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Zeitschriften um 1900. Deutschland, Frankreich und Russland im Vergleich.

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Zeitschriften um 1900. Deutschland, Frankreich und Russland im Vergleich.
Zeitschriften um 1900.
Deutschland, Frankreich und Russland im Vergleich.
Barbara Duttenhöfer, Clemens Zimmermann
Kultur- und Mediengeschichte
Im Bahnhof Saarbrücken kann der
Kunde täglich zwischen ca. 2750 Zeitschriftentiteln auswählen. Insgesamt
hält der deutsche Zeitschriftenmarkt
sogar etwa 5000, auch zahlreiche
fremdsprachige Titel bereit, wobei die
Themenpalette von Politik über Wirtschaft, Kultur und Unterhaltung alle erdenklichen Lebensbereiche abdeckt.
Dabei ist dieses für uns selbstverständliche Angebot des Zeitschriftenmarktes
keineswegs eine Errungenschaft der
Nachkriegsentwicklung, sondern hat
seine Ursprünge in einer Expansion des
Zeitschriftenmarktes um 1900. Es entstand eine Zeitschriftenlandschaft, deren Modernität in Inhalt und Form
heute erstaunt, deren Innovationskraft
prägend wirkte und deren Anzahl das
heutige Angebot sogar übertrifft. Allein
in Deutschland standen mehr als 6500
Zeitschriftentitel zur Verfügung, anhand derer sich das Publikum über die
neuesten Entwicklungen informieren,
politisch orientieren oder unterhalten
konnte.
Information, Orientierung, Unterhaltung: Damit sind die wichtigsten kommunikativen Funktionen genannt, die
die Zeitschriftenpresse in den europäischen Gesellschaften schon vor mehr
als 100 Jahren innehatte. Ihre Bedeutung ist aber zusätzlich in ihrem medialen Potenzial zu sehen, das sie, in
Wechselwirkung mit breiten zeitgenössischen Visualisierungstendenzen, zum
Leitmedium machte, bevor später
Rundfunk und Fernsehen diesen Rang
übernahmen. Zeitschriften beeinfluss-
Abb. 1: Sensationsjournalismus: “Der Criminalreporter” (Nr. 51, 1892).
ten Lesefähigkeiten und Lesepraktiken,
Geschmacks- und politische Urteilsbil-
Die Modernität des europäischen Zeitschriftenwesens um 1900 war
bemerkenswert: Eine ausdifferenzierte Themenpalette wurde in den unterschiedlichsten Typen wie Illustrierte oder Fachblatt publiziert, die damalige Titelanzahl reichte sogar über die heutige hinaus. Am Lehrstuhl für Kultur- und
Mediengeschichte werden nun erstmals die Zeitschriftenlandschaften von
Frankreich, Deutschland und Russland verglichen. Dabei können neue Erkenntnisse über die kommunikativen Funktionen der einzelnen Zeitschriften für die
sehr unterschiedlichen Gesellschaftssysteme dieser Länder gewonnen werden.
Gleichzeitig wird deutlich, welche bedeutende Rolle ihre illustrierten Formen als
visuelle Leitmedien dieser Epoche spielten.
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dung und die gesellschaftliche Kommunikation in weitaus höherem Grade als
dies bislang angenommen wurde. Sie
führten zur Ausbildung spezifischer Leserschaften und reagierten auf die Entstehung besonderer Teilöffentlichkeiten
wie die der Arbeiterschaft und der Frauenbewegung. Für die Ausbildung, Artikulation und Befriedigung neuer sozialer Interessen und kultureller Bedürfnisse waren Zeitungen und Zeitschriften
von größter Bedeutung. Damit änderte
sich auch die innere Struktur der Redaktionen.
Universität des Saarlandes
Als Forschungsgegenstand ist die Zeitschriftenpresse daher in besonderem
Maße geeignet, um Aussagen über die
Mechanismen medialer Kommunikation, ihre Funktionen für die Öffentlichkeit und ihre kulturelle Prägekraft zu
treffen. Erstmals werden in einem Projekt am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte die Zeitschriften dreier
europäischer Länder - Frankreich,
Deutschland, Russland - unter einer
vergleichenden Perspektive bearbeitet.
Damit geht das Forschungsvorhaben
über den bisher bearbeiteten nationalen Bezugsrahmen ebenso hinaus wie
es, um sowohl der textlichen wie visuellen Dimensionen gerecht zu werden,
unterschiedliche methodische Ansätze
verknüpft. Dabei sollen die internationale Entwicklungstrends im Pressewesen benannt und aufgezeigt werden,
auf welche Weise diese in den einzelnen Ländern griffen und teilweise
gleichzeitig, teilweise zeitversetzt, je eigene ‚nationale’ Formen und Aneignungen erfahren haben. Letztlich kann
erst auf dem Weg eines Vergleichs ein
begründetes Urteil darüber gegeben
werden, welche diskursiven Formen
und Symbolsprachen, welche Wirkungen und öffentlichen Sphären auf generellen (medialen und gesellschaftlichen) Faktoren der Entstehung moderner Industriegesellschaften beruhten,
und welche auf nationalen oder regionalen.
Zeitschriftenlandschaften in
Deutschland, Russland und Frankreich
Im Zuge der dynamischen Entwicklung
des Marktes der Printmedien um 1900
expandiert also gerade der Zeitschriftensektor. Das heutige Spektrum an Typen und Formen von Zeitschriften tritt
innerhalb weniger Jahre hervor. Die
wissenschaftlichen Disziplinen legen
sich jeweils mehrere Fachorgane zu von den “Ärztlichen Mitteilungen”
(1899) bis zur “Zeitschrift für Astrophysik”. Die Kundinnen im Einzelhandel
können sich in einer “Edeka-Zeit-
Arbeitsplatz Zeitschrift
Die Zeitschriftenbranche bot auch Frauen mit guter Allgemeinbildung
berufliche Einstiegschancen und verschiedene Tätigkeitsfelder, da sie trotz fortschreitender Professionalisierung keine formalen Bildungsabschlüsse verlangte.
Dies war in Russland nicht anders als in Deutschland. So publizierte die ehemalige Gouvernante Anastasia Verbitzkaja (1861-1928) ihre sozialkritisch gefärbten Frauenromane als Fortsetzungen in tonangebenden Organe und wurde
schließlich zur Bestsellerautorin. Die Politikerin Clara Zetkin (1857-1933)
arbeitete zunächst als Lehrerin, dann als Übersetzerin für sozialistische
Exilblätter in Paris, bevor sie 1892 als Chefredakteurin, ab 1898 auch als Herausgeberin die Frauenzeitschrift Die Gleichheit entscheidend prägte. Als sie
1917 die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) mitbegründete, entzog ihr die SPD die Herausgeberschaft.
Abb. 2: Anastasia Verbitzkaja auf einem Foto (1906) aus Ihrer Autobiographie
“An meine Leser”.
schrift” (1907) auf dem Laufenden halten, 1895 zählt man 93 Haus-, Modeund Frauenblätter, 1914 bereits 214,
reichlich Sex & Crime findet sich in “Der
Criminalreporter” (1892). Die neuartigen Publikumszeitschriften der Jahrhundertwende deckten sowohl von ihren Themen her als auch hinsichtlich
der sozialen Zugehörigkeit ihrer Leserschaft eine große Bandbreite ab, sie
sprengten lokale und soziale Grenzen
bisheriger Kommunikation. Im Markt
Prof. Dr. Clemens ZIMMERMANN, Professor für Kulturund Mediengeschichte am Historischen Institut der
Universität des Saarlandes. Veröffentlichungen zur
modernen Sozial- und Mediengeschichte, besonders zum
Kontext der ländlichen Gesellschaft und im Zusammenhang der Genese von Staatlichkeit, zu Publikumsund Rezeptionsfragen, zur Stadt- und Urbanisierungsgeschichte und zu Reformbewegungen.
magazin forschung 2/2002
kann zwischen Qualitätszeitschriften
wie “Westermanns Monatshefte” (seit
1856) und populären Journalen unterschieden werden, an erster Stelle die
“Berliner Illustrirte Zeitung”, die seit
1892 erschien, bald neue Maßstäbe für
den Fotojournalismus setzte und 1915
eine Auflage von 800000 Exemplaren
erreichte. Dieses Erfolgsblatt stand in
Konkurrenz zur Illustrierten “Die Woche” (1899) mit etwa 300000 Exemplaren.
Das erfolgreichste französische Gegenstück war “Le Monde illustré”, die
schon seit 1844 bestand, sich aber nun
inhaltlich und formal stark veränderte
und eine ständig wachsende Leserschaft ansprach: Mit zirka 700000 gedruckten Exemplaren vor dem Ersten
Weltkrieg wurde ein Vielfaches von Leserinnen und Lesern erreicht, da man
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üblicherweise in Familie und Freundeskreis eine Zeitung oder Zeitschrift
gemeinsam bezog. Im 19. Jahrhundert
war zunächst ein Pariser Zeitungstyp
hervorgetreten, die „quotidiens populaires“, eine überwiegend unterhaltende, regimetreue populäre Tagespresse, die durch die Verwendung von
Illustrationen und dann Fotografien ein
immer größeres Lesepublikum ansprach. Doch auch in Frankreich entwickelte sich eine reichhaltige Zeitschriftenlandschaft, etwa “Le Petit
Écho de la mode” (1893) oder “Fémina”, die erste Frauenzeitschrift 1901
mit Fotografien. Während Jugendzeitschriften schon einige Jahrzehnte
präsent waren, kamen nun Comiczeitschriften auf den Markt (“L´Épatant”, 1908, “L´Intrépide” und “Fillette”, 1909), die auch gebildete Leser ansprachen. Einen völlig neuen Zeitschriftentypus repräsentierten populärwissenschaftliche Magazine für Frauen
und Kinder (“Je sais tout”, 1905) und
für Männer illustrierte, auflagenstarke
Sportzeitschriften wie “L’Auto”.
Das russische Pressewesen hatte sich
seit den Großen Reformen der 1860er
Jahre staatsunabhängig etablieren können. Es bildete sich bis 1900 eine vielgestaltige Presselandschaft für breitere
Leserschichten und unterschiedliche
Publiken aus. Bemerkenswert ist vor allem die Expansion des gesamten Pressewesens ab den 1890er Jahren, die im
Zusammenhang mit der Industrialisierungspolitik des zarischen Regimes
stand: Sie führte zu einer Welle von Publikationsgründungen bis 1917, die
auch die politische Reaktionsphase
nach der Revolution von 1905 nicht unterbrach. So verdreifachte sich von
1900 bis 1914 die Zahl der russischen
Periodika von 1002 auf 3111. In der
russischen Presse war es die seit 1870
publizierte Illustrierte “Niva” (Das Weizenfeld), die mit ihrer Mischung aus
Unterhaltung und Belehrung den westlichen Familienzeitschriften ähnelte und
um 1900 eine Auflage von 200000 erreichen sollte. Das seit 1908 erschienene “Ogonjok” (Das Flämmchen) war
mit seinem Konzept von Unterhaltungsliteratur, Illustrationen und Fotos
noch erfolgreicher und hatte 1914 sogar eine Auflage von 700000 Exemplaren. Auch in Russland entstanden ab
den 1880er Jahren solche Special-Interest - Zeitschriften, die wie das Modenblatt „Vestnik Modi“ (Der Modebote,
1885) an Frauen oder wie “Dlia Ma-
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Abb. 3: Sozialdemokratische Satire - Titelblatt “Der wahre Jakob”.
liutok” (Für die Kleinen, 1895) an Kinder adressiert und mit Illustrationen und
Rubriken für Rätsel und Humor ausgestattet waren. Wie in Westeuropa
begannen Bildungsorganisationen, Berufs- und Interessengruppen etwa mit
„Russkij Vestnik Strachovanija (Russischer Verscherungsbote, 1890), “Russkii Vrac!” (Der Russische Arzt, 1902)
oder “Moloc!enoe chozjajstvo” (Milchwirtschaft, 1902) eigene Organe zur
äußeren Selbstdarstellung und internen
Kommunikation herauszugeben. Eine
Sonderstellung nahmen im russischen
Zeitschriftenmarkt die in den 1830er
Jahren entstehenden “Tolstye Žurnali”
(Dicke Zeitschriften) ein. Ihre Bezeichnung geht auf ihren Umfang bis zu
fünfhundert Seiten zurück, der sie der
Vorzensur enthob. Da sie der gesellschaftskritischen Intelligencija als Reflexions- und Diskussionsforum dienten,
haben sie große Bedeutung für die politische Kultur Russlands erlangt, auch
zeitgenössische Fortsetzungsromane
wurden hier abgedruckt. Über die
Revolution von 1905 hinaus behielten
sie ihre tonangebende Stellung, wurden
allerdings lange nur von einer sehr
gebildeten, kleinen Leserschaft rezipiert.
All diese neuen Typen verweisen inhaltlich und als Gegenstände auf die rasch
erweiterte Sphäre eines standardisierten, erlebnisorientierten Konsums wäh-
Universität des Saarlandes
Dies zeigt sich an den Zeitschriften der
organisierten Arbeiterschaft, z.B. am
“Wahren Jakob” (1884), einem erfolgreichen satirischen Journal, ein Gegenstück zum “Simplicissimus” (1896). In
Frankreich wiederum war sowohl an
charakteristischer Bebilderung wie an
politischer Schärfe unübertroffen “L´Assiette au beurre”, ein Satirejournal, das
von 1901 - 1912 erschien und berühmte Illustratoren präsentierte. Von gleicher Qualität in der Darstellung und mit
beißender Kritik die gesellschaftliche
Dekadenz geißelnd, seien als russische
Beispiele die in St. Petersburg 1906 nur
zwei Ausgaben erlebende „Satira“ und
die von 1908-1914 erscheinende „Satirikon“ genannt.
Ein Beispiel:
Deutsche Frauenzeitschriften
Abb. 4: Das erste Farbfoto auf dem Titel der Pariser Frauenillustrierten “Fémina” (Nr. 161, 1907).
rend der Freizeit und auf ausdifferenzierte Wissens- und Handlungssphären.
Insofern kann man von einer doppelten
Konstituierung der Lesepubliken in den
drei untersuchten Ländern sprechen: Einerseits entwickeln die Leser in distinkten, traditionellen Sozialmilieus neue
Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse, andererseits schaffen sich die
neuen Journale eine immer größere und
ausgefächerte Leserschaft, die bald
auch die der Provinz, des Dorfes, die
neuen Gruppen der Sportenthusiasten,
die an einem Zugang zu naturwissenschaftlich Interessierten (“Umschau
in Wissenschaft und Technik”, 1896,
“Kosmos”, 1906) einschließt und in
neuer Weise auf schon ältere Lesergruppen wie Kinder eingeht. Diese neuen “Massenmedien” laufen keineswegs
auf eine Genese von “Massenkultur”
hinaus, sondern es handelt sich um
einen Prozess, bei dem sowohl eine Homogenisierung der Konsumsphäre als
auch soziokulturelle Differenzierung
stattfindet.
Die Teilöffentlichkeiten, in denen Zeitschriften fungierten, hatten eher anonymen und Markt-Charakter, oder aber
weisen die Form eines Netzwerkes von
Personen mit ähnlichen Interessen auf.
Barbara Duttenhöfer, M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Historischen Institut der Universität des Saarlandes. Arbeitet an einem größeren Forschungsprojekt über Zeitschriften und Frauenöffentlichkeiten in Deutschland und Russland.
U.a. Autorin zweier Fernsehdokumentationen: „Frauen in der
SS“ (1998/SDR), „Ich liebte den Feind” (2001/ SWR).
magazin forschung 2/2002
Auch auf dem Markt der Frauenzeitschriften lässt sich für die Zeit der Jahrhundertwende ein Boom feststellen,
der um 1900 eine erstaunliche Anzahl
von Titeln hervorbrachte. In Deutschland verdreifachte sich die Zahl der
Frauen-, Haus- und Modeblätter von
1886 bis 1905 auf 163; bis 1914 sollte
diese Gruppe noch einmal einen Zuwachs auf 215 Titel erleben. Hinzu kamen (1917) die 80 Publikationen der
Berufs- und Fachverbände, 33 Zeitschriften aus dem Kreis sozial-karitativer Vereine und Wohltätigkeitseinrichtungen und, in einer nie mehr erreichten Fülle, die 45 Organe der
Frauenbewegung.
All diese Publikationen spiegelten aber
nicht nur die ganze Bandbreite weiblicher Lebenswirklichkeiten wider, sondern repräsentierten auch das Spektrum der zeitgenössischen Zeitschriftengenres. Bedienten sich die Publikationen der Frauenbewegung („Die
Gleichheit“, 1892, „Die Frau“, 1893,
„Die Frauenbewegung“, 1895), oder
weiblicher Berufsverbände („Die katholische Lehrerin“, 1904) zur Propagierung ihrer Inhalte eher des Typs der traditionell textorientierten, informativ-reflektierenden Fachzeitschriften, lassen
sich die Organe für Hausfrauen eher
den Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehenden, illustrierten Publikumszeitschriften zuordnen.
Diese inhaltliche und formale Vielfalt
war Ergebnis fundamentaler gesellschaftlicher und medialer Wandlungs-
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Abb. 5 und 6: Ob in Deutschland oder Russland: Bild und Text sind um 1900 die charakteristischen Elemente von Anzeigen. Anzeigen des Saarbrücker Korsetthauses Th. Mennong und der russischen Filialen der Pariser
Firma Ch. Russel (Dtsch. Frauenzeitung, Nr. 69, 1906. Ženskoe Delo, Nr. 20, 1913).
prozesse, die sich seit dem 18. Jahrhundert in unterschiedlicher Intensität und
in Etappen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen hatten. Aufgrund
der fortschreitenden Alphabetisierung
hatte sich ein alle soziale Schichten umfassendes, weibliches Lesepublikum
entwickelt, das sich nach Bildungsstand, Lebensstandard und Interessenlage in verschiedene Gruppen ausdifferenzierte. Zu der Gruppe aus adligbürgerlichen Kreisen kamen nun
Leserinnen aus den bisher benachteiligten Mittel- und Unterschichten hinzu:
Neben Hausfrauen und Angestellten
stellten jetzt Tagelöhnerinnen, Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen ein
bedeutendes weibliches Publikumssegment dar.
Publikationsformen von und für Frauen
waren schon seit dem 18. Jahrhundert
mit den Frauenzimmerjournalen, dann
der Frauenpublizistik der 1848er Revolution und den Frauenbeilagen in Tageszeitungen oder Familienzeitschriften
entstanden. Doch erst die kommerziell
finanzierte Presse brachte seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts preiswertere Medien hervor. Ende der 1880er Jahre ermöglichten verbesserte Reproduktionstechniken, den Anteil von Illustrationen
kostengünstig zu erhöhen. Durch diese
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Faktoren entwickelten sich Zeitschriften
wie Ullsteins “Dies Blatt gehört der
Hausfrau” (1886) für Leserinnen aus
den Mittelschichten.
Bei diesen illustrierten Frauenzeitschriften liefen zwei pressegeschichtliche
Traditionen zusammen. Zum einen
übernahmen Verleger und Redaktionen
von den bisherigen, meist im Umfeld
wohltätiger Frauenvereine entstandenen Hausfrauenzeitschriften die publizistische Mischung von Lebenshilfe,
Ratschlägen zu rationellerer Haushaltsführung und Unterhaltung. Deren
emanzipatorisches Engagement vertrat
man aber weit weniger offensiv. Im
Rahmen gemäßigter bis konservativer
Vorstellungen propagierte man das Ideal der tüchtigen, selbständigen Hausfrau, deren höchste Erfüllung die Ehe
blieb und deren Ausbildung und voreheliche Berufstätigkeit sich diesem Lebensziel unterordnete. Zum anderen
wurde das Konzept der mondänen, teilweise illustrierten Modeblätter aufgegriffen, die lange Zeit unerschwinglich
für ein größeres Publikum waren. Den
Abbildungen mit der neuesten Mode
wurde nun mehr Platz eingeräumt und
der Ullstein Verlag verlegte sich mit
unerhörtem Erfolg auf die Herstellung
und Verbreitung von Schnittmustern.
Diese Visualisierungstendenz ging mit
einem neuartigen Layout einher. Nun
erschienen mit jeder Ausgabe nicht
mehr gleichbleibende, sondern mit immer neuen Motiven ausgestattete Titelblätter. Im Annoncenteil priesen die Inserenten aus der sich etablierenden
Konsumgüterindustrie ihre Produkte
nicht nur wortreich an, sondern machten auf sie mit erklärenden Illustrationen aufmerksam. Ein kleines Detail lässt
die Bedeutung der neuen Frauenzeitschriften für die Leserinnen selbst erkennen: Zum Jahresende boten die
Verlage einen Schmuckeinband zur
Heftung eines Jahrgangs an. Die hohe
Nachfrage nach solchen Einbänden
deutet darauf hin, dass die Leserinnen
die Zeitschriften nicht als schnell konsumierbares Gut betrachteten, sondern
sie als ‚Nachschlagewerke’ für alle Probleme des Alltags zu Rate gezogen haben. In vielen Familien griff man auch in
späteren Jahren gerne auf die Bände
zurück.
Obwohl die populären Organe ein
weitaus größeres weibliches Publikum
erreichten als ihre anspruchsvoller geschriebenen ‚Schwestern’ der Vereinsund Bewegungspresse, wurde ihre Bedeutung als ein von Frauen ebenfalls
mitgestalteter Kommunikationsraum
Universität des Saarlandes
lange Zeit nicht angemessen gewürdigt. Tatsächlich konnten Frauen in den
Publikationen der Frauenbewegung
von Anfang ihrer Mitarbeit selbstbestimmter wirken, etwa als Herausgeberinnen, Redakteurinnen oder Korrespondentinnen. Aber auch die kommerzielle Presse bot Aufstiegschancen, so
gab es etwa bei Ullstein festangestellte
Redakteurinnen, die für bestimmte Ressorts zuständig waren. Bedeutsam sind
diese vermeintlichen ‚Trivialmedien’
auch deshalb, weil über sie viele Frauen
zum Journalismus kamen, sie hier also
erste berufliche Qualifikationen erwerben konnten.
Visualität als Charakteristikum
Bebilderung und illustriertes Layout gehören zu den hauptsächlichen Kennzeichen besonders der publikumsorientierten Zeitschriften. Zwar hatte auch die
“Gartenlaube”, das erfolgreiche Familienblatt in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in jeder Nummer eine
ganze Reihe von Holzschnitten aufgewiesen, die teils das Gelesene ergänzten, teils einen eigenständigen Charakter hatten. Doch um die Jahrhun-
dertwende kann man drei essentielle
Innovationen im Zeitschriftenwesen
feststellen: Zum ersten, die Zahl der Illustrationen nahm in den Zeitschriften
sehr rasch zu, so konnte man diese
leichter durchblättern, die Lektüre wurde dadurch wohl oberflächlicher, fand
aber zugleich auf einer zweiten Ebene
statt, bei der die Teilnahme an aktuellem Ereignis und Erleben möglich
wurde. Die zweite Innovation war ein
klareres und kreativeres Design sowohl
der redaktionellen Artikel wie der Anzeigenteile. Die optische Präsentation
gewann an Reiz und an Übersichtlichkeit, die Bezüge zwischen Texten und
Bildern wurden durch erläuternde Bildunterschriften dichter. Durch einen
ähnlichen Illustrationsstil konnten Fortsetzungsgeschichten auch optisch zusammengebunden und wiedererkennbar für die Leser werden. Internationale
Vorbilder waren etwa aus den USA
“Harper´s Monthly”, “Cosmopolitan”,
“Leslie´s” und die “Saturday Evening
Post”. Die dritte Innovation war der
Abdruck von Fotografien, nachdem
durch die revolutionäre Erfindung des
Halbtonverfahrens (erstmals perfektioniert 1884 durch die Pariser “L´Illustra-
Abb. 7: Reklame wurde Ende des letzten Jahrhunderts zu einem wesentlichen Bestandteil der bildhaften Phantasie. Zahlreiche Werbekampagnen zielten auf ein weibliches Publikum.
magazin forschung 2/2002
tion” und dem “Journal Universel”),
durch neue Verfahren des Flachbettund Rotationsdrucks, sowie durch
wachsende Erfolge bei rationeller Herstellung von Druckplatten und beim
Mehrfarbendruck die technischen und
ökonomischen Voraussetzungen geschaffen waren. Dieser Umschwung zur
Fotografie zog sich etwa von 1895 bis
1925 hin. Gerasterte Pressefotographien tauchten zwar auch schon gelegentlich in Zeitungen auf, jedoch nur in
Zeitschriften - auch in Fachjournalen führte der Abdruck von Fotografien zu
erhöhter Aktualität. Da Fotografien als
besonders “wahr” galten, unterstrichen
sie den Anspruch, authentisch zu berichten. Fotos wurden ein Element öffentlicher Kommunikation, verwiesen
häufig auf fortgeschrittene Modernität,
dokumentierten zeitgeschichtlich bedeutsame Ereignisse, verdrängten jedoch keineswegs sofort und vollständig
die bisherigen technischen Verfahren
und die Zeichnungen als wesentliches
Gestaltungselement. Die “Berliner Illustrirte Zeitung” beschäftigte weiterhin
ein wahres Heer an Illustratoren und
manchmal wurden Fotografien nicht
direkt abgedruckt, vielmehr durch eine
Nachzeichnung erst wirklich attraktiv,
dramatisch inszeniert. Zeichnungen waren oft das viel bessere Mittel, die Leserinnen und Leser ein bestimmtes Ereignis aus einer besonderen Perspektive
näher zu bringen. Die Fotografie war
zudem technisch noch nicht so entwickelt, als dass der “entscheidende
Moment” einer Situation (eines Attentats, einer Sportveranstaltung, einer politischen Rede oder eines physikalischen
Experiments) hätte akkurat erfasst werden können. Kleinere Journale mussten
sich aus finanziellen und technischen
Gründen weiterhin bei der Illustrierung
beschränken.
Spätere Entwicklungen wie die Sportoder Sozialreportage (“The Shame of
the City”), wo Bildlichkeit zu einem
tragenden Moment wird, entwickelte
sich schon vor dem Ersten Weltkrieg mit signifikanten Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern. Überhaupt nahmen in der urbanen Welt die
visuellen Angebote zu - durch Film und
Kino, durch Plakatsäulen und bemalte
Häuserwände, durch den stärkeren Erlebnischarakter der Freizeit, bei der man
sich nun im ganzen Stadtraum bewegte, wo Cabarets und Unterhaltungstheater ebenfalls mit “Bildern”
lockten, wo Großereignisse von den
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Printmedien mitorganisiert wurden.
Wachsende Visualisierung lässt sich
auch bei klassischen Dokumentationsarbeiten, im Bereich der Naturwissenschaften und in der Sphäre des Privaten
feststellen (Amateurfotografie, KodakKameras). So steht die Visualität der
Zeitschrift um und nach 1900 im Kontext wachsender Medialisierung des
Alltäglich-Realen, im Zusammenhang
auch der Konturen einer neuen Urbanität und einer (international angelegten), kommerziellen Unterhatungssphäre, zugleich im Kontext all der
Kräfte, die zu einer Konsensbildung
beitrugen und in den Öffentlichkeiten
zum Wachsen symbolischer, nicht-textvermittelter Kommunikation beitrugen.
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Wiley-VCH
Anzeige
s/w
Hartwig Gebhardt, Illustrierte Zeitschriften in Deutschland am Ende des
19. Jahrhunderts. Zur Geschichte einer
wenig erforschten Pressegattung, in:
Buchhandelsgeschichte 1983/2, 41-65.
Jehanne M. Gheith /Barbara T. Norton,
Hg., An improper profession. Women,
Gender, and Journalism in late Imperial
Russia, Durham 2001.
Constantin Goschler, Hg., Wissenschaft
und Öffentlichkeit in Berlin, 18701930, Stuttgart 2000.
Jules Grandjouan. Créateur de l´affiche
politique illustrée en France, Paris 2001.
Rune Hassner, Bilder för miljoner,
Stockholm 1977.
28
Universität des Saarlandes
Fraunhofer
Deutsche Eisenbahn
magazin forschung 2/2002
29
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