazin bequem auf allen Endgeräten.