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Prof. Dr. Jan Henrik Klement Sommersemester 2015
Prof. Dr. Jan Henrik Klement Sommersemester 2015 Staatsrecht II (Grundrechte) Arbeitsgemeinschaft – Papier 1: Aspekte der Würde des Menschen Inhalte: In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik; Recht auf die Gewährleistung des Existenzminimums; Luftsicherheitsgesetz Fall 1: A ist Frauenarzt und möchte seiner Patientin P zu einem gesunden Kind verhelfen. Aufgrund einer entsprechenden genetischen Veranlagung der P besteht allerdings die hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein auf natürlichem Wege gezeugter Embryo an Trisomie 13 oder 14 leiden wird. In beiden Fällen ist die Leibesfrucht nicht lebensfähig. Die Schwangerschaft endet regelmäßig mit einer Fehl- oder einer Totgeburt, andernfalls verstirbt das Neugeborene innerhalb weniger Tage nach der Geburt. Mit Zustimmung der P und ihres Partners nimmt A deshalb eine In-vitro-Fertilisation vor, bei der mehrere Eizellen der P befruchtet werden. Drei der Embryonen entnimmt A wenige Tage nach der Befruchtung Zellen und untersucht sie auf Chromosomenaberrationen (sog. Präimplantationsdiagnostik – PID). Bei der Untersuchung weisen zwei der Embryonen eine Trisomie auf, der dritte Embryo hingegen bleibt ohne Befund. Auf Wunsch von P überführt A nur den Embryo mit negativem Befund in ihre Gebärmutter. Die Embryonen mit positivem Befund werden nicht weiter kultiviert und sterben deshalb ab. Verstößt das Vorgehen des A gegen das Gebot zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG? Fall 2: Die dreizehnjährige T ist das einzige Kind ihrer Eltern. Die dreiköpfige Familie bezieht Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Höhe von monatlich insgesamt 904 Euro. Davon entfällt auf T ein sog. Sozialgeld für Kinder in Höhe von 242 Euro. Dieser Betrag beruht auf einer Vorschrift des Zweiten Sozialgesetzbuches – Grundsicherung für Arbeitsuchende –, der zufolge Kinder im Alter bis 14 Jahre 60 Prozent der gesetzlichen Regelleistung für einen alleinstehenden Erwachsenen erhalten. In der Begründung des Gesetzesentwurfs wird die Bildung der Altersgruppen ausschließlich damit begründet, dass dies „international anerkannten wissenschaftlichen Verfahren“ entspreche. Insbesondere gingen Minderjährige auch in der modifizierten OECD-Skala erst ab einem Alter von 14 Jahren wie ein Erwachsener in die Berechnung ein. T ist der Ansicht, dieser Betrag sichere ihr keine ausreichende Lebensgrundlage. Sie könne weder ihre Schulbücher und Unterrichtsmaterialien noch Freizeitaktivitäten finanzieren. Sie fürchtet, schulisch und sozial den Anschluss an ihre Mitschüler zu verlieren. Sind die für T maßgeblichen Vorschriften zur Berechnung der Höhe der Grundsicherung mit dem Grundgesetz vereinbar? 2 Bearbeitervermerk: Die modifizierte OECD-Skala dient der Berechnung des Nettoeinkommens und damit des Lebensstandards der einzelnen Haushaltsmitglieder. Dabei werden die sog. Skaleneffekte (Größenvorteile) berücksichtigt, die in Familien insbesondere durch die gemeinsame Nutzung von Wohnraum auftreten. Die OECD-Skala dient dem Zweck, Lebensstandards international vergleichbar zu machen. Fall 3: Am 11. Januar 2005 beschloss der Deutsche Bundestag als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika formell ordnungsgemäß das Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG). Ziel des Gesetzes war der Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen. Nach § 14 Abs. 3 LuftSiG ist der Staatsgewalt die unmittelbare Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt erlaubt, „wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll“ und der Einsatz von Waffengewalt „das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“. Ausschließlich zuständig für die Anordnung dieser Maßnahme war der Bundesminister der Verteidigung oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung. Die Maßnahmen nach § 14 LuftSiG durften gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 LuftSiG erst nach erfolglosen Versuchen zur Warnung und Umleitung getroffen werden. Gegen die Vorschrift des § 14 Abs. 3 LuftSiG formierte sich Widerstand. Passagiere sowie Gewerkschaften von Piloten und Flugbegleitern befürchteten unter anderem, dass die Situation an Bord eines Flugzeugs von der Erde aus falsch eingeschätzt werden könne. Der Einsatz von Waffengewalt gegen ein Luftfahrzeug führe praktisch immer zu dessen Absturz, der wiederum mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod aller Insassen, auch der Unbeteiligten, zur Folge habe. Ist § 14 Abs. 3 LuftSiG mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar? Lesehinweise: Zur Vorbereitung auf die Arbeitsgemeinschaft: F. Hufen, Die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG, JuS 2010, S. 1– 10; H.-J. Papier/C. Krönke, Grundkurs Öffentliches Recht 2, 2012, S. 69–78. Zur Vertiefung: Zu Art. 1 Abs. 1 GG: W. Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde – Annäherungen an einen schwierigen Verfassungsrechtssatz, JuS 1995, S. 857–862. Zu Fall 1: M. Herdegen, Die Menschenwürde im Fluss des bioethischen Diskurses, JZ 2001, S. 773–779. Zu Fall 2: BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 – Az. 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09, BVerfGE 125, 175–260 (Hartz IVRegelsatz); S. Muckel, Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, JA 2012, S. 794–796. Zu Fall 3: BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 – Az. 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118–166 (Luftsicherheitsgesetz); K. Baumann, Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitseinsatz der Streitkräfte, Jura 2006, S. 447–454.