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T. Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis 2014-4-183 Schmidtgall, Thomas: Traumatische Erfahrung

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T. Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis 2014-4-183 Schmidtgall, Thomas: Traumatische Erfahrung
T. Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis
Schmidtgall, Thomas: Traumatische Erfahrung
im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen
des 11. September 2001 in Deutschland, Frankreich und Spanien. Würzburg: Königshausen
& Neumann 2014. ISBN: 978-3-8260-5411-2;
614 S.
Rezensiert von: Marcel Hartwig, Seminar für
Anglistik, Universität Siegen
Der am Saarbrücker Lehrstuhl für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation wirkende Autor Thomas
Schmidtgall konzentriert sich in der vorliegenden Monografie auf die Wahrnehmung
genuin amerikanischer Kulturprodukte in europäischen Kontexten. Jeder der von ihm untersuchten US-amerikanischen Primärtexte,
welche sich von Filmen, Comics, bis hin zum
Roman erstrecken, steht im Bezug zu den Anschlägen vom 11. September 2001. In der weitgehend auf quantitativen Erhebungen basierten Arbeit geht es Schmidtgall vor allem darum, länderspezifische Wahrnehmungsstrukturen sowie eigenkulturelle Argumentationsgänge offenzulegen und interkulturelle Prozesse zur Rezeption der Anschläge nachzuvollziehen. In gleichem Maße versucht die mit
dem Prix Germaine de Staël der französischen
Botschaft und des deutschen Frankoromanistenverbandes ausgezeichnete Dissertation die
in den jeweiligen Nationen vorherrschende
Wahrnehmung der USA zu kartographieren.
Um die entsprechenden Daten für dieses Vorhaben zu akkumulieren, betrachtet Schmidtgall die Rezeption der Filme
„World Trade Center“ (2006) und „United
93“ (2006), Jonathan Safran Foers Roman
„Extremely Loud & Incredibly Close“ (2005)
und Art Spiegelmans Graphic Narrative
„In the Shadow of No Towers“ (2004) in
der deutschen, französischen und spanischen Presse. Aus diskursiver wie historischsoziokultureller Sicht geht die Arbeit der zentralen These nach, dass „je stärker die USamerikanische kulturelle Prägung der jeweiligen fiktionalen Darstellung zum Ausdruck
komm[e], desto heftiger [. . . ] reagieren die
deutschen, französischen und spanischen Kritiker mit ihren kultureigenen Vorstellungswelten und Denkmustern, die sich dadurch
2014-4-183
ebenso in ihrer Beschaffenheit offenbaren“
(S. 16). Im Zentrum steht damit die Frage nach
einer kollektiven „Schockwirkung“ (S. 17) der
Anschläge vom 11. September 2001 innerhalb
westeuropäischer Kulturen. Der stark kulturessentialistische Ansatz versteht sich dabei
als ein Beitrag zur interkulturellen Medienanalyse (vgl. S. 551).
Eingangs stellt Schmidtgall eine Forschungslücke im immer größer werdenden
Korpus an wissenschaftlichen Arbeiten
zum „11. September“ fest. So vermisst er
interdisziplinäre Ergebnisbündelung bei
gleichzeitiger transnationaler Perspektive.
Der Überblick über die Forschungsliteraturen, die dies zu leisten vermögen, fällt
entsprechend kurz aus. Vor allem im Bereich
der Amerikanistik verweist der Autor nur
auf eine aktuelle Monografie von Stefanie
Hoth.1 Gerade vor dem Hintergrund des
Kernthemas hätte sich hier eine gründlichere
Recherche hinsichtlich der amerikanistischen
Forschungsliteratur gelohnt. So leistete doch
vor allem Sabine Sielke als Beiträgerin und
Herausgeberin des Sammelbandes „Der
11.September 2001: Fragen, Folgen, Hintergründe interdisziplinäre Pionierarbeit in der
„9/11“-Forschung“;2 und dies bereits zu
einem Zeitpunkt, an dem es an wissenschaftlichen Reaktionen noch mangelte.
An dieser festgestellten Lücke arbeitet
Schmidtgall unter Verwendung eines Medienbegriffes, der die Produktion, Verteilung
und Wahrnehmung zu gleichen Maßen
mit der Analyse eines konkreten Medienproduktes verbindet. So besteht das erste
Drittel der umfangreichen Arbeit aus der
terminologisch-theoretischen
Annäherung
zum Medienbegriff, dem kollektiven Gedächtnis und der kulturellen, literarischen,
historischen wie philosophischen Platzierung
des „11. Septembers“. Sachlich schlüssig lassen sich in dieser Arbeit die Uneinigkeit über
den Begriff der „Zäsur“ und des „Traumas“
nachvollziehen. Im Anschluss an Angela
Kühners Begriff des „symbolvermittelten
kollektiven Traumas“3 gewinnen in der
1 Vgl.
S. 30; Stefanie Hoth, Medium und Ereignis. ‚9/11‘
im amerikanischen Film, Fernsehen und Roman, Heidelberg 2011.
2 Sabine Sielke (Hrsg.), Der 11. September 2001. Fragen,
Folgen, Hintergründe, Frankfurt am Main u.a. 2002.
3 Angela Kühner, Kollektive Traumata. Eine Bestands-
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
vorliegenden Arbeit die transnationalen Dimensionen der medialen Vermittlungen von
„9/11“ als „media event“ an argumentativer
Stärke. Entsprechend zieht es Schmidtgall
vor, eher über traumatische Erfahrungen
zu sprechen als den Traumabegriff selbst
zu bedienen. Fraglich bleibt an dieser Stelle, wie eine Zuordnung der im Anschluss
ausgewählten und diskutierten Beispiele
zum kulturellen Gedächtnis nach Assmann
funktioniere (vgl. z.B. die Argumentation
zum Libeskind-Entwurf auf S. 84). Schließlich
siedelt sich die Arbeit in einem Diskursfeld
an, dessen mediale Prägung und zeitliche
Dimension eher dem Begriff des kommunikativen Gedächtnisses entspräche. Wo
im Text zudem noch der Assmann’sche
Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“
neben dem etwas diffuseren Begriff des
„kollektiven Gedächtnisses“ häufiger Verwendung findet, erscheint im Titel dann das
Mediengedächtnis. An dieser Stelle wäre
eine dezidiertere Auseinandersetzung mit
den Begrifflichkeiten sicher erstrebenswert
gewesen, insbesondere da in der Arbeit vor
allem die Begriffe „Medien“ und „Ereignis“
überaus sorgfältig abgegrenzt werden.
Das Kernstück der Arbeit sind die Rezeptionsstudien zu den gewählten Haupttexten,
die sich einem kurz skizzierten analytischen
Überblickskapitel anschließen. Zwar sind vor
allem in den Philologien alle der ausgewählten Kerntexte bereits erschöpfend bearbeitet,
dennoch schafft es Schmidtgall an ihrem Beispiel, empirische Daten zum Rezeptionsdiskurs zu generieren. Klar arbeitet er hier den
Vorrang audiovisueller Bilder in der Wahrnehmung des „11. Septembers“ heraus und
präsentiert eine Aufmerksamkeitshierarchie,
nach der das deutsche Fernsehen – mit Abstand zum französischen und spanischen –
dem Ereignis die höchste Aufmerksamkeit
widmet. Am intensivsten sind dabei die Filmbeiträge per Besprechungen im interkulturellen Mediengedächtnis thematisiert; mit auffälligem Abstand folgen der exemplarisch besprochene Roman und die Graphic Narrative.
Dies bestätigt eine Deutungshoheit des audiovisuellen Bildes über den „11. September“.
Schmidtgall stellt in der Rezeptionsanalyse
länderübergreifende Diskursstrategien fest,
die auf eine dezidiert transnationale Wahr-
nehmung schließen lassen. Je dichter die amerikanischen Medienbilder nationalmythologisch aufgeladen waren, desto höher – gemessen am Umfang erschienener Besprechungen
– die Rezeption dieser Bilder in den drei Zielländern dieser Studie. Vor allem sind fehlende historische wie politische Kontextualisierungen Gegenstand der europäischen Kritik. Während die Wahrnehmung von „9/11“
in den drei Ländern noch nach den gleichen
Untersuchungskategorien stattfinde, unterliege sie hinsichtlich der Sinnbildung jeweils
anders gestalteten Argumentationsstrukturen
(vgl. S. 561). An dieser Stelle zeige sich, dass
in den deutschen Besprechungen die Vermittlung fremdkulturellen Wissens über die USA
überwiege, während in Frankreich stets der
Vergleich zur eigenen Filmindustrie den Duktus der Rezensionen bestimme. In Spanien
zeige hingegen die Dominanz der Argumente
zur medienästhetischen Gemachtheit in den
Textkritiken ein fehlendes kulturelles Wissen
über die USA an (vgl. S. 564). Entsprechend
unterscheide sich auch die Verständnisnähe
zum „11. September“ und den künstlerischen
Aufarbeitungen in den drei Ländern.
Die erschöpfende Auswertung von knapp
350 Zeitungsartikeln aus Spanien, Deutschland und Frankreich zeigt deutlich, dass die
Forschungen zur Fremdwahrnehmung und
der interkulturellen Medienanalyse eine hilfreiche Ergänzung zu den philologischen Studien zu „9/11“ sind. Besonders unter diesem Blick lässt sich der Wunsch nach einer ähnlich gearteten Studie für den arabischen Kulturraum verstehen. Falls diese ähnlich umfangreich ausfällt, sollte bei ihrem Entwurf zumindest über ein Schlagwortverzeichnis nachgedacht werden. Neue Forschungsarbeiten wie „Traumatische Texturen“ von Heide Reinhäckel4 oder die von Ursula Hennigfeld jüngst herausgegebene Anthologie „Poetiken des Terrors“5 bestätigen Schmidtgalls
Annahmen zum Bedarf interkultureller Medienanalysen. So sind es vor allem der innovatiaufnahme. Annahmen, Argumente, Konzepte nach
dem 11. September, Berlin 2002, hier: S.15.
4 Heide Reinhäckel, Traumatische Texturen. Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bielefeld
2012.
5 Ursula Hennigfeld (Hrsg.), Poetiken des Terrors. Narrative des 11. September 2001 im interkulturellen Vergleich, Heidelberg 2014.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
T. Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis
ve Ansatz und die resolute Recherchearbeit,
die Schmidtgalls Monografie zu einer wertvollen Ergänzung in der stetig wachsenden
„9/11“-Forschung machen.
HistLit 2014-4-183 / Marcel Hartwig über
Schmidtgall, Thomas: Traumatische Erfahrung
im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des
11. September 2001 in Deutschland, Frankreich
und Spanien. Würzburg 2014, in: H-Soz-Kult
19.12.2014.
© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.
2014-4-183
KULT_online. Review Journal for the Study of Culture
42/ 2015
kult-online.uni-giessen.de
Kulturelle Verarbeitungen von 9/11 aus transkultureller Sicht
Elizabeth Kovach
Justus-Liebig-Universität Gießen
Schmidtgall, Thomas: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des 11. September 2001 in Deutschland, Frankreich und Spanien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014.
Abstract:
Diese romanistische Studie fokussiert sich auf die europäische Rezeption in Printmedien drei
europäischer Länder – Deutschland, Frankreich und Spanien – von US-amerikanischen kulturellen Produkten, die sich mit dem 11. September 2001 beschäftigen. Mit einem gründlich etablierten theoretischen Rahmen und klar definierter Methodik leistet Schmidtgall einen singulären
Beitrag zum stetig wachsenden, interdisziplinär-kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld, welches 9/11 als traumatisches Medienereignis untersucht.
Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis ist die Publikation des Dissertationsprojektes Dr. Thomas
Schmidtgalls (Lehrstuhl für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation, Universität des Saarlandes). Das Buch ist umfangreich im thematischen wie auch – mit seinem 613 Seiten
– dimensionalen Sinne. Fokus dieser romanistischen Studie ist die Rezeption von US-amerikanischen
kulturellen Produkten (zwei Filme, ein Roman und eine Comic-Serie), die sich mit dem 11. Septembers
2001 in den Printmedien dreier europäischer Länder (Deutschland, Frankreich und Spanien) beschäftigen. Mit einem gründlich etablierten theoretischen Rahmen und klar definierter Methodik leistet
Schmidtgall einen singulären Beitrag zum wachsenden, interdisziplinär-kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld, welches 9/11 als traumatisches Medienereignis untersucht.
Augenmerk dieser Studie ist nicht (nur) die transmediale Breite der US-amerikanischen kulturellen
Produkte, die in Betracht gezogen werden – diese Leistung wurde bereits mit Publikationen wie Stefanie Hoths Medium und Ereignis: 9/11 im amerikanischen Film, Fernsehen und Roman (2011) erbracht.
Aufbauend auf solche Arbeiten, analysiert Schmidtgall verschiedene mediale Verarbeitungen von
9/11 aus einer innovativen, nämlich transkulturellen Perspektive. In einer akribischen Vorgehenswei-1-
KULT_online. Review Journal for the Study of Culture
42/ 2015
kult-online.uni-giessen.de
se werden sowohl quantitative Ergebnisse als auch qualitative Betrachtungen über die Rezeption in
der deutschen, französischen und spanischen Presse bis zum fünften Jahr nach dem 11. Septembers
2001 untersucht. Es sind sämtliche Rezeptionen der Filme World Trade Center (Regie: Oliver Stone)
und United 93 (Regie: Paul Greengrass), des Romans Extremely Loud and Incredibly Close von Jonathan
Safran Foer, und des Comics In the Shadow of No Towers von Art Spiegelman berücksichtigt. Die Rezeption dieser populären kulturellen Verarbeitungen von 9/11 untersucht Schmidtgall, um unter anderem „die Wahrnehmung der USA und US-amerikanischer Medienprodukte“ (14) in den jeweiligen
Ländern zu verstehen. Schmidtgall zeigt dabei eine Sensibilität für die unterschiedlichen, historisch
geprägten Verhältnisse zwischen den USA und diesen drei europäischen Ländern auf. Gleichzeitig
schafft er es herauszustellen, welche Gemeinsamkeiten sich etablieren. Ziel ist zu erfassen, „ob sich
in der Rezeption eine kollektive, kulturelle Schockwirkung des 11. September 2001 als Trauma auch
für die drei westeuropäischen Nationen nachweisen lässt“ (16-17) – „ob sich auch Gemeinsamkeiten
und Unterschiede im Sinne einer transnationalen, besser transkulturellen Redeweise über den 11.
September abzeichnen“ (17).
Die Ergebnisse dieser vergleichenden Arbeit folgen, nachdem Schmidtgall die theoretische Grundlage und Diskussion über den „11. September als globales Ereignis“ aufarbeitet hat. Er fasst einige
Haupttheorien und Definitionen des Medienbegriffes (von Roland Posner, Marschall McLuhan, Siegfried J. Schmidt, und weiteren) zusammen; durchschreitet wichtige Beiträge zum Thema kollektives
Gedächtnis und nähert sich an einen Begriff des Mediengedächtnisses an. Die Rezeptionstheorie und
Diskursforschung, mit entsprechenden Verweisen auf die Arbeiten von Wolfgang Iser und Stuart Hall
werden abschließend besprochen. Diese Teile des Projektes schaffen einen strukturierten Überblick
und erörtern mehrere relevante Forschungsbereiche, Theorien, Konzepte und Begriffe. Sie dienen als
Ausgangspunkt für die eigentliche Untersuchung und bleiben deswegen vorwiegend überblickend
bzw. zusammenfassend.
Der Ereignisbegriff wird hier in einem generellen philosophischen Sinne (angelehnt an Heidegger)
und im kontextspezifischen Sinne, das heißt mit Bezug auf den 11. September, hervorgehoben. Verschiedene Meinungen, etwa von Jean Baudrillard, Slavoj Žižek und Jacques Derrida, zur Einordnung
von 9/11 als Ereignis werden verglichen. Schmidtgall betont, dass nach Foucault der Ereignisbegriff
überwiegend als diskursives Konstrukt betrachtet wird. Hier hätte Schmidtgall allerdings die Ontologie Alain Badious erwähnen können, die eine wichtige, neue Sicht auf das Ereignis in den letzten
Jahren hervorgebracht hat.
Viele Themenbereiche, die diese Studie anspricht, sind Zeichen einer arbeitsintensiven und genauen
Recherche. An einer Stelle etwa präsentiert Schmidtgall mehrere Graphiken (Balken- und Kuchendia-
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KULT_online. Review Journal for the Study of Culture
42/ 2015
kult-online.uni-giessen.de
gramme) um zu zeigen, wie lange die Sendezeit des 9/11 Ereignisses im deutschen, französischen und
spanischen Fernsehen anhielt. Die eigentliche Untersuchung, die „Rezeptionsanalyse der ausgewählten fiktionalen Darstellungen“, unterteilt die Rezeption nach mehreren Kategorien, Kriterien und aus
verschiedenen Perspektiven. Bei der Untersuchung der Rezeption von Extremely Loud and Incredibly
Close in den deutschen Printmedien wird zum Beispiel die Anzahl der Beiträge nach Printmedium (SZ,
FAZ, Die Welt, etc.) und „perzeptiven Äußerungen“ (Sentimentalität, Postmoderne, Fiktion, Kitsch,
etc.) in Tabellen untergliedert.
Solche detaillierten Betrachtungen und summarischen Zusammenfassungen münden im letzten Kapitel in elf synthetisierende Ergebnisse. Er listet diverse, hochinteressante Schlussfolgerungen auf, die
als Ausgangspunkte für weitere Studien gut dienen könnten. These „a“ zum Beispiel besagt, dass „je
artikulierter und je dichter die fiktionalen Darstellungen, desto intensiver [...] reagierten die Kritiker
in allen drei Ländern hinsichtlich der Rezeption“ (558). Dies hat interessante Implikationen sowohl
für die Rezeptionstheorie verschiedener Medien, als auch für die kognitive Rezeptionstheorie. Weiterhin lautet These „h“, dass „alle drei Länder die USA als ein Land in einer tiefen gesellschaftlichen
und politischen Krise beschreiben“ (564); These „i“ wiederum, dass 9/11 „unbestreitbar auch im kollektiven Gedächtnis der drei europäischen Gesellschaften als traumatische Erfahrung fest verankert
ist“ (565). Diese paradoxe Mischung aus kritischer Betrachtung von außen sowie Zusammenhalt und
Mitgefühl zeigt nicht nur die ambivalente Rezeption von US-amerikanischer Kultur, sondern auch die
Verhältnisse zwischen den USA und den drei europäischen Ländern. All dies prägt die tiefgründigen
Verhältnisse, welche sich zugleich in unserer post-9/11 Welt immer wieder neu definieren.
English Abstract:
The cultural processing of 9/11 from a transcultural perspective
This romance-studies work focuses on the European reception, in print media from three countries, of American cultural products that deal with September 11, 2001. With a thoroughly established theoretical framework and clearly defined methods, Schmidtgall achieves a unique
contribution to the growing interdisciplinary field in the study of culture that investigates 9/11
as a traumatic media event.
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KULT_online. Review Journal for the Study of Culture
42/ 2015
kult-online.uni-giessen.de
Elizabeth Kovach
International Graduate Centre for the Study of Culture
Justus-Liebig-Universität Gießen
E-mail: [email protected]
Zitationsempfehlung
Kovach, Elizabeth: „Kulturelle Verarbeitungen von 9/11 aus transkultureller Sicht [Rezension zu:
Schmidtgall, Thomas: Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des 11. September 2001 in Deutschland, Frankreich
und Spanien. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014.]“. In: KULT_online 42 (2015). <http://
kult-online.uni-giessen.de/archiv/2014/ausgabe-40/rezensionen/modell-und-modellierungsfunkhttp://kult-online.uni-giessen.de/archiv/2015/ausgabe-42/rezensionen/kulturelle-verarbeitungen-von-9-11-aus-transkultureller-sicht>
© bei der Autorin und bei KULT_online
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Medien / Kultur
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Thomas Schmidtgall: Traumatische Erfahrung im
Mediengedächtnis: Zur Struktur und interkulturellen Rezeption
fiktionaler Darstellungen des 11. September 2001 in Deutschland,
Frankreich und Spanien
Würzburg: Könighausen & Neumann 2014, 613 S.,
ISBN 978-3826054112, EUR 78,–
(Zugl. Dissertation an der Universität des Saarlandes, 2013)
Nachdem der 11. September 2001 in
den ersten Jahren nach den Anschlägen
aufgrund der zeitlichen Nähe in erster
Linie in Form von Sammelbänden diskutiert wurde, erscheinen seit einiger
Zeit im Bereich der Medien- und Kulturwissenschaft auch vermehrt Monografien zum Thema. Zu diesem Feld der
wissenschaftlichen Auseinandersetzung
mit 9/11 gehört auch die mit dem Prix
Germaine de Staël ausgezeichnete
Arbeit von Thomas Schmidtgall. Sie
behandelt zwei unterschiedliche Untersuchungsfelder: Zum einen die Analyse
vier verschiedener fiktionaler Repräsentationen des Terrors in den Medien
Film, Roman und Comic, zum anderen
widmet sich der umfangreichere Teil
der Untersuchung der Rezeptionsanalyse dieser Texte in der deutschen,
französischen und spanischen Presse.
Ziel ist es, „den kulturellen Stellenwert
des Medienereignisses in den drei westeuropäischen Nationen, aber auch seine
Auswirkung im Hinblick auf die Wahrnehmung der USA und US-amerikanischer Medienprodukte“ (S.14) näher
zu untersuchen. Durch diesen Ansatz
verortet sich der Band als Beitrag zu
einer „interkulturellen Medienanalyse“
(S.551).
Im ersten Abschnitt werden die
in der Studie genutzten theoretischen
Grundlagen vorgestellt. Als Stärke
erweist sich dabei der Verzicht auf den
Versuch einer essentialisierenden Mediendefinition zugunsten eines strukturellen Ansatzes, der Medien nicht nur
als materielle Kommunikationsträger
konzeptualisiert. Stattdessen stützt sich
die Untersuchung auf einen Medienbegriff, der neben der jeweils semiotischen
Ordnung und der Technologie auch
Produktion, Distribution und Rezeption gleichermaßen in den Blick nimmt.
Ebenfalls in diesem Teil finden sich
Überlegungen zu kollektiven Formen
des Erinnerns sowie zu Rezeptionstheorien und der Diskursanalyse. Einsatz
und Nutzen der dargestellten Theorien
ist im Rahmen der zu Grunde liegenden Frage nach einer länderspezifischen
oder doch transkulturellen Wahrnehmung fiktionaler Repräsentationen
des 11. Septembers und der Existenz
eines kollektiven Traumas aufgrund
der Anschläge auch innerhalb westeuropäischer Kulturen logisch und nachvollziehbar. Ähnlich schlüssig, aber
knapp wie die „überblicksartige und
selektive Zusammenschau“ (S.58) der
jeweiligen Forschungsansätze erweisen sich die Überlegungen zu 9/11 als
Ereignis und traumatische Erfahrung.
Dabei unterschlägt die Studie nicht die
Probleme, die sich durch die Übertra-
198
MEDIENwissenschaft 02/2015
gung einer psychologischen Disposition
auf ein Kollektiv ergeben. Konsequenterweise führen die Anschläge, so
Schmidtgall, zu einem „kollektive[n]
symbolvermittelte[n] Trauma“ (S.77).
Dieses äußert sich nicht in Traumasymptomen der Betroffenen, sondern als
eine schwere Erschütterung der Rezipient_innen durch eine Identifikation
mit den Opfern.
Im zweiten Teil der Arbeit findet
sich neben der Darstellung des jeweils
medienspezifischen Potenzials zur
Abbildung und Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen ein kurzer Überblick über verschiedene Filme, Comics
und Romane mit Bezug zu 9/11. Dabei
liefert dieser Abschnitt zwar einen
Abriss über die wichtigsten Titel, aber
gerade im Bezug auf Comics fehlen
einige Werke der letzten Jahre. Im
Anschluss präsentiert und analysiert
Schmidtgall vier Beispiele: Die Filme
World Trade Center (2006) und United 93 (2006), den Roman Extremely
Loud & Incredibly Close (2005) sowie
den Comic In the Shadow of No Towers
(2004). Dabei handelt es sich um prominente Beispiele, die sowohl in der
deutschen als auch angelsächsischen
Literatur zu 9/11 bisher schon umfassend besprochen wurden. Schmidtgalls
Analysen sind dabei in sich schlüssig,
setzen aber, gerade im Hinblick auf die
schon vorliegenden Diskussionen, bei
dem bisherigen Stand der Auseinandersetzung keine neuen Impulse.
Den bei weitem umfangreichsten
Abschnitt der Arbeit nimmt die qualitative wie auch quantitative Analyse
der Rezeption dieser vier Beispiele in
der deutschen, französischen und spa-
nischen Presse ein. Dabei werden die
Wahrnehmung des jeweiligen Beispiels, des Mediums, der USA und des
11. Septembers dargestellt, analysiert
und teilweise in empirische Daten
überführt. Schmidtgall isoliert hierfür
dominante Wahrnehmungs- und Argumentationsfelder der jeweiligen Artikel, um anschließend zu untersuchen,
wie häufig diese in den Beiträgen der
jeweiligen Zeitungen und Zeitschriften
aufgerufen werden. Damit erzeugt er
einen umfangreichen Datensatz zur
Unterstützung seiner Diskursanalyse.
Die Artikel, die ähnlich wie Film
und Literatur an der Aufarbeitung
und Interpretation von 9/11 beteiligt sind, erweisen sich dabei als Teil
eines Mediengedächtnisses. Das Interesse der Presse an den Filmen ist am
größten, was sich wiederum im Aufbau des Kapitels niederschlägt. Durch
die umfassende Rezeptionsanalyse ist
Schmidtgall in der Lage, transnationale Diskursmuster herauszuarbeiten.
Je offensichtlicher dabei die Beispiele
auf ein spezifisch US-amerikanisches
Selbstverständnis und entsprechende
Argumentationsmuster zurückgreifen,
desto massiver sind die Reaktionen der
Presse (vgl. S.558). Wie die Analyse
zudem offenlegt, finden sich zwar auf
den ersten Blick identische länderübergreifende Diskursmuster, die allerdings
bei näherer Betrachtung auf ganz unterschiedlichen Argumentationsstrukturen
basieren. Grund dafür ist nicht zuletzt
die unterschiedliche kulturelle Nähe,
die die verschiedenen Kritikerdiskurse
zu den USA aufweisen. Dabei ist für
Schmidtgall diese Nähe in Deutschland
aufgrund der Ähnlichkeiten im deut-
199
Medien / Kultur
schen und amerikanischen Diskurs am
größten, während in Spanien am meisten Distanz bestehe.
Die ausgiebige Auswertung der
verschiedenen Artikel und die umfangreiche Diskursanalyse machen den
Band zu einer hilfreichen und nützlichen Ergänzung in der medien- und
kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit 9/11. Schmidtgall gelingt
es einleuchtend und nachvollziehbar,
inter- und transkulturelle Kommunikationsstrukturen sowohl in ihrer
gegenseitigen Bedingtheit als auch in
ihrer jeweiligen nationalen Verortung
offenzulegen. Einzig der theoretische
Teil der Monografie gerät an einigen
Stellen etwas knapp. Nichtsdestotrotz
bietet die Studie durch ihre konsequent
interdisziplinäre Herangehensweise und
ihre überaus genaue und erschöpfende
Auswertung zahlreicher Artikel wichtige Ansätze und Anregungen für eine
zukünftige Auseinandersetzung mit
Terrorismus als transnationalem und
multimedialem Medienereignis sowie
die im Anschluss daran wünschenswerte interkulturellen Medienanalysen.
Johannes Stier (Köln)
Clemens Schwender, Daniela Schlütz, Guido Zurstiege (Hg.):
Werbung im sozialen Wandel
Köln: Herbert von Halem 2014, 281 S., ISBN 978-3-86962-102-9,
EUR 29,50
Am 29. und 30. November 2013 fand an
der Hochschule der populären Künste
(hdpk) in Berlin die Jahrestagung der adhoc-Gruppe Werbekommunikation der
Deutschen Gesellschaft für Publizistik
und Kommunikationswissenschaft
(DGPuK) statt, die sich inzwischen zur
Fachgruppe in der DGPuK dauerhaft
formiert hat. Der daraus resultierende
Tagungsband verfügt über vier Oberkapitel. Nach der Skizzierung historischer
Entwicklungen der Werbung werden
technologische und inhaltliche Wandlungsprozesse aufgezeigt. Es folgt eine
Analyse sich wandelnder Zielgrup-
pen, bevor Aufsätze zu theoretischen
Perspektiven der Werbeforschung die
Publikation abrunden.
Daniela Schlütz, Kira Drabner und
Helmut Scherer stellen eine Inhaltsanalyse zum Thema „50 Jahre Kinder in der
Werbung“ am Beispiel der geschlechtsspezifischen Darstellung von Jungen
und Mädchen in 327 Anzeigen der
Zeitschrift Brigitte vor. Hier werden
im Rahmen einer quantitativen Inhaltsanalyse Charakter und Rolle ebenso
untersucht wie Produkttypen sowie
die physische Darstellung, Mimik
und Kleidung der Werbeträger. Der
Fly UP